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Beschreibung

Wie viel Vertrauensverlust können sich die Medien noch leisten? – Junge Journalisten zeigen Wege aus der Glaubwürdigkeitskrise Vor allem seit Beginn der Pegida-Demonstrationen taucht immer wieder der Vorwurf der Lügenpresse an die etablierten Medien auf. Was ist der Kern dieses Vorwurfs? Wie ist es um die Qualität des Journalismus wirklich bestellt? Sind Journalisten von oben gesteuert? Michael Steinbrecher geht zusammen mit fu¨nfzehn jungen Journalisten der TU Dortmund diesen und weiteren Fragen nach. Sie liefern Fakten zum Verhältnis von Pluralität und Rudel-Journalismus, untersuchen die Berichterstattung zum Thema Rechtsradikalismus und zeigen Wege aus der Glaubwürdigkeitskrise.

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Ebook Edition

Michael SteinbrecherGünther Rager (Hg.)

Meinung Macht Manipulation

Journalismus auf dem Prüfstand

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-665-1

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhaltsverzeichnis

Titel
Inhalt
Journalismus auf dem Prüfstand – gut so!
Über »Lügenpresse« und Debattenkultur
Wie reagieren?
Selbstbewusstsein und Selbstkritik
Selbstverständnis und Haltung
Alles nur »Lügenpresse«?
Digitalisierung, Boulevardisierung, Individualisierung – wo stehen wir?
Sind wir die Guten?
Nur noch kurz die Welt retten – Journalismus in der Demokratie
Die »Haltung« des Journalisten: Was war das? Was ist das? Was soll das?
Wie definiert man »Haltung«?
Journalistische Haltung im Wandel der Zeit
Die Nachkriegszeit: Nachricht und Meinung trennen sich
Haltung heute
(Gute) Haltung zeigen – aber wie?
Marktgeschrei wie auf der Agora: Wie Journalisten mit anderen Akteuren auf Facebook um Aufmerksamkeit buhlen
Wachsame Laien im Internet – die Rettung für die weichgespülte Medienkritik?
Die bestehende Medienkritik ist weichgespült
Zwischen Laienkritiker und »Lügenpresse«-Rufern klafft eine Lücke
Studie zum Einfluss von Medienkontrolle: 60 Prozent lehnen Laienkritik ab
Eine partizipative Medienregulierung erhöht Glaubwürdigkeit und Qualität des Journalismus
Was ist der Kern des Schmähworts »Lügenpresse«?
Alternative für Deutschland
Pegida
Deutsche Stimme
Preußische Allgemeine Zeitung
Junge Freiheit
Was ist nun der Vorwurf?
Rückkehr der »Lügenpresse« – die Karriere eines Kampfbegriffs
Spurensuche
Die Lügenpresse der Revolution
Die »Lügenpresse« aus dem Ausland
Der Erste Weltkrieg und das Abwehren von Kritik
Der Zweite Weltkrieg: Das bekannteste Kapitel der »Lügenpresse«-Geschichte
Antwort unerwünscht
Rechte Provokationen und Tabubrüche – eine Strategie im Kampf um Aufmerksamkeit?
Populismus auf dem Vormarsch?
Sind Schlagzeilen und griffige Slogans wichtiger als Hintergründe?
»Geld für die Oma statt für Sinti und Roma«: durch zynischen Humor getarnter Rassismus
»Den Rechtsextremisten entgegen kommt eine zunehmende Radikalisierung der vordergründig nicht extremistischen Proteste.«21
Die Junge Freiheit, das Sprachrohr der Neuen Rechten?
Negativ-Framing
Journalisten als linke Hetzer oder rechte Gehilfen? Die Berichterstattung über rechte Themen und Akteure
Wo berichtet wird, passieren Fehler
Zu viel oder zu wenig Berichterstattung über Rechts?
Quantität ist nicht Qualität
Berichterstattung bedeutet auch Konfrontation – mit »Team Rechts« und der eigenen Arbeit
Qualitätsjournalismus muss Hintergründe und Nachhaltigkeit liefern
Ist ein Journalist ein Schiedsrichter? Höchstens in Teilzeit!
Fazit
Gesteuerte Berichterstattung? Wer hat Einfluss auf die Medien?
Clickbait oder seriöse Information, Algorithmus oder Journalismus? Chancen und Risiken des digitalen Journalismus
Die Verdatung der Information
Das Internet als wohl größte Herausforderung des Journalismus
Manipulationsfallen für den Journalismus und die seriöse Information
Transparenz als Gütekriterium für Glaubwürdigkeit
Journalismus nicht mehr als Hauptangebot klassischer Medien?
Qualitativ hochwertige Angebote sind Angebote im Interesse des Users
Social Media – Fluch und Segen für den digitalen Journalismus
Daten- und Roboterjournalismus als neue Qualitäten?
Neue Medienformate – Bereicherung oder nur »ein Angebot mehr«?
Content-Marketing als Freund oder Feind des Journalismus?
Journalistische Qualität muss über allem stehen
Skandalisierung und Boulevardisierung des Journalismus – der Preis für den Kampf um Aufmerksamkeit
Journalistische Transparenz – eine Chance für die Glaubwürdigkeit?
Niemand hat die Absicht, einen Überwachungsstaat zu etablieren – Big Data und die Medien
Sind wir die Guten? Warum der Journalismus wichtiger denn je ist
Anmerkungen
Die Autorinnen und Autoren

Journalismus auf dem Prüfstand – gut so!

Im Journalismus arbeiten, in der Medienwelt eigene Formate und Produkte gestalten, sich mit aktuellen und wichtigen Themen der Gesellschaft beschäftigen – das sind nach wie vor Triebfedern, die den Journalismus zu einem Traumberuf machen und die viele junge Menschen dazu ermuntern, ihn zu ergreifen. Aber Journalistinnen und Journalisten, die mit viel Idealismus in den Beruf starten, stellen sich zunehmend Fragen. Sie wirken hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Verunsicherung. Warum?

Zum einen werden viele junge Medienmacher – und das wird in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen – nach wie vor von einer Aufbruchsstimmung getragen. Wir erleben eine Zeit für Pioniere. Kaum etwas scheint in dieser Medienwelt noch so, wie es für die letzte Generation selbstverständlich war. Neue Darstellungsformen entstehen. Immer wieder neue Wege, sich mitzuteilen. Sich auszutauschen. Es ist die Zeit der Experimente. Die Selbstsicherheit von Chefredakteuren der traditionellen Medienbetriebe, die vor zwanzig Jahren noch zu spüren war, ist verflogen. Sie ist häufig einer Verunsicherung, oder – positiv formuliert – einer Neugier gewichen. Denn niemand weiß genau, wo es langgeht in den nächsten Jahren. Welch eine Zeit für die, die jetzt in den Beruf drängen! Bei ihrem Berufseinstieg erwartet sie nicht mehr die Welt der jahrzehntelang ausgetretenen Pfade. Alle sind auf der Suche nach neuen Wegen zum Leser, User, Zuschauer und Dialogpartner. Wer die Dynamik von Umbruchphasen liebt, ist in dieser Zeit genau richtig!

