Hendrik Roth
Meister Korúvils magische Menagerie
Eine Übersicht über die potenziell aufwühlenden und triggernden Themen des Romans findet ihr auf meiner Website: hendrik-roth.de/content-notes
Die Liste mag einzelne Aspekte des Romans vorwegnehmen.
Am Ende des E-Books ist ein Glossar mit den wichtigsten Figuren, Begriffen und magischen Wesen angehängt.
Impressum
© 2024 Hendrik Rothc/o WirFinden.EsNaß und Hellie GbR
Kirchgasse 19, 65817 Eppstein
Korrektorat & Lektorat: Sabrina Železný; hummingwords.de
Landkarte: Christina Srebalus | Illustration & Kleinrequisiten; cfsrebalus.de
© Cover- und Umschlaggestaltung: Juliana Fabula | Grafikdesign – www.julianafabula.de/grafikdesign
Unter Verwendung folgender Stockdaten: shutterstock: Alfmaler, RABBYs, Ihnatovich Maryia, faestock, benchart, d1sk, Yuliya Chsherbakova; freepik.com
Satz und Layout: Adobe InDesign
Kapitelzierde: iStock/Elena Smirnova
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
ISBN (E-Book): 9783384512185
Alle Rechte vorbehalten. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors. Die Verwertung des Werks, einschließlich aller Teile, durch Large Language Models (LLMs) und andere Deep-Learning-Technologien ist ausdrücklich untersagt. Die Nutzung des Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behält sich der Autor explizit vor.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Alle in diesem Roman vorkommenden Figuren und Handlungen sind frei erfunden; Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind Zufall.
Für George,
der mir die Menagerie schenkte, ohne es zu ahnen.
Contents
Karte von Cajadu
Prolog
Qatal und Aitvara
Der kleine Dieb
Meliseni
Meister Korúvils magische Menagerie
Die Aufnahme
Okotánar
Geheimnisse der Menagerie
Balda
Die zweite Menagerie
Der lange Arm der Khist
Nachtkrapp
Trauer und Training
Richter und Henker
Dazhan Kurua
Das Refugium
Das Verlassen des Pfades
Im Schatten von Maliérie Baristota
Ein letztes Luftholen
Laumua
Furcht
Der Plan zur Flucht
Im letzten Moment
Meliseni entfesselt
Das Schicksal Rodhathanis
Freiheit
Epilog
Glossar
Danksagung
Über den Autor
Karte von Cajadu
Prolog
Was ist ein Pegasus mit gebrochenem Flügel? Etwas, das so nicht sein sollte, mag man denken und Mitleid empfinden. Leider sagen die meisten im Kaiserreich Cajadu, dass der Pegasus als solches schon nicht sein sollte, und es ihm deshalb nur recht geschieht.
Was ist ein Pegasus mit gebrochenem Flügel aber wirklich? Ein Anblick, den man nicht vergisst – schon gar nicht, wenn man erst sechs Winter zählt.
Die Dorfgemeinschaft stand im Kreis versammelt auf der ausgetretenen Erde des Marktplatzes und fürchtete sich. Ich spürte es in den Worten, die nur geflüstert wurden, und dem unruhigen Schlurfen der Füße im Staub. So drängte ich mich an die Seite meines Vaters und spähte verängstigt und neugierig zugleich zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch auf das Wesen, das in ihrer Mitte lag.
Der Pferdeleib war eisgrau. Drei Pfeile ragten aus ihm auf wie Fahnenstangen und zitterten unter seinen Bewegungen, und der Flügel, auf den das Wesen bei seinem Absturz gekracht war, stand in einem grotesken Winkel ab. Der Anblick tat mir weh, doch noch schmerzhafter war es, die Ketten anzusehen, die blau und schwarz um seine Vorderhufe gebunden waren. Sie stachen in meinen Augen. Ich wusste hier noch nicht, dass sie mächtig waren und Kraft raubten, und fragte mich daher, wie so dünne Fesseln so ein Wesen halten konnten.
»Aba?«, flüsterte ich.
»Shh.« Mein Vater drückte meine Schulter.
Der Pegasus wieherte gequält und schlug mit den Hinterbeinen aus, sodass die vorderste Reihe zurückwich. Er war größer als selbst die mächtigen Büffel der Bauern, verletzt, panisch, gefesselt und doch das schönste Wesen, das ich je gesehen hatte. Ich wollte meine Hand auf seine bebende Flanke legen, wollte das Blut von seinen Nüstern wischen und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Ich wollte ihm Trost spenden.
Bevor ich mich jedoch zwischen den Erwachsenen durchwinden konnte, hielt mich mein Vater zurück.
»Aba?«
»Nicht, Liebes. Du darfst es nicht berühren.«
Die Stimme meines Vaters zitterte. Den Kopf hatte er gesenkt und die Schultern hochgezogen – wie ein Hund, der Prügel erwartete.
»Aber Aba, warum wurde denn auf den Pegasus geschossen? Er hat doch nur …«
»Shh! Mali, sei still, ich …«
»Lasst sie sprechen, Hirte.«
Die Hand meines Vaters krallte sich in meine Schulter, als sich die Menge vor uns fluchtartig teilte. In Begleitung des Happori, des Dorfvorstehers, kam der Qatal heran. Ich hatte noch nie einen Jäger und Vollstrecker des Kaisers gesehen, doch ich erkannte ihn an dem eisernen Handschuh, der seine rechte Hand verhüllte. Meine Finger suchten und fanden das Gewand meines Vaters und am liebsten wäre ich hineingekrochen. Seit meinen frühesten Tagen war mir die Furcht vor den Qatals und der Khist eingetrichtert worden, vor der Macht, die sie besaßen, den Urteilen, die sie eigenständig fällen durften. Niemals sollte ich einem von ihnen in die Quere kommen.
Der Qatal war kleiner als mein Vater, aber breitschultrig, und machte mir mehr Angst als jeder andere Mann. Selbst die Art, wie er vor mir stehen blieb und dann in die Knie ging, war einschüchternd, obwohl er mich mit seinen vollen Lippen anlächelte. Von seinem Gürtel hing eine Maske in Schwarz und Gold, die das grimmige Antlitz eines bärtigen Kriegers zeigte. Es war schaurig anzusehen.
»Stell deine Frage, Kleines.«
Ich schluckte und schaute auf den langen Bogen über seiner Schulter, mit dem er den Pegasus vom Himmel geschossen hatte, auf den eisernen Handschuh, dann einen Moment hoch in das Gesicht meines Vaters. Seine Lippen waren so fest zusammengepresst, dass sie weiß wirkten, und seine Hand klammerte sich an meine Schulter, als müsste er sich an mir festhalten.
»Hab keine Angst«, sagte der Vollstrecker der Khist.
»Warum habt Ihr dem Pegasus wehgetan?«, fragte ich. »Er hat doch nur eine Ziegenherde erschreckt.«
»Das stimmt. Aber es geht nicht um die Ziegenherde, Kleines.« Der Qatal strich mir mit der Linken eine Strähne aus der Stirn. »Ich habe auf den Pegasus geschossen, weil er ein Rukhasa ist. Weißt du, was das bedeutet?«
Ich schüttelte den Kopf. Der Vollstrecker der Khist warf meinem Vater einen Blick zu.
»Es bedeutet, dass der Pegasus Sihir besitzt. Sihir ist ein Makel aus der Altvorderzeit, das verdorbene, gefährliche sechste Element.«
»Was heißt das?«
»Es ist eine Krankheit. Der Pegasus trägt sie in sich, viele andere Wesen auch – und manche Menschen.« Seine Stimme war lauter geworden, sodass nicht nur ich und die Umstehenden, sondern das ganze versammelte Dorf ihn verstehen konnte. »Deswegen hat dein Vater recht damit, dass du es nicht berühren darfst. Sihir verdirbt all die, die es in sich tragen. Es birgt das Schlechte in der Welt, das Chaos. Wir Qatals und unser Orden, die Khist, sorgen dafür, dass Kindern wie dir und deinen Eltern nichts zustößt. Dass ihr im Kaiserreich sicher seid vor Rukhasa.«
»Wie?«, fragte ich leise.
»Indem wir Sihir tilgen.«
Mit diesen Worten stand der Vollstrecker auf. Der Pegasus wieherte panisch und versuchte, sich aufzubäumen, doch der Qatal packte ihn mit dem Handschuh am Bein und das Wesen erschlaffte. Als der Vollstrecker den Kopf des geflügelten Pferdes erreichte, drückte er ihm einfach die Handfläche seiner eisernen Pranke auf die Stirn. Für einen Moment erklang ein Zischen, wie ein ferner Windhauch, dann sackte der Kopf des Pegasus zu Boden, mit nichts als Leere in den stolzen Augen. Ich rang nach Luft. In dem viel zu kurzen Augenblick, bevor der Qatal den Geist des Pegasus zerstört hatte, hatte das Wesen mich angesehen, mich inmitten der Menge, wie ich mich halb hinter meinem Vater versteckte. Und ich hatte erkannt, dass der Pegasus wusste, wie ihm geschah. Er verstand.
