Meisterwerk - Ana Schnabl - E-Book

Meisterwerk E-Book

Ana Schnabl

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Beschreibung

Ein ungleiches Liebespaar in einem Land vor dem Zerfall: ein Roman um Wahrheit, Lüge und Selbstbehauptung. Adam ist ein Literaturprofessor an der Universität Ljubljana, der sich nach einem ersten literarischen Misserfolg vor zwanzig Jahren erneut an einem Roman versucht. Ana ist eine junge ambitionierte Verlagsredakteurin und zugleich Informantin des nationalen Sicherheitsdienstes. Sie erhält Adams Manuskript Das Meisterwerk zur Begutachtung. Im Laufe der gemeinsamen Arbeit am Text stürzen sich die Protagonisten, beide verheiratet, in eine intensive Liebesbeziehung. Während Adam sich in Dissidentenkreisen bewegt und für die Unabhängigkeit Sloweniens brennt, ist Ana hin- und Hergerissen zwischen ihren persönlichen Lebensentwürfen und dem Pakt mit der dunklen Seite des Systems. Schnabls eindringliches Psychogramm spielt vor dem Hintergrund der Katastrophe, auf die Jugoslawien nach Titos Tod zusteuert.

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ANA SCHNABL

MEISTERWERK

ROMAN

Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof

Für Peterund seine unendliche Herzensgüte

Inhalt

18. September 1985

19. September 1985

11. Oktober 1985

18. Oktober 1985

25. Oktober 1985

15. November 1985

16. November 1985

6. Dezember 1985

2. April 1986

21. April 1986

23. April 1986

25. April 1986

14. Mai 1986

Epilog – 9. Dezember 1996

Anmerkungen

18. September 1985

Es regnete Vorhänge. Die Reklametafeln, der Kiosk, die Auslagen der Geschäfte – alles wurde vom Wasser verschluckt. Die Menschen krümmten sich unter schlaffen Schirmen und sahen zu Boden, als könnten sie sich so besser vor der Nässe schützen, und stießen auf dem Weg wer weiß wohin, nur halb bei sich, zusammen. Der Fahrer eines kleinen Fiat verlor für einen Moment die Kontrolle über seinen Wagen und scheuerte laut am Bordstein entlang, erschreckte die Passanten und löste den Aufschrei eines jungen Paares aus, das der Regen zu einer Groteske hatte verschwimmen lassen. Der Mann im leichten Mantel, der ihm um die Schenkel flatterte, weil er vergessen hatte, ihn zuzuknöpfen, oder es nicht konnte, marschierte direkt in die größte Pfütze auf dem Gehsteig. Bis zu den Knöcheln im Wasser, blieb er am tiefsten Punkt stehen, und seine Lippen formten einen Fluch, wie er ihn in diesem Monat vermutlich nicht noch einmal ausstoßen würde. Eine junge Frau, nach Studentenart als Rebellin kostümiert, mit einem mit zahlreichen Badges dekorierten Rucksack – Pankrti, NSK, Mladina –, klappte beim Einsteigen in den Bus ihren Schirm zusammen und stieß ihn einer anderen studentischen Rebellin versehentlich gegen den Kopf. Ihr Gesicht überflog rivalisierende Befriedigung.

Die Szene würde in einen albernen französischen Film passen, der die Kopflosigkeit der Menge zum Thema hat, dachte er, als er unter dem schützenden Vordach stand. So wenig braucht es, um unsere Verwundbarkeit offenzulegen. Ein paar stärkere Regengüsse, ein bisschen abgestandenes Essen, etwas zu wenig Aufmerksamkeit. Lächerlich. Kleine und jedes Mal ganz beliebige Abweichungen von unseren genauso beliebigen Erwartungen riechen bereits nach Apokalypse, nach dem Ende der Geschichte. Zerbrechlich ist unser Gleichgewicht, aber vielleicht ist das Gleichgewicht von Haus aus nicht stark, vielleicht blitzt es nur kurz auf und ist schon wieder weg.

Er zündete sich noch eine Zigarette an. Sie hatte zu ihm gesagt, er solle nach zwei Uhr kommen, und die Uhr zeigte vier Minuten drüber. Er durfte nicht den Eindruck von Ungeduld erwecken, das kommt einem Mann seines Alters und seiner Erfahrung nicht zu. In Wirklichkeit zögerte er es hinaus und war sich dessen bitter bewusst – wie immer dachte er in den entscheidenden Momenten über nicht entscheidende Details des Lebens nach und rauchte viel. Mit der Linken presste er die Tasche, in der sich in einer Plastikhülle die Mappe mit dem Ausdruck befand, so stark gegen die Brust, dass er einen leichten Krampf verspürte. Er lockerte den Griff, ließ die Tasche zur Hüfte hinabgleiten, sog noch ein letztes Mal den Rauch tief ein, trat die Zigarette aus und öffnete den Schirm. Bis zum Eingang waren es annähernd zwanzig Meter, und das war kein leichter Gang. Sein großer und breiter Körper kämpfte sich über die Straße wie durch Schlacke. Als er seinem Spiegelbild in der Eingangstür begegnete, bemerkte er trotz der Schlieren, dass er sich um ein paar Grade vorgebeugt hatte. Bevor er die Tür öffnete, richtete er sich auf.

Der Gesichtsausdruck der Dame an der Rezeption war von penetranter Freundlichkeit, und er konnte nicht anders, als sich dahinter eine ausgesprochen aggressive Person vorzustellen. Eine von denen, die ihre Strenge unterhalb der Grenze des Wahrnehmbaren, aber mit umso größerem Erfolg in die Welt hinaustragen.

„Gehen Sie bitte in den vierten Stock. Der Aufzug funktioniert heute leider nicht. Sie wird Sie auf dem Flur zu den Büros erwarten, keine Sorge“, zwitscherte sie auf der anderen Seite des Glaskastens.