Wir als Herausgeber haben über Jahre hinweg angehende Journalistinnen und Journalisten auf ihrem Weg in den Beruf begleitet. Wir erleben täglich, wie groß ihr Gestaltungsdrang und ihre Kreativität sind. Aber auch, wie ausgeprägt der Anspruch ist, mit und in ihrem Beruf etwas zu bewegen. Angetrieben von dem Bewusstsein, etwas Sinnvolles, etwas Wichtiges zu tun.

Das ist aber nur die eine Seite. Denn den jungen Berufseinsteigern wird genauso wie ihren Kollegen das Schlagwort »Lügenpresse« entgegengeschleudert. Sie erleben, dass Arbeitsplätze im Journalismus verloren gehen. Dass viele Einsteiger sich von Praktikum zu Praktikum hangeln. Und dass der Journalismus insgesamt in Frage gestellt wird. Denn er erlebt eine mehrfache Bedrohung. Nicht nur von den »Lügenpresse«-Skandierern, sondern auch von denen, die dem Bürgerjournalismus eine große Zukunft voraussagen und auf die sozialen Netzwerke setzen. Finden die Diskussionen der Zukunft nicht ohnehin nur noch in sozialen Netzwerken statt? Werden uns im Zeitalter der digitalen Transformation in Zukunft personalisierte Angebote von automatisierter Software angepriesen? Macht das alles den unabhängigen, professionellen Journalismus, wie wir ihn kennen, mittelfristig überflüssig? Wir glauben: Nein.

Der qualitativ hochwertige Journalismus, der umfangreich und sachlich korrekt informiert, der meinungsstark kommentiert, ist notwendiger denn je. Er ist und bleibt Voraussetzung für eine funktionsfähige Demokratie. Wie sollten sich die Wähler ohne ihn ausreichend informieren können? Gerade der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf hat gezeigt, wie schwer für viele selbst Fake-News in den sozialen Netzwerken zu entlarven sind. Und wie erfolgreich selbst widerlegte Unwahrheiten Verbreitung fanden. Wie muss also dieser Journalismus gestaltet werden, dass er sein Publikum erreicht? Wie ist der Kampf um Aufmerksamkeit gegen die Flut an frei verfügbaren, aber ungeprüften Informationen in den sozialen Netzwerken zu gewinnen? Und wie wird Journalismus finanziert, wenn große Teile des Publikums nicht bereit sind, für aufwendige investigative Recherchen, für redaktionelle, geprüfte Qualität einen angemessenen Preis zu zahlen? Die Verunsicherung ist zu greifen.

In diesem Buch werden die Fragen nicht alle beantwortet. Es ist kein Lehrbuch. Es will auch nicht belehren. Es will jungen, kompetenten Journalistinnen und Journalisten eine Stimme geben. Sie machen sich Gedanken über ihren Beruf, unsere Gesellschaft, unsere Werte, ihre Zukunft. Über Themen also, die uns alle betreffen, auch wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit dem Journalismus nicht viel zu tun haben. Mal eher optimistisch, mal eher pessimistisch, aber in jedem Fall ist der Wunsch der Autorinnen und Autoren zu spüren, die Diskussion über die Zukunft des Journalismus mitzuprägen. Und auch der Glaube – trotz der Diskussion über das Postfaktische –, dass durch Hintergründe und Diskussion relevanter Themen etwas bewegt werden kann. Sie nehmen die Herausforderungen an. Sonst könnten sie ihren Beruf ja gleich an den Nagel hängen.

Dieses Buch sollte ursprünglich den Titel Alles nur Lügenpresse? Journalismus auf dem Prüfstand tragen. Wir haben uns anders entschieden. Warum denen, die das Schlagwort »Lügenpresse« als Mittel zur Denunziation eines Berufsstands benutzen, noch in die Hände spielen? Warum einen nicht zutreffenden Begriff mit einer dunklen Vergangenheit – auch darum wird es in diesem Buch gehen – noch mehr als bisher im alltäglichen Sprachgebrauch etablieren?

Aber um Missverständnissen gleich vorzugreifen: Dies soll auch keine selbstgefällige Selbstdarstellung und Rechtfertigung des Journalismus in der heutigen Ausprägung sein. Es geht uns darum, selbstkritisch auf die aktuellen Entwicklungen zu schauen. Aber auch selbstbewusst, wo es angebracht ist.

Über »Lügenpresse« und Debattenkultur

Nicht nur der Journalismus ist im Umbruch. Das »Lügenpresse«-Schlagwort kommt nicht von ungefähr. Das politische Klima, nicht nur in Europa, ist rauer geworden. Nicht erst seit Flüchtlingsdebatte, Brexit und Trump. Diese Ereignisse haben den längst vorhandenen nationalkonservativen Bewegungen genützt oder sind von ihnen befördert worden. Und wenn in den Gesellschaften eine Kraft erstarkt, die in vielen Fragen völlig kontrovers zum vorherrschenden Konsens steht, ist es fast schon folgerichtig, dass bisher selbstverständliche Positionen und Präsentationen in den Medien infrage gestellt werden. Die Frage ist nur, mit welchen Mitteln.

In den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland mehrheitlich eine konsensorientierte Debattenkultur entwickelt. Und auch bei den großen, die Gesellschaft bewegenden Fragen herrschte in der Politik viel Übereinstimmung. Kein Wunder bei einer Koalition, die nach der Bundestagswahl 2013 fast 70 Prozent der Wähler repräsentierte und damit einer zahlenmäßig marginalisierten Opposition gegenüberstand. Und selbst diese hat viele Entscheidungen mitgetragen. Die wenigen vorhandenen Kontroversen wurden vor allem mit Argumenten ausgetragen, basierend auf belegbaren Fakten.

Nun ergeben sich einige berechtigte Fragen: Was ist mit der sogenannten vierten Gewalt? Wären die Medien in solch einer politischen Konstellation als Korrektiv nicht wichtiger denn je? Haben die großen, meinungsprägenden Medien es sich zu leicht gemacht, wenn sie sich innerhalb dieses Konsenses bewegt haben? Hätten sie nicht die Aufgabe, einer Politik, die sich gerne als alternativlos darstellt, Alternativen aufzuzeigen?