Der Qatal sah mich nicht noch einmal an, ehe er mit dem Happori fortging. Ich erinnere mich nicht mehr an ihre Worte, auch nicht an die, mit denen mein Vater mich zu beruhigen suchte, als wir entlassen waren und zu unseren Weiden zurückkehrten. Ich erinnere mich nur daran, dass ich nicht aufhören konnte zu weinen, und die Augen des Pegasus, erst wissend und dann leer, mich noch lange in den Schlaf verfolgten.
Dies war meine erste Begegnung mit der Khist und das erste Mal, dass sie mein Leben nachhaltig veränderte. Was ich nun erzähle, ist die Geschichte des dritten Mals, einige Winter später.
Qatal und Aitvara
Der Nebel hing tief und feucht zwischen den Hügeln rund um Naiyan und hielt das Dorf in einer milchigen Traumwelt gefangen. Die wenigen Leute, die so früh schon auf den Beinen waren, nahm ich nur als Schemen zwischen den Schwaden wahr. Selbst ihre Schritte wirkten anders als sonst. Das Dorf lauerte auf etwas und ich ahnte und fürchtete den Grund.
Der düstere Gedanke folgte mir, als ich den Filzvorhang am Eingang von Tayis Heim beiseiteschob. Im Dorf waren die für die Region typischen Jurten schon längst den einfachen Stein- und Lehmhäusern der Städter gewichen. Trotzdem perlten auch hier die Stränge des Vorhangs aus Tierknochen und Holzkügelchen, der böse Geister und Rukhasa von der Schwelle fernhalten sollte, über meine Arme. Im nächsten Moment traf mich die schwere, warme Luft, die sich unter den Filzmatten des Dachs staute. Sie roch nach Fellen, Leder, Wachs und Kräutern. Fast augenblicklich schwitzte ich unter meinem gefütterten Deel und streifte rasch meine schafsfellbesetzte Mütze ab.
»Ah, sieh an, die kleine Wildflüsterin«, rief Tayi von einem dicken Kissen neben der Feuerstelle. »So früh schon hier?«
Ich nickte nachlässig. Mir gefiel der Spitzname nicht mehr als die anderen, bei denen Tayi, aber auch der Rest des Dorfs mich seit jeher rief. Nicht, dass es gelogen war – ich sprach natürlich mit Tieren –, sondern weil sich dahinter ein Vorwurf versteckte, der gefährlich werden konnte.
Noch weniger gefiel mir, dass zwei der drei erwachsenen Kinder Tayis in der Hütte waren. Ich hatte gehofft, dass sie so früh morgens noch schliefen. Rakoed und Falata, das Älteste und der Jüngste, standen zwischen den vielen Regalen und Kommoden, die die Hütte der Krämerin bis in den letzten Winkel ausfüllten. Rakoed schenkte mir nur einen gelangweilten Blick, während sier hölzerne Kisten mit Waren belud. Falata hingegen grinste auf die Art, die ich am meisten verabscheute, klemmte sich eine Kiste unter den Arm und trat mir entgegen.
»Na, hast du mich vermisst, Mali?«
Am liebsten hätte ich ihm die Antwort mit meinem Hirtenstab gegeben. Stattdessen trat ich aus dem Weg. Er hatte die unschöne Angewohnheit, Frauen an den Hintern oder woanders hin zu fassen. Seine liebsten Opfer waren die, denen Kniffe und plumpe Witze kein Lachen entlockten. Mich hatte er bisher nicht einmal zum Lächeln gebracht.
Falata sah fast enttäuscht aus, als er problemlos an mir vorbeikam, zwinkerte mir dann aber zu und verschwand nach draußen.
Ich unterdrückte es, eine Grimasse zu schneiden. Tayi und ihre Sippe führten sich schon lange auf, als gehörte ihnen Naiyan. Sie waren die einzigen, die mehrere Karren besaßen und damit im großen Stil zum Handeln in die Provinzhauptstadt fahren konnten. In einem Dorf von kaum dreißig Heimen verschaffte ihnen das nicht nur Reichtum, sondern auch Macht. Selbst der Happori, unser Dorfvorsteher, widersprach ihnen nur selten.
Die alte Krämerin stellte ihre Schale mit Ziegenmilch beiseite und stemmte sich hoch. Ihre Gelenke knackten, dass selbst ich es hören konnte. »Luder, was soll’s sein?«
Das war einer der anderen Namen für mich. Ich hatte ihn oft genug gehört, um zu wissen, dass Tayi ihn weiter nutzen würde, was ich auch dagegen sagte. Also schaute ich bloß über die Regale und Kommoden.
»Markttag in Kota Kecil?«
»Morgen. Sollen wir dir etwas mitbringen?«
»Habt ihr Kerzen?«
Rakoed brummte und deutete auf einen Stapel im Regal. Ich wählte vier dicke aus, die lange brennen würden.
»Zahlen oder tauschen?«, fragte Tayi.
Als ich mich zu ihr umwandte, klackerten in meiner Tasche all die kleinen Gegenstände, die nicht mir gehörten. Wenn Tayi und ihre Kinder heute nach Kota Kecil aufbrachen, war die Chance groß, dass sie alles dort zu Geld machten und die rechtmäßigen Besitzer ihre Sachen nie wiedersahen. Aber es war riskant. Tayi kannte jeden aus Naiyan und alle mit Herden auf den Weiden, und sie besaß den einzigen Krämerladen. Sie mochte manches wiedererkennen – und was, wenn sie die Sachen nicht mit in die Stadt nahm?
»Zahlen.« Ich zog eine der Zinnmünzen hervor. »Reicht das?«
Tayi nahm die Münze, biss mit einem ihrer verbliebenen Zähne darauf, nickte und ließ sie in eine der vielen Taschen ihres Deels verschwinden. »Sonst nichts? Neue Bänder für dein Haar? Neuer Schmuck?«
Ich schüttelte den Kopf und strich unbewusst über meine Zöpfe und das farbige Holz, das an meinen Ohrläppchen hing. Dann stopfte ich die Kerzen in die Tasche und wandte mich zum Eingang. Die wenigen Augenblicke hier hatten gereicht, dass ich mich zurück zu meinen Tieren sehnte.
»Hast du ihn gesehen?«
Tayis alte Augen leuchteten, als ich sie ansah. Ich wusste, worauf sie anspielte.
»Wen?«
»Wen? Euren Feuergeist natürlich, wen sonst? Der bei euch auf den Weiden herumspukt. Falata hat ihn gesehen, nicht wahr, Falata?«
Ich schaute zum Eingang, wo Tayis jüngster Sohn nun am Türpfosten lehnte.
Er nickte mit demselben freudigen Glimmen in den Augen. »Und ob. Vor sechs Tagen, oben an den Berghängen. Ein feuriger Blitz in der Dämmerung.«
»Und der alte Hayr hat erzählt, er sei bei ihm durch die Jurte gefahren wie ein Hitzesturm«, sagte Rakoed mit sieser gemächlichen Stimme.
Ich lachte gezwungen und setzte meine Mütze wieder auf. »Der einzige Geist, der beim alten Hayr durch die Jurte fährt, ist der seiner Schnapsflasche.«
»Du hast ihn nicht gesehen?« Tayi schnaubte. »Du von allen, kleines Wildluder?«
»Ich habe ihn gesehen. Einmal, aus der Ferne, wie Falata. War wie ein roter Blitz in der Nacht.«
»Hattest Angst, ja, wenn ein Biest nicht mal dich leiden kann?«
»Er hat mir nichts getan. Aber die Herde ist unruhig.« Ich zuckte mit den Schultern, entschloss mich aber, noch zu sagen, was sie hören wollten. »Ist schon unheimlich, wenn man nicht wirklich weiß, was da draußen ist.«
Tayis Augen leuchteten immer noch. Ihr faltiger Mund schmatzte, dann lachte sie keckernd und zog meine Bezahlung aus der Tasche. »Weißt du, Flüsterin, ich verwette deine Münze hier, dass deine Tiere heute Abend schon wieder ruhig sein werden.«
»Warum?«
»Qatal.« Es war Falata, der das Wort in den Raum hauchte. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Mit einem Mal war ich wieder das kleine Mädchen, das vor vierzehn Wintern das panische Wiehern eines Pegasus vernommen hatte. Tayi und ihr jüngster Sohn grinsten, sie voller Zahnlücken, er wie ein kleines Kind. »Mutter hat es dem Iscri gesagt und der hat nach einem geschickt. Er kommt aus Kota Kecil, wurde uns gesagt, ein erfahrener Jäger. Heute noch.«
Heute.
Tayi rieb sich genüsslich die Hände. »Er wird diesen Feuergeist schon erlegen und dann können wir ihn uns angucken. Ich habe noch nie einen gesehen, nicht in all meinen Wintern, nein. Oh, das wird ein Fest!«
Ich rang mir ein falsches Lächeln ab. »Nur schade, dass ihr ausgerechnet heute zum Markttag fahrt.«
Falata schnaubte, ohne dass das Grinsen sein Gesicht verließ. »Rakoed fährt allein, dier schert sich ja um nichts. Wir bleiben. Als ob wir uns das entgehen lassen!«
Es kostete mich große Mühe, ihnen nicht allen eins mit meinem Hirtenstab überzuziehen. Ich nickte zum Abschied in die Runde und floh in die kalte Luft des Frühjahrsmorgens. Lange Momente schaute ich erst auf Tayis Krämerstube, dann den Pfad hinunter, während Wut in meinem Bauch wuchs. Jeden Moment erwartete ich, eine Gestalt mit schaurig bemalter Maske aus dem Nebel auftauchen zu sehen. Endlich riss ich mich los, krallte die Finger um meinen Stab und eilte davon. Ich musste mich beeilen.
