Melodie der Liebe - Ingrid Reidel - E-Book

Melodie der Liebe E-Book

Ingrid Reidel

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Beschreibung

Hugh Miller, ein moderner Cowboy – Straßenmusikant und Orgelstimmer – erhält den Auftrag, die Orgel einer Dorfkirche zu reparieren. Dort trifft er auf Rose, eine charmante, um zehn Jahre ältere Frau. Die beiden verlieben sich unsterblich ineinander. Hughs Liebe ist so stark, dass er beabsichtigt, sein altes Leben aufzugeben und zu ihr zu ziehen. Doch sie schickt ihn unter Tränen weg. Hugh will das nicht akzeptieren und versucht alles, um Rose wieder für sich zu gewinnen. Aber dass ihm dies gelingen wird, erscheint fast aussichtslos.

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Seitenzahl: 137

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Melodie der Liebe

Ingrid Reidel

Impressum

Copyright: Novo-Books im vss-verlag

Jahr: 2024

Lektorat/ Korrektorat: Annemarie Werner

Covergestaltung: Hermann Schladt

Verlagsportal: www.novobooks.de

Gedruckt in Deutschland

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig

1

Pünktlich um neun Uhr eines heißen Julitages im Jahr 2019 ging Hugh Miller die frischgewachste Holztreppe des alten gedrungenen Hauses in Greenwood Village hinunter. Zuvor hatte er Strom und Wasser in seiner Wohnung abgestellt und die Tür hinter sich zugeschlossen. Auf dem Rücken trug er seinen Rucksack und in der Hand seinen Werkzeugkoffer. Unten begegnete er Arthur.

»Gute Reise«, wünschte ihm Arthur und lächelte. »Du machst das wie immer sicher gut.«

Hugh nickte. Sicher hätte ihn Arthur auch gefahren, doch er wollte von Anfang an seine Unabhängigkeit.

Über den Korridor lief er zum Fahrradständer im Hof hinaus.

Dort lagerten schon die Tasche mit der Dreiviertel- Wandergitarre und ein alter, von der Sonne ausgebleichter Kunststoffeimer.

Er setzte Rucksack und Werkzeugkoffer ab und überlegte, ob er alles dabeihatte. Er ging alles im Geiste durch: den Werkzeugkoffer mit Stimmgabel, Stimmgerät, Stimmkeile, Bürsten, Schraubenzieher und verschiedene andere Gerätschaften, den Rucksack mit dem Oberhemd und der Unterwäsche, Zahnbürste und Zahnpasta. Das Nötigste. Er strich über die Brusttasche seines Hemdes, er hatte den Kompass nicht vergessen. Alles andere konnte er unterwegs kaufen.

Hugh war bekleidet mit einer Jeans, Reiterstiefeln, einem karierten Baumwollhemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, und einem breitkrempigen Filzhut.

Nachdem er mit seinen Überlegungen fertig war, klemmte er den Rucksack unter den Spanngurt des Gepäckträgers, setzte den Werkzeugkoffer und den Eimer in den Korb am Lenker und hängte sich den Gurt mit der Gitarre um den Hals.

Dann schwang er sich auf das Rad und fuhr los. Er betrachtete die Landschaft, während er das Rad nordwestlich nach Oakridge steuerte. Es war heiß, die Sonne brannte und er schwitzte, als er in die Pedale trat. Trotzdem erfreute er sich an der herrlichen Landschaft, den saftigen Wiesen und dem Zirpen der Grillen, das es nur gab, wenn es heiß war.

Gleich nachdem er den Gutshof erreicht hatte, stellte er sein Fahrrad ab und ging hinters Haus zum Stall. Dort wurde er schon von dem Stallknecht Eddi erwartet.

»Hi, Eddi«, begrüßte er in. »Alles in Ordnung?«

Eddi lächelte. »Könnt nicht besser gehen, Hugh.«

»Das freut mich«, antwortete Hugh. Dann lief er Eddi zur Box von Jonny hinterher, seinem achtzehn Jahre alten Vollblut. Hugh wurde andächtig, ging auf sein Pferd zu, streichelte ihm sanft über die Nase.