Das Treppenhaus verriet das Regime, das in die Krise geraten war. Von den halb weiß, halb gelb gestrichenen Wänden löste sich der Putz und sammelte sich in Flocken auf den Stufen. Hier war das letzte Mal gefegt und das Geländer poliert worden, als Tito, der große Nichtleser, noch lebte. Er musste über seinen Einfall laut lachen, dem Echo hörte er an, dass er nervös klang. Zwischen der zweiten und dritten Etage blieb er für einen Moment stehen, schloss die Augen und sog die kalte unangenehme Stille ein. Er konnte nicht sagen, wann ihn die Nervosität überkommen hatte, wann er erkannt hatte, dass die Bilanz seines Lebens immer magerer ausfallen und Erfolge immer seltener sein würden. Die Zeit hatte sich, als er unaufmerksam gewesen war, gegen ihn gekehrt. Jeder Verlust, jede Zurückweisung, jeder Misserfolg schien irreparabel. Das schien nicht nur so, es stand zu befürchten, dass es tatsächlich so war. Er wusste nicht, wie und wodurch er ersetzen würde, was er an diesem Tag verlieren könnte.

Als er den vierten Stock erreichte, hatten Nervosität und Atemlosigkeit schon einen bedrohlichen Charakter angenommen. Vielleicht ist das einem Mann meines Alters und meiner Erfahrung angemessen, dachte er. Die Ironie tröstete ihn jedes Mal auf eigene Weise.

Vor einem nicht besonders geglückten abstrakten Bild stand eine schlanke Gestalt, die ihm den Rücken zukehrte. Sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt und bohrte den rechten Absatz in den Teppichboden, während die Schuhspitze emporzeigte. Im engen schwarzen halblangen Rock und der olivgrünen Bluse mit gepolsterten Schultern sah sie dominant aus, die scharfen Konturen und Farben wurden nur von einem Zopf fast goldener Haare unterbrochen. Er räusperte sich. Die Absätze drehten sich abrupt herum, die Arme fielen am Körper herab.

„Sie sind vermutlich Herr Bevk? Es freut mich, ich bin Ana Miler.“ Sie kam mit zwei kurzen Schritten wiegend auf ihn zu, ihr Rock behinderte sie offensichtlich, und streckte ihm die Hand entgegen. Eine kleine Hand mit langen, leicht gebogenen, aber eleganten Fingern und Nägeln. Er bemerkte die gespannten blaugrünen Venen auf dem Handrücken und verminderte den Druck. Sie wirkte feinfühlig auf ihn. Ihm gefiel, wie sie sich in der Wärme seiner Hand verlor.

Meine Ungeschicklichkeit ist grenzenlos, dachte er. Es ist sicher nicht üblich, dass man sich bei der ersten Begegnung so sehr mit den Dimensionen einer Hand beschäftigt und sie mustert wie ein Gemälde in der Galerie.

„Ja, das bin ich. Es freut mich. Ich hoffe, dass ich früh genug gekommen bin.“

Sie lächelte ihn an und entblößte einen kleinen, aber hübschen Spalt zwischen den Schneidezähnen. Sie war einer jener Menschen, die mit dem ganzen Gesicht lachen, die keine Angst vor der völligen Verwandlung haben, sollte sie auch zum Schlechteren gehen: Ihre schmalen blassrosa Lippen schoben die Wangen hoch hinauf unter die Augen, sie legten sich in zwei glänzende Falten, die die blauen, leicht geschminkten Augen zu ein wenig raubtierhaften, ein wenig hilflosen Katzenaugen verengten und verlängerten. Das war kein Lächeln, das mit seiner Symmetrie bezaubert hätte, sondern eins, das mit Entschlossenheit für sich einnahm.

„Kein Problem, die Besprechung mit einem anderen Autor hat sich ohnehin ziemlich hingezogen. Kommen Sie, gehen wir in mein unaufgeräumtes Büro.“

Er folgte ihr durch den langen seelenlosen Flur, vorbei an zahlreichen Aluminiumtüren, grau die Wände, grau der Boden, grau die Decke. Er versuchte es, konnte sich aber nicht beherrschen: Sein Blick wanderte unaufhörlich zu dem Übergang zwischen ihrem Rock und der Bluse. Ihre schmale Taille tanzte nicht wie die Taille anderer Frauen, sondern trug und bewegte sie, sie war wie ein regloser, aber leichter Kern wunderbarer physikalischer Dynamiken. Bei diesem prätentiösen Vergleich musste er schmunzeln, und genau in diesem Moment sah sie über die Schulter: „Obwohl ich die Bezeichnung ‚Büro‘ nicht mag, für meinen Arbeitsplatz wäre die Bezeichnung ‚Kabinett‘ eher angebracht.“

Durch das Fenster, das auf die Titova hinausging, drang die Melancholie des Septembermittwochs in den Raum, wurde aber durch all die bunten Dinge, Hunderte von Büchern, Plakate, vier Blumentöpfe und leise Radiomusik, völlig neutralisiert.

„Setzen Sie sich, bitte.“

Sie bemerkte, dass er verwundert auf die leeren Tassen, Weingläser und Tabletts mit Resten von Gebäck sah, die die Regale und den Tisch einnahmen.

„Ich habe heute Geburtstag, deshalb diese Unordnung. Ich hatte keine Zeit aufzuräumen, ich hoffe, es stört Sie nicht.“

„Überhaupt nicht“, schoss er heraus, „auch von mir – alles Gute.“ Er hätte ihr wohl noch eine Höflichkeit sagen, ihr vielleicht noch einmal die Hand schütteln, ihr ein paar Floskeln hinstreuen, die Gelegenheit nutzen und die Atmosphäre in eine kollegiale Richtung lenken müssen, doch es war erst ihre Konzentriertheit, eine Art sanfter, unaufdringlicher Nonchalance, die ihn dazu brachte, sich allmählich aus seiner Wortkargheit zu lösen. Und je gelöster er wurde, desto klarer erkannte er, dass jedes Mal, wenn sie wegen seines Zögerns den Augenkontakt für einen Moment verloren hatten, der Blick der Lektorin auf seinem Gesicht verweilte.