Spätestens seit Beginn des Ukraine-Konfliktes wurde sichtbar, dass in Teilen der Bevölkerung auch andere Positionen vertreten werden als von Politikern und den traditionellen Medien. Waren die Medien zu einseitig in ihrer Berichterstattung? Wurde von fast allen suggeriert, man wisse, wer auf dem Majdan zu unterstützen sei? Müssen wir nicht rückblickend konstatieren, dass bis heute niemand genau weiß, was auf dem Majdan wirklich vorgegangen ist? Immer wieder wurde die Berichterstattung in der Folge kritisiert, auch durch gut belegte Fakten. Auch wenn die Diskussion nur schwer in Gang kam und vor allem von digitalen Medienplattformen und von Teilen des Publikums eingefordert wurde – sie wurde geführt und lange Zeit argumentativ und auf sachlichem Niveau ausgetragen. Auch, als es um die Flüchtlingsberichterstattung ging. Wie auch sonst?

So war es nicht nur überraschend, sondern auch ein kultureller Schock, als wieder, wie zu Beginn der 1990er Jahre, Flüchtlingsunterkünfte in Brand gesetzt wurden und auf Pegida-Demonstrationen die Medienvertreter erstmals als »Lügenpresse« beschimpft wurden. Nicht nur historisch beschlagene Menschen waren empört. Denn der Begriff unterstellt nicht weniger als die bewusste, falsche Darstellung von Sachverhalten oder Meinungen. Und das ist ein Angriff auf die persönliche und berufliche Ehre. Und hat Folgen: Wer dem Anderen Lügen unterstellt, kann ihm selbst dann nicht trauen, wenn er die Wahrheit sagt. Und damit ist eine Kommunikation, die versucht, Fragen oder Probleme rational und verständigungsorientiert zu klären, fast ausgeschlossen. Die Kontrahenten begeben sich in isolierende Kommunikationsräume, in Echokammern mit Gleichgesinnten. Derjenige, der den Kampfbegriff »Lügenpresse« verwendet, behauptet, dass er zumindest weiß, dass die Aussagen der Presse falsch sind, und man darf getrost annehmen, dass er darüber hinaus von sich denkt, die Wahrheit zu kennen.

Wie reagieren?

Kein Wunder, dass dieser Frontalangriff sogar gestandene, aber erst recht junge Journalisten verunsichert hat. Denn der Vorwurf der »Lügenpresse« sickerte immer mehr in die Diskussion der gesellschaftlichen Mitte. Er wurde von Verwandten geäußert. Von Freunden und Bekannten. Nicht von allen, so weit ist es nicht. Aber er kam eben auch von Menschen, von denen man es nicht vermutet hätte. Die ihr Vertrauen nicht nur in Teile der Politik, sondern auch in die Medien verloren haben. Die vor allem Informationen glauben, die nicht über die Medien mit Reichweite verbreitet werden. Bei aller Forderung nach kritischen Rezipienten – so war sie nicht gemeint. Und sollte diese Pauschalabwertung der Medien andauern, ist der gesellschaftliche Informationsprozess schwer aufrechtzuerhalten.

Und was macht ein solches Misstrauen mit jungen Journalisten, die gerade erst mit Idealismus in den Beruf gestartet sind? Wie zufrieden sind sie mit den Antworten, die in den Medien gegeben wurden? Und wie haben wir, also Lehrende und Studierende am Institut für Journalistik der TU Dortmund, darauf reagiert?

Wir haben über das eigene Berufsverständnis und die zugrunde liegenden Werte debattiert. Wir haben nach Ursachen für das Misstrauen gesucht, nach möglichen Fehlern gefahndet. Und darüber diskutiert, wie Vertrauen zurückgewonnen werden könnte – selbst bei denen, die »Lügenpresse« rufen. Ob es eine Chance gebe, mit ihnen konstruktiv zu kommunizieren. Darum geht es in diesem Buch.

Die Autorinnen und Autoren sind ausgebildete Journalistinnen und Journalisten mit Praxiserfahrung. Sie alle haben ein Volontariat absolviert und kennen den redaktionellen Alltag in unterschiedlichen Medien. Sie alle haben ein Bachelor-Studium der Journalistik hinter sich. Und sie alle haben sich im Rahmen der Master-Lehrveranstaltung »Journalistische Qualität in Theorie und Praxis« mit Themen beschäftigt, die sie derzeit bewegen. Daraus sind diese Texte entstanden. Und daraus dieses Buch.

Wir als Lehrende haben Fragen vertieft, (vorläufige) Antworten angeboten und medienübergreifend berufserfahrene Praktiker eingeladen, um den Diskurs zwischen ihnen und den Studierenden zu befördern. Aber die Studierenden haben eigene Themen gesetzt, Fragen zugespitzt und entschieden, welche Akzente eines Themas ihnen besonders wichtig waren. Sie haben teilweise auch Fragen aufgeworfen, ohne immer Antworten zu liefern. Dieses Buch ist somit das Ergebnis eines Experiments. Es zeigt, welche Themen die jungen Journalistinnen und Journalisten in dieser Zeit bewegen. Und sicher nicht nur sie. Trotzdem erhebt dieses Buch nicht den Anspruch, die Debatte vollständig wiederzugeben.

Selbstbewusstsein und Selbstkritik

Um eins klarzustellen: Es brauchte nicht den Vorwurf der »Lügenpresse«, um über das journalistische Selbstverständnis zu debattieren. Dieser Diskurs wird ständig geführt, und das muss er auch. Aber das gesellschaftliche Klima war und ist Anlass dafür, diese Diskussionen noch offensiver anzugehen. Die Lösung kann nicht sein, ein fundamentales Misstrauen größerer gesellschaftlicher Gruppen in die Medien und partiell auch in die Demokratie ohnmächtig zur Kenntnis zu nehmen und schulterzuckend einfach weiterzumachen. Es geht in der Debatte sowohl um die Verteidigung demokratischer Errungenschaften als auch um journalistisches Selbstbewusstsein und um das Bewusstsein von Stärken und Schwächen des Journalismus im digitalen Zeitalter. Aber auch um die Frage: Sind die Argumente der Kritiker stichhaltig? Halten sie einer Überprüfung stand? Und: Kommen von denen, die »Lügenpresse« rufen, überhaupt Argumente?