»Na Brauner«, flüstere er ihm zärtlich ins Ohr. »Bist du aufgeregt? Gleich gehts los.«

Er führte Jonny hinaus, packte seine Gepäckstücke vom Fahrrad um. Den Werkzeugkoffer und den kleinen Eimer auf eine Flanke des Tieres, die Reisegitarre auf die andere.

Er holte die Karte aus dem Rucksack heraus, breitete sie auf einem neben dem Sattel stehenden Holzstapel aus und betrachtete sich den Weg.

»Oh, immer noch kein Navi?«, meinte Eddie neben ihm.

Er schüttelte den Kopf. »Es würde sich nicht mit meiner Art des Reisens vereinbaren lassen. Es stört die Natur.«

Eddi nickte wie immer.

»Na dann, trotzdem viel Spaß und viel Erfolg.«

»Danke, mein Freund. Lass es dir gut gehen«, erwiderte Hugh, schwang sich in den Sattel und nahm die Zügel in die Hand. Mit der Morgenwärme im Rücken trabte er los.

Ab und zu strich er Jonny über den Nacken und flüsterte ihm gut zu.

»Komm mein großer Brauner, komm,

trag mich in die Weiten.

Horch, das Leben ist zu kurz,

Lass uns reiten! Reiten!«

Jetzt auf dem Rücken des Pferdes kam ihm die Landschaft noch lieblicher und reizvoller vor, er lauschte den Libellen, dem Rauschen des Grases, wenn der Sommerwind darüberstrich. Eventuelle Geräusche von mobilen Geräten wie Navis oder mobilen Telefonapparaten hätten ihn nur gestört. Er wusste, dass er deswegen als altmodisch galt, aber er wusste auch, dass er damit in unnatürlicher Weise in die Geräusche der Natur eingegriffen hätte.

Einige Kilometer später holte er den Kompass aus der Brusttasche heraus. Er vergewisserte sich, dass er Jonny in die richtige Richtung lenkte und setzte seinen Ritt fort, er liebte diese Art des Reisens.

Er kam an Feldern vorbei, folgte schmalen romantischen Straßen, von historischen Mauern eingesäumt. Trabte mit seinem Pferd über grüne Hügel, auf deren sanften Erhebungen er einen weiten Blick über die Landschaft genoss.

Die Pferdehufe klapperten auf Feldwegen, deren unebener Untergrund von der Benutzung früherer Landarbeiter und Bauern zeugte. Nur wenn es sich nicht vermeiden ließ, bahnte er sich seinen Weg sogar auf dem Randstreifen einer ruhigen Überlandstraße. An manchen Stellen stoppte er, ließ sein Pferd grasen, und lauschte dem beruhigenden Rauschen des Wassers.

Während er auf seinen Reisen die Natur durchstreifte, verband sich Hugh nicht nur mit der Landschaft, sondern auch mit den Menschen, denen er auf seinen Wegen begegnete. An den Ufern der Flüsse traf er Leute, die ihn neugierig betrachteten. Er hatte genügend Zeit, er brauchte nicht zu hasten.

Gegen Mittag machte er an einer alten Ruine halt, fand eine Quelle und füllte den Eimer mit frischem Wasser. Jonny dankte ihm die Erfrischung mit einem sanften Schnauben.

Hugh wusste, er war in gewisser Weise ein Außenseiter. Nicht nur wegen der Sache mit den mobilen Geräten, auch wegen seiner Art. Aber für ihn war es wichtiger, den eigenen Weg zu gehen und die Freiheit zu genießen, die ihm das Reisen zu Pferd bot. Er glaubte fest daran, dass, wenn mehr Menschen sich auf diese besinnliche Art des Reisens einlassen würden, die Welt ein friedlicherer Ort sein könnte. Zudem sorgte ein Pferd dafür, Auszeiten einzulegen. Jonny war nicht mehr der Jüngste.

Und auch er mochte es, hin und wieder, im Gras zu sitzen, ganz wie es ihm beliebte, und den Klängen der Natur zu lauschen. Die Natur hatte so Wunderbares zu bieten. Im gleichen Moment hörte er eine Libelle direkt an seinem Ohr, die ihr leises Lied, ein »Sssssss« surrte. Alles war eine Sinfonie. Eine Sinfonie der Natur. Eine, die eine höhere Macht erzeugte.

Nach diesen Überlegungen setzte er sich wieder in den Sattel.

