Meineid auf Ehrenwort - Heiner Rank - E-Book
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Heiner Rank

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Beschreibung

Kurz nach Ende des 2. Weltkrieges wird in dem Potsdamer Filmstudio ein Film über ein Verbrechen, das die deutschen Besatzer in der Sowjetunion verübt haben, gedreht. Die Dreharbeiten ziehen sich aufgrund immer neuer Pannen hin. Schließlich prüfen deutsche und sowjetische Kriminalisten, ob Sabotage im Spiel ist. Sie tappen im Dunkeln, bis ein Mord geschieht.

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Impressum

Heiner Rank

Meineid auf Ehrenwort

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-718-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1959 im Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin unter dem Pseudonym A. G. Petermann.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Figuren und Fabel des Romans sind erfunden.

© 2020 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Ein nächtlicher Bericht

Bei mir um die Ecke wohnt ein alter Mann, ein Rentner. Er wohnt dort seit vielen Jahren. Bis vor gar nicht langer Zeit kannte ich ihn nicht, nicht einmal von Ansehen. Solch ein Nebeneinanderhinleben ist in Berlin, an dessen Peripherie ich wohne, nichts Verwunderliches; desto verwunderlicher aber ist der Kriminalfall, der zum Erlebnisbesitz dieses alten Mannes gehört. Es ist ein großer Fall, außerordentlich verwickelt, scheinbar rätselhaft und zugleich charakteristisch für die Zeit, in der er sich ereignete. Wie ich mich überzeugte, waren sich, als man ihn löste, die meisten Zeitungen darüber einig, dass er „in die Geschichte der Kriminalistik eingehen“ werde. Er ist nicht in sie eingegangen. Er ist vergessen worden. Die Menschen haben ihn aus ihrem Gedächtnis ausgebucht, ihn abgeschrieben wie die Zeit, deren Umstände ihn hervorbrachten, wie die Brotmarken, den Rucksack, die Hefeflocken und das Alcolat, jenes merkwürdige Schnapssurrogat. Zu Unrecht?

Zu Unrecht!

Freilich: ihn hat man nicht vergessen, den alten Mann, der in meiner Nachbarschaft wohnt und dem dieser Fall Gelegenheit gegeben hat, die Klugheit, den Scharfsinn und die Energie seiner Klasse so erfolgreich mit der raffinierten Verschlagenheit ihrer Feinde zu messen.

Wilhelm Derdey ist heute neunundsechzig Jahre alt.

Sein linkes Bein, auf dem er schon lahmte, als ich ihn vor Jahren zum ersten Mal sah, ist inzwischen ganz steif geworden. Der Fußtritt eines Wachmannes hatte ihm in Buchenwald die Kniescheibe zertrümmert. Jetzt, da ich Derdey etwas näher kenne, übersehe ich auch nicht mehr, dass der Wagen des Arztes oft vor seiner Haustür hält. Abends brennt bei ihm lange Licht. Derdey liest. Oder er hat Besuch: Genossen, Freunde.

Er ist alt geworden, ein Invalide, ein Veteran, zu hinfällig, um im täglichen Dienst seinen Mann zu stehen; aber deshalb ist er nicht einsam. Man denkt an ihn, und er weiß das; und wo es ihm möglich ist, setzt er die ihm verbliebene Kraft noch opferfreudig ein für die Sache, der sein schweres Leben gewidmet war.

Bei solch einem Einsatz habe ich Derdey kennengelernt. Es war am Tage nach einer der letzten Volkswahlen. Der Zufall hatte es so ergeben, dass ich gemeinsam mit ihm im Wahllokal Dienst tat. Wir hatten Nachtwache, von null bis vier Uhr, um die Einrichtung und die Wählerlisten vor eventuellen Anschlägen zu schützen. Bis nach Westberlin ist es von uns aus nämlich nur ein paar Steinwürfe weit.

Wir hatten uns am Fenster des dunklen Wahlzimmers niedergelassen. Von dort aus konnte man den Hauseingang gut überblicken. Es war eine warme Juninacht voller Duft und Gesumme, sternklar und mondhell, eine Nacht, die jung macht und träumerisch. Obwohl wir uns beide vor romantischen Empfindungen hüteten, weil unsere heutige Aufgabe sich ganz und gar nicht mit ihnen vertrug, merkte ich doch, wie das eindrucksvolle Bild, das die glitzernden Gärten vor unserem Fenster boten, den alten Derdey in seinen Bann zog. Desto verblüffter vernahm ich seine plötzliche Frage.

„Du bist doch beim Film, nicht?“

Ich bejahte wahrheitsgemäß, und zwar mit einem leichten Seufzer, denn dergleichen bekomme ich oft zu hören. Meist folgt dann die Aufforderung, etwas von der in den Augen vieler Menschen anscheinend recht abenteuerlichen Filmarbeit zu erzählen. Aber das geschah diesmal nicht. Vielmehr begann Derdey nach Personen zu fragen, von denen ich einige aus meiner beruflichen Tätigkeit kannte. Von anderen aber – und das waren weit mehr – wusste ich nur vom Hörensagen, dass sie einmal in der Filmindustrie wichtige Posten innegehabt hatten. Direktor Peukert – Dr. Huppert – der Produktionsdirektor Düsterhöfft … Die Namen hatte ich wohl gelegentlich aufgeschnappt, und irgendwoher war mir auch bekannt, dass der eine oder der andere noch heute in wichtigen Funktionen tätig war. Aber mit unserem Filmstudio hatten sie längst nichts mehr zu tun. Issajew, der sowjetische Hauptdirektor? Aber wir waren doch schon seit Jahren kein SAG-Betrieb mehr, hatten also weder einen sowjetischen Hauptdirektor noch irgend sonst sowjetische Berater.

Ich sah zur Seite. Derdey hatte sich aus dem Fenster gelehnt. Seine buschigen grauen Haare bewegten sich im warmen Nachtwind.

„Ich habe sie alle genau gekannt“, sagte er leise, und mir schien es seltsam vieldeutig zu klingen. Ich beugte mich vor.

„Du warst auch im Studio beschäftigt?“, fragte ich verhalten. Ich glaube, es gelang mir, meine Verwunderung einigermaßen zu verbergen.

Er lächelte. Langsam schüttelte er den Kopf, ohne mich anzusehen.

„Ich war Kriminalkommissar.“

Kommissar? Plötzliche Neugier mischte sich in mein Erstaunen. Unter den jetzigen Diensträngen in der Volkspolizei gab es keinen Kommissar mehr, das wusste ich.