Im Zuge der Debatte ist ein Bedürfnis entstanden, Denkschablonen zu überprüfen. Gibt es nicht in der Tat eine unterschwellige Attitüde à la »Wir, die Gleichgesinnten, die wir für Europa, gegen den Brexit, gegen eine Obergrenze argumentieren, nur wir sind die Guten«? Stehen alle anderen reflexartig im Verdacht, nicht nur konservativ, sondern reaktionär, wenn nicht gar Nazis zu sein? Müssen sich nicht spätestens, seit die AfD im zweistelligen Prozentbereich Wahlerfolge feiert, auch hartnäckige Gegner fragen, ob viele der AfD-Wähler uns nicht vielleicht eine andere Botschaft senden wollen?

Dass wir alle den Journalismus auf den Prüfstand stellen, ist gut so! Prüfen bedeutet: feststellen, inwieweit das Prüfobjekt eine Forderung erfüllt. Das setzt schon einmal voraus, sich über die Forderungen an das Prüfobjekt, in diesem Fall den Journalismus, zu verständigen. Was erwarten wir in unserer Gesellschaft von diesem Berufsstand? Was ist seine elementare Aufgabe? Was ist zu viel verlangt?

Wenn wir etwas prüfen, so setzt das außerdem voraus, nicht schon in einer vorgefertigten Meinung gefangen zu sein. Ist uns deshalb in diesem Buch an einer komplett sachlich-ausgewogenen Argumentation gelegen? Nein. Die Autorinnen und Autoren können und sollen in ihren Texten durchaus Mut zur Meinung zeigen, abwägen, werten, gewichten. Im Folgenden ein Überblick über die drei Teile des Buches, in denen die Texte thematisch zusammengefasst sind.

Selbstverständnis und Haltung

Der erste Teil beginnt mit einer Selbstvergewisserung darüber, was den Journalismus heute ausmacht. Hält er Menschen den Spiegel vor oder allzu oft den Zerrspiegel? Bei Elisabeth Thobeist die Leidenschaft für den Beruf spürbar, aber auch die Wut auf diejenigen, die Entwicklungen verschlafen haben oder weiter ignorieren. Wo sieht sie den Journalismus heute? Was ist seine Kernaufgabe? Wie reagiert sie auf Kritik am Journalismus, selbst aus dem engsten Familienkreis? Ihr Text ist ein sehr persönlicher Einstieg in dieses Buch.

Apropos Selbstverständnis: Gelobt und mit Preisen ausgezeichnet wurden in den letzten Jahren häufig Journalistinnen und Journalisten, die »Haltung« gezeigt hatten. Jana Fischer fragt sich, was hinter diesem Begriff steckt. Was unterscheidet »Haltung« von »Meinung«? Gehört zur Haltung, dass jeder Journalist offensiv politische Positionen vertritt und sich zu Parteien bekennt? Wollen wir damit zurück zu einem Gesinnungsjournalismus, bei dem Posten in Verlagen und Rundfunkanstalten entlang der Farbenlehre im Parlament vergeben werden? Wohl nicht, wir alle erinnern uns an die Proteste von Verlagen und TV-Sendern auf die Versuche von Parteien, auf Programmgestaltung und Personalentscheidungen Einfluss zu nehmen.

Ist mit »Haltung« also eher das Eintreten für gesellschaftliche Werte jenseits von Parteizugehörigkeit gemeint? Was unterscheidet »Haltung« vom Festhalten an vorgefassten Meinungen? Ist »Haltung zeigen« dann nicht genau das, was Kritiker dem Journalismus vorwerfen? Führt Haltung zu einseitiger Berichterstattung? Und wie ist »Haltung« in Einklang zu bringen mit dem oft zitierten journalistischen Grundsatz von Hanns Joachim Friedrichs, man solle sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten? Jana Fischergeht in ihrem Text genau diesen Fragen nach.

Thilo Braun spannt einen weiten zeitgeschichtlichen Bogen. In seinem Text »Marktgeschrei auf der Agora«drehen wir die Diskussion über das journalistische Selbstverständnis noch einmal weiter: Facebook ist für jeden Verlag, für jeden TV-Sender und für jeden freien Journalisten ein Thema. Die Entwicklung oder Optimierung einer Social-Media-Strategie steht bei vielen Medienmachern ganz oben auf der Prioritätenliste – und sorgt dafür, dass die Macht und Dominanz von Facebook noch größer wird.

Dabei geht es in unserer schnelllebigen digitalen Welt nicht nur um Facebook. Für die Jüngeren gilt die Kreation von Mark Zuckerberg schon wieder als Seniorennetzwerk. Und doch bleibt Facebook ein Machtfaktor mit großem Einfluss. Welcher Grundgedanke steht hinter diesem »sozialen« Netzwerk? Was verbindet und unterscheidet Facebook von der Agora, dem Marktplatz im antiken Griechenland? Welche demokratiestiftenden Ideale wurden mit Facebook verbunden? Und was ist daraus geworden?

Die Diskussionen um die auf Facebook publizierten und millionenfach verbreiteten Fake-News sind nur die Spitze des Eisbergs, wenn wir über den Einfluss von Facebook oder Google auf die Zukunft des Journalismus reden. Welche Chancen und Gefahren sind damit verbunden, wenn journalistische Produkte nur noch über »Instant Articles« abgerufen werden? Was bedeutet es, wenn Facebooks Algorithmen entscheiden, welche Angebote welchen User erreichen und welche nicht? Welche Konsequenzen hat das für die ehemals journalistische Entscheidung, welche Ereignisse für das Publikum als relevant einzustufen sind? Wird Facebook, geleitet von rein ökonomischen Interessen, zum neuen Gatekeeper? Und, mal abgesehen von einem Denken in journalistischen Traditionen und Erbhöfen: Was wäre daran schlimm? Was bedeutet das ganz nüchtern betrachtet für die demokratische Willensbildung?

Julian Beyer befasst sich abschließend mit der Selbstkritik, die zur Selbstreflexion dazugehört. Sie wurde allerdings aus ökonomischen Gründen in den traditionellen Medien mehr und mehr zurückgefahren. Dabei geht es in der Medienkritik nicht nur um die Bewertung von Artikeln, Beiträgen und Sendungen, sondern gerade auch um hintergründige Betrachtungen des Mediensystems, mögliche Verflechtungen und medienübergreifende Missstände in der Berichterstattung.

Wachsame Laien springen ein. Diese Laien sind aber teilweise auch einer neuen Form des professionellen Onlinejournalismus zuzuordnen. Sie recherchieren und kommentieren, oft mit großer Sachkenntnis. Welche Impulse können sie konkret setzen? Wie groß kann ihre Wirkung sein? Werden sie ernst genommen? Julian Beyer glaubt an eine positive Wirkung der wachsamen Laien. Er fordert darüber hinaus eine intensivere Teilnahme der etablierten Medien an medienkritischen Diskussionen und mehr Transparenz. Außerdem grenzt er die seriösen Online-Medienkritiker, denen an einer Weiterentwicklung des Journalismus gelegen ist, scharf ab gegenüber denen, die »Lügenpresse« skandieren. Damit leitet er auch zum zweiten Teil über.