* * *
Sie kamen kurz nach Einbruch der Dämmerung. Es waren fünf Männer, die den Hang heraufstiegen, auf dem jetzt im Frühjahr meine Jurte stand. Einer war der Iscri, der Registrator des Kaisers für Naiyan und die umliegenden Dörfer, in seiner hellblauen Kluft und der charakteristischen schwarzen Kappe mit blauer Spitze. Drei trugen Lederpanzer, Helme mit metallenem Dorn und lange Soldatenspeere. Es war jedoch der fünfte Mann, der mich zittern ließ. Sein Gewand, schmaler geschnitten als ein Deel, war tiefblau, akzentuiert mit Rot und aus teurer Seide und dicken Stoffen. Er trug keinen Helm oder Speer, aber eine Lederrüstung, und an der taubengrauen Schärpe hing neben dem Schwert eine Maske, die wie ein leeres Gesicht bemalt war, ohne sichtbaren Mund oder Nase. Die rasch sinkende Abendsonne funkelte auf dem eisernen Handschuh an seiner rechten Hand.
Ich hatte mich anfangs dafür gescholten, überhaupt ins Dorf gegangen zu sein. Doch das Gespräch mit Tayi hatte mich immerhin hierauf vorbereitet. Mir wäre sogar Zeit geblieben, zu fliehen, doch das hätte nur Aufmerksamkeit erregt und über kurz oder lang wäre ich geschnappt worden. Nein, meine einzige Chance bestand darin, sie zu überlisten.
Seit dem Mittag hatte ich die Gruppe von der Höhe der Weiden aus beobachtet, während ich meine Herde bewachte und später hinab zur Einfriedung neben meiner Jurte trieb. Ich hatte gesehen, wie sie die Bauern im Tal und die anderen Hirten befragt und mit den Speeren in Ställen und Krippen herumgestochert hatte. Meine Jurte war die, die am weitesten den Hang hinauf lag, und so kamen sie zu mir als Letztes. Die Blicke der übrigen Hirten und der hälsereckenden Dorfbewohner, die heraufgekommen waren, folgten ihnen.
»Neugierige Scheißkerle«, murmelte ich und kraulte Fielkor. Der Leithammel meiner Herde aus Ziegen und Schafen kam oft zu mir, wenn ich abends in der Einfriedung saß. Manchmal stand er nur neben mir, manchmal legte er sich mir aber auch zu Füßen wie ein Hund.
»Was immer du jetzt tust, verhalte dich unauffällig.« Ich schaute neben mir ins Gras. Verdeckt durch den Hammel schwebte dort Nantavi. Der kleine Aitvara, der Feuergeist, wie Tayi ihn genannt hatte, züngelte in einer tanzenden Flammenwolke dicht über dem Boden. Obwohl er für den Moment formlos war, hatte ich den Eindruck, dass er mich beobachtete.
»Unauffällig, Nantavi.«
Ich spähte aus den Augenwinkeln zum Qatal und seinen Begleitern hinüber, die den Rand der Einfriedung erreicht hatten. Der feurige Geist wirbelte kurz um sich selbst, dann formte er sich zu einer schwarzen Schlange von der Länge meines Armes, die in der Luft kreiste. Wie in jeder Form, die er annehmen konnte, glühte auch hier sein Schwanz von einer inneren Flamme, die manchmal sanft wärmte und zu anderen Zeiten spürbare Hitze abgab. Seine gelben Augen schienen amüsiert zu blitzen.
»Nicht hilfreich«, zischte ich. »Die Katze, verdammt! Und setz dich gefälligst auf deinen Schwanz. Oder wie viele Katzen, glaubst du, gibt es hier, deren Schwanz brennt?«
Für einen Moment fuhr mir der Schreck in die Glieder, als ich glaubte, Nantavi würde mich ignorieren. Doch dann tat er, was er in den letzten Tagen immer öfter getan hatte: Er hörte auf mich. Die Schlange verschwand und an ihrer Stelle erschien eine nachtschwarze Katze mit denselben gelben Augen und glühendem Schwanz. Nantavi sprang neben mir auf die Bank, halb verborgen durch Fielkors breiten Rücken, dann rollte er sich zusammen und verbarg die brennende Schwanzspitze unter seinem Bauch.
»Rühr dich bloß nicht.«
Ich kraulte Fielkor hinter den Ohren, um meine und seine Nervosität in den Griff zu bekommen. Als die Männer nur noch wenige Schritte entfernt waren, stand ich auf.
»Wen haben wir hier, Iscri Namodu?«, fragte der Qatal, als er sich vor mir aufbaute. Er war ein schlanker Mann, der mich um mindestens anderthalb Köpfe überragte und nicht aus der Region kam. Ich sah es an seiner Haut, die mehr Bronze als Braun war, und an den runderen Augen. Seine Stimme sprach mit einem Singsang, der von einem Wort zum nächsten zu hüpfen schien.
Der Registrator zog eine Schriftrolle aus der Tasche, die er um die Schulter geschlungen hatte. »Maliérie Baristota«, las er etwas außer Atem und wischte sich mit dem Ärmel seines Gewandes über die Stirn. »Geboren im Sommer der Thronbesteigung seiner kaiserlichen Majestät, Hakkim Okrutno Tamahsi Elnyo-Saytara. Tochter von Inati und Amahan Baristota, beide verstorben im fünfzehnten Sommer der Herrschaft seiner kaiserlichen Majestät. Unverbunden, keine Kinder. Hirtin im Bezirk Naiyan Ost Sechs unter Verwaltung der Registratur in Kota Kecil, Provinz Nuhang. Die Tiere sind vom Bezirk zur Verwaltung überlassen. Umfang der Herde in diesem zwanzigsten Sommer der Herrschaft seiner kaiserlichen Majestät: dreiunddreißig Ziegen und achtzehn Schafe. Pünktliche und umfassende Leistung ihrer Abgaben. Keine Steuerschulden. Keine besonderen Vergehen.«
»Hast du etwas zu ergänzen?«, fragte der Qatal, ohne mich anzusehen. Sein Blick glitt über meine Jurte, über die Hangweide, über die Tiere, über Nantavi in Katzengestalt.
»Warum fragt Ihr nicht den Iscri? Er scheint alles über mich zu wissen.«
Jetzt sah der Jäger der Khist mich an. »Reiz mich nicht, Hirtin. Also?«
»Es sind nur noch zweiunddreißig Ziegen. Heute Mittag ist eine verstorben.«
»Durch Feuer?«
»Sie war alt.« Ich runzelte die Stirn. »Was wollt Ihr von mir?«
Er trat näher, bis ich ihn riechen konnte und den Kopf in den Nacken legen musste, um seinen Blick zu erwidern. Ich wollte mich nicht einschüchtern lassen, doch mit Nantavi nur eine Armeslänge neben mir raste mein Puls. Die Art, wie der Qatal mich ansah, war ekelerregend. Ich wusste, wie ich auf ihn wirken musste: eine weitere arme Hirtin mit brauner Haut, hohen Wangenknochen und schmalen Augen, die Nase breit und flach in einem ebenso breiten und flachen Gesicht, das dicke schwarze Haar zu zwei Zöpfen geflochten, die Bänder darin wie auch mein weniger Schmuck einfach. Für ihn musste ich aussehen wie alle anderen hier in der Gegend. Armseliges Fußvolk, Dreck gar. Mit ein wenig Glück würde er nicht genauer hinschauen.
»Es gibt Berichte, dass sich ein Rukhasa hier herumtreibt«, sagte er leise. »Ein feuriges Geschöpf, vielleicht ein simpler Geist, vielleicht ein Nanfang. Einige behaupten, ihn im Gras gesehen zu haben, andere in der Luft, schnell wie ein blutroter Blitz, der über den Himmel zischt. Wieder anderen sind Gegenstände gestohlen worden, seitdem dieses Ding hier aufgetaucht ist. Nichts Wertvolles natürlich, nicht hier. Aber Dinge, die den Menschen teuer sind. Als nähme ich dir deinen Stock, Hirtin.«
Er tat genau das, mit einem Ruck, wie ich ihn mir von einer Amphivena vorstellte, einem zweiköpfigen, schlangengleichen Wesen. Ich konnte nicht verhindern, dass ich zusammenzuckte. Fielkor blökte und schüttelte drohend seinen gehörnten Kopf.
Der Qatal beachtete ihn nicht. »Was weißt du darüber?«
Ich zog die Nase hoch. »Gestohlen worden ist mir nichts. Aber diesen feurigen Geist habe ich auch gesehen, dort unten im Tal in der Dämmerung.«
Ich deutete mit dem Finger, doch der Vollstrecker der Khist folgte ihm mit nur mäßig interessiertem Blick.