Ich fragte zurück, und er antwortete. Ich fragte eindringlicher, und er gab genauere Auskunft. Unversehens glitt er ins Erzählen hinüber, berichtete, redete sich warm.

In dieser Nacht bekam ich Kenntnis von dem absonderlichsten Kriminalfall, der mir seit langem zu Ohren gelangte und der es nach meiner Ansicht verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden.

Wenn ich offen sein will, muss ich allerdings sagen, dass ich zunächst recht ungeduldig Derdeys Erzählung folgte. Einesteils deswegen, weil die uns umgebende silbergesättigte Juninacht meine Gedanken nicht gerade in die Bahnen eines Kriminalfalles lenken wollte, vor allem aber deshalb, weil der Alte so lange Zeit brauchte, bis er auf den eigentlichen Kern seiner Geschichte zu sprechen kam. So glaubte ich wenigstens.

Derdey fragte mich aus, ob ich mich noch genau an die Handlung des Films „Meineid auf Ehrenwort“ erinnere, der Ende 1950 seine Premiere erlebt und dabei einen großen Erfolg errungen hatte. Als ich bejahte, genügte ihm das aber keineswegs, sondern er rekapitulierte mit mir die Vorgänge, die in jenem Film eine Rolle spielten, bis in jede Einzelheit. Nur widerwillig ging ich darauf ein. Er ließ sich aber durch nichts von seiner auffälligen Umständlichkeit abbringen, bis ich langsam begriff, wie wesentlich und wichtig die Vorgänge innerhalb des genannten Films für den sich anbahnenden Kriminalfall waren, ja, dass dessen Lösung im Grunde von ihnen abhing. Eine Tatsache, die um so verblüffender war, als sich die Verbrechen, von denen Derdey mir in jener Nacht erzählte, auch noch bei den Dreharbeiten zum „Meineid auf Ehrenwort“ ereignet hatten.

Zum Glück erinnerte ich mich wirklich noch sehr gut an den Film. Der unlängst verstorbene Heinz Weymuth hatte in ihm die Hauptrolle gespielt, einen kleinen Oberleutnant, der nichts von Hitlers Ostlandrausch hielt und trotzdem Hitlers Krieg führen half, der Hitlers Gräueltaten heimlich verdammte und trotzdem jenen Meineid schwor, der Hunderte Schuldloser an den Galgen brachte.

Der Filmanfang, der diesem Meineid voraufging, war mir als besonders einprägsam im Gedächtnis geblieben. In einer von deutschen Soldaten besetzten ukrainischen Stadt hatte der kleine Oberleutnant den durchreisenden Bruder seiner Frau getroffen, einen Fähnrich, den er in der Freude des Wiedersehens im Kasino bewirtete. Der Fähnrich war von der Front gekommen. Deprimiert, innerlich gebrochen, stieß er unter dem Einfluss des Alkohols heftige Verwünschungen gegen den Krieg und die faschistische Generalität hervor. Vergeblich versuchte der Oberleutnant, ihn zu beschwichtigen. Ein massiger Zivilist mischte sich ein, torkelte heran und bedachte den Fähnrich lallend mit Drohungen und Schimpfworten. Der setzte sich lautstark zur Wehr. Es kam zu einem Krawall, dann zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf der völlig betrunkene Zivilist eine Pistole hervorzog und den Fähnrich niederschoss. Der Schuss rief das Hauspersonal und den Standortkommandanten herbei. Aber jede Hilfe kam zu spät. Der Fähnrich war tot. Der Mörder, durch seine Untat ernüchtert, saß sprachlos am Tisch. Die Pistole war ihm entfallen. Schließlich raffte er sich schwerfällig auf, griff in sein Brusttasche, reichte dem Standortkommandanten seinen Ausweis und ging langsam hinaus.

Wenige Filmmeter später sah man, wie der kleine Oberleutnant in die Kommandantur geholt wurde. Oberst von Ganghofer, der Standortkommandant, sprach ihm in herzhaftem Bajuwarisch sein Beileid zu dem so jäh erfolgten Hinscheiden des jungen Verwandten aus. Und dann kam der Zivilist herein und schloss sich den Beileidsworten des Obersten an. Der kleine Oberleutnant stand starr, vor Verblüffung unfähig, dem Mörder die Hand zu verweigern. Weymuth spielte die Partie meisterhaft. Eine lange Zeit sah man hier nur sein Gesicht auf der Leinwand, und der Zuschauer erlebte die tiefe und vielfältig gemischte Erregung erschüttert nach, die sich in den Zügen des Schauspielers widerspiegelte. Auch mir als Filmbesucher war es in diesem Augenblick gewesen, als stiege mir vor der Unfasslichkeit der Situation das Blut zu Kopf, rausche in den Ohren und mache mich unfähig, sowohl das Vorhergegangene als auch das Kommende zu begreifen.

Und das Kommende war denn auch eigentlich unbegreiflich.

Oberst von Ganghofer legte nämlich dem Oberleutnant in wohlgesetzten Worten nahe, die Person des Mörders zu vergessen. Es war in der gegebenen Phase des Krieges nicht angängig, einen prominenten Vertreter der deutschen Wehrwirtschaft, der überdies wahrscheinlich die mannigfaltigsten Beziehungen in Richtung Führerhauptquartier spielen lassen konnte, wegen eines – wie sich der Oberst ausdrückte – an und für sich höchst bedauerlichen Vorfalls vor ein Kriegsgericht zu stellen. Andererseits läge es aber nicht im Interesse des Deutschen Reiches (und man könne es dem Herrn Oberleutnant auch nicht zumuten, denn der Erschossene sei ja sein Schwager gewesen), dass die Sache vertuscht werde. Es gelte also, die wahrhaft Schuldigen zu finden, diejenigen, die den tödlichen Schuss in ihren Wünschen und Gedanken täglich tausendfach abfeuerten, so dass es ein dem „gesunden Volksempfinden“ nach strafrechtlich nicht ins Gewicht fallender Umstand sei, dass dieses Mal eine andere Hand die Waffe gezogen habe. Die Ermordung eines deutschen Fähnrichs in Feindesland sei ihrem objektiven Tatgehalt nach ein gegen die „Neuordnung Europas“ gerichtetes Verbrechen; deshalb sei es nach germanischem Bewusstsein auch an den Feinden dieser Neuordnung zu ahnden.

