Meine zehn Frauen - Miklós Vámos - E-Book

Meine zehn Frauen E-Book

Miklós Vámos

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Beschreibung

Die höchst amüsanten Irrungen und Wirrungen eines Schürzenjägers

Der Goethe-Spezialist János Mester hat weder in der Forschung noch bei den Frauen wirklich Fortune: als Wissenschaftler wartet er bisher vergebens auf den großen Durchbruch, und seine dritte Ehe steht vor dem Aus. Umso willkommener ist ihm da ein Forschungsaufenthalt in Berlin. Endlich wird er sein Buch über den Dichterfürsten und dessen Romanzen zum Abschluss bringen können. Aber statt zu arbeiten, lässt Janos lieber sein eigenes Leben und seine Lieben Revue passieren. Im Gegensatz zu dem verehrten Meister hat er es jedoch nur auf ganze zehn Frauen gebracht. Und nur eine davon hat er wirklich geliebt.

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Miklós Vámos

Meine zehn Frauen

Roman

Aus dem Ungarischen von Andrea Ikker

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Die ungarische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Utazások Erotikában (Ki a franca z a Goethe?)«bei ABOVO, Budapest.

Copyright © 2007 by Miklós Vámos

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

KR – Herstellung: SK

ISBN 978-3-641-05196-9V002

www.btb-verlag.de

www.penguin.de

Der Goethe-Spezialist János Mester hat weder in der Forschung noch bei den Frauen wirklich Fortune: Als Wissenschaftler wartet er bisher vergebens auf den großen Durchbruch, und seine dritte Ehe steht vor dem Aus. Umso willkommener ist ihm da ein Forschungsaufenthalt in Berlin. Endlich wird er sein Buch über den Dichterfürsten und dessen Romanzen zum Abschluss bringen können. Aber statt zu arbeiten lässt Jánoska lieber sein eigenes Leben und seine Lieben Revue passieren. Ganz im Gegensatz zu dem verehrten Meister hat er es jedoch nur auf ganze zehn Frauen gebracht. Und nur eine davon hat er wirklich geliebt: Jolanda, seine erste Freundin, die Ferienlagerbekanntschaft damals im Jahr 1957 …

MIKLÓS VÁMOS, geboren 1950 in Budapest, ist gelernter Jurist. Er war Dramaturg und Verlagsleiter, hat Theaterstücke und Drehbücher verfasst, seine Romane und Erzählungen sind vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. Vámos lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Budapest. In seiner Heimat ist Vámos ein Star, nicht zuletzt durch seine Fernsehserie »Lehetetlen« (Unmöglich), die in Ungarn zu den beliebtesten TV-Ereignissen zählt.

MIKLÓS VÁMOS bei btb:Buch der Väter. Roman (73490)

1.

Was ist eigentlich so klasse daran, seinen Kramer einer im Grunde wildfremden Frau unten reinzutun? Oder gar oben?

Das fragte sich Dr János Mester (alias Jánoska), ein seriöser Intellektueller mittleren Alters, und zwar nicht zum ersten Mal.

Den Kramer reintun …

»Warum gibt es für die männliche Abteilung der Menschheit kein größeres Vergnügen als dieses Reintun?« Im sicheren Käfig seines Wagens stellte sich Jánoska laut diese Frage. Er wusste sehr wohl, dass der Terminus technicus Penis lautete, doch er hatte da in der Pubertät etwas falsch verstanden, und seitdem nannte er seinen Kramer eben Kramer. Um den drehte sich die ganze Welt. Die ganze Männerwelt. Kramer gegen Kramer.

Nicht dass es für die Frauen nicht auch wirklich was Besonderes gewesen wäre. Aber eben nicht in jedem Fall. Und möglicherweise nicht in dem Maß.

»Während Männer für Sex sogar zu Zärtlichkeiten in der Lage sind, lassen sich Frauen für Zärtlichkeiten sogar zu Sex hinreißen«, hatte eine der Setzerinnen Barbara, der Korrespondentin aus Győr, im Kopierraum erklärt. Diese philosophische Erkenntnis habe sie im »Cosmopolitan« – sic! – gefunden. ›Nur aus reinster Quelle‹, dachte Jánoska. Er jobbte bei einer Tageszeitung als Korrektor – laut Arbeitsvertrag als Korrektor. Das »Cosmopolitan«-Gespräch irritierte ihn. Andere zu belauschen war nicht schön, aber aufregend und lehrreich.

Durch die enge Hose hindurch zeichnete sich der Tanga der Setzerin deutlich ab; der schmale Streifen verlief nicht ganz mittig zwischen den Pobacken. ›Der hat Schlagseite‹, dachte Jánoska, ›wie ein falsch justiertes Luftgewehr.‹ Tangas hatten einen gewissen Hang zu Schlagseiten, nach Jánoskas Observierung eher nach rechts denn nach links. Wurde ein Tanga von beflissenen Fingern zur Seite gezogen, war das natürlich aufregender, als wenn er von selbst verrutschte. Aber der arme Jánoska musste sich einstweilen mit dem Anblick des Bratens begnügen.

Anfang September 2006 befand sich Dr János Mester (den Punkt hinter dem Doktortitel ließ er immer weg) mitten in den Vorbereitungen für einen einmonatigen Berlinaufenthalt. Bei der Zeitung hatte er um unbezahlten Urlaub gebeten, sollte der nicht genehmigt werden, würde er mit Freuden kündigen. Er hatte lange genug über den Texten von Journalisten gebrütet. Anderer Leute Sachen zu korrigieren war eine minderwertige Beschäftigung.

Ein Monat – eine unermessliche Zeitspanne, die ihn aus dem Trott seines Lebens in Ungarn herausreißen würde. Er tat es mit gemischten Gefühlen, gute und schlechte hielten sich dabei die Waage.

Seine Familie winkte aus dem Fenster der Wohnung im fünften Stock. Sein kleiner Sohn und seine kleine Tochter, Sanyika und Jucika. Und seine Frau Alexa. Eine Trinität in einem schäbigen Holzrahmen, nur sein großer Sohn Palika fehlte. Jánoska winkte ebenfalls, drückte leicht auf die Hupe, gab dann Gas und kam sich für einen Moment wie Niki Lauda vor. Mit quietschenden Reifen bog er in die Hauptstraße ein, und während er den Kilometerzähler auf null stellte, brummte er: »Los geht’s!« Seufzend lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau, die ihn zur eingangs gestellten Frage inspiriert hatte. Sie war vor ihm aus der Haustür auf die Straße getreten, eine nette Nachbarin. Gewöhnlich grüßten sie einander, wenn sie sich begegneten, doch diesmal hatte sie ihn nicht zur Kenntnis genommen. Jánoska beendete seine Vorstellung des warmherzigen Gatten und Familienvaters und bremste ab, um das wackelnde Hinterteil der Nachbarin länger bewundern zu können. In der cremefarbenen Leinenhose bewegten sich die Hügelchen noch beherzter auf und ab als gewöhnlich, was möglicherweise an den hochhackigen Pantoletten der Nachbarin lag. Die Umrisse ihres Tangahöschens waren durch den dünnen Stoff ganz klar zu erkennen. Einen Hauch zu weit rechts.

Vermutlich war das Zielobjekt, das sich auf dem brüchigen Betonpfad und um die Anfang dreißig bewegte, dieser atemberaubenden Trippeltechnik bereits seit der Oberstufe mächtig. Es wusste, dass es bei seinen Opfern vermehrte Speichelbildung auslöste, bei Heißblütigeren sich der Kramer regte und bei den restlichen – zu denen auch Jánoska gehörte – in den drei Stresszonen der Schweiß ausbrach.

An der Ecke – für seine Familie nicht mehr sichtbar – holt er sie ein, hupt. Die Frau dreht sich überrascht um, und noch bevor sie sich besinnen kann, zerrt Jánoska sie am Arm in den Wagen. Hinter dem kleinen Park rollt das Auto in den Schutz der Kastanienbäume, und dort geschieht alles, was zwischen Mann und Frau geschehen kann – leider nur in Jánoskas Fantasie. In Wirklichkeit geht die Frau ihres Weges, und Jánoska schaltet in den dritten Gang.

Zielobjekte wissen ganz genau, welche Gefühle sie in einem Mann erwecken, doch es stört sie nicht. Im Gegenteil. Überführt man sie, leugnen sie alles ab. ›Tangas tragen wir nicht wegen der Kerle, sondern lediglich zu unserem eigenen Vergnügen. Weil wir uns dann schicker vorkommen. Und unsere Bäuche lassen wir nicht deshalb unbedeckt, damit ihr sie begafft, o nein! Es ist nur, weil wir uns so wohl fühlen. Die Art Damenhosen, bei der im Sitzen der obere Teil des Tangas unweigerlich zum Vorschein kommt (und auf dem Hintern eine Walflosse bildet), erfreut sich nicht deswegen einer solchen Beliebtheit, weil bei ihrem Anblick den Männern das Wasser im Mund zusammenläuft. Pustekuchen! Sie ist einfach modisch, das ist alles.‹

Beim Anblick einer solchen Walflosse ist Jánoska immer hingerissen. Er wünscht sich dann, die Trägerin möge möglichst lange mit dem Rücken zu ihm sitzen bleiben, und vertraut darauf, dass das Alphamännchen – durchtrainierter Body, ausrasierter Nacken, wilde Tattoos –, das für gewöhnlich in der Nähe solcher Ärsche zu finden ist, nicht merkt, dass seine Tussi begafft wird.