»Wann war das?«
»Vor acht oder neun Tagen. Und meine Tiere sind ziemlich unruhig in letzter Zeit.«
Er nickte knapp und schaute über den Hang, die Jurte, die Herde. »Kein Hund?«
»Brauche ich nicht. Meine Tiere folgen mir auch so.«
Erneut blieb der Blick des Qatals an Nantavi hängen, der ihn regungslos aus gelben Augen musterte. »Deine Katze?«
Ich konnte kaum atmen, zuckte aber leichthin mit den Schultern. »Nein. Die streunt hier über die Weiden. Mich stört sie nicht. Liegt meist nur faul herum. Ist dieser Geist oder Nangang gefährlich?«
»Nanfang. Unwahrscheinlich, dass dieses Rukhasa hier großen Schaden anrichten könnte.« Der Vollstrecker schenkte mir ein gehässiges Lächeln und ballte die Hand mit dem eisernen Handschuh zur Faust, sodass ich hören konnte, wie die einzelnen Metallstücke aneinander schabten. Mir drehte sich der Magen um.
»Durchsucht die Einfriedung und den Hang«, sagte er schließlich, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann drückte er mir meinen Stab in die Hand. »Und du, Hirtin, du zeigst mir deine Jurte.«
Ich stieg aus der Koppel und ging los, den Blick starr nach vorn gerichtet. Meine Hand am Hirtenstock war feucht vor Schweiß, doch ich wagte nicht, mich umzudrehen. Ich hoffte inständig, dass Nantavi mich verstanden hatte und blieb, wo er war. Doch den ganzen Weg bis zur Jurte rechnete ich mit dem Knirschen des Handschuhs und dem Geräusch, mit dem ein lebloser Körper zu Boden klatschte.
Nichts davon passierte. Meine Knie waren weich, als ich den Fellvorhang und dahinter die vielen Stränge aus Holzperlen zur Seite schob und eintrat. Ich hatte direkt nach meiner Rückkehr versteckt, was ich verstecken musste, doch jetzt kam mir der Raum verräterisch aufgeräumt vor. Der Qatal folgte mir auf dem Fuß und mit ihm der Iscri. Die Soldaten hörte ich draußen in der Einfriedung. Einige meiner Ziegen meckerten. Als ich mich umdrehte, sah ich Fielkor und Nantavi Seite an Seite. Beide schauten mir besorgt hinterher, ehe der Vorhang hinter dem Iscri zurückfiel.
»Hier lebst du, Hirtin?«
Der Qatal musterte abschätzig das Wenige, das ich besaß: mein dickes Lager aus Decken und Fellen auf dem Boden, die Feuerstelle in der Mitte unter dem Abzug, meine Truhe. Töpfe, eine Pfanne, Krüge mit Öl, Wein und Milch sowie Geschirr hatte ich alles an einem Seil zwischen den Stützpfosten unter der Decke aufgehängt. Auf dem Boden lag Hoana, die Ziege, die heute Mittag gestorben war, daneben mein Messer. Es schmerzte mich, wie der Qatal den Leichnam ansah und wie der Iscri sich ein Tuch vor Mund und Nase drückte, dessen Parfüm selbst mich erreichte. Hoana hatte mich seit vielen Wintern begleitet. Mein Vater hatte sie noch auf die Welt gebracht.
»Was willst du mit der Ziege?«
»Ausnehmen und verwerten.«
»Warum hier drinnen?«
»Weil die Herde es nicht mag, wenn ich es vor ihnen mache.«
Der Qatal nickte auf eine Art, die mir sagte, dass ihn meine Worte nicht kümmerten. Er ging zur Truhe, und es dauerte nicht lange, bis er meine wenigen Kleidungsstücke über die Lagerstatt verstreut hatte. Dann rückte er die Truhe beiseite. Nur Augenblicke später hatte er den Beutel gefunden, den ich heute Morgen darunter vergraben hatte.
»Was haben wir denn hier?«
Er schüttelte den Inhalt in seine eisern behandschuhte Hand. Was gegen das Metall klackerte, waren all die kleinen Gegenstände, die Nantavi in den letzten Zehntagen angeschleppt hatte: eine Holzflöte in Form eines Widders, ein Amulett aus Kupfer mit einem Malachit in der Mitte, zwei Zinnmünzen, einen Messingbecher, ein paar geschliffene Spielsteine. Mein Magen verknotete sich stärker, als Nantavi es in Schlangenform je getan hatte. Wäre ich doch bloß das Risiko eingegangen, all das heute Morgen an Tayi zu verkaufen.
»Iscri Namodu.«
Der Registrator nahm die Gegenstände aus den Händen des Qatals und warf gleichzeitig einen Blick auf eine Wachstafel, die er aus seinem Beutel zog.
»Zweifellos, Qatal Aruci. Es stimmt mit den Beschreibungen der anderen Hirten überein. Einzig die Münzen sollten drei sein.« Er warf mir einen verächtlichen Blick über den Rand seiner Tafel zu. »Paragraph sechzehn. ›Diebstahl: Bei einmaligen Vergehen zu bestrafen mit zwanzig Hieben und einem Mond Verlieshaft, bei mehrmaligem Vergehen mit Verlust der Hände.‹«
Ich schluckte. In meinem Kopf rasten die Gedanken durcheinander, doch keiner blieb stehen, um mir weiterzuhelfen. Ich hatte geglaubt, dass das Versteck unter der Truhe gut gewählt gewesen war. Besser hätte ich alles schon vor Tagen im Wald vergraben, als ich noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Es kostete mich alle Mühe, die Bilder der Bestrafung aus meinem Kopf zu verbannen.
In meinem Rücken war der Filzteppich vor dem einzigen Fenster hochgeworfen und der Wunsch, durch die Öffnung zu fliehen, war beinah übermächtig. Doch ich verharrte, wo ich war. Der Qatal hatte schon einmal bewiesen, wie schnell er war – ich würde nicht weit kommen. Und selbst wenn, was dann? Dort draußen gab es Hunderte von Soldaten, Pferde, Jagdhunde und noch mehr Qatals.
Das Zurückschlagen des Vorhangs, als die Soldaten eintraten, riss mich aus meinen Gedanken. Der Vollstrecker wies mit einem Kopfnicken auf das Bett und stieß mit dem Fuß gegen Hoanas Leichnam. Sofort machten sie sich daran, mein Lager auseinanderzufleddern und zu untersuchen, ob ich etwas in der Ziege versteckt hatte. Mir wurde beinahe übel vor Zorn und Verzweiflung.
»Qatal Aruci!«
Ohne mich aus den Augen zu lassen, nahm der Vollstrecker der Khist auch meinen letzten Schatz entgegen, den ich in eines der Kissen eingenäht hatte und der trotzdem gefunden worden war. Als er den Blick senkte, stiegen seine feinen Brauen in die Höhe.
»Hirtin, du bist interessanter, als ich dachte.«
Er schaute mich auf eine Art an, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Dann schlug er das Buch auf und blätterte durch die Seiten voller Zeichnungen und Schriften über die fremdartigen Wesen, die es irgendwo dort draußen gab. Einige hatte ich schon gesehen, wie den Caladrius, die meisten kannte ich aber nur von den Bildern, die mich im flackernden Schein des abendlichen Feuers zum Träumen und Schwärmen anregten.
»Aimiro Nanku – Taunatai der Lüfte des Kontinents Ogede, ihre Eigenschaften und Lebensweisen, alphabetisch sortiert und katalogisiert, A–L«, las der Qatal von der Titelseite ab, ehe er das Buch zuschlug. »Sieht so aus, als hätten wir es mit einer wahren Rukhasa-Liebhaberin zu tun.«
»Makhast!« Einer der Soldaten spuckte auf Hoanas Leichnam. Er sah mich an wie jeden, der im Kaiserreich mit diesem Schimpfwort bedacht wurde: als sei ich weniger wert als der Dreck unter seinen Stiefeln.
»Schafft die Ziege hier raus und räumt das Lager für einen Bannkreis beiseite. Ich will wissen, was ich hier erlege. Und du, du hast also Gefallen an diesen … Dingern gefunden?«
Der Qatal reichte mein Buch an den Iscri weiter. Dann entwand er mir mit einem schnellen Griff den Stab und drängte mich an die Wand. Am liebsten wäre ich vor Angst einfach hindurchgeglitten. Noch niemals hatte mich ein Mensch so angesehen.
»Du weißt, wie die Leute im Dorf dich nennen? Luder. Etwas, das Tiere und Biester anzieht. Und ich glaube, sie haben recht damit. So nah bei Menschen bleibt ein Rukhasa nur, wenn es sich sicher fühlt. Also sag mir, wo dein Freund ist. Und was er ist.« Der Vollstrecker war jetzt wieder so nah, dass ich ihn riechen konnte, das teure Öl in seinen Haaren, das Parfüm. »Ich glaube nicht an den Nanfang, der wie ein feuriger Schweif über den Himmel zischt. Bauerngewäsch! Seit vielen Wintern hat man keins dieser Biester mehr hier gesehen, dafür haben wir gesorgt. Ich glaube, es ist eine Art Imp, der stiehlt und dir seine Beute bringt. Erst letzten Sommer haben wir ein Nest von denen unten in Chota ausgeräuchert.« Er lächelte jetzt wieder. »Also, wo verbirgst du kleine Makhast dieses Rukhasa? Wie viele dieser Biester sind …?«
Seine Augen ruckten nach rechts. Als ich den Kopf wandte, schnappte ich nach Luft. Nantavi war von außen auf den Fenstersims gesprungen. Er hielt sich immer noch in Gestalt der schwarzen Katze, doch sein Schwanz war nun nicht mehr verborgen. Er peitschte von einer Seite zur anderen und statt des üblichen Glimmens wie von frischer Glut stand er lichterloh in Flammen. Nantavis Ohren waren angelegt und das Fell gesträubt, während er unverwandt den Qatal anstarrte. Wie eine gezogene Bogensehne, kurz bevor sie losgelassen wurde.