Herr von Ganghofer, im Zivilberuf – wie aus dem weiteren Verlauf des Films zu entnehmen war – Landgerichtsrat in Passau, hatte das alles im belehrenden und zugleich leidenschaftslosen Tonfall einer Urteilsbegründung vorgetragen, völlig sicher und von der juristischen Legalität seines sophistischen Taschenspielertricks überzeugt. Jetzt war wieder der kleine Oberleutnant im Bild, auf den der aufgedunsene Zivilist seine tückisch abwartenden Blicke richtete. Wenn sie einschüchtern wollten, so verfehlten sie ihren Zweck, denn der andere bemerkte sie nicht. Mit ihm war eine erschreckende Wandlung vorgegangen. Was vorhin noch als Entrüstung und sprachloses Staunen, als Anzeichen von Auflehnung und Abscheu in seinem Gesicht gestanden hatte, war völlig verschwunden. Was übrig blieb, war der deutsche Untertan. Beklemmend einprägsam spielte Heinz Weymuth die völlige Aufgabe jeden Restes von Eigenpersönlichkeit und Eigenverantwortung. Ich sehe noch heute seine schweißglänzende Stirn sich beflissen und hastig neigen und habe noch immer den heiseren, aber unbedingten Gehorsam anbietenden Tonfall im Ohr, in dem er mit seinem: „Zu Befehl, Herr Oberst!“ die Szene abschloss, nachdem er sein Ehrenwort als Offizier gegeben hatte, über das Ansinnen des Herrn von Ganghofer gegen jedermann Stillschweigen zu bewahren.

Im weiteren Verlauf des Films schwor der Oberleutnant, vor einem Sondergericht als Zeuge aufgerufen, die ganze Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen und nichts hinzuzufügen, so wahr ihm Gott helfe. Er berichtete, dass er den Angeklagten als den Mann wiedererkenne, der auf seinen Schwager geschossen und ihn dadurch getötet habe.

Der Angeklagte aber war ein Ukrainer mosaischen Bekenntnisses, vormals Heizer im Offizierscasino. Man hatte bei ihm ein von Partisanen verbreitetes Flugblatt gefunden. Das Sondergericht befand ihn des Mordes für schuldig und verurteilte ihn zum Tode durch den Strang. Als zusätzliche Vergeltungsmaßnahme ließ der Militärbefehlshaber der Ukraine mit dem Verurteilten noch weitere 249 Sowjetbürger jüdischen Glaubens hängen. Der kleine Oberleutnant wurde nach Frankreich versetzt, Oberst Ganghofer erhielt das Deutsche Kreuz in Gold, der Fähnrich ein Begräbnis mit militärischen Ehren und seine Angehörigen eine Feldpostkarte: Im Kampf für Führer und Vaterland fiel an der Ostfront der Fähnrich …

Nach diesem dramatischen Anfang zeigte der Film nun, wie in Frankreich die Karriere des deutschen Untertans begann, des kleinen Oberleutnants, der wegen seines Meineids auf Ehrenwort die Mächtigen in seiner Schuld wusste. Man sah den märchenhaften Aufstieg und schließlich das schmähliche Ende eines Verbrechers, der ursprünglich nur gelebt, gehofft, gezaudert hatte wie hunderttausend andere auch, der nur – wie sie – feige und gleichgültig gewesen war und dessen Schicksal gerade deshalb ein warnendes Beispiel für Hunderttausende bot und heute noch bietet.

Als ich den inhaltsreichen und eindrucksvollen Film vor vielleicht sechs Jahren im Kino sah, hatte ich nicht gewusst, unter welchen Kämpfen und Opfern er zustande gekommen war. Ich hatte auch nicht ahnen können, dass mit seiner Entstehung ein Kriminalfall verknüpft war, der gewiss zu den größten und bedeutendsten jener Jahre gehörte.

Und dass gar der Inhalt des Films, die Vorgänge in ihm, für die Lösung des Kriminalfalles wichtige Bedeutung haben sollte, glaubte ich auch dann noch nicht, als Wilhelm Derdey in jener herrlichen Juninacht bereits begonnen hatte, von seinen beruflichen Erlebnissen während der Drehzeit des „Meineid auf Ehrenwort“ zu erzählen.

Heute freilich weiß ich mehr. Dank den Aufschlüssen, die mir der ehemalige Kriminalkommissar während jener vier Wachestunden im Wahllokal gab, dank genauem nachträglichem Studium der inzwischen gelb und stockfleckig gewordenen Gerichtsakten und Vernehmungsprotokolle und nicht zuletzt dank ungezählten persönlichen Rückfragen bei Augenzeugen der damaligen Ereignisse im Filmstudio glaube ich jetzt, den Fall in seiner ganzen Ausdehnung, Verzwicktheit und Brutalität zu überschauen.

So ist denn das Folgende fast ein Bericht.

Und Wilhelm Derdey, der es in seiner Bescheidenheit eigentlich gar nicht gern hat, wenn man von ihm in der Öffentlichkeit spricht, wird es sicher verstehen, dass dabei auch seine Verdienste im Interesse der Wahrheit nicht unterschlagen werden dürfen.

Ein Sonnentag

Wer hält es heute noch für glaubhaft, dass der VP-Kommissar Wilhelm Derdey am frühen Nachmittag des 27. April 1950 trotz seines Beinleidens mit einem Damenfahrrad in dienstlicher Mission dem Filmstudio zustrampelte? Der alte DKW, den er sonst zur Verfügung hatte, war wegen eines Getriebeschadens ausgefallen, ein neuer Wagen sollte erst im III Quartal geliefert werden – was blieb Derdey also übrig, als seine alte, schon zum vierten Male auflackierte Tretmühle in den Dienst der Sache zu stellen?

Die roten Backsteinfassaden der Filmatelier- und Verwaltungsgebäude leuchteten ihm durch den Maschendrahtzaun entgegen, als er sich dem Haupteingang des Studios näherte. Er stieg ab, schob sein Fahrrad an die Pförtnerbude heran und hielt dem Pförtner seinen Dienstausweis unter die Nase. Als Besuchsziel nannte er die Steiner-Produktion.

Der alte Mann in der grüngestrichenen Holzbude winkte einen einarmigen Kollegen heran, der sich dem Kommissar Derdey anschloss, um ihm den Weg zu zeigen. Nachdem sie Derdeys Gefährt im gegenüberliegenden Fahrradstand abgestellt hatten, gingen sie langsam den breiten Asphaltweg hinab, der in das ausgedehnte Studiogelände führte.