Alles nur »Lügenpresse«?

Die pauschale Kritik und Verurteilung, die mit »Lügenpresse«-Rufen zum Ausdruck gebracht wird, hat den Journalismus kalt erwischt. In den Redaktionen hatte sie interne Diskussionen über Berichterstattungsmuster zur Folge; sie hat verunsichert, Trotz ausgelöst oder beides gleichzeitig. Sie hat empört, wenn sie von tätlichen Angriffen auf Journalisten begleitet wurde. Ein Klima der Verunglimpfung, ja sogar der Bedrohung zumindest der Journalisten, die sich kritisch mit rechten Gruppierungen auseinandersetzen, hat sich hierzulande breitgemacht.

Wenn auch nicht alle Kritiker die Terminologie »Lügenpresse« benutzen, so wird mit »Pinocchio-Presse« oder etwas abgeschwächten Begriffen wie »Systempresse« oder »Mainstreammedien« oft eine Grundskepsis gegenüber der Unabhängigkeit journalistischer Berichterstattung nur anders benannt. Wie pauschal ist die Kritik, die am Journalismus geübt wird? Mit dem Schlagwort »Lügenpresse« wird oft der Vorwurf verbunden, die Medien seien von oben gesteuert. Gibt es Argumente oder belegbare Kritikpunkte, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten?

Rebecca Hameisterbeschäftigt sich mit dem Kern des Schmähworts »Lügenpresse«. Sie kategorisiert die Kritikpunkte am Journalismus und listet konkrete Berichterstattungsbeispiele aus konservativen und rechten Publikationen auf. Vanessa Martella weitet noch einmal die Perspektive. Wofür steht der Begriff »Lügenpresse« überhaupt? Wann ist er historisch von wem genutzt worden? Mit welcher Absicht? Ein Schwerpunkt bildet hier zwar die Instrumentalisierung des Begriffs im Nationalsozialismus, aber er fand auch in anderen historischen Kontexten bereits Verwendung.

Maximilian Ernst bleibt beim Thema »Lügenpresse«, führt uns aber wieder zurück in die heutige Zeit. Schon 2016 wurde intensiv darüber diskutiert, ob Tabubrüche zum Kampf um Aufmerksamkeit gehören. Die These: Es existiert eine populistische Kommunikationsstrategie, die zunächst gezielt Provokationen setzt, um sie anschließend zu dementieren oder zu relativieren. Dieser Mechanismus erzeugt kontinuierlich öffentliche Aufmerksamkeit. Maximilian Ernst prüft diese These und analysiert konkrete Beispiele und die Charakteristika der »Neuen Rechten«.

Jens Rospekwiederum wechselt die Perspektive. Er reflektiert die Berichterstattung über rechte Gruppierungen, nicht ohne die Bedeutungen von Begriffen wie »Populismus«, »rechtspopulistisch«, »rechtsextrem« oder »rechtsradikal« zu differenzieren, die nicht nur in den Medien häufig unreflektiert verwendet werden. Ist die Kritik an den Berichterstattungsmechanismen über diese Gruppierungen angemessen?

Noch grundsätzlicher steigen Jan Reckweg und Nadia Gering in das Thema ein und greifen den Vorwurf auf, die Medien seien von oben gesteuert. Wie nah sind Journalistinnen und Journalisten den politischen und ökonomischen Machtzentren wirklich? Wie groß ist die Gefahr, als Journalist manipuliert zu werden? Wie wahrscheinlich der Effekt, dass so auch User, Leser, Zuschauer und Hörer manipuliert werden? Wie realistisch ist die Annahme einer zentralen Steuerung, durch wen auch immer? Und wie sind die oft erkennbaren Übereinstimmungen vieler Medien anders zu erklären? Was trennt die Annahme der Steuerung vom Vorwurf des Rudeljournalismus? Welche Rolle spielen eingefahrene Berichterstattungsroutinen, die bei vielen Medien zu einer Mainstream-Berichterstattung führen oder sogar dazu, dass sie auch inhaltlich im Gleichklang berichten?

Digitalisierung, Boulevardisierung, Individualisierung – wo stehen wir?

Diese Gedanken wiederum führen zum dritten Teil, der sich konkreter mit einzelnen Facetten der Entwicklung des Journalismus und möglichen Perspektiven beschäftigt.

Wir sprechen vom digitalen Wandel, der die Gesellschaft erfasst, von Big Data, digitaler Transformation, von Social Media, Social Bots und Clickbaiting. Wer soll da den Überblick über die Veränderungen in der Gesellschaft und im Journalismus behalten? Florian Zintl wirft Schlaglichter auf die parallel stattfindenden Entwicklungen, gewichtet sie und kommt zu Einschätzungen von Chancen und Risiken des neuen Medienzeitalters. Er spürt Inspirationen für den Journalismus von morgen auf. Ein kurzer, subjektiver Blick auf die neue Medienlandschaft, die sich täglich verändert.

Im Kampf um Aufmerksamkeit in dieser schnellen und facettenreichen Medienwelt ist zudem ein Trend zu Skandalisierung und Boulevardisierung festzustellen. Diesen Trend kritisiert Veronika Prokhorova deutlich. Sie macht am Beispiel Donald Trump fest, dass deutsche Medien weit davon entfernt waren, sachlich über den amerikanischen Wahlkampf zu berichten. Sie macht strukturelle Probleme aus, die zur Desinformation führen (können). Der ökonomische Druck befeuere diesen Trend, der auch die Leit- und Qualitätsmedien erreicht habe und der Demokratie schade. Ihr Text ist auch ein Plädoyer für die Wertschätzung guter Recherche als einem Weg, Vertrauen zurückzugewinnen. Einen weiteren sehen mehr und mehr Medienmacher darin, in ihrer Arbeit transparenter zu sein.