»Was bei Ashayas …?«
Weiter kam der Vollstrecker nicht. Gleich einer feurigen Schleuderkugel mit rotem Flammenschweif schoss Nantavi in die Jurte und dem Qatal ins Gesicht. Ich sah Blut spritzen, der Mann schrie auf und stürzte zu Boden, während sein geöltes Haar in Flammen aufging. Der beißende Geruch verbrannten Fleischs drang mir in die Nase. Starr vor Schreck blieb ich an die Wand gepresst stehen.
»Rukhasa!«
Schreie prasselten mit den Flammenzungen durch meine Jurte. Der Iscri war rückwärts zur Wand gestolpert. Auch einer der Soldaten wich vor dem brennenden Vollstrecker zurück, ein anderer hob den Speer. Ich griff nach meinem Stab, den der Qatal fallen gelassen hatte, und schwang ihn mit beiden Händen. Das knotige Ende traf den Soldaten direkt auf den Rippenbogen. Ich war nicht kräftig genug, um ihn zu Boden zu schicken, doch mein unerwarteter Hieb brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der Speer sauste nieder, verfehlte Nantavis brennende Feuerkugel und bohrte sich durch die Rüstung in den Bauch des Qatals. Dessen Schreie bekamen eine neue Tonlage. Mir wurde übel.
»Makhast! Du …«
Der Soldat stieß jetzt nach mir. Ein wirbelnder Feuerball rammte den Schaft und lenkte den Stich nach oben weg, doch er riss noch meine Schulter auf. Ich schrie und meine Knie gaben nach. Vor mir wand sich der Qatal auf dem Boden in einer Feuersbrunst, die mittlerweile seinen ganzen Kopf einhüllte und meine Feuerstelle neu entzündete. Seine Schreie waren so schrill, dass sie nichts Menschliches mehr an sich hatten. Als ich aufschaute, hob der Soldat zum zweiten Mal den Speer. Hinter ihm riss der Iscri den Vorhang zur Weide zur Seite.
Nur einen Herzschlag später hallte die Jurte von Blöken wider und der Schreiber stürzte rückwärts in den Raum. Er riss einen der Soldaten mit, knallte mit dem Kopf gegen die offenstehende Truhe und blieb liegen. Über seine Beine stürmte Fielkor heran und rannte mit gesenktem Kopf den nächsten Soldaten über den Haufen. Der, der auf mich angelegt hatte, zögerte. Ich stemmte mich auf ein Knie hoch und zerschlug mit meinem Stab die bauchigen Tongefäße, die unter der Decke hingen. Ziegenmilch, ein Rest Wein, aber auch kostbares Lampenöl ergossen sich in den Raum. Im Nu stand die halbe Jurte in Flammen.
Rauch drang mir in die Nase, während Schreie und zorniges Blöken in meinen Ohren klingelten. Ich blendete den Schmerz in meiner Schulter aus und stürzte mich auf den abgelenkten Soldaten. Sein schneller Streich schleuderte meinen Stab davon, doch ich packte den Speer und riss mit ganzer Kraft daran.
Einige Augenblicke rangen wir miteinander, zogen und zerrten an dem Schaft. Dann folgte der Soldat plötzlich meinem Zug und drückte mich gegen die Wand. Der Speer presste gegen meinen Hals. Verzweifelt versuchte ich, dem Mann meine Finger in die Augen zu bohren, doch er zog nur den Kopf zurück. Schwarze Punkte füllten meine Sicht.
Mit einem Ruck stürzte der Soldat gegen mich. Keuchend stieß ich ihn von mir, und während er fiel, sah ich, dass seine Augen den Fokus verloren hatten und Blut aus seinem Mund lief. Wo er gestanden hatte, schwebte Nantavi. Er hatte jetzt die Gestalt eines schwarzen Raben angenommen, mit feurigem Schwanz und flammenden Flügelspitzen. Sein Schnabel troff vor Blut.
»Du … Danke.«
Ich stützte mich an der Wand ab, um nicht noch einmal zu Boden zu sinken, und hielt mir den schmerzenden Hals. Der Rauch drohte mir auch den letzten Rest Luft zu nehmen. Rasch zog ich mir den Kragen meines Deels vor Mund und Nase.
Meine Jurte war nicht mehr zu retten. Die Flammen hatten nicht nur den Kopf des Qatals in einem unförmigen Klumpen verwandelt, sie loderten auch lichterloh aus meinem Deckenlager und Teilen der Wände. Inmitten des Chaos aus Feuer, Rauch und zerborstenen Krügen lagen fünf reglose Gestalten.
Der Iscri musste mit dem Genick auf die Kante der Truhe geknallt sein, sein Kopf lag in einem merkwürdigen Winkel zum restlichen Körper. Neben dem Soldaten, der mich beinahe getötet hätte, hatte Nantavi einem weiteren den Hals zerhackt. Der dritte Soldat war durch Fielkor umgekommen. Er lag bäuchlings auf dem Boden und rührte sich nicht, obwohl die Flammen bereits an seinem Bein fraßen. Kopf an Kopf zu ihm und aufgespießt auf dem metallenen Dorn des Helmes lag Fielkor. Blut hatte sein dunkelgraues Fell getränkt. Der Anblick brach mir das Herz.
»Oh Fielkor!«
Ich wollte zu ihm und seinen Kopf in meinem Schoß betten, wollte ihn fortschaffen und begraben, doch die Flammen ließen mich nicht. Nantavi stieß einen Laut wie das Knacken eines verkohlten Holzscheits aus, den ich trotz des Rauschens des Feuers vernahm. Der Rabe wurde zur Schlange, die rasche Schleifen vor mir in der Luft drehte. Ihre Augen blitzten und die gespaltene Zunge tanzte mir entgegen.
»Du hast recht!«
Ich musste hier raus, aber nicht nur das. Ich musste auch fort aus dem Tal, fort von Naiyan und meinem bisherigen Leben. Trotz meiner Bemühungen, Nantavi geheim zu halten, war er gesehen worden. Wer ein Rukhasa beherbergte oder ihm half, wurde im Kaiserreich öffentlich hingerichtet. So lautete der erste Paragraph der Gesetze der Khist. Niemand stand zu einem mit Sihir verseuchten Wesen. Und hier in meinem Tal würde ich keine Unterstützung finden. Ich war ein Luder für sie, ich gehörte nicht zur Gemeinschaft, und die Bauern und Hirten würden Nantavi niemals akzeptieren. Tayi hatte ja erst dafür gesorgt, dass der Qatal hier aufgetaucht war. Wenn sie uns gemeinsam fanden, würden sie mich jagen und töten. Und sollte bekannt werden, dass wir einen Qatal, einen Iscri und drei Soldaten des Kaisers auf dem Gewissen hatten, würde uns erst recht niemand mehr helfen.
Ich riss alle Kleidungsstücke, an denen noch keine Flammen fraßen, von meinem Lager und stopfte sie in eine Umhängetasche, das Buch folgte. Hastig klaubte ich noch ein paar Vorräte zusammen und griff nach meinem Stab, dem Messer und einer Decke. Als ich fertig war, sah ich auf Nantavi, der inmitten der Flammen durch die Luft schlängelte. Wenn ich sichergehen wollte, dass wir überlebten, musste ich alle Spuren verwischen. Am besten hielt man mich für tot. Der Iscri hatte meine Registrierungsrolle mit sich geführt. Mit etwas Glück war es nicht nur eine Kopie gewesen.
»Kannst du dafür sorgen, dass hier keine Spuren zurückbleiben?«, fragte ich mit einer Geste, die die gesamte Jurte einschloss.
Nantavis Augen leuchteten auf, dann stauchte sich sein Körper, bis aus der nachtschwarzen Schlange wieder ein Rabe geworden war. Schnell und immer schneller schoss er in engen Spiralen herum, bis er in einem Wirbelsturm aus Flammen dahinraste. Hastig zog ich mich zum Eingang zurück und sprintete dann gebückt nach draußen. Mir blieb nur die Hoffnung, dass mich niemand gegen den hellen Feuerschein sah. So schnell ich konnte, huschte ich den Hang hinauf in den Schutz der Dunkelheit. Zum Glück war der Himmel heute Nacht wolkenverhangen.