„Zur Direktion wollen Sie nicht?“, fragte der Einarmige, während er mit dem Kopf auf das große, etwas protzig geratene Gebäude zur Linken wies. Derdey gab keine Antwort. Er sah sich plötzlich von einer Schar von SA-Leuten umringt, die aus einer der vielen Seitengassen auf den Asphaltweg strömten. Im ersten Augenblick erschrak er, glaubte zu träumen, sah sich fassungslos um. Doch dann wurde er gewahr, dass die Gesichter braune Schminke trugen.

„Die sind aus dem Geschwister-Scholl-Film, der in der Winkelmann-Produktion gedreht wird; Komparsen“, erläuterte der Einarmige.

Wortlos humpelte Derdey weiter. Sein Begleiter folgte ihm. Er wurde zusehends gesprächiger und entwickelte eine sympathische Art von Fremdenführertalent: Tischlerei, Fundus, Kostümabteilung, Mittelhalle, dann wieder ein Stück Freigelände, auf dem eine mittelalterliche Straße so täuschend echt nachgebaut war, dass Derdey verblüfft innehielt – alles erklärte er, auf alles wies er hin. Derdey verriet mit keinem Wort, dass er die Kommentare des Einarmigen dankbar aufnahm. Er sah sich genau um und suchte sich die ungewohnten Bilder, die sich ihm boten, tief einzuprägen. Die Weiträumigkeit des Geländes verblüffte ihn. Er schätzte die Ausdehnung des Studios gut und gern auf eine Fläche von zweihundert Hektar. Es gab ungefähr sechzig Gebäude. Manche waren nicht größer als ein Schuppen. Einige aber, die sogenannten Hallen, welche die eigentlichen Ateliers beherbergten, überragten die ganze Filmstadt. Sie sahen wie riesige Scheunen aus, die man in neuerer Zeit mit zweistöckigen Anbauten versehen hatte. Diese fensterreichen Ergänzungen pressten sich wie ein zu enger Mantel von allen Seiten um die ursprünglich fensterlosen Baukerne und dienten den Produktionsstäben zur Aufnahme ihrer Büros und Garderoben.

Der Einarmige war ein früherer Beleuchter, den seine Kriegsverletzung daran hinderte, seinem ehemaligen Beruf nachzugehen. Er hing aber mit seinem Herzen an der bunten und abwechslungsreichen Arbeit einer Filmproduktion, und Derdey brauchte, als der Redefluss seines Begleiters schließlich stockte, nur einige knappe Fragen zu stellen, und der Einarmige erzählte ihm alles, was es beim Film an Interessantem und Merkwürdigem gab.

Der Kriminalkommissar wusste bereits, dass das einzelne Drehbuch einem Produktionsleiter übergeben wurde, der für die termin- und kalkulationsgerechte Abwicklung der Vorbereitungs-, Dreh- und Endfertigungsarbeiten an diesem Vorhaben die Verantwortung trug. Er hatte auch gehört, dass die Produktionsleiter sich wiederum aus der Zahl der dem Direktor für Produktion unmittelbar unterstehenden Aufnahmeleiter, Geschäftsführer und Hilfskräfte die geeigneten Mitarbeiter auswählten. Mit ihnen bildeten sie den Kern ihres sogenannten Stabes, der sich übrigens nach Abschluss des betreffenden Filmes wieder aufzulösen pflegte. Derdey hatte jedoch keinen Begriff davon, wie sich in solch einen Filmstab die künstlerischen Kräfte einordneten, welche und wie viele es gab und was ihre Aufgaben waren.

Der Einarmige schlug ihm vor, den Weg durch die Osthalle zu nehmen. Sie würden auf diese Weise rascher zur Steiner-Produktion gelangen, und Derdey fände außerdem Gelegenheit, sich ein wenig im Herzen des Filmbetriebes, dem Atelier, umzusehen.

Durch einen breiten, zugigen Gang traten sie in die Halle. Der Einarmige öffnete eine Eisentür, und Derdey sah im schwachen Licht drahtumsponnener Arbeitslampen ein gewaltiges Gebirge von Latten, Brettern und Holzverstrebungen vor sich aufragen. Von hohen Podesten aus richteten Scheinwerfer ihr gläsernes Auge auf Punkte der Dekoration, zu welchen Derdey der Blick im Moment noch versperrt war. Rufe und Anordnungen hallten durch den Raum, wurden von der Weitläufigkeit des fensterlosen Riesensaales halb verschluckt und riefen dennoch Reaktionen hervor, oben, unter dem Dach, wo die Brückenscheinwerfer standen. Nacheinander flammten diese jetzt auf, es wurde hell, und Derdey sah sich verblüfft in der kahlen Endlosigkeit des Ateliers um. So schmucklos und unromantisch hatte er sich das Filmmilieu nicht vorgestellt. Der Einarmige hatte die Eisentür hinter sich geschlossen und dirigierte den Kommissar über dicke Kabel hinweg, die auf dem Boden lagen.

„Sie leuchten jetzt ein“, erklärte er, während er auf das schäbig und nackt anmutende Holzgebirge wies, von dessen Kehrseite her vermutlich die Vorgänge im Atelier mit Rufen und Anordnungen geleitet wurden.

Derdey nahm zu Recht an, das Bretter- und Lattengewirr vor seinen Augen stelle die Rückseite einer Filmdekoration dar. Vom ersten Eindruck enttäuscht, war er zugleich auch ein wenig angenehm überrascht. Was man hier tat, unterschied sich offensichtlich doch nicht so weltweit von dem, was die in anderen Betrieben Beschäftigten zu tun hatten. Nun ja, die Kunst … Derdey empfand vor ihr Respekt und Achtung, war aber doch froh, dass Kunst und richtige Arbeit augenscheinlich keine echten Gegensätze darstellten. Denn was die Bühnenarbeiter da schon rein handwerklich für eine Leistung vollbracht hatten – Derdey konnte es beurteilen, selbst wenn er das Ungetüm von Dekoration bisher nur von hinten gesehen hatte: er hatte selbst einmal als Bautischler gearbeitet.

An Tischen, Körben und Truhen schob der Einarmige den Kriminalkommissar vorbei. Schneidende Helle blendete Derdey, als er plötzlich in den Lichtkreis der Scheinwerfer trat. Im ersten Augenblick konnte er die Männer und Frauen, die da kritisch oder ungeduldig dem Einleuchten beiwohnten, gar nicht sehen. Erst nach und nach gewöhnten sich seine Augen an das grelle Licht. Er wunderte sich, dass niemand sein Hinzutreten beachtete, ihn niemand nach dem Woher und Wohin fragte.

„Die sind Zuschauer gewohnt“, winkte Derdeys Begleiter lachend ab, als der Kommissar seiner Verwunderung Ausdruck gab.