Was genau bedeutet mehr Transparenz? Und welcher Aufwand steckt dahinter? Marieluise Denecke macht das am Beispiel der ZDF-Journalistin Dunja Hayali deutlich. Diese wurde für ihren offenen Umgang mit Kritikern ausgezeichnet. Transparenz geht bei Hayali aber weiter, bis ins Private. Ist Personalisierung und Transparenz in dieser Form eine wünschenswerte Perspektive für den Journalismus? Marieluise Denecke macht klar: Es kann jedenfalls nicht nur um die Social-Media-Aktivitäten einzelner, populärer Medienfiguren gehen. Redaktionelle Entscheidungsprozesse transparent zu machen und schon in journalistischen Beiträgen Quellentransparenz zu zeigen, sind weitere Faktoren. Wo liegen die Grenzen der Transparenz? Welche Verantwortung hat das Publikum? Und was kann Transparenz im Idealfall bewirken in einer Welt der Hasskommentare?

Linda Pustlauk-Zuber ergänzt den Blick in die Zukunft um die gesellschaftliche Perspektive, spitzt die Entwicklungen bei den (technischen) Manipulationsmöglichkeiten im Datenzeitalter zu und entwirft ein weitgehend düsteres, aber nicht unrealistisches Gemälde einer Welt, in der jeder bis zur kompletten Kontrolle transparent ist. Was bedeutet das konkret für unser Leben? Welche Annehmlichkeiten, aber auch welche dunklen Seiten zeichnen sich für unseren Alltag ab? Die Perspektive des Journalismus ist nicht zu trennen von der gesellschaftlichen Dystopie.

Den Abschluss des Buchs macht Victor Fritzen. Er greift viele der Themen noch einmal auf und schlägt die Brücke zum Anfang des Buches. Was bedeutet all das, was wir nun diskutiert haben, für das Selbstverständnis von Journalistinnen und Journalisten? Und er fragt: Sind wir die Guten? In seinen Ausführungen ist zu spüren, dass er sich als Journalist gerne zu ihnen zählen würde, aber er hadert mit Fehlentwicklungen. Er regt sich auf über das, was er als Rezipient sehen, hören und lesen muss. Und er zeigt Optionen auf für einen Journalismus, der zukunftsfähig ist.

Sind wir die Guten?

Victor Fritzens Grundfrage greifen wir an dieser Stelle auf. Wir sind die Guten ist nicht nur der Titel eines lesenswerten Buches, das sich mit der westlichen Medienberichterstattung über Russland und den Ukraine-Konflikt beschäftigt. Es ist auch der unausgesprochene Anspruch, der in vielen Äußerungen von Politikern und Journalisten steht. Wofür stehen wir? Dafür, im ethischen Sinn gut zu handeln, für Menschenrechte einzutreten, für Gewaltenteilung, für eine unabhängige Justiz, für Meinungsfreiheit, für Frieden, für Asyl für Verfolgte … Die Liste ließe sich verlängern. Aber wir sollten sehen, dass viele dieser Ansprüche auch bei uns nicht immer gleichmäßig erfüllt sind und nicht von allen akzeptiert werden. Und, dass es sich auch bei uns um relativ junge Errungenschaften handelt.

Zentral bleibt die Frage, wie wir in den Medien mit denen umgehen, die diese Werte nicht in gleichem Maß anstreben, sie gar ablehnen und gegen sie aktiv verstoßen. Nicht nur in Deutschland. Wird in den Medien über die Beschlüsse (oder die Verhinderung von Beschlüssen) des UN-Sicherheitsrats oder über Menschenrechtsverletzungen vergleichbar berichtet, wenn sie Russland, die Ukraine, Israel, Iran, die USA, Syrien oder Saudi-Arabien betreffen? Oder gibt es da je nach politischer Nähe mildernde oder verschärfende Umstände? Die Frage, wie gleichmäßig wir die von uns zu Recht verteidigten Werte einfordern, war sicher ein Anlass, sich kritisch mit einer lange Zeit konsensuellen Berichterstattung zu beschäftigen. Historisch gibt es solche Brüche immer wieder, wenn sich innerhalb einer Gesellschaft die Wertvorstellungen sehr stark auseinanderentwickeln. Das ist bei uns spätestens bei der Berichterstattung über die Ukraine und deutlich verschärft bei Berichten über die Ankunft der vielen Flüchtlinge augenfällig geworden.

Aber auch wenn es berechtigt und dringend notwendig ist, die Frage nach der Unvoreingenommenheit zu stellen, rechtfertigt das weder den Vorwurf der »Lügenpresse« noch den der Steuerung. Wer so argumentiert, der hat nicht verstanden, wie unser Mediensystem funktioniert. Journalistische Lügen sind sicher sehr selten. Aber Journalisten sind nicht frei von Interessen und politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, sie haben eine Sozialisation in Gesellschaft und Redaktion durchlaufen und sie arbeiten mit den finanziell oft engen Mitteln, über die ihr Redaktionsetat für Recherchen verfügt. Auch sie durchschauen nicht alle Vorgänge. Sie haben begrenzte Möglichkeiten der Erkenntnis und der Darstellung. Sie müssen auswählen aus einer nahezu unübersehbaren Nachrichtenmenge. Diese Auswahl muss zwangsläufig lückenhaft sein und produziert trotz vorhandener Regeln auch Unsicherheiten. Diese werden gern durch den vergleichenden Blick auf andere Medien versucht zu reduzieren.

Auch wir machen uns Sorgen darüber, dass aufgrund des Aktualitätsdrucks immer häufiger darauf verzichtet wird, eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, dass häufig nicht mehr genau getrennt wird zwischen Nachrichten und Kommentaren, dass in ausgedünnten Redaktionen die Sachkompetenz immer weniger wird, dass Voreingenommenheit mit Haltung verwechselt wird und zu einseitiger Darstellung führt. Auch wir sehen einen Trend zur Skandalisierung und glauben, dass der Journalismus in einigen entscheidenden Situationen – die Kölner Silvesternacht 2015 ist nur ein Beispiel – große Fehler gemacht hat. Die Liste ließe sich fortsetzen. Mindestens genauso lang wäre aber die Liste der großartigen Beispiele für Qualitätsjournalismus. Für fundierte Recherchen, Hintergrundgeschichten, spannende Analysen.

Wir glauben an eine Zukunft des Journalismus, der sich im Dialog mit den Usern, Lesern, Zuschauern und Hörern den Kriterien journalistischer Qualität verschreibt. Der aktuell berichtet, sich aber auch an Dimensionen wie Richtigkeit und Relevanz orientiert. Der sich an professionellen, heute auch dialogischen Vermittlungsansprüchen misst. Und der seine Berichterstattung an ethische Maßstäbe knüpft.

