Memoiren einer Mistgabel -  - E-Book

Memoiren einer Mistgabel E-Book

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Beschreibung

Machen Sie es sich gemütlich mit den faszinierenden Kurzgeschichten aus dem Leben von Menschen, Tieren, Höfen und ihrem außergewöhnlichen Alltag. Ob für stürmische Herbstabende, verschneite Sonntagmorgen oder einfach für zwischendurch. Dieses Buch wird Sie mit seiner Vielfalt und Tiefe begeistern. Nicht nur Amüsantes und Bewegendes beschreiben die talentierten Jungautoren. Auch spannende, nachdenkliche, abenteuerliche und herzliche Begegnungen werden Sie hier finden. Ein Buch zum Schmökern und Genießen für die ganze Familie. Unbedingt lesenswert, voll witziger und tiefgründiger Geschichten über die Landwirtschaft und die mit ihr lebenden Menschen.

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Seitenzahl: 216

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Memoiren einer Mistgabel

einundzwanzig Kurzgeschichten von Freiheit und Verwurzelung

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Die Autoren

Impressum

Vorwort

Landwirtschaft und ländliche Räume prägen unser Land, sichern eine attraktive Kulturlandschaft. Sie wird von vielen Mitbürgern im Urlaub oder in der Freizeit gerne zur Erholung genutzt. Trotzdem herrscht in unserer Bevölkerung verbreitete Unkenntnis über das Leben auf dem Land, vor allem bei der jüngeren Generation. Dafür gibt es einen wesentlichen Grund: In den zurückliegenden 50 Jahren ist die Zahl der Beschäftigten und Betriebe in der Landwirtschaft um rd. 80 % zurückgegangen. Es gibt immer weniger Menschen, die praktische Landwirtschaft noch selbst erlebt haben und vermitteln können.

Und mit Geschichten vom Land soll nun für das Land vor allem bei jungen Menschen geworben werden? Wenn dies am Ende ein Ergebnis ist, so dürfte dagegen nichts einzuwenden sein.

Wichtiger aber ist, deutlich zu machen, dass es die Landwirtschaft nicht gibt, sondern dass sie sehr vielfältig ist.

Bei der Auswahl aus über 200 Kurzgeschichten für dieses Buch, die im Rahmen des Literaturpreises der deutschen Landwirtschaft an die i.m.a-Geschäftsstelle eingesandt wurden, konnte es also nicht darum gehen, ein repräsentatives Bild der Wirklichkeit dazustellen. Dafür sind die Geschichten auch zu sehr aus einem ganz persönlichen Blickwinkel geschrieben.

Wenn Sie sich beim Lesen aber freuen über ganz unterschiedliche Darstellungen und dabei Interesse entwickeln, sich mit den vielfältigen Aspekten „zwischen Ackerbau und Viehzucht“ näher zu beschäftigen, wäre unser Ziel erreicht.

In diesem Sinne viel Spaß beim Lesen!

Prof. Hermann Schlagheck

Juryvorsitzender

Ein Sommer auf der Alp – Landwirte auf Zeit

Jana Eichenmüller

Was haben wir uns eigentlich dabei gedacht? Eben war noch Dezember und wir in glückseliger Vorweihnachtsstimmung. Unser Leben verlief in geregelten Bahnen: lange schlafen, zur Uni gehen, ein bisschen Landwirtschaft studieren, Freunde treffen. Einer dieser Freunde war Borris. Ja, im Nachhinein glaube ich mich zu erinnern, dass Borris der Schuldige ist. Er erzählte irgendwas von sonnigen Alpen, friedlich grasenden Kühen, frischer Milch und ausgeglichenen Menschen. Und bei Tee und Keksen gemütlich hinterm Ofen sitzend beschlossen wir, im nächsten Sommer auf die Alp zu gehen.

Wir, das sind Muh-Muh-Bo, Muh-Muh-Fa, Muh-Muh-Ja und Käs-Käs-Ma. Im normalen Leben heißen wir einfach Borris, Fabian, Jana und Marie. Aber Borris meinte, wenn wir schon auf eine Alp gehen, dann müssen wir auch kuhtaugliche Namen tragen. Borris und seine tollen Ideen!