›Warum juckt mich nahezu jede Frau? Wenn ich das nur wüsste …‹

Wann immer es nur geht, versucht Jánoska zu erkunden, ob sich auf der seidigen Hochebene über dem Po ein Flaum entdecken lässt. Wird er dort einer derzeit ebenfalls angesagten, geschwungenen, grünlichen Tätowierung ansichtig, ist er am Ende. Am liebsten würde er um die Erlaubnis bitten, sie anfassen zu dürfen. Selten verlangt es ihn nach mehr oder nach anderem. Doch wer würde ihm das glauben? Dabei hat er nicht die geringste Lust, von einem Zielobjekt mit vernichtenden Blicken oder Ohrfeigen gestraft zu werden. Geschweige denn, sich von einem dieser riesigen Monstertypen totprügeln zu lassen.

Jánoska plante seine Abfahrt für Mitternacht, schließlich gab es keine Regel, die besagte, man dürfe nur frühmorgens aufbrechen. Berlin war weit, die Strecke mit dem Auto an einem Tag zu bewältigen ein unmenschlicher Kraftakt, so oder so. ›So‹ hieß die altbewährte Route über Prag und Dresden, im Sozialismus lange Zeit die einzige Möglichkeit, aus Ungarn in die DDR zu gelangen. Von der Entfernung her war sie kürzer, neunhundertundnochwas Kilometer, konnte aber länger dauern, wenn man auf den grausigen Straßen um Teplitz den Berufsverkehr, eine der ewigen Baustellen oder einen Verkehrsunfall erwischte. Und mit einer dieser drei Möglichkeiten musste man auf einer so langen Strecke immer rechnen. Mit ›so‹ konnte auch die Route über Österreich gemeint sein, Wien – Linz – Passau, und von dort weiter in Richtung Norden, über Regensburg und Dresden bis Berlin. Das waren fast tausenddreihundert Kilometer, allerdings auf zuverlässigen österreichischen und deutschen Autobahnen. Selbst der Streckenabschnitt durch die ehemalige DDR – im Dritten Reich angelegt, im Sozialismus immer wieder notdürftig geflickt, nach der Wiedervereinigung endlich ausgebaut – war allemal besser als die Schnellstraßen in der Slowakei oder in Tschechien.

Vielleicht hätte Jánoska doch das Flugzeug nehmen sollen, aber das Flugticket wäre nicht bezahlt worden und er hätte obendrein ohne Auto keine Abstecher machen können. Dabei hatte er sich viel vorgenommen. Es würde ihn ein gutes Stück voranbringen, sich auf Goethes Spuren zu begeben. Oder genauer: auf die Spuren von Goethes Frauen.

Die Abfahrt um Mitternacht war schon allein aus Aberglauben nicht schlecht. Mitternacht hatte ihm in letzter Zeit immer Glück gebracht. Er klopfte sich dreimal auf den Schädel. Vor der langen Fahrt würde er sowieso nicht viel schlafen können, und tatsächlich wälzte er sich ewig herum, während er Alexas sehr männlich anmutendem Schnarchen lauschte. Gerade als er beschloss, sich aus dem Bett zu quälen, versank er in Finsternis, an deren Ende die Lichter des anbrechenden Tages bekundeten, dass er noch am Leben war. Diese Lichter phantasierte er sich in dem Wirrwarr des Übergangszustands zusammen, den man gewöhnlich Halbschlaf nennt, obwohl das nichts Halbes und nichts Ganzes mehr ist, und man vom Schlaf bestenfalls nur noch ein vages Gefühl hat. Der Wecker zeigte Viertel vor acht. Er kam sofort zu sich, besann sich, dass er ein Junge war und dass er Jánoska hieß. In seiner Geburtsurkunde stand János Mester, doch zur großen Freude aller Anwesenden war er sowohl bei der Abiturfeier als auch bei der Diplomverleihung mit der Verkleinerungsform Jánoska angeredet worden. Die Maturanten lachten sich halb tot, und er hatte sich dem kollektiven Gedächtnis ein für alle Mal eingeprägt. Bei der Diplomverleihung hatte er sogar Applaus bekommen, was deswegen nicht weiter auffiel, weil ihn alle bekamen. Und dafür, dass sich das Ineinanderschlagen der Hände bei ihm hämischer anhörte als bei den anderen, gab es keinen anderen Beweis als den, dass es ihm so vorgekommen war.

Die begehrenswerte Nachbarin hatte er längst hinter sich gelassen, allerdings nur in der Wirklichkeit. In seiner Phantasie war sie bei ihm. Ihr Hintern. Ihre langen Ober- und Unterschenkel, deren unteres Drittel selbst bei schlechtem Wetter häufig aus dem Hosenbein ragte. Ihre leicht eckigen Schultern mit den einsinkenden BH-Trägern. Meist trug sie schwarze Unterwäsche, was anspruchsvollere Literaten als störend empfinden würden. Wenn Jánoska die Nachbarin betrachtete, war er kein anspruchsvollerer Literat, in seinem Innern rangen intellektuelle Schamhaftigkeit und derbe männliche Schamlosigkeit. Vom Busen der Nachbarin ist noch nicht gesprochen worden. Er wogte, wenn die Nachbarin ging. Vibrierte eher. Doch im Gegensatz zu ihrem Hintern im Gleichtakt. Auf der linken Brust befand sich ein dunkles Muttermal von der Größe eines Pfefferkorns. Nur allzu gern hätte Jánoska den Fleck mit seinem kleinen Finger berührt. Solche Schönheitsmale auf kakaobrauner Haut waren einfach Gold wert. Offenbar ging die Frau allen hautärztlichen Warnungen zum Trotz fleißig ins Solarium. Sich seines Wertes vollauf bewusst, betrachtete der Busen die Welt von oben herab, stellte sich in gewagten Tops (die Jánoska nur Leibchen nannte) oder in nur halb zugeknöpften Blusen gerne zur Schau. Spannte sprungbereit. Als Alexa ihren Mann einmal dabei erwischte, wie er dem Zielobjekt, das auf dem Gehweg dahinschritt, nachstarrte, blaffte sie: »Die hat sie sich machen lassen!«

Im ersten Moment meinte Jánoska, Alexa rede von der Loggia, die sie gerade verglasen ließen. Erst allmählich begriff er, dass sie den Busen der Nachbarin meinte. Seit Lia, eine ihrer Kolleginnen, nebenher als Empfangsdame in der Praxis eines solchen Arztes arbeitete, hielt sich Alexa auf dem Gebiet operierter Brüste für eine große Expertin. Die Mindestkosten für eine Brustvergrößerung betrugen etwa eine halbe Million Forint, dennoch schlugen sich die Frauen drum, als gäbe es sie umsonst. Häufig musste man Wartezeiten von einem Dreivierteljahr in Kauf nehmen. Lia hätte sich die Brüste um keinen Preis der Welt machen lassen, schon gar nicht einem verdammten Kerl zuliebe, friss oder stirb, mehr gibt’s nicht, und überhaupt sind die Männer alle Mistkerle! Sie hat sich erst vor kurzem scheiden lassen. Darauf Alexa: »Ein Mistkerl ist nicht der, der das tut, worauf er Lust hat, sondern der, der etwas anderes tut.« »Wie bitte?!«, hakte Lia nach. Doch Alexa ließ es dabei bewenden. Sie war keine Freundin großer Erklärungen.

Warum ihr das Tanzen so wichtig war, hat sie auch nie erklärt. Tango. Argentinischer Tango. Sonst hatte sie zu diesem Thema alles gesagt. Mehrmals. So dass sich Jánoska mittlerweile mit Fug und Recht als Tangoexperten betrachten konnte. Als stellvertretenden Tangoexperten, denn die Hauptexpertin war und blieb Alexa.

»Was fällt uns bei dem Wort Tango ein?« Es war eine eher rhetorische Frage von Alexa. »Der Tanga!«, Jánoska glücklich. »Blödmann!«, Alexa beleidigt. Jánoska muckste und verriet nicht, dass ihm auch Flohmarkt eingefallen war.

»Der Tango ist die Verkörperung purer Leidenschaft«, so Alexa. »Ein dreiminütiger Liebesakt. Eine improvisierte Abfolge von Bewegungen, ein Verschlungensein, wobei der Oberkörper des Mannes die Triebfeder ist, von der sämtliche Bewegungen der Frau abhängen. Der Mann folgt der Musik, die Frau dem Mann. (Kein sehr feministisches Konzept.) Ursprünglich bezeichnete das Wort Tango die Zusammenkünfte befreiter Sklaven. Zum Klang von Trommeln vollführten die Schwarzen bei diesen Tangos Tänze, bei denen sie in bestimmten Körperhaltungen – zum Beispiel Kopf an Kopf – erotische Bewegungen ausführten. Daraus entstand um 1880 herum der Stil des Vorstadt-Tango. Er galt als unmoralisch, weil die Männer ihre Schritte in öffentlichen Etablissements übten, während sie darauf warteten, dass die Dame ihrer Wünsche frei wurde. Bald schon wurde der Tango von der Kirche verboten und nur noch im Verborgenen, in Bordellen und am Hafen, getanzt. »In Argentinien sagt man, der Tango sei mehr als nur ein Tanz, er sei das Leben selbst. Mit seiner ganzen Aufmerksamkeit ist man beim Partner, bewegt sich, weil er es tut, hält inne, weil er stoppt. Eine stumme Zwiesprache zweier Körper, einfach wunderbar!« Stundenlang konnte Alexa darüber reden.