Wir sehen für Qualitätsjournalismus eine Chance trotz des Zangengriffs von digitalen Medien und ökonomischer Engführung. Die Frage, wie der Journalismus in Zukunft finanziert werden kann, wäre noch einmal ein weiteres Buch wert. Aber trotz allem sind wir der Meinung, dass Journalismus in Zukunft wichtiger denn je ist. Und wir sind der Überzeugung, dass es vermehrt die jungen Journalistinnen und Journalisten sein müssen, die wir hören sollten. Die Millennials sind in dieser Medienwelt als sogenannte Digital Natives sozialisiert. Für sie geht es im Gegensatz zu den schon lange etablierten Kolleginnen und Kollegen um die nächsten Jahrzehnte ihres Berufslebens. Sie können mithelfen, Lösungen zu finden, um diesem Zangengriff zu entkommen.

Junge, kompetente Journalistinnen und Journalisten sollten die Chance bekommen, gemeinsam mit den älteren schnell das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Doch dazu muss man bereit sein, ihnen auch redaktionelle Verantwortung zu übertragen. Nicht nur als Social-Media-Redakteure, sondern auch, wenn es um die Weiterentwicklung traditioneller Formate, Senderstrukturen und Rechercheeinheiten geht. Sie sind nicht das »Allheilmittel«. Aber je differenzierter sich junge Journalistinnen und Journalisten mit der aktuellen und zukünftigen Medienentwicklung, mit den gesellschaftlichen Hintergründen und ihrem Selbstverständnis beschäftigen, je mehr sie ihre Kreativität einbringen können, desto weniger müssen wir uns um die Zukunft dieses wichtigen Berufes Sorgen machen.

Michael Steinbrecher und Günther Rager, Januar 2017

Nur noch kurz die Welt retten – Journalismus in der Demokratie

Von Elisabeth Thobe

Angst hat für mich die Form einer Roulade. Verstehen Sie mich nicht falsch; ich bin weder radikale Vegetarierin, noch erschüttern mich die Konsequenzen eines guten Essens auf der Waage. Sie ist auch kein Ausdruck eines schweren Kindheitstraumas. Die Roulade ist für mich – und das ganz ohne eigenes Verschulden – zu einem Symbol geworden für den Moment, in dem sich ein Teil meines Weltbilds änderte. Und ich etwas erkannte, das ich bis dato nicht hatte sehen können. Oder wollen.

Dieser Moment war ein Sonntagvormittag in der Küche meiner Eltern. Meine Mutter rührte in diversen Töpfen, ich lümmelte auf einem der Küchenstühle und wie meist in meiner Familie diskutierten wir ein bisschen über Gott und viel über die Welt. Dazwischen quakten Nachrichten aus dem Radio. Worüber der Sprecher redete, nahm ich nur am Rande wahr. Meine Mutter allerdings drückte so energisch auf den Aus-Knopf, als wollte sie den Sprecher persönlich zum Schweigen bringen. »Ich ertrage das einfach nicht.« Dass ich auf ihren Ausruf »Was erträgst du nicht?« zurückfragte, halte ich mir bis heute zugute. Denn was folgte, war die direkteste Kritik an meinem Berufsstand, die mir als Journalistin bislang an den Kopf geworfen wurde.

Nicht mehr zu ertragen sei, sagte meine Mutter, das ständige, unaufhaltsame Getöse der Medien. Das ununterbrochene Gebrabbel auf allen Kanälen. Mit den immergleichen Themen. Die wieder und wieder und wieder durchgekaut werden, bis man sie form- und geschmacklos wie einen alten Kaugummi auf den Boden rotzt. Nicht mehr zu ertragen sei das Aufbauschen einer Nachricht bis zur Unkenntlichkeit, bis sie alle anderen Nachrichten verdrängt und nichts mehr sonst übrig bleibt von der Welt. Nicht zu ertragen sei das Heischen nach Sensationen um der Sensation willen. Die Hysterie, die Welt immer schneller mit Informationen zu fluten. Und Journalisten, die so sehr nach Aufmerksamkeit gieren, dass sie wie kleine Kinder immer lauter brüllen, je weniger man sie beachtet.

»Was soll ich so noch glauben?«, schloss meine Mutter mit einem Seitenblick auf mich. Um dann hinzuzufügen: »Was soll das Ganze denn eigentlich?«

Ja, was soll das eigentlich? Dieser Journalismus? Die Medien? Und wir, die Journalisten? An diesem Sonntag fällt mir auf die Fragen meiner Mutter nichts Cleveres ein. Ich starre etwas hilflos in die Pfanne mit den Rouladen und weiß so recht nicht, was ich ihrem Ausbruch entgegnen soll. Dass wir Journalisten etwas zum Funktionieren unserer Gesellschaft beitragen, dass unsere Arbeit irgendwo sinnvoll und wichtig ist, davon war ich – wie wohl die meisten meiner Kollegen – bislang fest überzeugt. Die Frage nach dem Sinn meines Tuns habe ich mir nur im Studium ein paar Mal gestellt; bei meiner Arbeit hingegen eher selten, und wirklich zu Ende gedacht habe ich sie wohl nie. Vielleicht aus Angst vor der Antwort, wahrscheinlicher aber aus Bequemlichkeit und der Überzeugung, dass das Ganze, also der Journalismus, ja einen Sinn, eine Funktion haben muss. Schließlich existiert das Konzept der freien Presse schon länger als das vergangene Jahrhundert.

Dass immer mehr Bürger von mangelndem Vertrauen in die Medien sprechen, habe auch ich in letzter Zeit registriert. Und die Schreihälse, die ihre Botschaft von der linksgrünversifften Lügenpresse in die sozialen Netzwerke kippen – geschenkt. Es mag etwas mit der leichten Überheblichkeit zu tun haben, die vielen meiner Zunft zu eigen ist, diesem Hauch des ewigen Besserwissers und Weltverbesserers, dass erst der Ausbruch meiner Mutter kommen musste, damit ich begann, so etwas wie Angst um den Journalismus zu entwickeln. Und mir selbst die Gretchenfrage zu stellen: Was tue ich, was tun wir Journalisten denn eigentlich? Welche Funktion haben der Journalismus und wir Journalisten in der Gesellschaft? Und: Ist unsere Arbeit wirklich so unverzichtbar, wie wir zumeist glauben? Denn wenn uns niemand mehr liest, wenn uns kein Mensch mehr zuhört und zusieht, wenn der Leser und Zuschauer, der Hörer und Nutzer unserer Arbeit überdrüssig ist und niemand uns mehr vertraut – wozu brauchen wir den Journalismus dann noch?