„Ich möchte Sie nicht auf die Folter spannen“, sagte sie, eingenistet in den großen Sessel, und entnahm der Schublade eine dicke Mappe mit seinem Manuskript, „ich weiß, dass dies eine ziemlich stressige Situation ist, obwohl in Wahrheit ich diejenige bin, die sie stressig macht.“ Durch ihre einfache Selbstironie sah zum ersten Mal ihre Jugend hindurch. Sie war kaum dreißig und gebot über anderer Menschen Schicksal mit der gleichen gelassenen Berechtigung, mit der die meisten Menschen ihre Mahlzeiten zubereiten. Er dachte, dass es vermutlich nicht schwerfallen würde, sie zu bewundern oder sie zu beneiden. Was sie ausstrahlte, rief geradezu nach Idealisierung.

„Seien Sie ganz ehrlich“, log er und zwang sich zu einem Lächeln. Die letzten zwei Nächte hatte er nicht geschlafen, hatte er von Zwangsvorstellungen heimgesucht wach gelegen. Ihre Begegnung war in seinen Visionen tausend Mal fehlgeschlagen und hundert Mal gelungen. Sein Herz hatte bei den Aussichten Sprünge gemacht wie ein billiger Rasenmäher, er hatte geschwitzt und mehrmals den Pyjama wechseln müssen. Eine ungeheure Angst: Er wusste, dass die dunkle Seite der Verantwortung der Verzicht ist, dass das menschliche Wünschen im Zusammenprall mit der Wirklichkeit häufig den Kürzeren zieht und dass darüber nicht einmal der Mensch selbst weinen kann. Aber er war nicht bereit, auf irgendetwas zu verzichten.

„Zuerst muss ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich entschieden haben, das Manuskript gerade uns zu schicken“, sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete bürokratisch die Hände, „und mich entschuldigen, dass es so lange gedauert hat, bevor ich mich bei Ihnen gemeldet habe. Sicherlich verstehen Sie, dass sich sehr viele Autoren an uns wenden, und ich, die ich fair sein will, mich durch alles, was wir bekommen, hindurchackern muss.“

Ihr Hinauszögern überraschte ihn. Lange Einleitungen führen gewöhnlich zu lapidaren Schlüssen: danke, auf Wiedersehen, nächstes Mal mehr Glück. Er fühlte den Schweiß an seinem Körper herunterlaufen. Für einige Momente zog er seine ganze Aufmerksamkeit auf sich.

„Das Manuskript ist nicht schlecht“, hörte er, als es ihm gelang, seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Gesprächspartnerin zu richten, „einige Kapitel sind gut oder sogar sehr gut und haben mich wirklich beeindruckt, aber als Ganzes wirkt es noch nicht so, wie Sie oder ich es uns vermutlich wünschen.“

Eine derartige Entwicklung war in seinen nächtlichen Szenarien nicht vorgekommen. Die Realität wartete ihm offenbar, wie sie es gerne tut, mit einer Art Halbpension auf: Teils wurde er versorgt, teils in Unsicherheit gelassen. Immerhin – ein paar Kapitel waren gut, sogar sehr gut. Es war, als würde die anziehende Fremde mit wenigen Worten all seine Mühen, Zweifel und Leiden mit Sinn erfüllen und alle Dämonen vertreiben. Ihm schien, als hätten alle Bestrebungen unweigerlich hierhergeführt, zu dem Treffen mit dieser Frau, die sich von Lob oder Tadel nichts versprach und deshalb die Wahrheit sagen konnte. Es schien ihm genau so. Der Mensch ist ein Wesen, das erst das Ende des Leidens zu benennen vermag, nicht aber seine Höhepunkte.

Noch immer schwieg er, aber sein Körper hatte sich als Antwort verlagert und aufgerichtet, die Brust hob sich und zum ersten Mal an diesem Tag holte er tief Luft.

„Ich freue mich, dass Sie so denken.“ Natürlich freute er sich und war erleichtert, aber schon lange ging es ihm nicht mehr um wiederholbare Gefühle, profane Gefühle, mit denen das Leben so freigebig ist. Sie hatte Hoffnung in ihm geweckt, es ging ihm genau um die Hoffnung, aber das durfte man nicht sagen.

„Ich hätte gern, dass wir uns die Zeit nehmen und Ihren Roman vervollständigen.“

Dieses „wir“ hatte noch nie so einladend geklungen. Während sie stehend, als legte sie eine Patience, auf dem Tisch die Kapitel ordnete, erläuterte sie ihre redaktionellen Entscheidungen. Auf den rechten Stapel tat sie die Kapitel, die überflüssig waren, auf den linken jene, die sie inhaltlich und stilistisch gelten ließ, und in die Mitte alle, die Mängel aufwiesen. Der mittlere Stapel wuchs an und überragte die anderen bald. Als sie fertig war, schob sie den rechten Stapel ruhig, aber entschlossen in den Papierkorb. Eine kurze Demonstration, die jenen gut zu Gesicht steht, die keine Scheu vor der Macht haben.

In dem Moment, als sich in seinem Gesicht Verblüffung zeigte, wurden ihre Gestik und ihre Stimme sanft.

„Keine Sorge, solche Größenverhältnisse sind üblich. Was unüblich ist, ist die Qualität des linken Stapels. Gerade deshalb möchte ich mit Ihnen arbeiten.“ Wieder ihr herzliches Lachen. Die blauen Augen darin wie das Leuchten eines Lichtbogens. Sie wollte ihn vor Mutlosigkeit bewahren, der er in dieser Situation ausgesetzt war. Nicht nur das, dachte er, vielleicht hatte sie erkannt, dass er sich nicht selten in Mutlosigkeit flüchtete, vielleicht hatte sie ihn durchschaut, noch bevor er sich ihr wirklich offenbart hatte. Um seiner Paranoia eine andere Richtung zu geben, zog er aus dem mittleren Stapel ein paar zufällige Blätter heraus und vertiefte sich scheinbar in sie. Vor ihm sprangen rote Korrekturen auf, Striche, Ellipsen, Ausrufezeichen, Fragezeichen.