Jánoska hoffte inständig, er würde nie Tango tanzen müssen. Schon als Jugendlicher hatte er die Tanzschule geschwänzt, und so atmete er erleichtert auf, als sich herausstellte, dass Alexa einen festen Partner hatte. Gabó war ein schneidiger, schwarzhaariger Kerl und äußerst wortkarg. Auf Alexas Bitten reagierte er meistens nur mit einem Nicken: »Gut, mach ich.« Er war nicht nur Tänzer, sondern spielte auch Cello in einem Tanzorchester, vornehmlich Piazzolla natürlich. Astor Piazzolla (1921–1992) war der Johann Sebastian Bach des Tangos. Jánoska hatte Alexa und Gabó bereits des Öfteren bewundern können, bei Tangowettbewerben und anderen Auftritten. Wundervoll glitten sie über die Tanzfläche und blickten sich dabei auf eine Art und Weise in die Augen, dass man sich der Vermutung, sie hätten was miteinander, unmöglich entziehen konnte. Doch dieseVermutung würde sich nie bestätigen: Gabó war seinem Lebensgefährten treu. Der hieß Jenő und verdiente sich sein Brot mit Chippendale. Angeblich standen ihm Tangas hinreißend gut. Das wusste Alexa von Gabó. Und Jánoska von Alexa.

Am Ende landet man immer beim Tanga. Laut Wikipedia steht das Wort in irgendeinem afrikanischen Dialekt für Lendenschurz, während sich die Tanga-Inseln in Papua-Neuguinea befinden. Außerdem gibt es eine Stadt dieses Namens. Und zu guter Letzt ist es in Tadschikistan eine alte Währung und in Indien eine Art Pferdewagen. Doch all das verblasst hinter dem winzigen Stück Stoff, das in nahezu allen Regionen der Welt von Frauen mit liberalen Grundsätzen getragen wird. Tanga International.

Bereits seit Monaten observierte Dr János Mester die Nachbarin mit den liberalen Grundsätzen, die sich ihren Busen möglicherweise hatte machen lassen. Alexas Ansicht nach türmten sich plastisch aufbereitete Brüste auf den Rippen wie zwei aufgeklebte Kaffeetassen, ihnen fehlte jeder natürliche Hang. Jánoska fand das Beben der Brüste der Nachbarin überaus natürlich, gern hätte er es studiert, ohne dass der Busen im BH gefangen war. Zudem versuchte er sich vorzustellen, wie die Frau unten aussah. Vermutlich war sie unbehaart – eine, die sich den Busen machen ließ, rasierte sich auch ganz bestimmt die Muschi. Oder enthaarte sie mit Wachs. Autsch, musste das schmerzhaft sein! Jánoska empfand aufrichtiges Mitgefühl mit der Nachbarin. Erst die kostspielige Operation – wenn dem so wäre –, dann auch noch eine solche Quälerei … Kam die Nachbarin ihm gelegentlich entgegen, versuchte Jánoska möglichst unauffällig zu erkunden, ob eine Behaarung vorhanden war oder nicht, jedoch stets ohne Ergebnis.

Erst am Schluss seiner Inventur kam er zum Gesicht der Frau. Typisch. Sie trug ihre blonden Haare in einer Kleopatra-Frisur, und ihr dichter Pony hing ihr in die Augen. Dabei hätte das Augenpaar mit seinem himmelblauen Strahlen auch einige Aufmerksamkeit verdient. Die Lider flatterten, als wolle sie nichts verpassen, doch kreuzte sich ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde mit dem Jánoskas, wandte sie ihn unverzüglich ab. Weibliche Angewohnheit? (Ich schaue dich nicht an, damit du mich betrachten kannst!) Die Nase ragte ein wenig in die Höhe, als hätte man in einem Winkel von fünfundvierzig Grad ein kleines Stück abgeschnitten. Das fand Jánoska sexy. Ihr ovales Kinn verlieh ihrem Gesicht etwas Mädchenhaftes, wobei der in der Mitte befindliche senkrechte Strich von Zielstrebigkeit oder starkem Willen zeugte. ›Ein schönes, interessantes Gesicht‹, dachte Jánoska. Je länger er es betrachtete, umso besser gefiel es ihm. ›So einer bist du also, Alter. Du könntest dich in jede Frau verlieben, wenn du dir nur genug Zeit nimmst.‹

Das Zielobjekt lebte allein, der Freund hatte sich schon kurz nach dem Einzug aus dem Staub gemacht. Bei seinem Auszug hatte er einen ganzen Vormittag damit verbracht, seine Siebensachen in einen altersschwachen Skoda zu packen und Kofferraum und den restlichen Wagen vollzustopfen. Mit seinem Herumtrödeln brachte er die Frau fast zum Wahnsinn. Übrigens wusste Jánoska, dass Skoda sowohl im Tschechischen als auch im Slowakischen Schaden bedeutete. Während der kahl rasierte, Lederhosen tragende Romeo die Mutter der Frau als Hure beschimpfte, landeten seine Habseligkeiten, die sie ihm aus dem Fenster nachschmiss, auf der Fahrbahn. In den meisten Fällen lohnte sich das Bücken nicht mehr, doch bei einem großen Wecker machte er eine Ausnahme, obwohl das Glas zerbrochen und die Seite eingedellt war und auch die Zeiger den Sturz nicht unversehrt überstanden hatten. Der Lederbehoste untersuchte ihn von allen Seiten und brüllte plötzlich los: »Dich stört es wohl gar nicht, dass ich den von meiner Großmutter zum Abitur geschenkt bekommen habe?« »Abitur? Dass ich nicht lache!«, schrie die Frau außer sich.

Diese aus billigem Kupferimitat hergestellten Wecker, Meisterwerke der ostdeutschen Uhrenindustrie, waren auch Jánoska wohlbekannt. Im Laufe seines Lebens hatte er zwei besessen. Einen hatte er als Teenager in der DDR gekauft, den anderen später auf dem Platz des 7. November in Budapest. Beide hatten gleich ausgesehen, waren nur unterschiedlich groß gewesen, und sofern man sie nicht aufzuziehen vergaß, gingen sie sogar ziemlich genau. Das einzig wirklich Nervige war ihr Ticken: Es klang deutsch (laut und militärisch), so dass Jánoska sie immer auf eine dicke Tischdecke oder ein Handtuch stellen musste. Wo waren sie eigentlich geblieben? Der erste und größere war anlässlich eines Umzugs verschwunden – möglicherweise hatte ihn einer der Möbelpacker mitgehen lassen. Der andere hatte irgendwann den Geist aufgegeben, und es hatte sich kein ungarischer Uhrmacher gefunden, ihn zu reparieren. Das sei er nicht wert, hatten sie behauptet. Mittlerweile bedauerte Jánoska, ihn weggeworfen zu haben. Als Denkmal des DDR-Sozialismus wäre er heute sicher einiges wert gewesen. UMF RUHLA hatte auf dem Zifferblatt gestanden, und heute noch meinte Jánoska den Hauch thüringischer Wälder auf der Haut zu spüren, wenn er diese Worte aussprach.

›Begehrst du die Nachbarin mit dem Tanga und der engen Hose?‹ Nein. Jedenfalls nicht mehr als jeder andere Mann, der sich nach einem knackigen Hintern umdreht. Oder gar mit der Zunge schnalzt, sofern er ein ehrwürdiger Angehöriger der Arbeiterklasse ist. (Früher hat man gezischt, aber dieser charakteristische Laut, der durch rasches Einziehen der Luft entsteht, scheint aus der Mode gekommen zu sein.) Der kultivierte, intellektuelle Mann erlaubt sich kaum mehr, als verstohlen zu gaffen. Zischen ist nicht comme il faut. Nicht PC. Frauen liebt man ihres Verstandes wegen, sonst machen sie Zicken. Wichtig ist ihre Persönlichkeit, nicht wahr.

Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder einfach losrennen, sich zwischen zwei Brüsten einkuscheln und diese als Quelle der Muttermilch – von der Jánoska seinerzeit übrigens keinen Tropfen abbekommen hat – liebkosen würde, um sich dann, nachdem er auch den hinteren Rundungen einige Zärtlichkeit gewidmet hat, artig zu bedanken und wieder seines Weges zu ziehen. Mein Gott, wie viel aufrichtiger waren doch Hunde! Begegneten sie einander, schnüffelte und schleckte das Männchen das Weibchen ab, welches dies je nach Laune mehr oder weniger friedlich duldete, und schon gings weiter. Keine Versprechen, keine falschen Komplimente, keine Lügen. Der Wahrheit halber muss man allerdings anmerken, dass Hundeweibchen lediglich zweimal im Jahr läufig sind, und dann auch nur an sechs oder sieben Tagen paarungsbereit.