Am späten Nachmittag zeigte ihm die Karte zwei Möglichkeiten auf. Er entschied sich für die kleine Landstraße, da der Forstweg mit Rollsplitt belegt war und Jonnys Pferdefüßen geschadet hätte.

Manchmal, wenn er so dahinritt, wünschte er sich einen Partner, mit dem er hätte alles teilen können. Irgendjemanden, einen Freund, der aus einem ebensolchen Holz geschnitzt wäre wie er selbst. Naturverbunden, eigen und unkonventionell.

Hugh drang weiter in sein Inneres. Er war zwar noch relativ jung, er zählte jetzt fünfunddreißig Jahre, aber irgendwann würde der Augenblick kommen, in dem er zu alt sein würde für seine kraftraubenden Dienstreisen zu Pferde. Dann würde er umdenken und auf einen Wagen umsteigen müssen. Aber bis dahin würde er es noch so versuchen. Mit Jonny. »Vielleicht finde ich ja bis dahin jemanden«, murmelte er der vorbeiziehenden Landschaft zu. Bei solchen Ausritten überkam ihn immer das Verlangen nach einem Rück- und Ausblick auf sein Leben, und ein Begleiter war ein wesentlicher Teil dieses Rück- und Ausblicks.

Hugh Miller fühlte sich einsam. Er hatte weder Bruder noch Schwester, war das einzige Kind seiner Eltern, beide mittlerweile verstorben. Mutter im letzten Sommer.

Seine entfernten Verwandten hatten ihn längst vergessen, genauso wie er sie. Er hatte keine Freunde, jedenfalls keine engen, abgesehen von Arthur, der ihn als Außendienstmitarbeiter eingestellt hatte.

Die Sehnsucht nach einem Begleiter wurde immer stärker, und er stellte sich vor, wie sie gemeinsam durch die Lande ritten und das Stimmen der Pfeifen übernahmen. Für einen Begleiter hätte er sogar seine unkonventionelle Art zu Reisen aufgegeben.

Trotzdem kannte er nur sehr wenige in seinem Alter und es schien, als ginge es den anderen genauso mit ihm. Doch die Vorstellung, jemanden zu finden, der sein Weltbild teilte, wurde immer reizvoller.

Seine Gedanken drifteten zurück zu Isabell. Vor drei Jahren war sie nach fünf Jahren Beziehung vor ihm geflohen. Inzwischen wäre sie zweiunddreißig.

Isabell hatte von einer Karriere als Model geträumt. Sie war schön, bewegte sich mit natürlicher Eleganz und war sehr begehrt. Die Männer lagen ihr reihenweise zu Füßen. Auch er hatte sie damals stark begehrt und war stolz, eine so attraktive Frau an seiner Seite zu wissen. Doch seine unstillbare Freiheitsliebe, die ständigen Außendienstreisen und seine Leidenschaft für die Natur zerstörten letztlich ihre Beziehung. Sie beide hatten sich dazu entschieden, zusammenzubleiben, trotz der Unterschiede. Sie glaubten, es irgendwie schaffen zu können, doch diese Hoffnung erwies sich als Illusion.

Als er von einer Geschäftsreise zurückkehrte, fand er nur eine Botschaft am Kühlschrank: »Hugh, ich kann das so nicht mehr.« Isabell war mit einem ihrer Bewunderer durchgebrannt und ließ ihm großzügig alles zurück, einschließlich der Barschaft in der Keksdose im Küchenschrank.

Sie hatte nie geschrieben und er sich nie um ihre neue Adresse bemüht, um zu schreiben. Er verstand, warum sie weggegangen war, und für sich beschlossen, sie ihr Leben leben zu lassen. Im Gegenteil, er wünscht ihr insgeheim alles Glück der Welt.

Und nun dachte er wieder über eine Frau nach. Eine Frau, die zu ihm passte. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben. Die Hoffnung, dass es da draußen eine weibliche Person geben könnte, die seine Ambitionen und seine Visionen teilen würde. Eine Frau, die seine Abenteuerlust verstand, die mit ihm durch dick und dünn ging. Und umgekehrt, die auch er verstand.