„Aha, ich sehe, dass Sie die Sache schon genau gelesen und auch Anmerkungen gemacht haben. Das sind nicht wenige“, sagte er und legte die Blätter in seinen Schoß, „deshalb möchte ich zuerst alles in Ruhe durchsehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was die Zielrichtung ist.“ Er genoss die Souveränität, mit der sie ihn angesteckt hatte.

„Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass wir nichts dem Zufall überlassen werden. Und wir sparen noch Zeit dabei“, sie winkte mit der Hand ab. Sie drehte sich zum Fenster um, legte die Linke um die Mitte und begann mit der Rechten mit ihrem weizenblonden Zopf zu spielen. Während sie im Büro auf und ab ging, wand sie ihn ohne Unterlass zwischen den Fingern. Eschers Zopf, fuhr ihm durch den Kopf. Dieses intime Mädchenritual störte ihn nicht, im Gegenteil, gerade deshalb, weil sie es sich mitten in dieser steifen Situation herausnahm, vertraute er der Aufrichtigkeit ihrer Worte umso leichter. Sie sah zu Boden oder an die Wand, ihn sah sie nur an, wenn sie einen Gedanken abschloss. Nicht aus Schüchternheit, sondern weil sie jedes Mal, wenn sie sich ansahen, gegen ihren Willen in seine Augen sah, wo es wärmer war als in jeder wie auch immer gearteten Kunst. Aber hier waren sie doch zusammengekommen, um objektiv über sie, über seine Literatur zu diskutieren.

Sie spann ihre Gedanken weiter, oder ihm schien es wenigstens so. Das Bewusstsein knetet die Zeit auf tausend unterschiedliche Weisen. Bevor er sie gehört hatte, hatte er überhaupt nicht gewusst, wie sehr es ihn nach diesem Ton verlangt hatte, nach dem Engagement, sogar nach der Nervosität, mit der jeder über das spricht, was ihm lieb ist. Ohne dass sie es ihm direkt gesagt hätten, hatten ihn wenige Menschen wissen lassen, dass er vielleicht nicht schlecht sei, dass er von Dingen erzähle, die nicht unbedingt unwichtig seien, seine Prosa aber weit davon entfernt sei, dass sie ihnen gefallen würde. Geschweige denn dass sie überragend sei. Angst und Enttäuschung hatten ihm immer mehr zugesetzt. Aber wie sollte er nicht enttäuscht sein, wenn es seiner Prosa nicht gelang, ihren wesentlichen Zweck zu erfüllen – wenn sie nicht fieberhaft genug mit den Lesern kommunizierte, sodass sie sich über sie verständigen wollten –, und wie sollte er keine Angst haben, wenn doch über jedem, der sich der Kunst widmete, die Möglichkeit des Epigonentums und die Gefahr hängen, dass er für die Geschichte nicht mehr sein wird als Staub.

Niemand möchte Staub sein. Wer schreibt, tut das, um seinem Leben Gewicht zu geben und es sinnvoll zu machen, hatte er sich wiederholt gesagt und war sich bei jeder Wiederholung bewusst gewesen, wie billig es klang. Jeder, der schreibt, tut das aus einem unsicheren Narzissmus heraus – vielleicht hört sich das besser an; der Schriftsteller liebt seine aktuellen Ideen und erwartet, dass sie ihn auch in Zukunft trösten, er erwartet, dass sie ihn nicht enttäuschen und ihn mit ihrem Vergehen allein lassen werden. Das ist ein Narzissmus, der selten zu Souveränität führt und sich noch seltener zu Gelassenheit entwickelt.

Vielleicht ist die Gelassenheit des Schriftstellers nur jener flüchtige Moment, in dem sich seine Gedanken zum ersten Mal mit einer anderen Person in Gleichklang befinden. Vielleicht war der bohrende Zweifel hinter seiner Stirn deshalb verstummt, als er sich in dem hübsch unaufgeräumten Kabinett auf den Stuhl setzte. Alle seine Sinne waren erwacht. Die Magie des Erkennens ist stark, die Magie der Bestätigung noch stärker.

Ana war von seiner Lebensweisheit und von seiner Naivität, mit der er die Handlungen und Charaktere seiner Helden mitunter zeichnete, gleichermaßen bezaubert. Manches gehe erfahrungs- oder erkenntnismäßig über sie hinaus, räumte sie ein, während sie ihren Zopf auf die Finger der anderen Hand wickelte, und genau das verlange sie auch von guter Literatur. Mit Durchschnittsliteratur lässt sich leicht übereinstimmen, und deshalb haben wir sie beim nächsten Buch schon vergessen, gerade so, wie wir unsere Meinungen leicht vergessen.

„Gute Bücher sind nicht nur Meinungen“, schloss sie und neigte das Champagnerglas, das auf dem Bücherregal stand. „Ich weiß, ich klinge idealistisch und komme zu dem Schluss, dass auch Sie Ihren Hegel gelesen haben.“ Zu ihrer Bemerkung lachte sie ohne jede Verlegenheit. Sie stützte sich auf das Bücherregal und stellte sich einem Bündel von Strahlen, die sich durch das Fenster zu schmuggeln versuchten, in den Weg. Als die sie umflossen und ihr Gesicht verwischten, sah er nur noch ihre chthonische, geheimnisvolle Silhouette. Ihr Lachen verklang.

Die Frau im Lichtschatten und der Mann im Sonnenlicht beobachteten sich gegenseitig in der Stille, ohne sich dessen bewusst zu sein, bis die Strahlen schwächer wurden und erloschen.

Sie trat hinter den Tisch. Auf ihren Wangen pulsierte eine leichte Röte. Sie wollte sie mit der Hand verdecken, indem sie ihre Augenbrauen glatt strich und eine Haarsträhne zur Seite schob. Sie versuchte es mit Galgenhumor: „Der Plot selbst war für mich immer nur Trägermaterial, denn heutzutage ist es fast unmöglich, einen neuen zu erfinden.“

„Auch mir ist er nie als das Wichtigste vorgekommen.“ Auch er versuchte, sich des Prickelns zu erwehren.