Auf der Autobahn nahm der Verkehr zu, und Jánoska konnte nur hoffen, dass seine Reise nicht auf einen Tag fiel, an dem türkische Gastarbeiterfamilien scharenweise in ihre Heimat strömten oder nach Deutschland zurückkehrten. Er meinte sich zu erinnern, dass die Türken Anfang August ausschwärmten und Ende August wieder eintrudelten. Jetzt war es Anfang September. Einmal hatte er am Grenzübergang von Hegyeshalom dreieinhalb Stunden warten müssen, weil vor ihm nahezu jedes türkische Auto gefilzt worden war. Damals war Ungarn noch nicht Mitglied der EU. Die Türkei ist es bis heute nicht. Oder doch? Wie auch immer, Jánoska hoffte auf eine reibungslose Grenzüberquerung. Er gähnte: ›Ich muss aufpassen, dass ich nicht einschlafe.‹

Alexa und Gabó, eng umschlungen. Was tanzen die denn? Argentinischen Tango? Schon wieder? Könnte es nicht mal ein ungarischer sein? Oder ein westdeutscher? Nur dieses eine Mal! Vergeblich sprichst du zu ihnen, sie hören dich nicht, gehen komplett in der wehmütigen Musik auf. Das Leben selbst. Gabó beginnt links, Alexa auch, Caminata. Dann eine kurze schnelle Schrittfolge, Corrida. Alexa verschiebt Gabós freies Bein, Sacada. Sie lehnt sich über Gabó, beschreibt mit dem Schuh einen Bogen, Volcada. Die Gitarre spielt lang gezogene Klagetöne, dazu kommt das Klavier. Der schwarze Flügel mit den weißen Tasten rollt plötzlich auf die beiden Tänzer zu. Gleich wird er sie überfahren! Hilfe!

Jánoska erwachte von seinem eigenen Schrei und riss den Kopf hoch. Krampfhaft umklammerte er das Lenkrad und dachte: ›Mein Gott, ich muss einen Kaffee trinken.‹

Ohnehin war es an der Zeit, zu tanken und Sandwiches zu kaufen, da er Alexas Angebot, welche zu machen, in einem Anfall von Trotz abgelehnt hatte. Warum eigentlich? Wieso hatte er behauptet, das sei überflüssig, er könne an der Tankstelle welche kaufen? Er wollte eben nicht zeigen, wie sehr er ihre Fürsorge brauchte, ihre Aufmerksamkeit, ihre Liebenswürdigkeit. Gerade jetzt, wo sie Probleme hatten. Auch egal. Nicht egal. Ach, zum Teufel … mit den Sandwiches. Irgendwo würde er schon noch etwas zu beißen kriegen.

Seit ihr Romeo das Feld geräumt hatte, gingen bei der Nachbarin im vierten Stock höchstwahrscheinlich die Männer ein und aus, doch Jánoska bekam nie etwas mit. Offensichtlich hatte sie den Richtigen noch nicht gefunden. Aber wer in aller Welt fand schon den Richtigen? Das hat nicht einmal der große Johann Wolfgang von Goethe geschafft. Dabei hat doch gerade der sehr viele Frauen beglückt. Oder beunglückt. Goethe selbst war auch kein glücklicher Mensch. »In meinem ganzen Leben bin ich ganze vier Wochen glücklich gewesen!«, behauptete er im Alter von fünfundsiebzig Jahren. Schimpf und Schande! Der resignierte Ausspruch des Meisters stammte aus einer Zeit, als er auf heftigste Weise der gerade mal neunzehnjährigen Ulrike Levetzow den Hof machte.

Was den Titel seines Buches betraf, hatte Dr János Mester noch keine Entscheidung getroffen. Ursprünglich war seine Idee »Goethes Lieben« gewesen, aber leider existierten schon einige Werke mit ähnlichen Titeln. Zunächst pfiff er darauf. ›Und wenn schon‹, dachte er, dann würde es eben noch eines mehr geben. Im Zusammenhang mit Goethe gab es sowieso nichts Neues mehr unter der Sonne. Es ist alles schon so oft geschrieben worden. Doch dann fiel ihm ein, sein Buch könnte in Büchereien und Buchhandlungen verwechselt werden, sollte es überhaupt je … Nein, mit so einer pessimistischen Haltung konnte er nicht an die Arbeit gehen.

»Goethes sämtliche Romanzen«.

Das klang gut und deckte sich mit dem Thema. Man konnte es ja noch ein wenig versüßen:

»Goethe Universal (Romanzen)«.

Ein wenig Humor würde sicher nichts schaden. Oder doch? Bei der Leserschaft nicht, bei Kollegen und Rezensenten hingegen schon. Also mal sehen. Zunächst musste der Text vollendet werden, das mit dem Titel hatte noch Zeit. Sehr weit war er noch nicht gediehen, es existierten erst einige Abschnitte, denn Jánoska war noch mitten in der Materialsammlung. Im besten Falle würde das Buch Ende nächsten Jahres erscheinen können. 2007. Allerdings war jetzt schon September. Also dann Anfang 2008.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) hat von Jünglingsjahren an bis zum Greisenalter sämtliche Qualen und Verzückungen der Liebe durchlebt.

Mit diesem Satz würde das Vorwort zu Dr János Mesters neuem Buch beginnen, ganz gleich wie der Titel am Ende lauten würde. Bei wissenschaftlichen Werken war ein Vorwort unerlässlich, auch wenn darin in groben Zügen nichts anderes zur Sprache kam als das, worauf im Verlauf der Kapitel ausführlich eingegangen wurde. Dennoch tat der Verfasser gut daran, dem Leser darzulegen, was ihn erwartete. Und was nicht. Für sein Buch wünschte sich Jánoska, es möge statt eines dieser in unverständlichem Fachchinesisch abgefassten Werke eine genussvolle Lektüre werden und auch für diejenigen verdaulich sein, die sich weder mit Goethe noch mit deutscher Literatur auskannten. Jánoska hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als dem Dichterfürsten diesmal seinerseits einen Dienst zu erweisen. ›Wenn es mir gelänge, auch nur eine Handvoll Menschen dazu zu bringen, Goethes Gedichte, Romane oder gar seine Farbenlehre zur Hand zu nehmen, hätte ich nicht umsonst gelebt‹, dachte er. ›Okay, ich hätte vielleicht umsonst gelebt, aber nicht umsonst an diesem Buch gearbeitet.‹

Abhandlungen, Beschreibungen und Analysen würden in Kapiteln mit arabischen Ziffern zusammengefasst werden, römische Ziffern würden diejenigen Kapitel bezeichnen, die sich den einzelnen Frauen widmeten. In den unzähligen Mädchen und Frauen, die Johann Wolfgang je geliebt hat, suchte er einzig und allein nach dem ewig-göttlichen Weib. Doch er hat es wohl auch nicht gefunden. Seinem Ideal am nächsten kam er im Falle der Gräfin Stolberg – bezeichnenderweise eine Dame, die er gar nicht persönlich kannte, zu der er seine Liebe lediglich in Briefen auslebte. Charlotte von Stein, die Gattin des Hofstallmeisters am Weimar’schen Hof, betete der Meister rund ein Jahrzehnt lang an. Die Beziehung ging erst in die Brüche, nachdem sie sich, wie das so zu gehen pflegt, erfüllte, und aus dem Himmlischen etwas ganz und gar Irdisches wurde. An Charlotte Buff, Lili Schönemann und all den anderen war Goethe nur so lange interessiert, wie sie für ihn geheimnisvolle Objekte der Begierde darstellten, die nicht zu verliebten Frauen mutierten. Die Einzige, die dauerhaft in den Genuss seiner Aufmerksamkeit kam, war Christiane Vulpius, seine Frau. In ihrem Fall litt die Beziehung weder durch ihre Anwesenheit noch durch ihre Hingabe. Von niederer Herkunft, galt sie als hübsch, aber ein wenig ungeschlacht. Sie gebar dem Dichter Kinder, und er liebte sie auch dann noch aus tiefstem Herzen, als sie längst zu einem fetten und versoffenen Weibsbild verkommen war. Außergewöhnliche Frauengeschichten eines außergewöhnlichen Mannes. So etwa könnte die Botschaft von Dr János Mesters Buch lauten – falls man ein Wort wie Botschaft im 21. Jahrhundert überhaupt noch verwenden durfte.

Dagegen: Durchschnittliche Frauengeschichten eines durchschnittlichen Mannes?

›Von mir könnte ich das nicht gerade behaupten‹, dachte Jánoska.

Oder doch?

In ihrem weinroten Tangokleid schwirrte Alexa durch den Bildhintergrund. Gabó hielt sie eng umschlungen, und während Alexas hohe Absätze laut klapperten, glitten Gabós Sohlen lautlos über das Parkett. Ein Bandoneon mit einundsiebzig Knöpfen weinte, Streicher schluchzten dazu.

Der Grenzbeamte würdigte Jánoskas Pass keines Blickes, winkte ihn einfach durch. Erleichtert fuhr Jánoska weiter, drosselte bei den Österreichern erneut die Geschwindigkeit, wobei man sich am dortigen Glashäuschen noch weniger für ihn zu interessieren schien. Der Beamte kam nicht einmal heraus. Jánoskas Herz tat einen Riesensprung: Er war im »Westen«. Obwohl der Begriff seit 1990 rein gar keine Bedeutung mehr hatte, saß er derart in allen Fasern, dass man sich nicht leicht von ihm befreien konnte.

In Jánoskas Jugend war es eine fürchterliche Prozedur gewesen, einen Reisepass zu bekommen. Erzählte er das deutschen (westdeutschen) Bekannten, blieb er immer an dem Verb »bekommen« hängen. »Bekommen« oder »kriegen«. In dem gegebenen Kontext klang beides absurd. Denn Bürger westlicher Staaten »bekamen« ihren Reisepass nicht aufgrund einer besonderen Gunst von Staat oder Partei – sie hatten einfach einen. Sie ließen sich einen ausstellen. Besorgten sich einen. Ach wie gut, dass inzwischen auch Ungarn … Man brauchte nicht einmal mehr einen Reisepass, in den Ländern der EU konnte man nach Lust und Laune mit dem Personalausweis herumreisen, sofern man einen besaß. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit hatte Jánoska sein altes khakifarbenes Büchlein gegen das neue Kärtchen eingetauscht. Aber um auf Nummer sicher zu gehen, hatte er zusätzlich zu seinem Kärtchen auch seinen Reisepass mitgebracht. Überhaupt hatte Jánoska alles dabei, was ein Mensch auf einer Auslandsreise nur brauchen konnte. Grüne Karte. Krankenversicherung. Kreditkarten. Monatsvignetten für die Autobahnen in Ungarn und Österreich. Landkarten. Schutzbrief des Automobilclubs. Eine Schachtel mit Arzneimitteln. Wischtücher. Flaschenöffner. Werkzeug für Reparaturen an Wagen und Brille. Taschenmesser, kleine Löffel, Servietten, Papiertaschentücher, Fleckentferner. Das meiste davon schleppte er für den Fall der Fälle auch in Budapest mit sich herum. Was selten eintrat, war der Fall der Fälle, immer vorhanden war jedoch ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Jánoskas Aszendent war Jungfrau – einschlägig Bewanderte werden verstehen, warum.