„Und wer ist der Chef hier?“

„Der Regisseur. Dahinten, ja, dort auf dem Segeltuchstuhl sitzt er. Aber er ist im Augenblick nicht in Aktion, denn zum Einleuchten braucht man technische Spezialkenntnisse. Dafür ist der Kameramann da. Und der Oberbeleuchter natürlich.“

Derdey sah in die Richtung, die der Blick seines Begleiters bezeichnete. Am Kamerawagen, dessen Gummiräder auf Schienen standen, lehnte ein langhaariger Herr mit Baskenmütze, der mit kritischem Ausdruck die Dekoration betrachtete und dem Oberbeleuchter immer wieder Anordnungen zurief, die dieser an die auf den Brücken hoch über der Szenerie verteilten Beleuchter weitergab.

„Die Dekoration ist Klasse, was?“

Derdey fühlte sich durch diese Bemerkung seines Begleiters unsanft aus seiner Beobachterrolle herausgerissen. Mehr aus Höflichkeit wandte er sich jetzt der Szenerie zu. Aber was er sah, verschlug ihm die Sprache. Für eine Sekunde wusste er wirklich nicht mehr, wo er sich befand. Er stand mitten in einer feudalen Hotelhalle, die so echt, so plastisch, bis in die Kleinigkeiten so naturgetreu nachgebaut worden war, dass Derdey unwillkürlich die Wand betastete, die sich neben ihm erhob. Sie trug eine echte Putzauflage. Erst aus dem Ton, den es gab, wenn man mit dem Fingerknöchel dagegenklopfte, hörte der Kommissar, dass sie aus Sperrholz bestand.

„Donnerwetter“, murmelte er, „und von hinten sieht das so hässlich aus.“

Der Einarmige, der etwas sagen wollte, wurde im gleichen Augenblick von einem Graukopf zur Seite geschoben. Der Alte schleppte eine ganze Ladung antiquierter Tischtelefone auf die Szene, die er in der angrenzenden Weinstube auf die einzelnen Nischen verteilte.

„Man nicht so hastig, Wilhelm“, rief ihm Derdeys Begleiter nach, und zum Kommissar gewandt, fügte er leiser hinzu: „Das ist der Requisiteur, der alle die Kleinigkeiten, die so rumstehen, beschafft und an die richtige Stelle setzt.“

Jetzt entstand Bewegung in der Ecke des Ateliers, wo der Regisseur saß. Derdey sah, wie dieser seine Sonnenbrille aufsetzte und sich erhob. Der Kameramann war zu ihm hingegangen, der Oberbeleuchter hatte ebenfalls die Dekoration verlassen.

„Bitte Ruhe!“, ließ sich plötzlich aus der Gruppe, die den Regisseur umstand, die Stimme des Aufnahmeleiters vernehmen.

„Schauspielerprobe! Bitte alles aus der Dekoration!“

Mit dem Bühnenmeister, dem Requisiteur und einigen Beleuchtern, welche bisher seitwärts aus Abdeckungen hervorlugten, folgten auch Derdey und sein Begleiter dieser Aufforderung.

Schauspieler traten auf die Szene, von Maskenbildnern und Maskenbildnerinnen gefolgt, welche an ihren Schützlingen mit Puder und Dermatografen die letzten Schminkkorrekturen vornahmen.

Der Regisseur, seine Assistenten und der Kameramann gesellten sich zu ihnen.

„Wir müssen jetzt hier raus“, raunte der Einarmige. „Wenn die Probe erst läuft, kommen wir nicht mehr weg, weil unsere Schritte und das Türenklappen den ganzen Betrieb stören würden.“

Derdey, noch erfüllt von dem Ungewohnten, das er gesehen hatte, folgte seinem Begleiter nur widerwillig hinaus. Als sie den Gang erreichten und die Eisentür mit einem satten Klicken hinter ihnen zufiel, musste der Kommissar sich erst wieder langsam an die nüchternen Fassaden der Studiogebäude mit ihren Nummernschildern, Feuermeldern und Hinweiszeichen gewöhnen.

Ein komplizierter Betrieb, dachte er, Präzision und Fantasie, Kunst, Technik, Handwerk – alles gehört dazu, keins darf zu kurz kommen. Wie leicht lässt sich da eine Störaktion organisieren, und wie schwer ist sie nachzuweisen!

Draußen wärmte die Aprilsonne mit ihrem weichen, hellen Licht die vielen, die eine Drehpause ausnutzten, um mit dem aufdämmernden Frühling dieses Jahres Bekanntschaft zu schließen.

Derdey spürte die Wärme nicht. Stumm, in Gedanken versunken, ging er neben seinem Begleiter her.

„Wir sind da!“, riss ihn der Einarmige plötzlich aus seinem Grübeln. „Die Steiner-Produktion liegt gleich im ersten Gang links.“

Sie standen am Haupteingang der Südosthalle.

Nach kurzem Zögern verabschiedete sich Derdey von seinem Begleiter, bedankte sich mit herzlichen Worten für dessen Erläuterungen, sah dann einen Augenblick lang nachdenklich an der Außenwand des riesigen Gebäudes hinauf und verschwand schließlich durch eine breite Schwingtür im Innern der Halle.

*

Steiner-Produktion/Meineid auf Ehrenwort/Dispo für Donnerstag, den 27. April 1950 – so lautete die Überschrift auf dem maschinengeschriebenen Zettel am Aushangbrett in einem der engen endlosen Gänge, die sich rings um die eigentlichen Filmateliers hinziehen und auf die in regelmäßigen Abständen die Türen der winzigen Schauspielergarderoben und der Produktionsbüros münden.

Die Steiner-Produktion hatte ihre Räume an der Sonnenseite des Südostateliers. Der fensterlose Korridor vor ihnen lag dunkel und ausgestorben. Nur mit Mühe hatte Kommissar Derdey die Angaben auf dem Anschlagbrett entziffern können. Eine gewisse Aufregung bemächtigte sich seiner, als er jetzt langsam von Tür zu Tür ging und auf ihnen die Beschriftungen las. Vor knapp einem halben Jahr hätte Derdey seine heutige Aufgabe noch nicht allein lösen müssen. Da wäre wohl ein Beauftragter der sowjetischen Kommandantur mitgekommen und hätte ihn, wäre er in eine schwierige Situation geraten, unterstützt. Aber seit im Oktober neunundvierzig die DDR gegründet worden war, trug Derdey die Verantwortung für seine Arbeit allein. Die Volkspolizei, der er als Kriminalkommissar angehörte, erhielt zwar noch immer – besonders, was die kriminalistische Arbeit anbetraf – in großzügiger Weise sowjetische Hilfe; in der täglichen Praxis aber hatte sie jetzt auf eigenen Füßen zu stehen.