Ich hatte kaum den Schein verlassen, als die Jurte zerbarst. Eine Flammensäule sprengte das Dach, zerfraß die Wände und schickte eine Wolke glühend heißer Luft über den Hang, die mir den Atem nahm. Mitten aus der Säule schossen feurige Funken in die Nacht. Einer von ihnen verglühte nicht im Nachthimmel, sondern ging neben mir zu Boden und schmiegte sich dann in der Form einer warmen Schlange an meinen schmerzenden Hals. Ihren glühenden Schwanz steckte sie unter meinen Deel.
»Na komm«, keuchte ich. »Zeit, dass wir verschwinden.«
Gebückt eilte ich den Hang hinauf, bis ich den Waldrand erreichte. Erst dann erlaubte ich mir einen Blick zurück.
Meine Jurte war der tosende Scheiterhaufen eines vergangenen Lebens. Sie stand so vollendet in Flammen, dass es schwer war, etwas anderes im Tal zu erblicken. Ich glaubte, Schemen am Rande des Scheins auszumachen, aber ob es nur meine Herde, die anderen Hirten, die Dorfbewohner oder gar weitere Soldaten waren, konnte ich nicht erkennen. In jedem Fall würde es lange dauern, bis jemand in den Überresten würde suchen können.
»Gute Arbeit.«
Meine Finger fanden Nantavis schuppigen Leib und streichelten ihn, teils aus Dank, teils um mich zu beruhigen. Ich wollte nicht an das denken, was geschehen war, oder daran, was nun aus meiner Herde werden würde. So wandte ich mich ab und verschwand im Wald. Je weiter ich meine brennende Jurte und mein altes Leben heute noch zurückließ, desto besser.
Der kleine Dieb
Die Strahlen der Morgensonne weckten mich an dem Bachlauf, den ich irgendwann weit in der Nacht erreicht hatte. Der Marsch war eine einzige Tortur gewesen. Immer wieder war ich über Baumwurzeln und in Löcher gestolpert oder gegen niedrig hängende Äste gelaufen. Am Ende war ich entkräftet zusammengesackt und trotz der Kälte augenblicklich eingeschlafen. Aber jetzt, da der Wald um mich herum erwachte, spürte ich jeden Knochen – und noch mehr.
Vorsichtig schälte ich mich aus dem Schaffellmantel und der Decke und streifte meinen Deel ab. Ich konnte meinen Armund die Schulter bewegen, doch der Schnitt war breit und brannte, dass es mir schier den Verstand raubte. Das Blut hatte eine dicke Kruste gebildet und war bis hinunter zu den eng geschnürten Tuchstreifen um meine Brüste gelaufen. Wenn ich den Hals verrenkte, konnte ich auch schon Eiter erspähen.
Nachdem ich mich ausgezogen hatte, wusch ich mich von Kopf bis Fuß im Bach. Das Wasser war eiskalt, und als es an die Wunde kam, konnte ich einen Aufschrei nicht unterdrücken. Trotzdem schaufelte ich mit zusammengebissenen Zähnen mehrere Hände voll über meine Schulter. Ich wusste, ich musste die Verletzung säubern, so gut ich konnte.
Als ich zitternd vor Kälte und Schmerz zurück ans Ufer watete, blutete die Wunde wieder. Rasch verband ich sie notdürftig mit meinem Brusttuch, zog mich an und hüllte mich in meine Decke, bis ich einigermaßen aufgewärmt war. Nantavi half mir dabei, indem er sich an meine Brust kuschelte.
Seine Gegenwart und das leiste Knistern, das er ausstieß, beruhigten mich, während ich in den Bach starrte, ohne ihn zu sehen. Jetzt hätte ich die Tiere aus der Einfriedung auf die Weide getrieben. Ich hätte sie gehütet, unter einem Baum gesessen und über das Tal geschaut. Gegen Abend hätte ich sie zurückgetrieben, etwas gegessen und wäre früh schlafen gegangen, so wie jeden Tag.
In zwei oder spätestens drei Zehntagen hätte ich die Schafe scheren und die Wolle zur Registratur nach Kota Kecil bringen müssen, damit sie gewogen wurde. Und dann wäre schon der Frühling da gewesen, die Zeit der Lämmer und Zicklein. Ich hätte die dicken Winterdecken vom Dach nehmen und durch leichte Sommertücher ersetzen müssen – all das, wenn der Qatal nicht gekommen wäre. Wenn Tayi, die alte Hexe, Nantavi nicht gemeldet hätte.
Stattdessen saß ich jetzt hier an einem Bach irgendwo in den Wäldern und alles, was ich gekannt hatte, war nur noch Asche im Wind. Meine Jurte, fast mein ganzer Besitz, mein altes Leben. Und meine Herde würde an einen der anderen Hirten gehen. Würde die Person sie gut behandeln? Würden meine Lieben glücklich bei ihr sein?
Von meinen Schafen und Ziegen brauchten meine Gedanken nicht lang, bis sie zu Fielkor kamen. Wie von selbst suchte meine Hand Nantavis warmen Katzenkörper, um etwas streicheln zu können. Mein Vater hatte den Bock auf die Welt geholt, als ich sieben Winter alt gewesen war. Ich hatte mit ihm gespielt und ihn über die Weide gejagt. Ich hatte miterlebt, wie er die Führung der Herde übernommen hatte, und in sein Fell geweint, als meine Eltern gestorben waren. Ich war erwachsen geworden und er grau. Er war ein Freund gewesen – vielleicht der einzige, den ich all die Zeit wirklich gehabt hatte. Und nun war er gestorben, um mich zu retten.
Ich biss mir fest auf die Unterlippe, um nicht zu weinen. Ich hatte seit vielen Wintern nicht geweint und ich würde jetzt nicht wieder damit anfangen. Es brachte nichts – was schmerzte, tat auch danach noch weh. Mit verkniffener Miene trank ich aus dem Bach und nahm dann meine Habe in Augenschein.
Es sah besser aus, als ich befürchtet hatte. Ich besaß genug Proviant für ein paar Tage, eine Decke, Kleidung, das Messer und meinen Stab. Kochgeschirr fehlte mir und auch Feuerstein und Zunder, doch mit Nantavi an meiner Seite dürfte Feuer das geringste Problem darstellen.
Während ich auf einem Stück Brot herumkaute, zog ich das Buch aus meinem Beutel und schlug es auf. Eingesteckt zwischen die Seiten lag seit jeher eine alte und halb verblichene Karte, die ich behutsam auseinanderfaltete. Langsam fuhr ich die vertrauten Linien mit dem Finger nach. Ich hatte sie oft betrachtet, aber sie war in fremden Zeichen beschriftet, die beharrlich schwiegen. Naiyan lag im Westen Cajadus, so viel wusste ich, doch war es vermutlich zu klein, um eingezeichnet zu sein. Auch Kota Kecils Lage konnte ich nur erraten.
»Irgendwo hier«, murmelte ich und kreiste mit meinem Finger ein bewaldetes und hügeliges Gebiet im Westen der Karte ein. Orte waren dort nur wenige verzeichnet. Im Norden zog sich eine Gebirgskette von West nach Ost. Die galt es zu meiden. Mein Blick richtete sich auf den Westen. Dort bestand die größte Chance, auf die Grenze zu stoßen.
»Wir verschwinden aus Cajadu«, sagte ich eindringlich zu Nantavi, als er über meine Schulter auf das alte Pergament spähte. »Mit etwas Glück halten die uns für tot. Sobald wir über die Grenze sind, sind wir frei, wir beide. Dort hat die Khist keine Macht. Wir müssen nur so lange am Leben bleiben.«
Ich faltete die Karte zusammen und verstaute sie mitsamt dem Buch wieder in meinem Beutel. Mein Entschluss stand fest. Ich hatte meine Herde und meine Jurte verloren und damit alles, was mich nach dem Tod meiner Eltern noch an Naiyan gebunden hatte. Ich war frei und gleichzeitig auch nicht. Mit der Khist, die hier im Kaiserreich so viel kontrollierte, würde Nantavi immer ein Gejagter bleiben. Für mich sah es nicht viel besser aus. Durch die Registratur, die im ganzen Land jeden Aspekt des Alltags dokumentierte und überwachte, konnte ich nicht einmal ohne Weiteres in einer fremden Stadt ein neues Leben beginnen. Es würden Fragen gestellt und Dokumente ausgefüllt werden: woher ich kam, was ich gelernt hatte, wer meine Eltern waren, ob ich mir etwas hatte zuschulden kommen lassen. Nein, wir mussten verschwinden.
Einen Moment zögerte ich, dann packte ich das Messer, beugte mich vornüber und säbelte mir mehr schlecht als recht meine halb versengten Zöpfe mitsamt Bändern ab. Als ich fertig war, standen meine Haare ungewohnt kurz und wild in alle Richtungen ab und meine Schulter pulsierte schmerzhaft. Einen Moment rang ich mit mir, dann ließ ich die Zöpfe ins Wasser fallen und davontragen, meine Ohrringe und die Kette folgten. Die Person, die mir jetzt aus dem Bach entgegenschaute, hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit Maliérie Baristota.
»Besser, ich denk mir auch einen neuen Namen aus«, sagte ich zu Nantavi, als ich mein Bündel schulterte und aufbrach.