„Interessant, dass Sie das sagen. Ich denke, dass Sie sich gerade um den Plot bemühen, obwohl Sie eine Gabe besitzen, die Sie im Roman vernachlässigen. Sie bleiben auf halbem Weg stehen“, endete sie fast mit einem Lob. „Sie verstehen die Menschen wirklich, aber dieses Verstehen drosseln Sie auf merkwürdige Art und Weise. Als hätten Sie Angst vor Ihrem Haupttrumpf. Stattdessen diese endlosen Beschreibungen und unglaubhaften Plot Twists.“ Vor Erleichterung, endlich zum Kern ihrer Eindrücke gelangt zu sein, sank sie auf dem Stuhl fast zusammen. Mit dem schlanken Zeigefinger klopfte sie auf den mittleren Blätterstapel. „Verstehen Sie, wovon ich spreche?“

Ein Plot Twist, der ihn überholt hatte. Eine Lektorin, der es nicht um die Form ging, sondern um die Potenziale. Er hatte sich vorgemacht zu verstehen, wie sich alle etwas vormachen, die ihre Exponiertheit nicht verstärken möchten. Die sich lieber in Harmonie wiegen, wenn auch in einer trügerischen.

Aber sie erlaubte ihm nicht, sich gehen zu lassen. Die Intensität der Handlungen solle er durch eine Intensität der Beziehungen ersetzen, hatte sie gesagt, er solle vertiefen, weil er das könne, und nicht in die Breite gehen, denn mit dem Ausweiten verliere der Roman an Kraft. Im mittleren Stapel habe sie Stellen markiert, die nach Vertiefung riefen, und andere, die der Roman nicht benötige, fasste sie zusammen. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich zu ihm vor. Zwischen ihnen drei Gläser und der wilde blaue Glanz ihrer Augen.

„Sie brauchen natürlich in nichts einzuwilligen. Oder zumindest nicht in alles. Es ist klar, dass ich Sie für eine psychologische Prosa gewinnen möchte. Und ich denke wirklich, dass Sie der richtige Autor dafür sind.“ Um den gönnerhaften Anstrich zu mildern, setzte sie hinzu: „Ich kann es aber nicht besser wissen als Sie.“

Er senkte den Blick und schwieg. Wie sollte die junge fremde Frau wissen, was ein älterer Mann über sich selbst nicht wusste? Sie war nicht allmächtig, obwohl sie zweifellos so wirken wollte. Und er war normalerweise keiner, der auf das, was andere über ihn Neues zu sagen hatten, anders als mit Widerstand reagierte. Derartige Neuheiten ließ er nie Platz greifen, jedes Mal flüchtete er sich zu einer Geschichte, die er sich selbst zurechtlegte. Das war kein Wissen, es war etwas, was für alle galt: die Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Angst, den Boden nicht mehr finden zu können, oder wenn doch, dass er entsetzlich rutschig wäre. Noch ein Glied in der Kette der Verwundbarkeiten, dachte er.

Aber dieses Mal war es, als fühlte er sich von der jungen Fremden angesprochen, als reichte ihr magnetischer Blick irgendwohin, wohin er, belastet mit Vorstellungen, falschen Ansichten, Umständen, Vorbehalten, Zweifeln und Ohnmacht, nicht gelangte. Seine Nervosität war abgeklungen, er fühlte sich völlig sicher. Etwas überkam ihn, das ihn sich wie ein Gläubiger fühlen ließ, der einem Heiligen begegnet ist, ein Gläubiger, der dem reinen Wesen alle Macht zutraut und sich ihm ganz ausliefert. Er lachte kaum hörbar, hob den Blick und begegnete sogleich ihren Augen, die sich mit seinem Lachen angesteckt hatten.

Er wusste nicht recht, ob er ihnen oder ihren Einsichten vertrauen sollte.

„Gut, ich bin einverstanden.“

Er hielt ihr die offene Hand hin, als würde er sie zum Tanz auffordern und nicht zur Besiegelung einer Übereinkunft. Als sie die ihre hineinschmiegte, strich er mit dem Daumen, ohne dass der Schriftsteller in ihm das gewollt hätte, über die glatte Haut. Die zarte, aber ungeschickte Verflechtung dauerte ein paar Augenblicke, dann erwiderte sie: „Schön, nächste Woche fangen wir an.“

19. September 1985

Sie erwachte vor dem Hellwerden. Wenn sie getrunken hatte, konnte sie wegen des Adrenalinschubs nicht gut schlafen. Sie drehte sich auf die Seite, um die Übelkeit leichter in den Griff zu kriegen. Sie roch Boris’ Erkältung. Wie immer schlief er mit offenem Mund und atmete laut. Wie gewöhnlich hatte er sich mitten in der Nacht unhörbar in ihr Bett geschlichen und sich weich wie eine kleine Schlange an sie geschmiegt. Nie schmiegte er sich an Sergei, immer nur an sie. Obwohl Vater und Sohn im wachen Zustand gut miteinander harmonierten, vermied Boris die Berührung mit seinem Vater. Vielleicht war es das übliche Unbehagen eines Jungen, eine Art Verlegenheit neben dem größeren, breiteren und ausgeprägt männlichen Körper, aber oft dachte sie, dass Boris, ebenso wie sie, vor ihrer Ähnlichkeit erschrocken sein könnte. In der Regel sind Kinder das Echo der kindlichen Versionen ihrer Eltern, aber Boris war schon mit sieben Jahren eine kleine Ausgabe des erwachsenen Sergei: dunkles struppiges Haar, das sich weder kämmen noch formen ließ, hellblaue, für Momente erschreckend kalte Augen, eine scharfe Kurve zwischen Nase und Oberlippe, eckige Schultern, die den ansonsten durchschnittlich großen, aber kräftigen Körper größer erscheinen ließen. Boris hatte sogar Sergeis Gang geerbt, zusammen mit allen schrulligen Details. Mit dem komischen Schaukeln, wenn er es eilig hatte, und dem ungelenken Schlurfen, wenn er Sandalen tragen musste. Vermutlich, dachte sie, weckt übergroße Nähe bei Boris kein Vertrauen. Obwohl noch ein Kind, wollte er doch ein Original sein.