Das war durchaus keine einfache Sache. Derdey und viele seiner Kameraden besaßen zwar aus der Zeit ihres illegalen antifaschistischen Widerstandskampfes eine Menge praktischer Erfahrungen, die sich beim Aufspüren von Verbrechern oftmals verwenden ließen, aber sie hatten früher – um nur vom Alltäglichsten zu sprechen – weder taktisch kluge Vernehmungen durchführen noch Protokolle ausfertigen müssen, und juristisch zureichende Beweiserhebungen hatten die meisten wohl nur vom Hörensagen gekannt. Und dennoch …

Derdey blieb plötzlich stehen. Wenige Schritte vor ihm sprang eine Tür auf, und zwei Männer in grauen Kombinationen schleppten einen schweren Gegenstand auf den Gang heraus. Es war ein Scheinwerfer.

Der jüngere der beiden redete energisch auf den anderen ein.

„Ach was! Das ist doch, als wenn dir jemand deine Brotmarken ins Gesangbuch legt! Auch bloß ein Scherz, wie? Aber du findest sie erst wieder, wenn sie verfallen sind! – Nee, nee, Schnäpel, wer diesen Scheinwerfer gestern Nacht in der leeren Garderobe hier hat verschwinden lassen, der war entschieden was anderes als ein Spaßvogel!“

Der mit Schnäpel Angeredete, ein breitgebauter Mittdreißiger, antwortete nicht, sondern tippte nur unter verächtlichem Brummen mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

Sie entfernten sich mit ihrem Scheinwerfer von dem Standort Derdeys, anscheinend ohne den Kommissar gesehen zu haben. In Wahrheit aber war der Blick des Jüngeren dem Derdeys doch für einen Augenblick begegnet, und sie hatten einander wahrgenommen. Schnäpel wäre gewiss sehr erstaunt gewesen, wenn er die verdächtige Veränderung bemerkt hätte, die sich für eine Sekunde im Gesicht seines Kollegen vollzog. So aber bemerkte er bloß die Eile, mit der der Jüngere plötzlich zum Weitergehen drängte, und die war ihm nicht verdächtig.

Derdey sah den beiden mit undurchdringlichem Gesicht nach.

Sie hatten schon fast das Ende des Ganges erreicht, als der Jüngere doch noch einmal stehenblieb und mit einem verwunderten Blick auf eine der Türen plötzlich fragte: „Zutritt verboten? – Sitzung? – Wer ist denn da drin?“

Schnäpel zuckte widerwillig mit den Schultern.

„Mensch, Klee, du kommst aber auch immer direkt aus dem Mustopf! Der Russe ist drin! Und dicke Luft. Ich möchte jetzt nicht in der Haut von Steiner stecken. Halbes Jahr Produktionsrückstand mit dem ‚Meineid‘! Dem ist Sibirien näher als Wannsee.“

Der Jüngere, Gerhard Klee mit Namen, blickte Schnäpel prüfend an. Aber er sagte nichts, sondern setzte sich lediglich wieder in Bewegung. Derdey sah, wie die beiden Beleuchter mit ihrem Scheinwerfer durch eine hohe Eisentür gingen und im Atelier verschwanden.

Langsam und nachdenklich, das linke Bein wegen der Knieverletzung etwas nachziehend, ging er auf die Tür zu, vor der Gerhard Klee eben gestanden hatte.

„Steiner“ stand darauf zu lesen, und an der Klinke baumelte ein vorgedrucktes Schild:

Zutritt verboten. Sitzung.

Derdey sah es lange an. Dann klopfte er kurz und energisch und betrat das Zimmer des Produktionsleiters.

Zu jenem Zeitpunkt waren gerade zwei Drittel des Films „Meineid auf Ehrenwort“ abgedreht. Ein Arbeitsergebnis, auf das die Leute um Just Steiner aber nichts weniger als stolz sein durften. Die Terminangst war seit langem täglicher Gast in den Räumen des langen Korridors an der Sonnenseite der Südosthalle. Bereits vor sechs Monaten hätte der Film soweit sein müssen, wie er es heute war.

„Ihr Meineid verspätet sich“, hatte Direktor Issajew kürzlich zum Produktionsleiter Steiner gesagt und genauen Einblick in die Arbeitsunterlagen und Kalkulationen verlangt.

Und nun hing schon über vier Stunden lang das Schild mit der Aufschrift „Sitzung“ vor der Tür des Steinerschen Büros, und drinnen wurde Drehtag um Drehtag eingehendst überprüft. Aber der Fehler, die Ursache der großen Verzögerung, wollte sich nicht finden lassen.

Der Produktionsleiter Just Steiner hatte sicher keine künstlerische Ausbildung genossen. Er galt vor allem als wendig und selbstsicher, als eines jener außergewöhnlichen Talente, die – wie man wohl unter Bemühung der Klassiker zu sagen pflegt – Armeen aus dem Boden zu stampfen vermögen. Keine andere deutsche Landschaft war früher so reich an ihnen wie die an der Spree, und in Berlin hatte auch Steiners Wiege gestanden.

Ein rascher, wacher Verstand wohnte in dem mittelgroßen, rundlichen Mann, und wenn er sich auch nicht durch gediegene Bildung und Gedankentiefe auszeichnete, so eigneten ihm doch ein verblüffendes Urteilsvermögen, ein nahezu unfehlbares Gedächtnis und eine nie versiegende Tatkraft. Er rauchte sehr stark, und seine fliehende Stirn zog sich immer in Falten und verlieh dem flächigen Gesicht eine geradezu närrische Ernsthaftigkeit, wenn er sich klagend darüber verbreitete, dass er im Krieg und nach dem Krieg – man denke – sogar Kautabak habe genießen müssen – aber Gott sei Dank gäbe es ja jetzt schon wieder halbwegs anständige Zigarren.