* * *
Nantavi und ich zogen den Tag über durch den Wald, der sich über eine Hügelkette nach der nächsten erstreckte. Hier und da stießen wir auf Lichtungen, einmal auch auf eine kahle Kuppe, von der aus ich auf die umliegende Landschaft schauen konnte. Nantavi genoss die Wanderung. Er turnte und schoss meist als Katze oder Rabe umher und schien sich keine Gedanken oder Sorgen zu machen. Es war eine Freude, ihm in seiner Ausgelassenheit zuzusehen, doch immer wieder drängte sich bei seinem Anblick ein fieser Gedanke auf. Wenn ich ihm vor zwei Monden nicht geholfen hätte, wäre ich noch in meinem alten Leben. Wenn ich ihn ignoriert hätte, oder an dem Tag nicht das Zicklein entlaufen wäre, säße ich nun sicher in meiner Jurte bei der Herde.
Es war ein ungerechter Gedanke. Ich war jemand, der Tieren half, ich war es schon immer gewesen. Einmal hatte ich einen Wolf gefunden, der in einer Falle saß, die Pfote gebrochen und blutend. Ich hätte ihn gepflegt, obwohl Wölfe unserer Herde nachstellten, und war untröstlich gewesen, als mein Vater ihn getötet hatte. Ich hätte ebenso wenig an Nantavi vorbeigehen können wie andere an einem ausgesetzten Kind – brennende Schwanzspitze hin oder her. Und meine Herde würde leben, wenn auch bei jemand anderem. Nantavi wäre dagegen ohne mich gestorben.
Als wir in einem Kreis hoher Tannen für die Nacht rasteten, war der Schmerz in meiner Schulter so schlimm geworden, dass ich den Arm kaum mehr bewegen konnte. Den Tag über hatte ich immer wieder nach Beinwell, Wassernabel oder auch Salbei Ausschau gehalten, die mir bei so einer Wunde helfen konnten, doch ohne Erfolg.
Fluchend kaute ich auf Brot und Käse herum, während Nantavi mit flammenden Schwanzfedern unser Lagerfeuer entzündete. Der Anblick entfachte eine Idee in mir. Ich schob den Deel zur Seite und wickelte den Verband ab. Der Stoff klebte halb an der Wunde, und als ich fertig war, blutete sie erneut.
»Nantavi.« Ich klaubte einen kräftigen Ast vom Waldboden. »Kannst du die Wunde ausbrennen?«
Der Aitvara schaute mich unsicher an, drehte eine Pirouette in der Luft und verwandelte sich in die Schlange. In langsamen Kreisen schwebte er näher. Wie so oft in den letzten Tagen hatte ich den Eindruck, dass er jedes Wort verstand, das ich sagte. Ich klemmte mir den Ast zwischen die Zähne und nickte.
Der Schmerz traf mich heiß und unvermittelt, noch ehe ich Zeit hatte, meinen Entschluss zu überdenken. Ich schrie erst auf, als Nantavi seine glühende Schwanzspitze bereits wieder aus der Wunde gezogen hatte und in sanften Spiralen vor mir in der Luft kreiste. Dabei stieß er beruhigende Knisterlaute aus.
Ich ignorierte den Geruch nach verbranntem Fleisch, schnitt ein Unterkleid aus meinem Bündel in Streifen und verband meine Wunde neu. Nantavi kuschelte sich wärmend an meine Brust, während ich mich zwischen den Wurzeln zusammenrollte.
»Aniumarita«, flüsterte ich in sein Fell. »Aniu hieß Fielkors Mutter. Und Marita … so hat mein Vater meine Mutter immer genannt, wenn sie sich von etwas nicht abbringen ließ. Es ist der Name für eine kleine zähe Blume, die auch in Schnee oder Trockenheit noch gelb blüht. So möchte ich jetzt heißen.«
Der Aitvara hob den Kopf, miaute kehlig und leckte mir mit seiner rauen Katzenzunge über das Gesicht.
»Ja, jetzt brauche ich nur noch einen Familiennamen«, murmelte ich, schloss die Augen und versuchte, nicht zu sehr an meine zurückgelassene Herde zu denken.
* * *
Mehrere Tage gingen so ins Land, zwischen Kiefern, Zypressen und Zedern. Schon längst hatten wir die Täler und Hügel, in denen ich als Hirtin jeden Stein und Strauch kannte, hinter uns gelassen.
Gegen Mittag des sechsten Tages erreichten wir die Grenze des Waldes. Vor uns breitete sich eine schier endlose Steppe aus, nur durchzogen von sanften Hügeln. Mir gefiel der Gedanke nicht, dort hinauszugehen. Auch wenn das Gras mir bis über die Hüfte ging, ich konnte nicht darauf setzen, dass Nantavi sich zwischen den langen Halmen verstecken würde. Es war zu offen. Doch mir blieb nichts anderes übrig. Jenseits der Ebene lag Westen und damit die Grenze – sofern ich sie auf meiner Wanderung nicht schon längst überquert hatte. Ich musste inzwischen an die achtzig Meilen zurückgelegt haben. Wie weit mochte es wohl sein, bis das Kaiserreich endlich endete?
»Na komm«, murmelte ich Nantavi hinterher, der schon längst vorausgeschossen war, und ging hinaus ins Grasland.
Die Karte half mir nach wie vor nicht, und so gab ich es auf, sie jeden Abend zu betrachten. Stattdessen stapfte ich weiter dem Lauf der Sonne hinterher. Unsicherheit und Furcht über unsere Lage verdrängte ich und lenkte mich mit Gesprächen mit Nantavi oder einfachem Betrachten der Landschaft ab.
Ich konnte jagen und fischen und wusste, welche Pflanzen, Beeren und Knollen essbar waren. Ich war auch nicht wählerisch, und solange ich keinen Hunger leiden musste, war mir egal, wie etwas schmeckte. Ich konnte Meile um Meile laufen, ohne zu ermüden. Doch all das half mir nichts ohne Schleuder oder Bogen und mit einer Wunde, die sich entzündet hatte und trotz Nantavis Ausbrennen immer weiter eiterte.
Am zehnten Tag ging mein Wasser zur Neige. Im Wald hatten etliche Bäche unseren Weg gekreuzt. Hier in der Steppe fand ich dagegen kaum eine Pfütze. Und während am Horizont graue Wolken dahinjagten, regnete keine sich über mir aus. Immer öfter erfassten mich Magenkrämpfe und Schwindel, während meine Stirn glühte. Meine Schritte wurden langsamer, und ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis ich hinfallen und nicht wieder aufstehen würde.
* * *
Am selben Abend erblickte ich mit Einbruch der Nacht einen hellen Schimmer in der Ferne. Es brauchte eine Weile, bis das Licht in der Dunkelheit auch meinen erschöpften Geist erhellte. Jemand hatte hinter einem Hügel ein Feuer entzündet.
Ich blieb taumelnd stehen und starrte auf den Schein, während ich Hoffnung und Risiko gegeneinander abwog.
»Wir müssen da hin, Kleiner«, krächzte ich schließlich, ohne das ferne Glimmen aus den Augen zu lassen. Es musste ein großes Feuer oder viele kleine sein, wenn ich es von hier über die Hügelkuppe hinweg sehen konnte. Vielleicht war es sogar eine Siedlung. »Ich weiß, ich habe gesagt, wir meiden alle Menschen. Aber wir haben keine Wahl. Ich brauche Essen … und Wasser. Und die Wunde …«
Nantavi knisterte wie ein glimmendes Holzscheit, als er sich als Rabe auf meine heile Schulter setzte und seinen Kopf gegen meinen legte. Ich schenkte ihm ein Lächeln und machte mich auf den Weg.
Es war weiter, als ich zuerst angenommen hatte, eine Meile oder vielleicht auch zwei – in dem nicht enden wollenden Grasland war die Entfernung schwer abzuschätzen. Meine Schritte waren so unsicher, dass der Mond bereits aufgegangen war und ein ganzes Stück den Nachthimmel erklommen hatte, ehe ich die Erhebung erreichte. Sie ragte so plötzlich aus der Ebene auf wie ein Schaf, das sich auf die Seite gelegt hatte, war aber hoch wie ein Steinhaus der Städter und verschwand in einem Halbrund in der Dunkelheit. An ihrem Fuß ließ ich mich ins Gras fallen und sammelte meine Kräfte. Dann hob ich Nantavi von meiner Schulter.
»Ich klettere da hoch und schau, ob es etwas zu holen gibt«, flüsterte ich und streichelte sein Gefieder. Unter meinen Fingern verwandelte es sich in das flauschige Fell der Katze, die ihren Kopf an meiner Hand rieb. »Du bleibst hier. Ich will nicht gesehen werden, aber du darfst nicht gesehen werden. Verstanden?«
Er fauchte leise. Es klang wie ein winzig kleiner Blasebalg und ich hatte das deutliche Gefühl, dass er nicht damit einverstanden war, zurückgelassen zu werden.
»Erinnere dich an den Qatal. Noch einmal werden wir nicht so viel Glück haben.«
Ich ging zwei Schritte und sah zurück. Nantavi hockte fast unsichtbar im Gras. Einzig seine gelben Augen und die glühende Schwanzspitze waren zu sehen. Er sah unglücklich und angespannt aus.