Sie war überzeugt davon, dass Sergei solche Zweifel nicht hegte, dass er nicht darüber nachdachte, aber wenn es ihn doch einmal überkam, konnte seine Interpretation eigentlich nicht so düster ausfallen. Auch sie selbst überließ sich ihnen nur deshalb, um die wahren Ursachen ihrer Angst zurückzudrängen. Es war nicht nur der Geburtstagsalkohol, der in ihrem Magen revoltierte und hinter den Augen an ihr nagte.

Sie lehnte sich an das Kopfende ihres Betts. Die kleine Schlange, noch immer im Schlaf, rührte sich und legte den Kopf in ihren Schoß. Der Kontrast zwischen der Wärme, die in ihren Körper strahlte, und der Berechenbarkeit, die ihren Tag ausmachen würde, machte sie, die morgendlich Verwundbare, betroffen.

„Ana, was ist los?“ Sergeis Stimme war verschlafen kratzig, aber er setzte sich im Bett auf wie zum Appell.

„Oh, du bist schon auf. Das ist aber nicht deine Art.“ Sie bemühte sich, geistreich zu sein. Sie bemühte sich immer, geistreich zu sein; je schlimmer es war, desto überdrehter wurden ihre Scherze. Mit Humor, ob laut oder flüchtig, mauerte sie die Räume zwischen sich und den anderen mit so vielen Schichten zu, dass man ihr nicht nahekommen konnte. Aber Sergei, der schon eine Reihe von Jahren zu ihr durchdrang, ließ sich nicht täuschen.

„Ana, du weinst ja gleich. Was ist?“ Vorsichtig reckte er sich über Boris hinweg und streichelte ihren Oberschenkel. Sein Arm spannte sich wie ein Bogen. Die flüchtige Berührung genügte, um die erste Träne ihre Wange benetzen zu lassen.

„Ich möchte da raus.“ Die leisen Worte sagte sie in ihre Hände, die neue Tränen zurückzudrängen versuchten. „Ich habe mich ganz schrecklich in etwas verstrickt, und das will ich nicht mehr. Es ist nicht recht. Es war nie recht.“

Das Schluchzen der Mutter hatte Boris geweckt, der sich jetzt zwischen seinen Eltern aufrichtete und seine Augen rieb. Ihre Anspannung spürte er nicht. Fremde Belastungen spürte er nie, seine Konzentration galt nicht anderen Menschen. Er wird zu einem kapriziösen und herrschsüchtigen Menschen heranwachsen, dachte sie oft.

„Muss ich schon in die Schule, Mama?“

„Ja, du Siebenschläfer, das musst du.“ Sie streifte die Uhr auf dem Nachttisch mit einem Blick, um dem ihres Sohnes auszuweichen. Sie wollte nicht, dass er schon so früh ihr von Sorgen gequältes Gesicht sah, obwohl es ihn vielleicht nicht beunruhigt hätte. „Geh dich waschen und pack deine Tasche, ich komme gleich nach und mache dir das Frühstück.“

Der Junge schälte sich gelenkig aus der Decke, nicht mehr als Schlange, sondern wie ein Fuchs. Er rannte ins Badezimmer, und sofort, als er die Tür unbekümmert hinter sich zuknallte, wurde die Luft scharf und schwer.

„Dissoziation des Subjekts“, sie lächelte. Damit hatte sie angekündigt, dass sich ein paar Augenblicke später Sergei mit seinem gesunden Menschenverstand zu Wort melden würde, der die Verantwortung für das eigene Handeln über alle für ihn leeren und vergänglichen Gefühle stellte. Sergei, der, mit Schwäche konfrontiert, zu Stein werden konnte, mitunter ein harter Verfechter des Rechts des Stärkeren, Sergei, eine Explosion aus Ehrgeiz und Kraft. Einen solchen Sergei wollte sie niederzwingen, bevor er sich auswuchs, damit er endlich verstand, dass sein Theoretisieren darüber, was zu tun sei, keinerlei Trost verschafft. Sie setzte zu einem neuen schwarzhumorigen Kommentar an, aber –

„Komm zu mir.“ Sie glitt auf seine Brust. Zwischen den Haaren roch es vor abgestandenem Schweiß nach Petroleum. Sie fragte sich, warum er gerade an diesem wolkenverhangenen Morgen von seiner Art abgewichen war: Hatte er das Ausmaß ihrer Verzweiflung gespürt? Hatte ihn ihr Geburtstag sentimental gemacht? Fühlte er sich ebenso?

Selbst wenn es so wäre, würde er es nie zugeben.

„Schau, wir wissen beide, dass der Staat schwächelt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann er zerfällt. Es wird nicht mehr lange dauern, das verspreche ich dir.“ Mit einer ungewohnten Geste glitt er mit den Fingerkuppen über ihr Gesicht, von der Stirn über die Augenlider zu den Lippen und zum Kinn. Das war seine besondere Zärtlichkeit, ungeschickt, aber ehrlich, die er ihr gewöhnlich in freudiger Stimmung erwies. Es störte sie, mit dem Kopf rutschte sie etwas tiefer, auf seinen Bauch, sodass er sie mit der Hand nicht mehr erreichte.

„Aber was wird dann mit uns? Sie werden uns ja nicht einfach vergessen. Wir sind doch –“, sie brach in Tränen aus und verschluckte das Wort, das sie vor Jahren in ihren Zangengriff genommen hatte und sie seitdem stetig, zuerst leise, dann immer lauter, zermalmte. Mochte sie es auch noch so grob hinunterschlucken, das Wort blieb unwiderruflich. Sergei kam bei jedem heftigen Aufbäumen auch selbst ins Schwanken. Mann und Frau warteten, eng umfangen, symbiotisch darauf, dass der Keil des Sich-bewusst-Werdens nachgab.

Ungeheuer war dieses Wort. Wir sind doch, ich bin doch ein Ungeheuer, hatte sie sagen wollen.