Steiner hatte – die unvermeidliche Brasil im Mund – in der Hitze der heutigen Debatte seinen kaffeebraunen Sakko ausgezogen und rannte diensteifrig zwischen den weitgeöffneten Aktenschränken im Nebenzimmer und seinem eigenen, eine Spur zu protzigen Schreibtisch hin und her, Zettel und Blätter schwingend und unter wortreichen Kommentaren von einem Ort zum anderen transportierend. Seinen Arbeitsplatz hatte er an diesem Nachmittag abgetreten. An ihm saß der sowjetische Direktor Issajew, ein grobknochiger, hagerer Enddreißiger von enormer Körpergröße, dessen volles Haar ein auffällig stumpfes Schwarz zeigte und ein hellhäutiges Gesicht umrahmte. Issajew hatte tief liegende blaue Augen. Es hieß, er sei vor dem Kriege ebenfalls Produktionsleiter gewesen; im Stab Just Steiners bezweifelte man es jedoch. Man hielt es für ausgeschlossen, dass ein Mann von der Ruhe und Wortkargheit Issajews eine Funktion ausgeübt habe, für die im eigenen Umkreis so viel Betriebsamkeit und Redseligkeit aufgewandt wurde.

Issajew sprach ausgezeichnet Deutsch. Jetzt allerdings bediente er sich seiner Muttersprache, wenn er ab und an mit einer gemurmelten Erläuterung ein Schriftstück zu einem Manne hinüberschob, der sich auf einem Holzstuhl an der Ecke des Schreibtisches niedergelassen hatte und von den übrigen Anwesenden mit „Herr Kapitän“ angesprochen wurde. Kapitän Simonow trug Zivil. Ein blauer Zweireiher mit Nadelstreifen und weiten Hosenbeinen umspannte die gedrungene, massige Gestalt. Simonow war gut und gern fünfzig Jahre alt. An eine blanke Glatze schloss sich ein breiter Nacken, und sein ausdrucksvolles Gesicht, in dem kleine, dunkle Augen standen, wirkte gütig und großzügig. Wenn er lachte, und das tat er oft und gern, blitzten dem Betrachter aus seinem Mund eine ganze Reihe Goldkronen entgegen, und um seine Augen trat ein verschmitztes Blinzeln. Dass man den Kapitän wegen seines jovialen Äußeren meist unterschätzte, war manchem Verbrecher schon teuer zu stehen gekommen. Simonow war in einem Bezirk des besetzten Deutschlands der Schutz der sowjetischen Interessen gegen Wühlarbeit, Sabotage und Zersetzung anvertraut, und da es sich bei dem Filmstudio seinerzeit um einen SAG-Betrieb handelte, hatte Direktor Issajew den Kapitän von den merkwürdigen Vorkommnissen um den Film „Meineid auf Ehrenwort“ in Kenntnis setzen müssen.

Der vierte der Anwesenden, der deutsche Direktor Max Peukert, zog als einziger ein saures und unbehagliches Gesicht. Offenbar wurmte es ihn, dass er aus eigener Kraft die bei den Dreharbeiten des Films entstandenen Schwierigkeiten nicht hatte beheben können. Nun musste die sowjetische Militärbehörde bemüht werden, es würde wohl eine Untersuchung durch die Kriminalpolizei geben …

Der unvoreingenommene Beobachter konnte zwar nicht den Eindruck haben, Peukert fürchte eine solche Entwicklung der Dinge, aber dass er ihr mit Begeisterung entgegensähe, wäre wohl eine wirklich übertriebene Behauptung gewesen.

Etwas unbeholfen weihte Peukert den hinzugekommenen Kriminalkommissar Derdey in die merkwürdige Situation ein, der sich die Direktion des Studios gegenübergestellt sah. Peukert hatte sich an eine Glasvitrine gelehnt und berichtete – oder besser: deutete in seiner etwas verschrobenen Sprechweise und mit großen, vagen Armbewegungen alles Mögliche an, während Derdey ihn aufmerksam und mit schief gehaltenem Kopf ansah.

„Sie müssen wissen – wir arbeiten hier zu vierzig Prozent mit Westberliner Personal … Pause. Derdey nickte. Kapitän Simonow hob den Kopf und sah beobachtend zu ihm hin.

„Zwar haben auch andere Filme Verzögerungen. Ich möchte sogar – hm – sagen, beinahe jeder Film hat sie zur Zeit noch. Aber beim ,Meineid auf Ehrenwort' haben die Störungen – hm also – ein Ausmaß und eine Intensität erreicht, die die Mehrheit des Direktionskollektivs zu der Überzeugung gelangen ließen, dass es sich hier um – nun, sagen wir – gesteuerte Aktionen handelt. Schauspieler werden bestellt, wenn sie nicht gebraucht werden, oder es wird ihnen abtelegrafiert, wenn man sie braucht. Im Kopierwerk verderben Teile des abgedrehten Films, so dass die Aufnahmen wiederholt werden müssen. Dekorationen werden auf Grund von gefälschten Auftragsscheinen zu früh abgerissen. Materialien verschwinden. Kostüme werden nicht fertig. Es gibt kaum einen Arbeitsbereich, in dem bei diesem Film noch keine Störungen aufgetreten wären. Aber nie lässt sich jemandem ein Fehler, ein Versagen oder gar eine – hm – bewusste Unterlassung nachweisen. Stets bleibt der eigentliche Urheber unbekannt. Auch einen bestimmten Verdacht haben wir nicht. Deshalb gelangte die Direktion zu der Überzeugung, es sei nützlich und wohl auch – nun ja – notwendig, die Kriminalpolizei zurate zu ziehen.“

Wieder schwieg Peukert, und Derdey trat unsicher und unschlüssig von einem Bein auf das andere. Schließlich fragte er zögernd: „Und Sie meinen also – da steckt jemand dahinter, ein Kopf, der all die Aktionen plant?“

Peukert wand sich unbehaglich und streifte Issajew mit einem Blick heimlichen Vorwurfs.

„Die Direktion – hm – ist der Meinung“, erklärte er schließlich.

„Und Sie selbst – als der verantwortliche deutsche Direktor?“

Peukert stutzte. Derdey, ein alter Mann mit großen, ausgearbeiteten Händen des ehemaligen Bautischlers, dem man die Befangenheit in diesem Kreis von Filmexperten deutlich ansah, verblüffte ihn durch die ungewöhnlich direkte und undiplomatische Frage. Peukert antwortete unwillig:

„Natürlich bin ich – jawohl – gleichfalls der Ansicht. Ich habe lediglich zu bedenken gegeben, dass es zwischen den einzelnen Störaktionen bisher noch keinen erwiesenen Zusammenhang gibt. Im Gegenteil. Mitunter hebt die eine die andere auf. Oder: Manchmal sind sie überlegt und gezielt, manchmal dilettantisch und sinnlos.“

„Vielleicht ist Ihnen der Zusammenhang bisher entgangen?“ Es klang etwas laienhaft, so, als rede Derdey nur etwas, um zu reden.