Im Gegensatz zu uns sind Schweizer Bauern klug. Ein aufstrebendes Bergvolk. Aufstrebend schon deshalb, weil sie zu allem „auf“ sagen. „Kann man hier CDs kaufen?“ – „Nein, da müssen Sie auf Landquart gehen, dort gibt es einen Supermarkt.“ Jetzt mag man die Schweizer für umständlich und zurückgeblieben halten, da man im Dorf nicht einmal CDs bekommt. Aber nein! Sie haben stattdessen die Alp erfunden. Und das heißt, sie schicken ihre Kühe mit ein paar einfältigen Berlinern auf den Berg und lassen sie die ganze Arbeit machen. Derweil bleiben sie selbst unten im Dorf, mähen ein bisschen Heu und vermitteln vorbeikommenden Touristen ein idyllisches Bild. Auf dass die nächsten Städter darauf reinfallen und auch mal auf die Alp gehen wollen. Sehr gewieft!

Wir jedenfalls sind darauf hereingefallen. Und so kam es, dass wir uns eines schönen Morgens Anfang Juni zu Füßen eines 3000 m hohen Gletschers wiederfanden, umringt von 120 Kühen und ebenso vielen Kälbern. Anfangs hatte das Ganze noch den Charakter eines Volksfestes. Jeder Bauer hatte neben seinen fünf oder sechs Kühen seine gesamte Familie mit auf den Berg geschleift. Kinder spielten Gummitwist und ganze Familien picknickten auf unserem Dach. Und zwischen allem wuselten diese ganzen Kühe herum. Wir bekamen den Beköp ausgehändigt. Und hier endlich löste sich das Rätsel, was der „Beköp“ war, von dem immer alle redeten: ein Pick-up! Und dann gingen alle wieder. Und ließen uns mit den ganzen Kühen allein! Was sollten wir denn jetzt machen?

Am nächsten Morgen standen wir um drei Uhr auf. Drei Uhr! Waren wir noch zu retten? Mir war, als hätte Borris was von frühestens fünf Uhr und alles halb so schlimm gesagt! Es dauerte noch Stunden, bis es endlich hell wurde. Irgendwie fanden Fabian und Borris trotzdem im Dunkeln einen Großteil der Kühe, schafften es nach zweistündigem Rodeo, sie im Stall anzubinden und zu melken, und Marie und ich standen plötzlich vor einem riesigen Kessel Milch. 1800 Liter! An einem Tag! Kann sich jemand vorstellen, wie viel das ist? Man stelle sich einen randvollen mittelgroßen Whirlpool für sechs Personen im Spaßbad vor, dann hat man in etwa die richtige Größenordnung vor Augen. Nur waren wir leider nicht zur Entspannung und zum Baden hier, sondern sollten daraus irgendwie Käse machen. Also schütteten wir unter Aufsicht von Das kann-man-so-machen-Günther Milchsäurebakterien in die Milch, heizten das Ganze fleißig mit dem Ofen, der unsere Käserei in eine an allen Ecken und Enden zischende und dampfende Waschküche verwandelte, und taten dann das Lab, das die Milch in eine schnittfeste Masse verwandelt, ins Kessi. Und hatten anschließend 20 Minuten Zeit, während die Milch dick wurde. Schauten uns verwirrt um, grad wie in einem Traum, und stellten entsetzt fest, dass die Butter ja nun schon viel zu lange im Fass geschlagen wurde. Argh! „Günther, was sollen wir jetzt machen?“ – „Ja, so wie ihr kann man’s schon machen.“ – „Ja, aber was sollen wir denn wie machen?“ – „Doch, so wie ihr kann man’s schon machen.“ Wir waren dem Wahnsinn nahe. Günther, der die Alp die letzten zehn Jahre betrieben hatte und uns nun zeigen sollte, wo es langging, war in etwa so auskunftsfreudig wie das Butterfass. Während ich noch fassungslos vor einem 30-kg-Butterberg stand, den ich irgendwie mittels Holzbrettchen und Draufschlagen vom Wasser befreien und in formschöne 5-kg-Blöcke verwandeln sollte, ertönte aus dem Nebenraum Maries hysterisches Geschrei.