Alexa war auch in der Astrologie heimisch. Nicht nur im Tango. Sie war überhaupt überall heimisch. ›Nicht so wie ich‹, dachte Jánoska säuerlich.

Die Sonne heizte den Wagen immer mehr auf. Bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr war es für Dr János Mester ein Selbstverständliches gewesen, sich beim Verlassen des Landes zu Tode zu ängstigen. Würde er wieder jedes einzelne Gepäckstück öffnen und seinen ganzen Kram ausbreiten müssen? Auf dieser Holzkonstruktion mit dem Gitter obendrauf, die aussah wie ein Marktverkäufertisch? Würde etwas beschlagnahmt werden – wobei sich diese Frage eher auf der Rückreise stellte, besonders wenn er unter dem Ersatzrad verbotene Bücher versteckt hielt. Würde man seinen Wagen auf der Suche nach verborgenen Gütern auseinandernehmen? Diese Art der eingehenden Untersuchung hatte im Slang der Zeit Kundendienst geheißen. Doch auch diesmal konstatierte Jánoska beglückt, dass die Zeiten, in denen man derlei zu befürchten hatte, endgültig und unwiderruflich vorbei waren. Freude beflügele unsere Seelen!

Jánoska hatte sich zeitlebens bemüht, sich an die geltenden Regeln zu halten, selbst im Sozialismus, als es einem zu Ruhm und Ehre gereichte, die Regeln zu brechen. Einzige Ausnahme: Er hatte immer etwas Westgeld im Geldbeutel, ein wenig D-Mark oder amerikanische Dollar, manchmal Schweizer Franken. Obwohl es strengstens verboten war. Trotzdem. Er wollte den Kontakt zur westlichen Welt nicht verlieren. Und im Gegensatz zur großen Mehrheit der Ungarn hatte er mehr oder weniger jedes Jahr eine Ausreisegenehmigung für sich durchboxen können, zumindest seit zweiundachtzig. Das hatte er Johann Wolfgang von Goethe zu verdanken. Welch ein unvergängliches Verdienst des Dichters.

An der ersten Raststätte in Österreich wollte Jánoska eine Pinkelpause einlegen. Das hatte Tradition. Ob er die Anspannung der Grenzüberquerung ablassen musste oder ob ihn seine wachsende Prostata ans Pissoir zwang, hätte er nicht genau sagen können. War auch egal. Wann kam endlich die Raststätte? Er trat kräftig aufs Gaspedal, wenn ihn nicht alles täuschte, hätte sie schon längst da sein müssen.

Nun gut, da er eh nicht tanken musste – das hatte er schon vor der Grenze getan –, lenkte er den Wagen auf den Standstreifen. Doch er hatte den Schauplatz denkbar ungünstig gewählt: Neben der Fahrbahn zog sich eine dicke, mannshohe Betonmauer hin, die es verhinderte, dass man sich in den Schutz der Bäume schlug. Dann eben hier … Diejenigen, die sich gerade für mein Geschlechtsteil interessieren, sollen auch mal einen guten Tag haben. Er öffnete seinen Reißverschluss und machte sich neben dem Kofferraum stehend ans Geschäft, indem er dem gleichmäßigen Tuckern des Auspuffs lauschte.

Plötzlich wildes Reifenquietschen. In der Kurve rasten zwei Wagen ineinander, es regnete Glassplitter, Metallplatten barsten, und die beiden Wracks – in der Sekunde zuvor noch teure und elegante Limousinen – steuerten pfeilgerade auf Jánoska zu. Er bekam weiche Knie. Herr Jesus!

›Nur nicht in die Hose scheißen!‹ Die Hauptfigur des Romans kann unmöglich schon am Ende des ersten Kapitels ums Leben kommen.

Auch wenn sie eine seltsame Hauptfigur ist. In einem seltsamen Kapitel. Eines seltsamen Romans.

Alle drei nicht ganz dicht.

I.

Heute bin ich früh geweckt worden, weil ich nach Deutschland fahren muss. Jetzt gleich. Aus diesem Grund ist auch mein Gitterbett auseinandergebaut worden. Papa hat es auseinandergebaut. Die Matratze hat er auf den Boden geworfen, und ich wollte darauf rumhüpfen, aber er erlaubte es nicht.

Auf die Unterseite des Holzrahmens schrieb er mit Kuli: J. MESTER, F.-KARIKÁS-ALLG.-SCHULE, 1c. Dann fertigte er kleine Pappetiketten an und befestigte sie mit Bindfaden am Gitter. Auch darauf schrieb er: J. MESTER, F.-KARIKÁS-ALLG.-SCHULE, 1c. J. Mester war mein Name, F. Karikás der meiner Schule. Dort hatte man mich ausgesucht, um nach Deutschland zu fahren. Zunehmen sollte ich, denn ich bestand nur aus Haut und Knochen. In Ungarn herrschte Lebensmittelmangel, außer Kohldampf gab es nicht viel. Wegen der Revolution im Jahr zuvor, sagte Papa. Gegenrevolution, sagte Mama. Darüber gerieten sie immer in Streit. Auf jeden Fall ging es unserem Land sehr schlecht. »Iss in Deutschland, so viel du kannst!«, sagten meine Eltern.

Mama mahnte zur Eile. »Bist du schon fertig, Jánoska? Wir verpassen noch den Anschluss.« Anschluss verstand ich nicht. Ich dachte, ich fuhr in ein Ferienlager. Mama bugsierte mich ins Bad. »Ich erklär’s dir später, geh dich endlich waschen.«

Papa schnürte die Gitter mit dem Lattenrost und dem Seitenbrett zusammen und schleppte alles in den Flur. Wie üblich nörgelte er: »Wo hat man denn so was nur gesehen, dass man sein eigenes Bett mitnehmen muss. Haben diese Nazis denn keine Gitterbetten oder was?« Mama schnauzte ihn an: »Jetzt hör endlich mit den Nazis auf«, und jetzt verstand ich Nazis nicht. »Vor deinem siebenjährigen Kind musst du doch nicht dauernd von den Nazis reden. Außerdem fährt er in unser Deutschland.« »Ich werde schon acht«, rief ich aus dem Klo. »Und was sind Nazis?« Ich hatte mich zum Pinkeln auf die Schüssel gesetzt. Zwar sagte Papa immer, das machten nur Mädchen, doch es half nichts, ich pinkelte nun mal lieber im Sitzen. Und stützte mich dabei seitlich auf dem kühlen Rand ab. Mit gedämpfter Stimme sprach Mama weiter, aber ich hörte es trotzdem. »Man wird uns ganz schön einheizen, wenn er in der Schule ausplaudert, dass du unsere ostdeutschen Freunde Nazis nennst. Und er wird es ausplaudern, du weißt doch genau, wie er ist.«

Einheizen. Verstand ich auch nicht. Jemand, der bei uns in der Wohnung an Papas Stelle einheizte? Mein Klassenlehrer oder der bucklige Rektor? Da Papa das meistens eh nicht richtig hinbekam, wäre das vielleicht gar nicht schlecht. Das Zündholz war von mieser Qualität, der Keller obendrein feucht und die Kohle aus diesem Grunde nass. Wir heizten nämlich mit Kohle, mit Eierbriketts. Sofern wir welche ergattern konnten, denn das konnten wir nicht immer. Auch die Kohle war von mieser Qualität, nicht nur dass sie nass war, sie zerbröselte auch noch, wenn Papa sie im Keller in die Kanne schaufelte. Und beim Anzünden qualmte sie derart, dass wir uns vor lauter Rauch gegenseitig nicht mehr sehen konnten. Mama hustete und schimpfte, Papa schwieg oder sagte in einem fort, wir sollten das Fenster öffnen. Doch gerade dort kam die Kälte herein, wegen der wir heizen mussten. Gabi Huszárs Vater konnte so einheizen, dass es kein bisschen qualmte und es sofort warm wurde. Ich glaube, bei den Huszárs gab es besseres Zündholz, und sie hatten jederzeit Eierbriketts.

Mama regte sich immer mehr auf, weil ich es ausplaudern würde. »Er wird es ausplaudern, er wird es ausplaudern!« Ich wollte es nicht noch einmal hören und rief vom Klo, dass ich es nicht ausplaudern würde. Daraufhin verstummte sie.