Die Gedanken an die Zukunft und die Suche nach einer Frau begleiteten ihn auf jedem Schritt seines Ritts. Jeder Grashalm und jeder Baum schienen ihm eine Botschaft zu übermitteln, dass das Leben noch so viel mehr zu bieten hatte. Und so trabte er weiter, im Herzen die Sehnsucht nach Liebe, die er mit einer Partnerin hätte teilen können. Für sie würde er seine Art des Reisens aufgegeben und für Jonny eine Koppel bauen. Vielleicht neben einem Eigenheim im Grünen. Und wenn er es wagte, noch weiter zu träumen, sah er vor seinem inneren Auge Kinder, die gemeinsam mit ihm und seiner Frau ein Leben teilten – Kinder, die sich um Jonny kümmern und ihm das Gefühl geben würden, wirklich angekommen zu sein.

In der Nähe von Silverbrook sah er sich für eine Übernachtungsmöglichkeit um. Er fand eine Farm, ein B&B mit Unterkunft. Das Zimmer war sehr einfach, aber hinlänglich eingerichtet. Es gab nur kaltes Wasser und die Toilette befand sich auf dem Flur. Doch es war ihm egal, denn sie hatten alles, um ein Pferd zu versorgen.

Er nahm Jonny alles ab, stellte seine Gepäckstücke in einen extra dafür vorgesehenen Raum, versorgte Jonny im Stall, wo er ihn abbestellen durfte, und nahm in dem gegenüberliegenden Pub eine kleine Mahlzeit ein. Ein Sandwich mit Käse und Tomate, dazu ein Cider. Danach legte er sich schlafen. Die Matratze war im Gegensatz zu seiner Erwartung hervorragend, und so verlief die Nacht ganz ausgezeichnet.

Am Morgen, nachdem er gefrühstückt und Jonny versorgt hatte, zahlte er, verabschiedete sich, packte und schwang sich wieder in den Sattel.

Dann ritt er immer parallel zum Nationalpark.

Das urwüchsige Gebiet, welches er hier fand, faszinierte ihn nicht weniger als die Seenlandschaft bei Haven.

Die Landschaft war von einer vielseitigen Schönheit, entsprach seinen minimalistischen Neigungen und er hielt mehrere Male an, um sich die Bilder einzuprägen.

Am Morgen des 15. Juli bog er in nordöstlicher Richtung ab und nahm den Weg Richtung Misty Hollow.

Einmal mehr machte er Halt, nahm die Gitarre vom Pferd und setzte sich auf einen der alten Steine. Es war reizvoll hier, wie im Märchen. Kinderlieder fielen ihm ein. Er mochte Kinderlieder.

Glitzere, glitzere, kleiner Stern,

Wie frage ich mich, was du bist!

Hoch oben in der Welt so hoch,

Wie ein Diamant am Himmel.

Es gab Kinderlieder, die hatten ihren ureigenen Rhythmus. Es hatte fast etwas Hypnotisches.

»Der Wind streicht leis durch das Gras,

Die Sonne küsst uns, ein leiser Spaß.«

Das war ihm gerade eingefallen. Er hatte eben im Geiste eine eigene Melodie dazu komponiert. Zupfte auf der Gitarre, suchte den Ton, suchte und spielte es Jonny vor.

»Ja, du bist mein einsamer Zuhörer«, sagte er. Dann stimmte er »The Girl from Ipanema« an und sang dazu, lauschte dem Wind, dem Gras, den Vögeln. Hörte auf seine eigene Stimme, versuchte sie, der Natur anzupassen.

Dann war es genug. Er musste weiter.

Er packte die Gitarre wieder ein, hängte sie an die Flanke des Pferdes, sattelte auf und tätschelte Jonnys Hals: »Na, wenigstens bin ich froh, dass ich dich habe. Aber eine Frau wäre auch gut.«

Manchmal, wenn er zu Hause war, traf er sich hin und wieder mit der Gemeindesekretärin seines Geburtsortes. Er hatte sie während eines Auftrags an der Orgel in der Kirche kennengelernt. Sie war so alt wie er, intelligent und eine nette Frau, aber er liebte sie eben nicht und würde sie auch niemals lieben.