Der schlimmste anzunehmende Unglücksfall ereilt uns natürlich prompt am ersten Tag. Die Harfe ist ausgefallen! Die Harfe ist in diesem Fall kein himmlisches Musikinstrument, sondern ein Metallrahmen mit aufgezogenen Drähten. Normalerweise soll das elektrische Rührwerk die Harfe drehen. Dadurch wird die nun eingedickte Milch in kleine Quadrate geschnitten. Aus diesen Klumpen, die Bruch genannt werden, tritt Molke aus, während der Bruch sich immer weiter zusammenzieht und am Ende das Kasein, das Milcheiweiß, zurückbleibt. Daraus wird dann der Käse. So weit die Theorie. Nur leider drehte sich unsere Harfe nicht. Sie hing da im Kessi und schaute uns genauso ratlos an wie wir sie. Günther war natürlich nirgendwo zu sehen.

„Wenn die Harfe sich nicht drehen will, müssen wir eben den Bruch gegen die Harfe schieben.“ Das klang ganz einfach, aber schon nach wenigen Minuten hingen wir am Rande der Erschöpfung über dem Kesselrand, waren über und über mit Molke und Käsebruch bekleckert und fragten uns, wie lange wir wohl noch durchhalten könnten, bevor wir selber ins Kessi stürzen würden. 1800 Liter sind doch eine ganz schöne Menge, wenn man sie von Hand bewegen muss. Und als wir gerade glaubten, keine Sekunde länger durchhalten zu können, begann sich die Harfe wie durch ein Wunder zu drehen. Ratlos, aber überglücklich schauten wir uns an. Später erfuhren wir, dass die Harfe wohl irgendwo gegen gestoßen sein muss und sich daraufhin selbst ausgeschaltet hat. Und weil eine Zeitschaltuhr eingebaut ist, konnte man sie auch nicht wieder anstellen. Aha.

Nachdem also der Bruch jetzt klein geschnitten war, wurde er gerührt und dabei erwärmt. So zieht sich das Eiweiß mehr und mehr zusammen, und noch mehr Molke wird herausgedrückt. Dadurch, dass die Flüssigkeit vom Eiweiß und vom Fett getrennt wird, ist der Käse am Ende haltbar. Das haben sich unsere Vorfahren eigentlich schlau ausgedacht. Aber haben sie auch überlegt, wie man so eine Masse Bruch aus dem Kessi bekommt? Wir konnten das ja schlecht rausschöpfen, und ich sah nirgends einen Ablauf!?

Doch auch dafür gab es eine Lösung. Die beiden Schleier, die ich am Vortag nach dem Waschen zum Trocknen aufgehängt hatte, waren nämlich nicht für eventuelle Hochzeiten gedacht, sondern wurden auf riesige Metallrahmen gezogen. Während Marie das ganze Konstrukt am Kessiboden entlangführte, hielt ich die Enden an der anderen Seite fest. Wenn das klappt, befindet sich ein Großteil des Bruchs danach im Tuch. Dann wurde das Tuch vom Rahmen genommen, die 4 Ecken an einen Kran geknotet, und meine Aufgabe war es jetzt, diesen Kran mittels Seilzug übers Kessi zu hieven. Dann fuhren wir ihn an einer Schiene in die andere Ecke des Raumes, senkten den Kran in eine viereckige Wanne ab und beschwerten den Bruch mit Metallplatten und Gewichten. Kurz darauf wurde die mitt-lerweile feste Masse in Blöcke geschnitten, und die stopften wir dann in runde Formen, wo sie wieder mit Gewichten beschwert wurden. Dann mussten die Käse, die jetzt auch schon wie Käse aussahen, regelmäßig gewendet werden, damit sie nicht an den Formen festkleben würden und die Molke gleichmäßig ablaufen könnte. Irgendwann war es dann geschafft. Eine Stunde schrubbten wir noch die Käserei, dann war Mittag.