Als ich aus dem Bad kam, war Papa gerade dabei, die Enden des Bindfadens mit einer Schere abzuschneiden. Er murrte unablässig: »Warum hat Jánoska immer noch kein richtiges Bett? Es wäre höchste Zeit!« Mama regte sich noch mehr auf. »Warum musst du dich immer an so was aufhängen! Wir haben selbst angeboten, das Bett mitzuschicken, da es im Ferienlager nur Pritschen gibt.« »Was soll es in einem Lager sonst geben?«, fragte Papa. Jetzt war auch er wütend. Genau wie Mama. »Auf jeden Fall sind es Stockbetten! Willst du etwa, dass dein kleiner Sohn rausfällt?« »Er könnte unten schlafen, und nicht wir haben es angeboten, sondern du.« »Ist ja gut, ich hab es angeboten, aber jetzt ist nicht der Moment für Diskussionen, geh und kümmere dich ums Taxi. Solange mache ich für Jánoska das Frühstück.« »Zeit wird’s«, stöhnte Papa, nahm die Bettteile unter den Arm und trug sie hinaus auf den Treppenabsatz.

Ich war auf diese große Reise nicht im Geringsten erpicht. Doch was konnte ich tun, keiner fragte mich, was ich eigentlich wollte. Deswegen ist es so schlimm, ein Kind zu sein, man muss wirklich schauen, so schnell wie möglich erwachsen zu werden. Tagelang hatte Mama kein anderes Thema als das, wie gut ich es haben würde. Pro Schule durften nur zwanzig Kinder mit, pro Klasse nur zwei. »Warum fährt dann aus meiner Klasse niemand außer mir?« »Weil Gabi Huszár eine eitrige Mandelentzündung hat, darum. Umso größer die Ehre, dass du fahren darfst, also benimm dich ordentlich. Du bist der einzige Vertreter deiner Klasse, dein Benehmen fällt auf die ganze Karikás-Schule zurück. Na, und auf dein Elternhaus natürlich, also mach mir bloß keine Schande.«

Ich weiß auch nicht, warum, aber irgendwie kam es doch immer so, dass ich ihr doch Schande machte. Papa natürlich auch, aber ihm war das gleich. Ich war ihm gleich. Ich glaube, Mama war ihm auch gleich. Er interessierte sich nur für Kreuzworträtsel.

Jedenfalls gingen die Dinge immer schief. Ich meine die Dinge, die mit mir zu tun hatten. Nicht so wie bei Pityu Láng oder bei Gabi Huszár oder bei Pisti Kőrösi. Immer wenn ich in Schwierigkeiten steckte, hielt mir Mama diese drei vor. Also oft. Ich konnte es auch nicht ändern. Pityu Láng, Gabi Huszár und Pisti Kőrösi steckten natürlich nie in Schwierigkeiten. Ach, hatte ich es wirklich schwer. Die Frage war, warum ich nicht brav sein konnte, obwohl ich mich so sehr bemühte.

Diese Frage schrieb ich auch in das Pepita-Heft, das mir Papa geschenkt hatte. Und malte eine Reihe Kreise darunter. Sie gerieten nicht gut. Der eine wie ein Ei, der nächste ganz flach, der dritte zu eckig. Ich strich das Ganze durch und machte eine neue Reihe. Punkt Strich Punkt Strich.

Das Gitterbett wollte partout nicht ins Taxi passen. Papa regte sich auf: »Ich habe doch extra einen großen Wagen bestellt!« Der Taxifahrer war drauf und dran davonzufahren. »Tut mir leid, das ist ein Personenwagen, Sperrguttransporte übernehme ich nicht.« Mama hüpfte beidbeinig auf dem Pflaster herum. »Nun verstehen Sie doch, guter Mann, mein Sohn muss den Zug erwischen, sonst darf er nicht mit nach Deutschland, die werden nicht auf ihn warten!« Sie zeterte solange herum, bis Papa die Teile meines Betts durch die andere Tür zwischen die Sitze geschoben hatte. Zufrieden nickend meinte er: »Na also, passt doch.« »Und wo belieben Sie zu sitzen?«, wollte der Taxifahrer wissen. »Hinter Ihnen«, erwiderte Papa und quetschte sich im Schneidersitz auf die Rückbank, »komm zu mir, Jánoska.« Mama nahm auf dem Beifahrersitz Platz. »Na also, worauf warten Sie noch, auf Applaus?«

Am Bahnhof galoppierte Mama im Stechschritt zu Gleis drei, mich an der Hand hinter sich her zerrend. Verzweifelt versuchte ich Schritt zu halten. Der Schaffner stand mit Schildmütze, Seitentasche und Lochzange da, alles sah genauso aus wie die Sachen, die ich zum Geburtstag bekommen hatte. »Warten Sie!«, rief Mama, und der Schaffner lächelte. »Nur die Ruhe, gnädige Frau, der Zug fährt erst in drei Minuten.« »Aber das Bett muss noch mit!« »Was für ein Bett?« »Das Gitterbett!« Erneut lächelte der Schaffner. »Das Gitterbett nehmen wir selbstverständlich auch mit.«

Wäre ich Schaffner, würde ich auch den ganzen Tag lächeln.

Als sich herausstellte, dass ich der Einzige war, der sein Bett mitnehmen musste, schämte ich mich fürchterlich. Alle anderen waren offenbar schon große Jungs. Dabei merkte ich jetzt erst, dass … »Mama, das sind ja alles nur Mädchen!«

Mama gab keine Antwort, reckte nur unablässig den Hals. »Wo dein Vater nur bleibt!« Doch schon tauchte er auf, verschwitzt, aber zufrieden. »Alles klar! Es ist im Postwaggon verstaut. Um den Rest müssen sich die Nazis kümmern!« »Ich bitte dich!«, sagte Mama mit einem Blick, als wollte sie ihm eine Ohrfeige verpassen. Auch mich schaute sie immer so an, bevor sie mir eine verpasste.

Wir erklommen die Eisenstiege des Waggons. Im Wagen befanden sich unzählige Kinder, vor allem unzählige Mädchen. Mama tat, als merkte sie das nicht. »Hallo Kinder, ich habe hier einen kleinen Kameraden für euch. Bitte seid nett zu ihm.« Sie suchte nach einem geeigneten Sitzplatz. Für mich. Von unseren Fahrten an den Plattensee wusste ich, dass Mama die Fensterplätze für die besten hielt. Dabei saß ich viel lieber am Gang, weil ich dann über niemanden drübersteigen musste, wenn ich aufstehen wollte. Mich hatte nämlich der Hafer gestochen, wie Papa immer sagte. Wirklich. Dauernd musste ich aufstehen, und saß ich am Fenster, trat ich beim Hinausgehen unweigerlich jemandem auf die Füße. Meistens meinem Großvater, obwohl Mama schon Stunden vor seinem Besuch mit ihren Beschwörungen begann, »Jánoska, ich bitte dich bei allem, was dir heilig ist, achte drauf, Opa nicht auf die Füße zu treten. Er hat eh schon solche Schmerzen und muss orthopädische Schuhe tragen, also, bitte, sei so gut.« Natürlich versprach ich es. Aber vor lauter Aufpassen stieg ich ihm doch jedes Mal drauf, worauf er die Luft einzog, und Mama schrie, ich hätte zwei linke Füße. Und zwei linke Hände. Bis Großvater sie zu beruhigen versuchte: »Ach lass doch, das macht gar nichts, das halte ich schon aus.«

Seit Großvater letztes Jahr gestorben war, konnte ich jetzt nur noch Großmutter auf die Füße treten, aber sie trug keine orthopädischen Schuhe, und ich stieg auch nicht jedes Mal drauf. Ich hatte Angst, ihr nahe zu kommen. Wegen ihres Barts.

Einen Bart hat keine andere Großmutter. Nur meine.

Als Mama in meinem Pepita-Heft diese Eintragung fand, schmierte sie mir eine und schrie furchtbar. »Was bildest du dir eigentlich ein? Glaubst du, du dürftest alles?« Das glaubte ich nicht. »Du radierst das sofort aus!« Doch sie wartete nicht ab, dass ich gehorchte, sondern ging mit dem harten, ziegelroten Radiergummi gleich selbst ans Werk. Das Papier riss ein.

Irgendwie war ich wegen der vielen Mädchen dann doch überrascht. Schülerinnen der Mädchenschule in der Szív-Straße. Ich ging auf die Knabenschule in der Alsóerdősor. Im Kindergarten hatte es Mädchen gegeben, aber das war etwas anderes gewesen. Damals war ich noch ein kleines Kind gewesen, jetzt hingegen war ich über sieben Jahre alt. Ich wurde schon acht, wie man sagte. Einige von ihnen waren richtig große Mädchen. Das erkannte man daran, dass ihnen Brüste wuchsen. Eine Pussi hatten alle Mädchen, Brüste hingegen nur große.

Titten. Vorbau. Euter. Vorderlichter. Milchladen. Brust. Brustwarze.

Auweia, wenn Mama das las, setzte es wieder was. Durchstreich, durchstreich.

Als ich klein war, wusste ich nicht, warum Frauen Brüste hatten. Ich fragte Mama, und sie sagte, Babys saugten die Milch daraus, ihre einzige Nahrung. Doch sie tranken bei Frauen, obwohl Jungs auch Brustwarzen hatten. Braune. Ágac und Perec hatten rosafarbene. Bei Ágac begannen die Brüste sich schon zu wölben, und sie zeigte sie nicht mehr her. Deswegen zeigte auch Perec sie nicht mehr her, obwohl es bei ihr noch gar nicht so weit war. In den Ferien am Plattensee (nicht letzten Sommer, sondern davor) waren sie beide in Badehosen herumgerannt, genau wie ich. Wir hatten Sandburgen gebaut, Eidechsen gefangen und wilde Kämpfe ausgefochten. Entweder war ich Indianer und sie Cowboys oder umgekehrt. Letztes Jahr wollten sie dann weder Cowboy noch Indianer mehr sein. Ich verstand nicht, was passiert war. Nur weil sie von ihrer Mama winzige BHs bekommen hatten, wollten sie jetzt nicht mehr mit mir spielen. Nicht mal Papa und Mama. Nicht mal angeln. Allein war es nicht schön, obwohl ich dann sein konnte, was ich wollte, Cowboy oder Indianer.