Issajew und der Kapitän tauschten einen Blick. Dem Kriminalkommissar entging das nicht, und er ärgerte sich. Sie glauben, ich bin unfähig, schoss es ihm durch den Kopf. Und einen Augenblick lang war er bereit, alles aufzugeben. Aber dann blitzten ihm aus Simonows breitem Lächeln die Goldkronen entgegen, und er fing ein kaum merkliches aufmunterndes Nicken auf, das ihm galt und das ihm die Sicherheit wiedergab.

„Sie halten also die Produktion Ihres Films ‚Meineid auf Ehrenwort' für gefährdet. Vielleicht erzählen Sie mir am besten gleich im Einzelnen, was in letzter Zeit für Anschläge verübt worden sind.“

Peukert, ein „typischer Federfuchser“ – wie Derdey ihn im Stillen ungerechterweise nannte – holte zu einer weiten Geste aus; es reichte aber nur zu einer schüchtern auf Issajew weisenden Bewegung.

„Ich war jetzt längere Zeit krank. Ich weiß nicht – vielleicht können besser Sie …?“

Und so berichtete denn – nach kurzem unwilligem Zögern – Issajew. Bedächtig, aber bestimmt.

Derdey war ein sachlicher, aufmerksamer Zuhörer. Nur der Blick Simonows irritierte ihn. Es war ein Blick, vor dem man versucht ist, den Sitz der Krawatte zu überprüfen, sich vom Vorhandensein der Jackettknöpfe zu überzeugen oder nachzusehen, ob böse Buben einem vielleicht heimlich einen Zettel angeheftet haben. Aber als Derdey tatsächlich an seiner Kleidung hinuntersah, deutete der Kapitän ein belustigtes Kopfschütteln an und erläuterte den Sinn seines Verhaltens, indem er über der ausgestreckten Handfläche seiner Linken eine Schreibbewegung nachahmte.

Ein Hinweis! Natürlich! „Der Tatbestand ist unverzüglich in Stichworten festzuhalten!“ Das war ja eine der ersten simplen Thesen aus den Beratungen, die derselbe Simonow seinerzeit mit einer Reihe von Volkspolizisten abgehalten und in denen er seine kriminaltaktischen Erfahrungen, in Stichwortfolgen zusammengefasst, den angehenden deutschen Kriminalisten übermittelt hatte. Derdey erinnerte sich noch genau jener Nachmittage im Klubraum der Kommandantur, der übrigens jetzt – das Gebäude war vor kurzem wieder in deutsche Hände übergegangen – dem Standesamt als Trauungszimmer diente.

Unwillig über sich und seinen Fehler, zog Derdey brummend ein verbogenes Oktavheft aus seiner Gesäßtasche, tastete nach dem Kugelschreiber, der in seiner knochigen Pranke fast verschwand, und notierte, was ihm an Issajews Bericht besonders wichtig erschien.

Die Untersuchung des Falles hatte begonnen. Sabotage – so schien es –, nichts sehr Außergewöhnliches damals. Derdey konnte nicht ahnen, dass er in diesem Augenblick gleichsam den ersten Schritt tat auf einem Weg, dessen Bewältigung ihm das äußerste an Kraft und Scharfsinn abverlangen sollte.

*

De mortuis nil nisi bene – über Tote soll man nur Gutes aussagen. Leider ist diese pietätvolle Zurückhaltung nur demjenigen Schilderer vergangener Ereignisse erlaubt, dem man es nachsieht, wenn er der Wahrheit Gewalt antut.

Der verstorbene Heinz Weymuth war ein ganz großartiger Schauspieler. Aber der harte Daseinskampf, der in seinem Beruf unter dem alten System so viele Talente zerrieben hat, hatte in ihm einen kalten Egoismus genährt, eine unbezähmbare Gier nach Geltung und Besitz. Unter diesem belastenden Vorzeichen, an dem er vielleicht sogar selbst litt, war er auch ein heiß begehrender, aber äußerst bedenkenloser und gewaltsamer Liebhaber, der die Frauen nicht zu gewinnen, sondern sich gefügig zu machen suchte, eine Verhaltensweise, die ihm eine Unzahl persönlicher Feindschaften eingetragen hatte.

Weymuth war eben – etwas zu früh – ins Atelier gekommen und hatte sich am Rande der Dekoration auf einem Segeltuchstuhl niedergelassen. Die dunkle Schminke, die den Schauspieler bei Tageslicht beinahe wie einen Mulatten wirken lässt, stand gut zu seinem glatten blonden Haar; und die Offiziersuniform der faschistischen Wehrmacht, die ihm seine Rolle vorschrieb, kleidete ihn ausgezeichnet, obwohl einige Leute zu wissen glaubten, dass Weymuth wegen eines Nierenleidens niemals Soldat gewesen sei.

Er hatte die Beine wohlig ausgestreckt, den Oberkörper zurückgelehnt und sah gelangweilt zu den Beleuchtern hinauf, die von ihrer in einer Höhe von fünf Metern rings um die Dekoration sich erstreckenden, mit Scheinwerfern bestellten Plattform aus den Anweisungen des Kameramanns nachkamen.

Der Regisseur, der am Kamerawagen lehnte und lebhaft und intensiv auf einen ganzen Schwarm von Assistenten einredete, hieß Luther. Enge Freunde pflegten ihn Martin zu nennen, seine Namensgleichheit mit dem bekannten Kirchenreformator ironisierend. Der richtige Vorname des Regisseurs aber war Wolf-Egon, und seine Filme pflegten sich durch Vitalität und Dramatik auszuzeichnen. Wenigstens die, zu denen er nicht das Drehbuch selbst geschrieben hatte. Er war ein brillanter Regisseur, aber ein miserabler Dichter, was ihn leider nicht hinderte, immer wieder recht selbstbewusste literarische Versuche zu wagen. Für ihr zwangsläufiges Fehlschlagen pflegte er dann die Abteilung verantwortlich zu machen, die von Berufs wegen den Filmautor berät und betreut: die Dramaturgie. Was Wunder, dass zwischen ihr und Wolf-Egon Luther ein gespanntes Verhältnis bestand. Aus diesem Grund glaubte man allgemein, dass der Film „Meineid auf Ehrenwort“ von vornherein unter einem ungünstigen Stern stehe; denn das Drehbuch stammte ausgerechnet aus der Feder des Chefdramaturgen Dr. Friedrich Huppert, der von Haus aus Schriftsteller war und als solcher im Nebenberuf auch für das Studio schrieb.