In ihrer Verbitterung stand sie auf und trat ans Fenster, um die Vorhänge aufzuziehen. Draußen spross ein ebensolcher Morgen heran, wie es der vor acht Jahren gewesen war. Der Himmel war azurblau, die Folge des lang anhaltenden Regens, nirgends auch nur die Andeutung einer Wolke, kein Anzeichen von Verdunkelung, nur die Herrlichkeit der Hoffnung. Was für eine scheißperfekte Ironie. Oder auch nicht, dachte sie, denn damals hatte sie sich ein genau solch klares, herrliches Leben versprochen.

Damals war Sonntag gewesen, und ihre Eltern hatten ihr zu Hause, wie jedes Jahr, ein Geburtstagsessen ausgerichtet. Die Tradition hatte mit den Jahren neue Züge angenommen, die mit Kerzen geschmückte Geburtstagstorte war vom Champagner abgelöst worden, das strenge Rauchverbot war gelockert und zu einem geduckten und unbequemen Paffen unter dem Dunstabzug geworden, seit den Teenagerpartys galt die Einladung auch für Anas augenblickliche Freunde, wie Papa und Mama sie diskret nannten. Zum Mittagessen luden sie gelegentlich auch diese oder jene Persönlichkeit aus dem Bund der Kommunisten Sloweniens ein, in dem sie Mitglieder waren; nicht, weil sie ihre Tochter zum Eintritt in die Partei bewegen wollten, an die zu glauben der Jugend schwerfiel, sondern weil sie schamlos pragmatisch dachten – wie es, das konnte man bedauern oder nicht, alle wirklich erwachsenen Menschen taten. Auch soziales Kapital kann zu einer höheren Lebensqualität beitragen, mehr noch, zu Beginn eines Berufswegs ist es unabdingbar, meinten sie. Und natürlich irrten sie sich nicht.

Vielleicht hätte ihr fünfundzwanzigster Geburtstag, der vor acht Jahren, einen anderen Epilog bekommen – oder wäre, wie die meisten Menschentage, ohne einen solchen geblieben –, wenn Sergei dabei gewesen wäre, überlegte sie, an den Fensterrahmen gelehnt. Aber ihr Freund war krank geworden und hatte sie klarerweise allein gelassen: sie, die Naive, Heftige, Gierige und Ungeduldige. Wütend sah sie zu ihrem Mann, der hinter ihrem Rücken in den Schlaf zurückgeglitten war. Sie hätte die Schuld wenigstens für einen Moment gern auf ihn abgewälzt, wenigstens für einen Moment geglaubt, dass auch ein anderer dich vor dir selbst schützen kann. Diese wohltuende Illusion wollte ihr nicht gelingen, und das Gefühl isolierter Verantwortlichkeit legte sich ihr auf den Magen. Ein unerträglicher Druck.

Vielleicht hätte dieser Tag, korrigierte sie sich schließlich, einen anderen Epilog bekommen, wenn die existenzielle Paranoia ihr damals nicht die Luft abgeschnürt hätte. Sie wurde gerade einmal fünfundzwanzig, näherte sich aber vorzeitig jenem entscheidenden Lebensabschnitt, den jeder fürchtet und der alle umwirft. Den Jahren, in denen einen die eigenen Entscheidungen zum ersten Mal einholen. Wenn die Tage aufhören, sich als verlorene Zeit aneinanderzureihen. Wenn das Jetzt – der jetzige Job, das jetzige Verhältnis, die jetzige Gesundheit – zur genauesten Vorhersage der Zukunft wird. Sollte dieser Lebensabschnitt auch noch so fiktiv sein, ein Ausdruck fataler menschlicher Bräuche und Gewohnheiten, hatte er doch große Wirkung auf sie. Dass sie im Durchschnitt stecken bleiben könnte, dass sie austauschbar und entbehrlich sein könnte, dass sie blass und grau werden könnte, all das waren schreckliche Gedanken. Obwohl sie zahlreiche akademische Erfolge aufzuweisen hatte, sich mit einem Master in Vergleichender Literaturwissenschaft schmücken konnte, schon als Studentin auf Konferenzen und Symposien aufgetreten war, hatte sie – gerade noch, gerade noch – den Weg zu einer Sekretärinnenstelle gefunden. Für den Verlag Mladinska knjiga durfte sie die Autorenverträge vorbereiten. Was heißt vorbereiten, sie durfte sie versenden, entgegennehmen, abheften, dafür sorgen, dass die Autoren für ihre Arbeit bezahlt wurden. Sie verrichtete diese Aufgaben, die für sie nicht nur unangemessen, sondern auch erniedrigend waren. Sie hätte wenigstens Korrektorin oder sogar Lektorin sein können, sagte sie in Gesellschaft immer wieder, und mit jedem Tag der trockenen Verwaltungsarbeit – Papiere rein, Papiere raus, eine Unterschrift hier, eine Unterschrift da, ein Stempel auf den Kopf, ein Stempel ans Ende – verstärkte sich das drückende Gefühl der Endgültigkeit. Das ist es also für mich? In ihrer übertrieben ambitionierten – krankhaften, verwöhnten, wie die anderen sagten – Zukunftsvision war nicht vorgesehen, dass sich die Dinge entwickeln, sich bessern, voranschreiten könnten, sie hatte vielmehr von Anfang an nur das Beste für sich erwartet, und das war – ironischerweise – eine Punktlandung am Endpunkt ihrer Vision gewesen.