»Jetzt guck nicht so. Ich komme wieder, versprochen. Ich lass dich nicht allein. Das habe ich als Maliérie nicht getan, und als Aniumarita Kalnatai mache ich das erst recht nicht.«
Es war das erste Mal, dass mein neuer Name mir in Gänze über die Lippen kam, der Herzname gewählt als Erinnerung an mein altes Leben, der Familienname eine willkürliche Abfolge von Lauten, deren Klang mir gefiel und der ganz mein eigener sein sollte, ein neuer Anfang. Er ließ mich die Schultern straffen, als ich mich von Nantavi abwandte und auf allen vieren den flachen Hügel hinaufkrabbelte. Der Boden war merkwürdig weich, wie mit warmem Moos bewachsen, und gab unter mir nach. Zudem stieg mir ein schwacher Geruch in die Nase, wie nach Tier, aber anders als Schaf, Ziege oder Rind. Irritiert spähte ich über den Kamm.
Der Schein, den ich auf der Ebene erahnt hatte, stammte tatsächlich von Feuer. Mannshohe Fackeln auf langen Pfählen schlossen am Fuß der Erhebung eine Fläche von der Größe eines Gutshofs ein. Ich sah jedoch weder Weiden noch Felder, Jurten oder Steinhäuser. Stattdessen blickte ich auf eine Ansammlung unterschiedlich großer Zelte und Wagen, sofern man sie denn so nennen konnte. Bis auf die Räder hatten sie nur wenig Ähnlichkeit mit denen, die ich von Markttagen kannte. Runde Lampen, wie ich sie noch nie gesehen hatte, hingen von geschwungenen Dächern und an hölzernen Wänden und tauchten deren bunt bemalte Fassaden in ein sanftes Licht aus Gold und Rot. Am anderen Ende der von Fackeln eingeschlossenen Fläche stand ein Zelt, dessen Spitze im Nachthimmel verschwand. Ich hatte noch niemals ein größeres Gebäude gesehen.
»Was ist das hier?«, murmelte ich und ließ den Blick schweifen. Jenseits dieser merkwürdigen Ansammlung von Zelten und Wagen sah ich die Lichter einer Stadt, doch sie war noch ein gutes Stück entfernt. Ich ignorierte sie. Eine Stadt bedeutete viele Menschen, eine Registratur, Soldaten, ein Büro der Khist und mit Sicherheit Qatals. Zwischen den Zelten und Wagen rührte sich dagegen nichts. Ich nahm meinen Mut und meine letzte Kraft zusammen und huschte den Hang hinunter. Für gewöhnlich hätte ich Diebstahl nicht in Erwägung gezogen, doch ich brauchte Wasser und Nahrung und konnte nicht mehr auf die Gefühle oder den Besitz anderer Rücksicht nehmen.
Ein Schauer glitt über mich hinweg, nicht wie der Schatten eines Vogels, sondern eher der Schimmer einer Berührung, die beinahe zustande kam, nur um dicht über der Haut zu verharren. Unsicher blickte ich mich um, aber da war nichts.
Zehn trommelnde Schritte brachten mich durch den Lichtkegel des Fackelkreises und in die Schatten, wo ich mich an einen der unbeleuchteten Wagen presste. Die kurze Anstrengung ließ mich bereits keuchen und meinen Kopf schwirren. Nur einen Moment verschnaufen und …
Ein Grollen erfasste das Holz in meinem Rücken, wie ich es noch niemals zuvor gehört hatte. Es war tief und kehlig, aber so voller Stärke, als könne es Berge schleifen und Wälder niederreißen. Erschrocken sprang ich zurück, mein Stab geriet mir zwischen die Beine, und ich stürzte. Erst als ich lag und verängstigt die Wand des Wagens anstarrte, nahm ich das andere Geräusch wahr. Es waren langsame, schwere Schritte, die ich durch den Boden bis in meinen Körper spüren konnte.
»Da bist du, kleiner Dieb.«
Die Worte raspelten und schabten, als riebe man zwei Mühlsteine aneinander. Um die Ecke des nächsten Zelts kam ein Koloss aus Stein. Er musste beinahe doppelt so groß sein wie ich, mit einem Kreuz wie eines der Stadttore von Kota Kecil. Eine der runden Lampen in der Nähe warf flackernde Schatten auf ein Gesicht, das breit und flach war, mit einer kaum erkennbaren Nase und einem Mund ohne Lippen. Helle Augen glühten mit goldenem Feuer unter schattenwerfenden Brauen. Mit dem nächsten Schritt hatte er mir den Rückweg zurück zur Anhöhe versperrt.
»Niemand stiehlt von Meliseni, kleiner Dieb.«
Mit einem angsterfüllten Schrei stemmte ich mich hoch und floh zwischen die Wagen und Zelte. Mein Herz hämmerte bis in meine Kehle. Niemals zuvor hatte ich solch ein Wesen gesehen. Selbst mein Buch beschrieb nichts Vergleichbares. Ich musste hier raus, bevor es mich in seine schaufelgroßen Hände bekam.
»Rennen wird dir nichts nützen«, grollte es hinter mir wie ein Stolleneinsturz. »Ich ermüde nicht, ich brauche keinen Atem.«
Ich warf einen Blick über die Schulter. Mit raumgreifenden Schritten stürmte der Koloss hinter mir her. Er war viel schneller, als er auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Ich schlug einen Haken, taumelte durch die Lücke zwischen zwei Wagen, fiel mit Glück nicht über eine Achse, sah mich erneut um. Der Steinmensch kam zur Kurve, stoppte, drehte sich und rannte wieder los. Ich erkannte meine Chance.
Bei nächster Gelegenheit bog ich erneut ab, stürmte ungebremst gegen einen Stapel Fässer, zog mich irgendwie hinüber und lief weiter. Abermals bog ich ab, stolperte über die Befestigungsseile zweier Zelte. Meine Lungen brannten wie meine Schulter und meine Beine hielten mich mehr schlecht als recht aufrecht. Ich musste hier heraus, ehe ich zusammenklappte. Nahrung, Wasser oder Medizin würde ich hier nicht mehr finden.
Rechts ragte ein langgezogenes Zelt auf und so schlitterte ich links um einen Wagen. Voraus erblickte ich wieder die Erhebung. Wenn ich sie überwand, konnte ich mich in der Dunkelheit …
Ein Schatten schoss zwischen zwei Zelten hervor, packte mich mitten im Lauf um den Bauch und riss mich zurück. Alle Luft wurde aus mir gepresst und mein Stab flog davon. Während ich verzweifelt nach Atem rang, erkannte ich den Schatten als einen über und über behaarten Arm. Eine nicht weniger zottelige, schwielige Hand schloss sich um meine und zog mich in die Höhe, bis ich über dem Boden baumelte. Der überwältigende Geruch nach Tier, nicht unähnlich dem von Ziegen, aber herber, schlug über mir zusammen. Dann sah ich in das Gesicht einer Bestie.
Am ehesten hatte es Ähnlichkeiten mit einem Schaf oder einer Ziege. Doch es war vermenschlicht, mit nach vorn gerichteten, orangefarbenen Augen, einer breiten Stirn und einem schmalen Mund an der Spitze einer Schnauze. Die Kreatur entblößte eine Reihe flacher Zähne, als sie lächelte. Vier gewundene Hörner sprossen dort empor, wo der Hinterkopf unter einer dichten Mähne verborgen lag. Am meisten Angst machte mir aber das dritte Auge, das in der Mitte der Stirn prangte. Es blinzelte nicht einmal, als es mich musterte.
»Was haben wir denn hier?«, dröhnte das Wesen mit einer Stimme wie ein Gewitter in den Bergen.
»He, Zottelbart! Das ist mein Dieb!«
»Lass mich los!« Verzweifelt wand ich mich im Griff der Kreatur, während der Steinkoloss heranstapfte. Ich hatte das Gefühl, das Wesen würde mir gleich den Arm aus dem Gelenk reißen. »Lass mich runter!«
»Ich habe ihn gejagt«, grollte der Steinmensch.
»Ihn?« Das Ziegenwesen lachte lauthals und schüttelte mich, dass mir die Zähne gegeneinander schlugen. »Das ist eine Frau. Mach deine Äuglein auf, vielleicht fängst du deine Diebinnen dann auch besser.«
»Dieb, Diebin. Du kümmerst dich nur um unwichtige Dinge.«
»Hab ich sie gefangen oder nicht?«
»Ich hätte sie schon gekriegt.« Der Steinmensch stemmte auf eine höchst menschliche Art die Hände in die Hüften. »Sie ist flinker, als sie aussieht, und …«
Ich zog mein Messer und stach in die haarige Pranke, die meinen Arm umschloss. Ich kam kaum durch die Haut, so hart und ledrig war sie.
»Au.« Das Tierwesen ließ mich los, fing mich jedoch mit der anderen Hand auf, bevor ich auf den Boden traf. Gewaltige Finger verbogen meine Hand, bis ich mit einem Schrei das Messer fallen ließ. »Deine Diebin ist eine Wildkatze mit Krallen.«
Ich kratzte an der Pranke. »Lass mich los, du hässliches, stinkendes …«
Ehe ich die Ziegenkreatur beißen oder treten konnte, schleuderte sie mich durch die Luft. Ich prallte hart an einer Brust aus Stein ab. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit blieb mir die Luft weg.