Nach zehn Stunden lag der Vormittag hinter uns. Mittagessen fiel aus Mangel an Beteiligung aus. Fix und fertig steuerten wir unsere Betten an, bevor es zwei Stunden später wieder hieß: Kühe einsammeln, Rodeo, melken. So sollte das nun tagein, tagaus weitergehen. Ob auf unserer Alp die Sonne schien, konnten wir nicht feststellen. Wenn wir aufstanden, war es stockdunkel, wenn wir kästen, waren die Fenster so beschlagen, dass man gar nichts sah, danach waren wir so fertig, dass wir direkt die Betten ansteuerten. Unseren Hirten ging es nicht viel besser. Im Dustern stolperten sie durch die Berge und suchten Kühe (ohne Saskia, unseren Hund, hätten sie keine Chance gehabt), dann einstallen und melken, dann Zäune bauen und die Kälber versorgen ... sie waren auch gut beschäftigt. Und jeden Tag landeten mehr Käse in unserem Keller. Die mussten gepflegt werden. Täglich rieben wir sie mit einer Lösung aus Salz und speziellen Bakterien ein, damit sie eine schöne Rinde bekämen. Dazu standen Marie und ich am Tisch und schmierten die Käse, die Jungs trugen die Bretter zu uns und wieder zurück ins Regal. Damit uns die Zeit nicht lang wurde, fanden im Käsekeller tagtäglich Verhöre statt. Nur Borris, der uns die ganze Sache eingebrockt hatte, war auffallend selten im Folterkeller zu sehen. Als Oberhirte musste er angeblich ständig zäunen.

Nach erstaunlich kurzer Zeit hatten wir uns eingewöhnt. Wir standen immer noch um drei Uhr auf, aber wir grübelten nicht mehr darüber nach, wie uns das eigentlich passieren konnte. Wir taten es einfach. Die Kühe lernten langsam, in welchem Stall sie wohnten, und veranstalteten kaum noch Rodeos. Aus der Milch wurden jeden Tag wieder Käse und Butter, auch wenn uns das die ersten Tage wie ein Wunder erschien. Und wir begannen, beim Käsen zu philosophieren. Stellten zum Beispiel fest, dass Pferde zu den Nagetieren gehören. Und das kam so: Marie fragte, was wir wohl tun sollten, wenn wir unser Auszugtuch, mit dem wir den Bruch aus dem Kessi hoben, aus Versehen zerschneiden würden. Es gab dafür nämlich keinen Ersatz. Da sagte ich: „Ganz einfach, wir halten einfach einen von den Jägern an, die hier regelmäßig aufkreuzen, und klauen ihnen ein Netz.“ Marie meinte, die hätten ja gar keine Netze. Aber wenn sie keine Netze hatten, wie sollten sie dann Murmeltiere fangen, die hier in Massen herumsprangen? Dazu legten sie bestimmt einfach ein Netz vor den Ausgang des Baus, dahinter ein paar Mohrrüben, und schon hatten sie ein Murmeltier. Das leuchtete Marie ein, denn alle Nager mögen Möhren: Meerschweinchen, Karnickel, Pferde … und seitdem gehören Pferde zur zoologischen Gattung der Nagetiere. Das ist doch logisch. Ob Murmeltiere tatsächlich auf diese Art und Weise erlegt werden, konnten wir leider nie beobachten. Manchmal geht es auch weniger friedlich zu. Die Zusennin, das bin ich, neigte nämlich nicht nur dazu, unsinnige Lieder zu erfinden, sondern wurde manchmal, wenn sie im Morgengrauen dem Käse die Schwänzchen schnitt und sie badete, regelrecht rebellisch. Wie, der interessierte Leser weiß nicht, dass Käse Schwänze haben, die man schneiden muss? Doch, ich schwöre, genau so ist es. Ich machte das jeden Morgen. In den Formen liegt der Käse auf Matten aus Plastik, die aussehen wie Fliegengitter. Das ist so, damit auch die restliche Molke noch ablaufen kann, während die Käse von Gewichten gepresst werden. Und weil die runden Matten nicht ganz so groß waren wie die Formen, blieb beim Käse ein Rand. Und in diesem Rand können sich Bakterien ansiedeln, die man da nicht haben will. Also schnitt man ihn mit einem eleganten Schwung mittels eines Kartoffelschälers ab, und übrig blieben die Schwänze. Die kriegten dann die Hühner. Eines Morgens stand ich also beim rituellen Schwänzeschneiden im Keller und ließ den Blick über die fertigen Käse schweifen. Auf jedem stand das Datum, damit man weiß, wie alt sie sind. Mal schrieb Marie es drauf, mal machte ich das. Und wie ich so gedankenverloren dastand und die Käse betrachtete, fiel mir auf, dass man am Datum die Herkunft des Schreibers erkennen konnte. Während meine Zweien gerade, aufrecht, schlicht und unverschnörkelt waren, wiesen die von Marie Schlenker und anderen kapitalistischen Zierat auf. Meine Zweien waren eindeutig sozialistisch, ich komme ja auch aus dem Osten und war Pionier, und die von Marie, die ja aus Bremen kommt, waren eindeutig kapitalistisch. Das wollte Marie nicht auf sich sitzen lassen, und wir diskutierten so lange, bis uns einfiel, dass es ja auch im Sozialismus Schnörkel gibt. In Kuba nämlich. So einigten wir uns darauf, dass Marie westsozialistische Zweien schrieb und ich ostsozialistische.