Um solch schwierige Fragen wie die nach dem Sinn zu beantworten – zumindest das habe ich als Journalistin gelernt –, beginnt man am besten am Ausgangspunkt. Frage ich nach der Funktion des Journalismus in der Gesellschaft, dann frage ich erst nach der Grundlage unserer Gesellschaft: der Demokratie. Die Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland gelebt wird, basiert auf den öffentlichen Prozessen der Meinungs- und Willensbildung. Ob Politiker oder Putzfrau, Maurer oder Manager, Seniorin oder Student – wer Teil dieser Demokratie ist, soll in der Lage sein, sich über die Vorgänge in diesem System eine eigene Meinung zu bilden und einen eigenen Willen zu entwickeln. Wer schon mal versucht hat, vor Vorgesetzten oder Kollegen einen Standpunkt zu vertreten, ohne eine Idee von der Thematik zu haben, der weiß, wie sehr man dabei ins Straucheln gerät. Kompetenz vorzutäuschen bei völliger Ahnungslosigkeit geht nur selten gut aus. Eine Demokratie, in der sich die Menschen meinungs- und willenlos wie Marionetten bewegen und schlicht hinnehmen, was immer die Strippenzieher ihnen vorsetzen, das ginge nicht nur nicht gut aus – so wäre Demokratie schlicht nicht möglich. Denn das Wesen der Demokratie basiert auf der freien Willensbildung, der freien Entscheidung seiner Bürger und damit auch auf der Möglichkeit, sich eine Meinung auf Grundlage vielfältiger, vielseitiger und frei zugänglicher Informationen zu bilden. Um das zu verstehen, reicht ein kurzer Blick über den Tellerrand auf Nationen wie den Iran, China oder Eritrea, die ihren Bürgern durch Zensur und Repression noch immer die Möglichkeit zur uneingeschränkten Information vorenthalten. Nur wer sich frei und umfangreich informieren kann, kann sein Leben frei gestalten und mündige Entscheidungen treffen.

An dieser Stelle kehren wir zum Journalismus zurück. Denn die Medien – und damit sind vor allem ihre Redaktionen und ihre Journalisten gemeint – machen die Meinungs- und Willensbildung durch ihre Arbeit möglich. Medien stellen Öffentlichkeit her. Durch Zeitungsartikel, Radiobeiträge und Fernsehdebatten machen sie die Vorgänge in der Gesellschaft sichtbar, die Bürger nicht unmittelbar erfahren können. Sie tragen zu einem überwiegenden Maße dazu bei, dass Bürger qualifizierte Entscheidungen treffen können. Schon das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem ersten Spiegel-Urteil 1966 fest:

»Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich. Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.«1

Das Verfassungsgericht formulierte in seinem Urteil erstmals die öffentliche Aufgabe der Medien: Sie beschaffen Informationen, nehmen Stellung, geben Orientierung und halten die Diskussion in der Gesellschaft in Gang – kurz: Sie sorgen dafür, dass Öffentlichkeit überhaupt stattfinden kann.

Wer also als Bürger wissen möchte, warum der Stadtrat den Anstieg der Grundsteuer beschlossen hat, kann fast sicher sein, dass er das am nächsten Tag in einem Bericht aus der Ratssitzung in der örtlichen Tageszeitung lesen kann. Genauso wie der Bundestagsabgeordnete, der in den »Tagesthemen« etwas über Umweltsünden deutscher Konzerne in Costa Rica erfährt. Oder der Ostseefischer, den die Radiosprecher nicht nur über EU-Richtlinien informieren, sondern auch über die Spielergebnisse seines Lieblingsvereins. Die Medien erfüllen ihre öffentliche Aufgabe für die gesamte Gesellschaft – indem sie ihre Leistung allen Teilen dieses Systems gleichermaßen zur Verfügung stellen sollen und Kommunikation sowohl zwischen ihnen als auch innerhalb der Systeme ermöglichen. So erfährt die Politik, was die Wirtschaft bewegt, und die Wirtschaft, was ihre Kunden umtreibt. In der Systemtheorie wird die Funktion des Journalismus mit dem Begriff »Selbstbeobachtung« der Gesellschaft bezeichnet: Der Journalismus verschaffe den Gesamtüberblick über die Systeme, die sich sonst aus den Augen verlieren würden.

Der Journalismus hält der Gesellschaft also den Spiegel vor, damit sie sich selbst nicht aus dem Blick verliert. Wo das vor noch gar nicht langer Zeit noch wie selbstverständlich die täglich vor der Tür liegende Zeitung und die 20-Uhr-Nachrichten der »Tagesschau« übernahmen, irren die Menschen heute durch ein ganzes Spiegellabyrinth an Nachrichten, verbreitet nicht nur durch konventionelle Medienkanäle, sondern ebenso durch Onlinemedien, Blogs, soziale Netzwerke, Suchmaschinen, Foren und Communities. Das Spiegelbild der Gesellschaft wird tausendfach zurückgeworfen, im Kaleidoskop gespiegelt und verzerrt. Die Bilder zeigen Detail um Detail jedes Ereignisses – ob relevant oder nicht, ist erst mal egal. Hauptsache, neue Nachrichten werden produziert, um die Medienkanäle der Welt und die Sinne der Nutzer zu fluten. Wer da lieber blind durch die Welt läuft, ist gut zu verstehen.

Genauso gut wie diejenigen, die glauben, dass Medien die Gesellschaft bewusst in den Zerrspiegel schauen lassen. Oder bestimmte Nachrichten gleich ganz aus dem Blickfeld nehmen. Natürlich spiegelt Journalismus niemals objektiv die Realität – das konnte er nie und wird er nie können. Dafür ist die Welt zu groß, sind Ereignisse zu vielschichtig und Journalisten eben auch nur Menschen, die im Umgang mit Nachrichten geprägt sind von ihren eigenen Erfahrungen und Ansichten, von der Redaktion, in der sie arbeiten, und dem Zwang, Nachrichten selektieren zu müssen. Trotzdem bleibt Objektivität das Ziel der Berichterstattung. Die Realität in allen Facetten abzubilden ist ein Ideal, auf das der Journalismus durch Prinzipien wie Neutralität, Distanz und Transparenz unaufhörlich hinarbeiten sollte. Und auch wenn das manchem Schreihals nicht gefällt: Objektivität schließt Meinung dabei ausdrücklich nicht aus. Medien müssen für ihre öffentliche Aufgabe neben Information auch Meinung bieten – aber sie müssen das für die Gesellschaft transparent tun. Stattdessen, so scheint es, rücken die Medienspiegel immer enger zusammen und lassen kaum noch Raum für Durchblick. Bilder werden immer schneller in alle Winkel projiziert, alles wird wieder und wieder aufgenommen und vervielfacht bis ins Unendliche. Statt Distanz und Transparenz zu schaffen, verfallen die Medien ihren selbst erschaffenen Spiegelungen.