Lieber war ich Cowboy. Wegen des Colts. Ich musste Mama und Papa lange bearbeiten, bis sie mir endlich einen Colt kauften, wie Pityu Láng und Gabi Huszár einen hatten. Von den beiden wusste ich, dass es den Colt, das Halfter und die Patronenrollen nur in einem ganz bestimmten Geschäft zu kaufen gab. Wir fuhren hin, und sie zeigten es mir. Mama wollte davon überhaupt nichts wissen. Bei uns gäbe es keine Waffen, wir seien Pazifisten. Ich bettelte. Wünschte es mir zu Weihnachten. Man versprach es mir, aber dann war ich nicht brav, und Papa sagte, so nicht. Am Ende bekam ich ihn doch. Im Sommer am Plattensee verboten mir Ágac und Perec, mit Patronen zu schießen, also ließ ich den Colt leer klacken. So richtig das Wahre war das nicht.

Als ich noch klein war, glaubte ich, die Mädchen hätten auch Pimmel. Im Kindergarten haben die Mädchen den Jungs nie erlaubt, ihnen beim Pinkeln zuzusehen, weil sie ihre Pussis nicht herzeigen wollten. Ági Görög hatte es Pussi genannt. Dabei hieß es Kussi. Mir gefiel Pussi besser. Pimmel und Pussi.

Mein Pepita-Heft hatte ich in Deutschland auch dabei. In Deutschland lag Kühlpunkt, die kleine Halbinsel, zu der wir fuhren, um ordentlich zuzunehmen. Ich hatte bei einer Tante Deutschunterricht gehabt, obwohl die Tante aus Österreich war. Aber dort spricht man auch deutsch. Meine Vokabeln habe ich nie gelernt, und nur Mama und Papa glaubten, ich würde in Deutschland deutsch sprechen können. Weil sie mich doch zu der Tante geschickt hatten. Sie wohnte nicht weit von uns. Mehr als »Ich heiße Johann Meister und wohne in Budapest« konnte ich nicht sagen.

Mama redete den Kindern so lange zu, ihrem kleinen Kameraden Platz zu machen, bis sie auf einer der Bänke etwas zusammen rückten. Dort setzte ich mich hin. Nun begann Mama mit ihren üblichen Anweisungen. Dass ich immer sehr aufpassen sollte, nie unachtsam vom Gehsteig auf die Fahrbahn treten und kein ungewaschenes Obst essen. Wäre irgendwas, sollte ich mich an die Frau Lehrerin Genossin Gruppenleiterin wenden, die Tante Irén. Frau Genossin Irén Szedlacsek, das sollte ich mir einprägen. Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als dass sie endlich aufhörte, denn alle guckten schon. Mama sprach immer lauter als alle anderen. Papa stand draußen auf dem Bahnsteig, klopfte an die Scheibe und zwinkerte mir zu, wenn ich zu ihm blickte. Ich wünschte mir, er würde aufhören zu zwinkern.

Der Zug fuhr los, und Papa lief nebenher, so lange er konnte. Jetzt galt es aufzupassen, denn dies war der Moment, wo ich auf keinen Fall weinen durfte, wenn ich für die nächsten zwei Wochen nicht als Heulsuse abgestempelt werden wollte. Im Kindergarten hatte ich mir das ein ganzes Jahr anhören müssen, nur weil ich geweint hatte, als Mama mich allein ließ.

Es gab eine Handvoll großer Mädchen, denen der Busen nicht nur wuchs, sondern bei der Fahrt sogar vibrierte. Ich musterte sie neugierig, worauf sie mir wütende Blicke zuwarfen. Also wandte ich mich wieder ab. Mein Pepita-Heft fest in der Hand, rührte ich mich nicht von meinem Platz. Irgendwie würde es schon alles werden. Die Genossin Tante Irén betrat unseren Wagen und wollte wissen, wer Hunger hätte. Da ich mich meldete, gab sie mir ein in Folie gewickeltes Schmalzbrot. Obwohl es sehr klein war, bekam ich kein zweites. Als ich sie fragte, ob Deutschland noch weit wäre, lachte sie sehr. »Wir sind doch eben erst losgefahren! Wie heißt du doch gleich, mein Kleiner? Ach ja, du bist der Jánoska.« »Nein«, rief ich, »ich heiße János Mester!« Ich hasste es, Jánoska genannt zu werden. Vergeblich bat ich Mama darum, mich nicht mehr so zu nennen, sie erwiderte nur: »Gut, mein Kleiner, ich werde dich nicht mehr Jánoska nennen.«

In Deutschland, in Kühlpunkt, kam ich lange nicht dazu, in mein Pepita-Heft zu schreiben, weil so viel los war.

Ein Jammer, dass ich so oft fragen musste, ob Deutschland noch weit war, denn das nervte die Frau Genossin Gruppenleiterin Irén Szedlacsek. Sie sei keine Genossin, sondern die Kameradin Gruppenleiterin, sagte sie. Auch gut. Mich nannte man nur noch den Ist-es-noch-weit. Das war kein bisschen besser als Jánoska. Gleich in der ersten Nacht machte ich ins Bett. Regungslos versuchte ich auszuharren, damit man es nicht bemerkte. Bis zum Morgen würde es vielleicht getrocknet sein.

Womit ich dann doch nicht gerechnet hatte, dass ich auch groß gemacht hatte. Gewöhnlich pflegte ich nur zu pinkeln. Seit ich ein großer Junge war, hatte es ein derartiges Unglück nicht mehr gegeben. Die deutsche Genossin Gruppenleiterin, Genossin Tante Ilse, rüttelte mich am Arm und sagte, ich solle leise aufstehen und mit ihr gehen. Obwohl ich nicht verstand, was sie sagte, begriff ich doch irgendwie, was sie wollte. Sie brachte mich ins Sekretariat, wo ich mich ausziehen und in eine große Waschschüssel mit heißem Wasser setzen musste. Es klebte sogar an meinem Pimmel. Von irgendwoher tauchte auch die Kameradin Gruppenleiterin Tante Irén auf, denn es wurde schon Morgen. Alle trugen rote Halstücher, wie die noch größeren Jungen, die schon Pioniere waren. Ich ahnte, dass es bei ihrer Unterhaltung um mich ging. Ich weinte ein bisschen und wusch mir das Gesicht, damit sie es nicht merkten. Die Tante Genossin Kameradin Irén fand das nicht gut, weil das Wasser schmutzig war. Sie gab mir ein Handtuch, das auch schmutzig war und nach Butter roch, genau wie die, mit der man die Brote bestrich. Dabei war das gar keine Butter, sondern Margarine, wie man uns sagte, allervorzüglichste ostdeutsche Margarine. Also so was wie Butter. Nur etwas stinkender. Schmalzbrote mochte ich lieber, die machte mir Mama immer für die Schule.

Puh, schämte ich mich, dass ausgerechnet ich ins Bett gemacht hatte! Während ich in der Waschschüssel saß, dachte ich noch gar nicht daran, dass das ganze Lager erfahren würde, dass der Ist-es-noch-weit ins Bett geschissen hatte. Jetzt hieß ich also Scheißer. Dann doch lieber Ist-es-noch-weit.

In dem Lager, das wir Feriendorf nennen mussten, gab es nicht nur ungarische Kinder, das hatte uns die Gruppenleiterin Irén erklärt. Es gab auch polnische und tschechoslowakische. Aber sie spielten nicht mit uns. Tagsüber war auch eine Gruppe deutscher Kinder aus der Nachbargemeinde da. Die redeten nicht einmal mit den anderen. Die wenigen ungarischen Buben hielten zusammen, aber nicht mit mir, sondern nur untereinander. Mich kannten sie ja nicht – und ich kannte sie nicht. Also spielten sie auch nicht mit mir. Am Ende waren es die großen Mädchen, an die ich mich hielt. Zwar waren sie darüber nicht sehr glücklich, sie scheuchten mich aber auch nicht fort, sonst wurden sie von Tante Ilse oder Tante Irén gerügt.

Als ich endlich ein paar Worte beherrschte, wollte ich mit einem der deutschen Mädchen reden. Sie gefiel mir, weil sie blaue Augen hatte, wenn sie drinnen war, und grüne, wenn draußen die Sonne schien. Gern hätte ich ihr das gesagt, blau, grün, aber ich glaube, sie verstand mich nicht. Ich zeigte auf mich: János. Sie sagte: Jolánka. Der Name gefiel mir. Vom Scheißer wusste sie nichts, sie nannte mich János. Doch als sie von den anderen Jánoska aufschnappte, nannte sie mich auch so. Sie sprach es merkwürdig aus, und das gefiel mir. Janóschka.

Jolánka Jolánka Jolánka Jolánka Jolánka. Jolánka Jolánka Jolánka Jolánka Jolánka.

Darunter eine Reihe Herzchen.