Dass wir uns einigten, war wichtig, denn wir mussten den Hirten gegenüber Geschlossenheit demonstrieren. Wir hatten nämlich den Antrag eingebracht, die Aufstehzeit auf halb vier zu verschieben. Aber unsere Hirten waren stur. Sie hatten sich mental scheinbar schon den Kühen angepasst. Die musste man auch beharrlich immer wieder stupsen, damit sie aufstanden, um gemolken zu werden. Also mussten wir unseren Antrag auch nur mit schöner Regelmäßigkeit einbringen, bis die Hirten endlich nachgaben. Borris untermauerte unsere Die-Hirten-werden-wie-Kühe-Theorie aufs Vortrefflichste, indem er wie einige unserer Kühe durch die Gegend hinkte. Viel Mitleid hatte er von uns nicht zu erwarten, denn wer hatte uns denn diese ganze Geschichte eingebrockt?

Mit Fabian hatten wir schon etwas mehr Mitleid. Der führte scheinbar einen Privatkrieg gegen unsere Schweine. Weil beim Käsen ja viel Molke zurückblieb, hatten wir Schweine auf der Alp. Die sollten die Molke saufen und davon schön fett werden. Doch statt brav ihre Molke zu trinken, brachen sie abends regelmäßig aus, wenn man gerade gemütlich in der Küche saß, zufrieden mit sich und der Welt, weil man einen weiteren Tag überlebt hatte. Fabian und Borris versuchten, sie dann zurück in ihren Stall zu jagen, aber sie brachen immer auf Fabians Seite durch. Neulich wollte er sie mit einer Holzlatte zurückhalten, da haben sie ihn glatt über den Haufen gerannt. Wir saßen in der Küche und haben Tränen gelacht. Da die Leute aus der Käserei nicht zu den Schweinen durften, weil diese Bakterien hatten, welche beim Käse Fehlgärungen verursachen könnten, beobachteten wir die abendliche Jagd immer durchs Fenster. Und niemand von uns hätte sich gewundert, wenn die Schweine bald ein mysteriöses Ende gefunden hätten. Wir mussten Fabian auf alle Fälle im Auge behalten. Und das taten wir auch. Am Ende ist niemand von uns komplett durchgedreht. Alle Schweine und Kühe überlebten und auch wir kehrten zurück in eine Welt, die uns sehr fremd geworden war. In eine Welt, wo ausgeschlafene Menschen Flipflops an den Füßen trugen statt Ringe unter den Augen. Eine Welt, wo Menschen abends im Café saßen, statt in Gummistiefeln Schweinen aufzulauern. Eine Welt, zu der wir vor kurzem noch gehört hatten und die uns fremder geworden war als das exotischste Land. Wir hatten sie eigentlich nicht vermisst. Welche tolle Idee Borris wohl demnächst ausbrüten wird?

Appelhülsen statt Amerika

Marianne Ullmann

Jenni hätte sich gern verliebt. Stattdessen sollte sie die wichtigsten Ferien ihres Lebens bei Tante Hilde und Onkel Karl mit irgendwelchen komischen Cousins in einem Kuhdorf verbringen.

Appelhülsen. Der Zug hielt. Jenni und Arlington stiegen aus. Ein warmer Juliwind strich um die Ecken des Bahnhofsgebäudes. Jenni nahm die Ratte von der Schulter und stopfte sie in den Jackenärmel.

„Hier bleiben wir nicht lange, Arlington, das verspreche ich dir“, sagte sie trotzig und stapfte um das Gebäude herum, wo sich Löwenzahn breitgemacht und seine Wurzeln in den Mauerfugen vergraben hatte.