Vielleicht, vielleicht, was für ein schwacher Trost, dachte sie. Die Wirklichkeit kennt nur einen einzigen Handlungsverlauf, und an jenem Sonntag, als Sergei krank war und sie selbst auf dem Gipfel ihrer existenziellen Paranoia stand, hatte sich das spätmittelalterliche Paar, das scheinbar sanfteste aller Paare, die damals in Ljubljana lebten, zu ihrem Festtag eingestellt. Sofijas Haar war schon fast vollständig ergraut, sie trug es in einem würdevollen, locker aufgesteckten Knoten. Ihr blassrosa Seidenschal und die sandbraune Bluse zeugten nicht nur von Vermögen und gutem Geschmack, sondern deuteten in Harmonie mit der aufrechten und zugleich geschmeidigen Haltung auf einen ätherischen Charakter hin. Sie war genau der Typ Frau, der Ana schon immer hatte werden wollen; eine Frau, deren feste Anmut Ehrfurcht gebietet, eine Frau, vor deren Überzeugungskraft alle anderen Zögerlichkeiten größer wurden. Eine Frau als Korrektiv zu anderen Frauen. Ihr Mann, Vitomil, mit seinen gemessenen, eleganten Gesten und seiner bedächtigen Sprache – er hatte die seltene Fähigkeit, in seine Gedanken nie irgendwelche Halbvokale oder unaufrichtigen Pausen sich einschleichen zu lassen –, vervollständigte sie zu einem fast ikonischen Objekt. Im Unterschied zu den übrigen Gästen von Mutter und Vater sprachen sie nicht über die Partei, obwohl sie Mitglieder waren. In wirklich ungewöhnlicher, aber stimmiger Art und Weise erzählten sie vor allem vom Leben ihrer drei Kinder und von ihrem Alltag; Ana schloss aus den ersten Takten ihrer Begegnung, dass die Gäste mit der häufigen Erwähnung ihrer Kinder versuchten, sich mitfühlend in das Geburtstagskind hineinzuversetzen, und Mitgefühl war an diesem Tisch ein Novum. Beim Nachtisch stellte sich heraus, dass sie begeisterte Leser waren, was Anas Interesse an ihnen und ihr Selbstbewusstsein erheblich steigerte. Zum ersten Mal unterbrach sie das Gespräch ihrer Eltern und nahm die Anregung zu einem Gespräch mit den Gästen auf. Und was für ein Gespräch das war! Bis zum späten Abend diskutierten sie über Literatur, als sie ihnen, schon ziemlich beschwipst, gestand, dass sie keine gewöhnliche Leserin sei. Als sie ihre erträumte Karriere schon fast ekstatisch vor ihnen ausgebreitet hatte, sahen sich Vitomil und Sofija unverhohlen an und schmunzelten. Sie war sich sicher, dass dieser Blick etwas über ihre Überheblichkeit und ihr ungestümes Wesen signalisiert hatte, dass sie, wie so viele andere, ein wenig Spott und ein wenig Mitleid ausgetauscht hatten. In ihrem Schwachpunkt ertappt, brach sie ihr Aufplustern ab und verbrachte den Rest des Abends beherrscht damit, die Fragen der beiden zu beantworten.

Sie hatte recht gehabt. Der Blick der beiden war geladen gewesen, aber nicht mit den Trivialitäten, die sie herausgelesen hatte. Beim Abschied, als sich alle fünf ungeschickt auf der Türschwelle der Wohnung drängten, schlugen Vitomil und Sofija vor, mit Ana vor dem Haus eine Ehrenzigarre zu rauchen. Beruhigt folgte sie ihnen. Offensichtlich war es ihr nicht gelungen, den guten Eindruck auf die beiden angenehmen und gebildeten Personen völlig zu verderben.

Sofija sah, in ihren Herbstmantel gehüllt, unter der schwach flackernden Straßenlampe noch souveräner aus als zuvor. Ana bewunderte ihre Hände, die, während sie sprach, in die Tasche hinein und aus der Tasche heraus tanzten, ihren Hals, der sich beim Lachen spannte, ihre leichten Augenlider, die ihre durchdringenden Augen offenbar nicht zu verdecken vermochten. Noch Jahre nach dieser Nacht fragte sie sich, ob es Zufall oder Teil eines schnell gefassten, nichtsdestotrotz sorgfältig kalkulierten Plans gewesen war, dass es, während der Rauch in dichten Schwaden aufstieg, vor allem Sofija gewesen war, die sich Ana zugewandt hatte. Es musste für das Ehepaar nicht schwer gewesen sein, ihre Schwärmerei und ihre der Schwärmerei entspringende Unsicherheit zu erkennen.

„Du bist noch jung, noch ist nichts verloren“, schloss Sofija und nahm besitzergreifend die Zigarre. „Leider bist du aber auch eine Frau, und für uns ist es nicht so leicht, hoch aufzusteigen, nicht wahr, Vito?“ Sofija wusste, dass ein Bündnis mit einer Frau sich am einfachsten schließen lässt, wenn es sich gegen einen Mann richtet. Nicht grob, denn das wäre reaktionär, aber herzig spöttisch.

„Dessen bin ich mir bewusst“, Ana war wieder bereit, sich eine Blöße zu geben, „aber was soll ich tun? Schon jetzt weiß ich weit mehr als all die Holzschwämme, die sich an die Redaktionsstühle klammern, es ist nur die Erfahrung, die mir fehlt.“

Über den originellen Vergleich wollten sie sich vor Lachen schier ausschütten. Ana ließ sich von dieser spontanen Bestätigung zu einem schwarzhumorigen Lamento hinreißen, voll von weiteren originellen Vergleichen und abfälligen Bemerkungen. Als sie sich später ihrer Worte erinnerte, wurde ihr klar, warum sie sich gerade für sie entschieden hatten, warum jeder, dessen tägliches Brot das Manipulieren ist, sich unbedingt für sie entscheiden würde: Ihr Eifer war kein jugendlicher, sondern grenzte schon an die Bitterkeit des Alters.

„Ich würde sehr gerne etwas für dich tun.“ Sofija zündete sich eine Zigarette an und zeigte damit, dass das Angebot ernst gemeint war, denn es brauchte seine Zeit. „Ich kenne ein paar Mitglieder des Aufsichtsrats, vielleicht kann ich sie zu etwas überreden“, sie blies den Rauch aus, „jedenfalls werde ich ihnen den Vorschlag machen.“ Sofija und Vitomil sahen Ana, diese junge schwärmerische Frau, zärtlich an. Sie bezweifelte, dass in diesem Moment auch Spott in ihren Augen schimmerte. So etwas hätten sie sich nicht erlaubt.