Die größten Jungen waren in die größten Mädchen verliebt, in erster Linie in eine, in Verotschka aus der tschechoslowakischen Gruppe. Kontingent, wie es die Tante Gruppenleiterin Irén nannte. Die inzwischen auch ihr wahres Gesicht zu zeigen begonnen hatte und im Falle von Ungehorsam Hiebe mit dem Rohrstock verteilte. Zwei-, dreimal habe ich auch etwas abbekommen. Die größten Jungs schrieben Liebesbriefe, und ich sah, dass man darunter Herzchen malen musste. Auch ich wollte einen Liebesbrief schreiben und riss zu diesem Zweck ein Blatt aus meinem Pepita-Heft. Doch mehr als »Jolánka, bitte, blau, grün, ich liebe dich sehr gut, danke« wusste ich nicht. Dann die Herzen. Abzuschicken wagte ich ihn nicht. Liebesbriefe verschickte man, indem man sie in eine flache Taschenlampe legte und eines der Mädchen bat, ihn der Adressatin zu überbringen. So viel Mut hatte ich nicht, also zerriss ich den Liebesbrief in winzige Fetzen. Jolánka würde sicher nur böse sein.

Ich dachte sehr viel an Jolánka, eigentlich ständig. Wann immer sie im Meer badete, ging auch ich ins Wasser, obwohl es sehr kalt war. Es zwickte richtig. Deutsche Kinder merkten das nicht. Jolánka war gar nicht mehr so klein, unter ihrem gestreiften Badeanzug war ihr Busen schon ein wenig zu erkennen. Ein quer gestreifter Badeanzug. Mama mochte keine Querstreifen, weil sie dick machten. Jolánka schadete das nicht, denn sie war mager. Trotzdem war eines gewiss: Gefallen konnte ich ihr nicht, denn ich war nicht bloß mager, ich war nur eine Knochenansammlung. Das sagte Mama immer. Wenn ich mich am Bauch einseifte, schäumte es am Rücken, sagte Papa. Das war ein Witz, und Papa lachte. Und manchmal nannte er mich Graf Magerow. Auch das war ein Witz.

Die Jungs bohrten ein Loch in die Wand der Mädchendusche und spähten hindurch. Mich ließen sie nicht ran. Auch egal, Jolánka duschte ohnehin nie, sie gehörte zum deutschen Kontingent und war nur tagsüber hier. Sie freundete sich mit einem ungarischen Mädchen namens Ilcsi an. Ilcsi hatte braune Haut und lockige Haare und hielt die Augenlider stets halb gesenkt. Erst dachte ich, sie sei müde, aber das war es nicht. Sie redete ununterbrochen. »Dein Mundwerk steht nie still«, meinte die Kameradin Irén, aber Ilcsi scherte sich nicht darum, schließlich hatten wir Ferien, oder nicht? Wegen ihrer deutschen Oma konnte Ilcsi deutsch. Jolánka und sie tuschelten oft stundenlang miteinander.

»Du bist dumm, Jánoska«, sagte Ilcsi, »sie heißt nicht Jolánka, sondern Jolanda, das ist ein deutscher Name, verstehst du?« Ich war nicht sicher, ob das stimmte, denn Ilcsi versuchte jeden hereinzulegen. Ihren Zimmergenossinnen hatte sie erzählt, es sei gerade Ebbe, doch am Abend, wenn die Flut kam, würde das Meerwasser bis ins Zimmer fließen. Am besten lege man die Schuhe gleich aufs Bett. Ilse und Irén bliesen ihr daraufhin gehörig den Marsch. Doch seit ich Ilcsi kannte, hatte ich keine so große Angst mehr vor den beiden, denn laut Ilcsi durften sie uns sowieso nichts tun. Nach Ablauf der zwei Wochen würden wir einfach wieder heimfahren und fertig. Von wegen diese Drohungen mit dem Heimschicken! Der Bus kam uns am Ende der zwei Wochen abholen, nicht vorher. Und abgesehen davon, so toll war es hier auch nicht, dass einem etwas entgehen würde, sollte man heimgeschickt werden. Also wirklich.

Trotzdem nannte ich sie weiterhin Jolánka. Ich hatte beobachtet, dass sie den Kopf hob, wenn ich den Namen sagte, also hatte Ilcsi doch nur Witze gemacht. Auch ohne ihre Hilfe konnten wir uns mittlerweile ein wenig unterhalten. Aber Ilcsi musste noch oft genug in die Bresche springen, was nicht gut war, weil ich dann zu ihr sagen musste, was ich eigentlich Jolánka sagen wollte. Es wäre besser gewesen, hätte ich bei der Tante richtig deutsch gelernt.

Vormittags standen gemeinsame Aktivitäten auf dem Tagesplan. Zum Beispiel in Dreierreihen ins Dorf marschieren, wo man uns die Schule mit den schönen Klassenzimmern zeigte. Unterricht gab es jetzt keinen, auch die deutschen Kinder hatten Ferien. Möglicherweise machten sie gerade in Ungarn Urlaub, sagte die Gruppenleiterin Irén, zum Beispiel am Plattensee. Eine lustige Vorstellung, dass die ungarischen Kinder nach Deutschland fuhren, während die deutschen Kinder in Ungarn waren. Ein Tauschgeschäft wie auf einem Basar. Doch nicht alle ungarischen Kinder waren hier, und vielleicht waren auch nicht alle deutschen Kinder in Ungarn.

Die Nachmittage standen zur freien Verfügung. Die großen Jungen spielten Fußball, ließen mich aber nicht mitspielen. Baden durfte man, jedoch nur im flachen Wasser. Tag für Tag leierte die Kameradin Ilse herunter, dass wir sehr aufpassen müssten, Achtung, Achtung, die Wellen seien hier sehr tückisch, unter keinen Umständen dürften wir zu weit hinaus, denn dort, wo sich die Wogen überschlugen, sei die Strömung sehr stark. Aber wer zum Teufel wollte auch schon so weit hinaus, wenn es so kalt war! Die Deutschen vielleicht. Jolánka wollte jedenfalls nicht, sie planschte lieber im seichten Wasser. Beim Baden hatte sie ein kurzes Kleidchen an, weil sie sich gleich am ersten Tag einen Sonnenbrand geholt hatte. Mit beiden Händen hob sie das Kleidchen in die Höhe, so dass ihr Bauchnabel sichtbar wurde. Der war anders als meiner. Ich hatte nur ein Loch, bei ihr hingegen war es ausgefüllt. Als würde etwas daraus hervorquellen. Er wölbte sich wie ihre Brustwarze. »Du hast da eine kleine Brustwarze«, sagte ich und zeigte mit dem Finger drauf. Das wollte Ilcsi nicht übersetzen, sagte nur »Pfui«. Gern hätte ich den Knubbel berührt, aber ich traute mich nicht.

Mama rief an, und ich wurde ins Sekretariat gerufen. In der Leitung krachte es. Sie wollte wissen, wie es mir ging. »Gut.« »Kannst du schon deutsch?«, fragte sie und redete sogleich auf Deutsch weiter. Ich schwieg. Dabei verstand ich alles. Wusste nur nicht, was sie von mir hören wollte. Also sagte ich »Auf Wiedersehen«, um ihr eine Freude zu machen. Dann legte ich den Hörer auf den Tisch, denn der Apparat hing an der Wand, und so hoch kam ich nicht. Im Hinausmarschieren hörte ich Mamas Stimme, die immerzu »Hallo!« aus der Muschel rief. Schnell schloss ich die Tür hinter mir.

Verstehen konnte ich recht viel, nur sprechen nicht. Dabei hätte es ich so gern getan. Ich hätte Jolánka so viel zu sagen gehabt, und zwar ohne Ilcsi. Die lachte mich immer nur aus. »Ein Liebespaar, das immer beisammen war«, spottete sie. Jolánka verstand es nicht, glaube ich, aber vielleicht hatte sie es ihr übersetzt.

Jetzt war ich schon doppelt und dreifach vom Hafer gestochen. Nirgends fand ich mehr Ruhe, ich wollte immer nur mit Jolánka zusammen sein. Aber auch in ihrer Gesellschaft war es nicht besser. Ununterbrochen schwitzte ich und wischte mir den Schweiß heimlich ab. Dabei war es gar nicht warm, das Wetter hatte umgeschlagen. Es regnet.

Wir spielten im Gartenhaus, einer großen Holzbaracke. Ilcsi sagte »Hüdde« dazu. Ich stellte mir vor, es wäre die Hütte, in der die alte Frau mit dem Rehkitz lebte. Ilcsi lachte mich aus, sagte »Hüdde« und Schluss. Also gut. In dieser Baracke wurden Gartengeräte aufbewahrt, außerdem gab es einen riesigen Rasenmäher, dessen Motor laut wie Donner war. Vor Angst traute ich mich nicht in seine Nähe. Auch vor Donner hatte ich Angst. Als ich klein war und das R noch nicht rollen konnte, habe ich immer gesagt, der Himmel klacht, und Papa und Mama machten mich nach. Taten sie manchmal heute noch. Das R konnte ich immer noch nicht richtig, aber schon besser.

Zu dritt waren wir in der Hüdde, und Ilcsi zog Jolánka beiseite. Mich schob sie fort. »Frauenangelegenheiten«, sagte sie. Ist ja gut. Ich spielte derweil auf dem Rasenmäher, setzte mich ans Lenkrad und tat, als wäre ich Lokomotivführer. Wie in dem Western, der im Speisesaal vorgeführt worden war.

Zu gern hätte ich gewusst, was Frauenangelegenheiten waren. Zu Hause würde ich Mama fragen.

Ich hätte auch gern gewusst, warum Ilcsi Jolánka derart mit Beschlag belegte. Das war nicht schön von ihr. Schließlich hatte ich schon vor ihr mit Jolánka zusammen sein wollen.