Die Gespräche mit Mutter gingen ihr durch den Kopf, der sie hatte versprechen müssen, die Ferien hier zu verbringen, damit sie beruhigt zur Kur fahren konnte. Geht das so in Ordnung? Hand drauf! Jenni war einfach ins Badezimmer gerannt und hatte sich ihre Haare abgeschnitten, so kurz, bis sie davon überzeugt war, dass es auch die anderen hässlich fanden. Reichlich Gel. Fertig!

Jenni holte ihren Fotoapparat aus der Tasche. Ohne ihn und ohne Arlington ging sie nicht aus dem Haus. Sie waren ein Team: Arlington witterte die verborgenen Dinge, Stimmungen wie Angst und Gefahr oder auch freudige Erwartung. Die Fotos spiegelten die Außenwelt. Mit dem Blick durchs Objektiv bekam Jenni eine andere Sicht auf die Dinge. Man konnte selbst etwas in den Mittelpunkt rücken und damit einen eigenen Eindruck gewinnen. Sich seine eigene Meinung bilden, das war Jennis Anliegen.

In der Ferne kam ein Auto, ein Kleinbus. Drinnen drei Köpfe. Eine Frau, ein Junge, ein Hund. Tante Hilde stieg eilig aus und drückte Jenni an ihren knochigen Körper.

„Paule kennst du ja noch, oder?“

„Nein“, sagte Jenni, „ich war noch nie hier.“

„Ist das wahr?“

Jenni setzte sich nach vorne, hinten saß Paule. Er war bestimmt schon zwanzig, sah aber aus wie zwölf. Er hatte blonde Stoppelhaare, Augen wie ein Husky und einen Mund, den er wohl nicht schließen konnte. Es sah aus, als würde er ständig lachen.

Tante Hildes Aufmerksamkeit galt dem Straßenverkehr, den es aber gar nicht gab. Sie waren allein auf der Landstraße. Tante Hilde starrte, mit der Nase fast an der Frontscheibe, auf die Fahrbahn.

„Wir bekommen heute neue Gäste. Ferienbeginn, weißt du?“

„Gäste?“, fragte Jenni. „Sind außer mir noch welche da?“ Sie hatte keine Lust, sich auch noch auf andere Leute einzustellen und womöglich in der Verwandtschaft herumgereicht zu werden.

„Ja, mindestens zehn. Unsere alten Gebäude sind jetzt alle Ferienwohnungen. Wirst staunen.“

Der Hund, ein echter Dorfhund, wie Paule versicherte, schnupperte ausgiebig in Jennis Nacken nach Arlington. Jenni verschränkte die Arme und presste ihren Rücken gegen den Sitz.

„Nach dem Sägewerk rechts. Da! Siehst du die Gatter von den Ponys? Da müssen wir rein“, rief Paule aufgeregt und sichtlich stolz.

Jenni blieben die Worte im Hals stecken. Es war gigantisch. Sie vergaß ihre Anspannung. Hier würde man sich nicht auf die Füße treten. Da konnte man um Häuserecken verschwinden und seine Ruhe finden. Fotografieren – und dann den Abgang machen.

Mindestens acht kleine Häuser, dann Ställe, Spielplätze, Pferdeboxen, Abtrennungen zum Longieren, dazwischen große, alte Bäume, die Schatten warfen, dahinter Schafweiden und das Umland, das gehörte sicher auch dazu. Mitten im Hof ein überdachter Grillplatz. Ein Feuer brannte, Würstchen brutzelten auf dem Rost. Eine Schar Kinder tobte herum.

„Da ist ja meine Lieblingscousine“, sagte eine Männerstimme. „Ich bin Frank.“

„Ja, weiß ich“, sagte Jenni. Sie kannte ihn von Fotos. Frank war Paules Bruder und das absolute Gegenteil von ihm. Er war fast zwei Meter groß, hatte schwarze, ziemlich lange Haare und lachte nicht. Jedenfalls nicht immer.

„Kennst du dich mit Computern aus?“, fragte er unvermittelt. „Kannst mitkommen, muss nach Hiddingsel zum Schweinemastbetrieb. Einmal am Tag.“

Der Schweinemastbetrieb war auf dem Hof von Franks Schwiegereltern untergebracht. Frank hatte modernste Computertechnik eingesetzt für die Fütterung über die Silos, die Belüftung und den Abfluss der Fäkalien in eine Grube. Im Fall einer technischen Störung würde der Alarm aufs Handy gesendet, erklärte Frank und hoffte, damit das Image der Landjugend mächtig aufpolieren zu können. Frank zeigte Jenni, wie die Computer-überwachung funktionierte, die grafischen Darstellungen der Fütterungsberechnungen. Mit Hilfe der Kameras und einem Mikrofon konnte man in die Ställe hineinsehen und hören, ob alles in Ordnung war. Frank klickte, schaltete, redete. Jenni sah Hunderte von Schweinen, die zufrieden fraßen und grunzten. Aus dem Fernsehen kannte Jenni allerdings auch andere Bilder. Sie war irritiert.