Ab und zu jedoch überkam sie beide ein begehrliches Gefühl, und in solchen Momenten verabredeten sie sich für einen Abend zusammen. Sie gingen essen, genossen ein paar Longdrinks und rundeten den Abend mit einem romantischen Schäferstündchen im Bett ab. Sie war eine erfahrene Frau, die wusste, was sie wollte. Jedes Mal, nach ihren Liebeszusammenkünften, und während sie noch eng beieinanderlagen, pflegte sie unausweichlich zu ihm zu sagen: »Du, Hugh, du bist wirklich anders, du bist nicht von dieser Welt, du bist irgendwo Hexenmeistern entsprungen oder so.«

Er fand es schön, als Mann solche Komplimente zu hören, verfügte jedoch selbst nicht über allzu viel Erfahrung und konnte ohnehin nicht sicher sagen, ob sie es aus vollem Herzen heraus meinte oder nur so dahinsagte. Doch einmal hatte sie etwas gemeint, was ihn nicht mehr losließ: »Hugh, du erzeugst etwas in mir. Ich weiß nicht, was es ist, aber es macht mir ein Bauchkribbeln. Ein gefährliches Bauchkribbeln, das nach mehr verlangt. Noch nie hatte ich vorher solche Höhenflüge gehabt wie mit dir. Manchmal habe ich das Gefühl, du kennst jede Ecke meines Körpers in- und auswendig, jeden Nerv, besser als ich selbst. Zeitweise jagst du mir Angst und Schrecken ein, selbst wenn du zärtlich zu mir bist. Wenn ich nicht mit aller Kraft meine Beherrschung bewahren würde, hätte ich das Gefühl, mich völlig in dir zu verlieren und nie mehr zurückzufinden.«

Er hatte nur eine vage Ahnung von der Bedeutung ihrer Worte. Er konnte es nicht begreifen. Seine Gedanken neigten dazu, sich gelegentlich ins Uferlose zu verlieren, und er trug eine melancholische Sensibilität in sich, die von großer körperlicher und intellektueller Stärke begleitet wurde. Diese Eigenschaften hatte er schon als Kind in einer Kleinstadt entwickelt.

Während andere Kinder »Hänschen klein« sangen, interessierte er sich für die Moldau von Bedřich Smetana. Er konnte den Flusslauf hören oder die vier Jahreszeiten von Vivaldi spüren.

Doch er mochte nicht nur die Töne, sondern auch besondere Rhythmen. Wie zum Beispiel »O Fortuna« aus »Carmina Burana.«

Er mochte den kraftvollen und mitreißenden Takt, die eindringliche rhythmische Intensität. Er stellte Listen der Lieder, die er besonders gern hatte, zusammen und führte handgeschriebene Listen, die er an die Wand über sein Bett zu Hause pinnte.

»Take Five« von Dave Brubeck. Ein Jazzstück aus dem Jahr 1959, bekannt für seine unkonventionelle Taktart von fünf Viertel, was es von den üblichen vier Viertel-Rhythmen abhebt, war ein anderes.

Selbst seiner Mutter fiel auf, dass er sich von den anderen Jungs unterschied. Schon als Fünfjähriger konnte er den Pfeifton der Bahn bestimmen. Es war das eingestrichene A. Er hatte es auf seinem Kinderklavier überprüft.

Am Unterricht in der Schule interessierte ihn nur der für Musik. Hier war er aufmerksam und beteiligte sich. Im Nu lernte er das Klavierspiel und die Musiktheorie. Bei all den anderen Fächern langweilte er sich nur, was für seine Lehrer, genauso wie für ihn, sehr frustrierend war. Seine Lehrer forderten ihn immer wieder auf, mitzumachen, und erklärten ihm den Sinn des Lernens. Doch es hatte keinen Zweck, er konnte sich für keinen der anderen Fächer erwärmen. Höchstens für Mathematik und für Literatur. Besonders im bloßen Auswendiglernen fand er keinen Sinn und sagte es den Lehrern auch.

Einer von ihnen schrieb in seiner Beurteilung Folgendes: Er vertritt die Auffassung, dass reines Auswendiglernen kaum dazu beiträgt, die tatsächlichen Fähigkeiten eines Menschen zu fördern, da es den Zauber seiner Einzigartigkeit sowohl für sich selbst als auch im Zusammenspiel mit der Logik außer Acht lässt. »Ich empfehle ein Gespräch mit den Eltern.«