„Deine Kamera immer dabei?“, fragte Frank und musterte sie dabei mit leicht heruntergezogenen Mundwinkeln. Da sah er aus wie sein Bruder.

„Ausmisten ist out?“

„Total“, sagte er und lachte laut. „Gülle haben wir natürlich. Die kommt auf die Felder. Aber nicht zu viel. Das Verhältnis zum Boden muss stimmen. Aber das lernt man heute ja schon in der Schule.“

Frank machte eine Pause, setzte eine ernste Miene auf und redete stockend weiter.

„Soll alles noch geändert werden, möchte umrüsten auf Bio – ist aber nicht so einfach.“

Arlington war verschwunden.

„Was ist? Wir müssen los!“ Frank saß schon im Auto. Jenni rief, schnipste mit den Fingern, klatschte in die Hände, quiekte, schnaubte und schnalzte mit der Zunge.

„Deine Ratte?“, fragte Frank. „Wundert mich, dass sie nicht eher abgehauen ist. Halgrim mit seinem Schnuppern, der hat’s verraten.“

Jetzt platzte Jenni der Kragen. Sie stemmte beide Hände in die Taille und ließ ihrem Ärger freien Lauf: „Ihr seid so gemein, arrogant und hinterhältig. Ihr tut nur so hilfsbereit und lasst einen dann voll gegen die Mauer laufen.“

Frank blieb ruhig, öffnete die Heckklappe. In einem kleinmaschigen Käfig knabberte Arlington irgendwelche Körner.

„Tiertransporte jederzeit“, sagte Frank und grinste breit. – „Alles o.k.?“

Jenni nickte. Sie spürte, wie sie rot wurde. Ihr Joker war verspielt. Sie hatte gedacht, dass sich alle vor Arlington ekeln würden und sie deswegen zurück nach Hause schickten. Weit gefehlt.

„Wenn du willst: Heute Abend kannst du ihn kennen lernen“, sagte Frank. „The best photographer from the Rockies. Mein Kumpel Kyle aus Kanada – hilft diesen Sommer beim Nachbarn im Sägewerk aus. Der ist genauso verrückt wie du.“

Jenni schaute Frank von der Seite an.

„Glaubst du nicht, was?“

Jenni hatte sich verliebt. Arlington hatte es gespürt, die ganze Nacht hindurch war er aktiv gewesen.

Jenni stand auf und beugte sich zu Arlington herunter.

„Kyle heißt er. Hörst du? KEIL.“

Sie zog sich rasch an, um sich ausgehungert an den Frühstückstisch zu begeben. Marita – Franks Frau – hatte in der Küche alles vorbereitet. Es roch nach frischem Brot. Marita war schon zum Markt gefahren, um ihre Hexenkräuter aus ihrem Hexengarten zu verkaufen, wie jeden Samstag im Sommer.

„Morgen um zehn bei der großen Maschinenhalle. Volle Ausrüstung!“, hatte Kyle noch gerufen, als er sich mitten in der Nacht aufs Fahrrad geschwungen hatte und zum Sägewerk gefahren war, wo er auch schlief.

Angefangen hatte alles mit einer Frage: „Warum heißt deine Ratte Arlington?“ Und Kyle hatte dabei ganz zart mit einem Finger über das graue Fell gestrichen.

Jenni hatte geantwortet: „Weil ich nach Amerika möchte. New York und so. It’s a dream.“

Kyle fing an zu erzählen, dass Frank vor zehn Jahren für ein Jahr in Kanada gewesen war, auf dem Gestüt seiner Eltern. Appaloosa-Pferde, die früher viel von Indianern geritten wurden. Jetzt sei er, Kyle, nach Deutschland gekommen, um hier die Landwirtschaft zu studieren. Hätte letztes Jahr bei Frank auf dem Hof gearbeitet. Dieses Jahr bliebe er sechs Wochen im Sägewerk. Er wollte einiges bewegen, verändern, auch in Kanada. Hier in Deutschland wäre auch vieles im Umbruch. Kleine Betriebe könnten sich nicht mehr halten. Man müsste sich andere Einnahmequellen überlegen. Neue Ideen haben. Artgerechte Tierhaltung, gut und schön, aber das müsste man auch den Menschen näherbringen. Das Bewusstsein schärfen für das Zusammenspiel von Natur und menschlichem Verhalten. Und dann die Holzwirtschaft. Alles wichtige Themen, auch in Kanada.

Kyle sprach engagiert und voller Leidenschaft. Die Worte – englisch und deutsch. Jenni hatte zugehört, nur zugehört, war fasziniert von seinen Gedanken und ließ sich mitreißen.

Auch Kyle schien einen Traum zu haben. Jenni ließ sich inspirieren von ihm, fühlte, dass sich ein riesiges Tor geöffnet hatte und sie zusammen in eine neue Landschaft treten würden. Arlington war wieder in Jennis Jackenärmel verschwunden. Kyles Hand war ihm für einen Moment gefolgt.

„Heute ist der 4. Juli“, hatte Kyle gesagt, „in Amerika ist Independence Day.“

Draußen schien die Sonne. Jenni schnappte sich den kleinen Rattenrucksack und die Fototasche. Das Licht war gerade richtig für gute Außenaufnahmen. Der Hühnerauslauf. Braune Rodeländer scharrten auf der durchgepickten Wiese und gackerten gelassen vor sich hin. Jenni streute ein paar Körner aus, legte los. Sie machte Hühnerporträts: mit stolz gerecktem Hals oder misstrauischem Blick; mit schlappen Kämmen und offenen Schnäbeln oder mit einem Korn auf der kleinen Hühnerzunge.

Und weiter, bis hinter die letzten Ställe. Es roch streng nach Schwein. Jenni zückte ihren Fotoapparat und erschrak. Keine gewöhnlichen rosa Borstentiere waren hier zu sehen, sondern schwarze Winzlinge, sahen eher aus wie kleine elektrische Rüben, vorne eine Steckdose, hinten die Ringelschnur. Das Ganze auf Stöckelschuhen, um den Bauch vom Boden fernzuhalten. Eines versuchte vergeblich, auf einen Ziegelstein zu klettern. Die Beinchen waren zu kurz.

Dann steckte Jenni fest. Bis zum Knie in Jauche, sie sackte ganz langsam auf den Rücken. Automatisch riss sie die Arme hoch, um ihre wertvolle Fotoausrüstung zu retten.

„Jaujau, bin chrade dabei, ’ne Dränasche zu bauen, Loch is schon fäädich.“ Onkel Karl kam mit der Schubkarre um die Ecke. Als er Jenni im Modder liegen sah, schob er seine Mütze nach hinten und rieb sich die Stirn.

Jenni schwieg aus Angst davor, dass ein Tropfen auf ihre Lippen gelangen könnte. Sie merkte bloß noch, dass Arlington das Weite suchte. Dann zog Onkel Karl sie heraus.

Zaungäste, eine Horde Kinder und Erwachsene, hatten sich versammelt, sie grölten und klatschten.

„Tau-chen! Tau-chen! Kostet ’ne Runde heute Abend“, riefen einige.

Frisch geduscht, mit einer viel zu weiten Hose, die sie sich aus Maritas Schrank geliehen hatte, die nassen Haare klebten ihr am Kopf, stand Jenni pünktlich an der Halle. Sie hatte sich geschrubbt, bis die Haut rot und quaddelig war, und sie anschließend mit irgendeiner Blumencreme, Veilchen oder Rosen, eingecremt. Der Jauchegeruch aber stieg ihr immer noch in die Nase.

Ihr erstes Date. Es war einfach zu peinlich! Sie kniff die Augen zusammen, damit keine einzige Träne herauslaufen konnte.

Plötzlich spürte sie, wie ihre Lippen ganz zart berührt wurden. Ihre Augen blieben geschlossen. Jemand nahm sie bei der Hand.

„Come.“

Sie ließ sich leiten. Von weitem hörte sie Kinderstimmen. „Spielverderber! Spielverderber!“

„Open. Here we are!“