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Beschreibung

Im Oktober 2022 erhält die Menschenrechtsorganisation MEMORIAL den Friedensnobelpreis. Noch am selben Tag wird die Beschlagnahmung des Büros in Moskau angeordnet. Nach der Razzia prangt überall auf Möbeln und Materialien der Buchstabe «Z»: ein Mahnmal. Der Welt ist das Netzwerk MEMORIAL durch seine beispiellose Aufklärungsarbeit bekannt, Moskau jedoch sieht in ihm vor allem eins: Einen Störfaktor, den es auszuschalten gilt. Es ist nicht der erste Angriff auf das Gedächtnis der Nation, den die Organisation erlebt und erfolgreich abwehrt. Hier schildert sie die Chronik ihrer Kämpfe. Memorial ist die unverstummte Stimme der kritischen Öffentlichkeit in Russland: Seit 30 Jahren kämpft die NGO für eine Aufarbeitung der totalitären Herrschaft in der ehemaligen Sowjetunion und für die Verbesserung der aktuellen Menschenrechtssituation in Russland. Dafür erhielt sie im Jahr 2022 den Friedensnobelpreis. Nachdem das Netzwerk als «ausländische Agentenorganisation» diffamiert und offiziell aufgelöst wurde, führen die Mitglieder ihren mutigen Einsatz im Exil fort. Einige von ihnen haben in Berlin die Organisation Zukunft MEMORIAL e. V. gegründet. Doch wie kann die Arbeit weitergehen, wie die Erinnerung der Zukunft gestaltet werden? Um diese Frage zu beantworten, hat Zukunft Memorial über ein Dutzend Expertinnen und Experten aus den Bereichen historische Forschung, Publizistik und Literatur um sich versammelt: Gemeinsam erinnern Aleida Assmann, Anne Applebaum, Karl Schlögel, Gerd Koenen, die Literaturnobelpreisträgerinnen Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch u.a. an die Aktionen und Erfolge der mutigen Dissidentinnen und Dissidenten. Der Streit um das kritische Gedächtnis Russlands wird fortgeführt – obwohl und gerade weil das erste Opfer des Kriegs bekanntlich die Wahrheit ist.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Irina Scherbakowa und Filipp Dzyadko, Elena Zhemkova (Hrsg.)

MEMORIAL

ERINNERN IST WIDERSTAND

C.H.BECK

Übersicht

Cover

INHALTSVERZEICHNIS

Textbeginn

INHALTSVERZEICHNIS

Titel

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT DER HERAUSGEBER

MEMORIAL. DREISSIG JAHRE KAMPF FÜR DAS ERINNERN

(IRINA SCHERBAKOWA)

WER WAR TREIBER DER PERESTROIKA?

DIE GRÜNDUNG VON MEMORIAL UND DER BEGINN DES KAMPFES UM DIE ERINNERUNG

DIE «ARCHIVREVOLUTION» DER 1990ER JAHRE

DIE 1990ER JAHRE UND DAS ÖFFENTLICHE GEDENKEN AN DIE REPRESSIONEN

DIE UNBEWÄLTIGTE VERGANGENHEIT

PUTINS AMTSANTRITT UND DIE NULLERJAHRE

DAS «GESETZ ÜBER AUSLÄNDISCHE AGENTEN» UND DIE VERSCHÄRFUNG DER REPRESSIONEN

DIE AUFLÖSUNG UND DER KRIEG

NOBELPREISREDE

(JAN RACHINSKY)

BILDER AUS DER MEMORIAL-SAMMLUNG

DIE ZUKUNFT BEGINNT MIT ERINNERN!

(ALEIDA ASSMANN)

EINE ANDERE DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG

(KARL SCHLÖGEL)

DIE ANGST GLÜHT UND DER MUND GEFRIERT

(HERTA MÜLLER)

«ES KOMMT EINE NEUE GENERATION»

(NICOLAS WERTH)

– GESPRÄCH: FILIPP DZYADKO

ES GIBT EIN ANDERES RUSSLAND

(ANNE APPLEBAUM)

IM WIDERSCHEIN DES KRIEGES. GEDANKEN ZUR ROLLE VON MEMORIAL IM EXIL

(GERD KOENEN)

«ES IST EIN VERSAGEN DER MENSCHHEIT, DASS ES IN RUSSLAND KEINEN PROZESS WIE IN NÜRNBERG GAB»

(TOMAS VENCLOVA)

– GESPRÄCH: MIKA GOLUBOWSKI

Die sowjetische Besatzung Litauens und die Deportationen

Der Widerstand

Begegnungen mit Bürgerrechtlern

Was heute zu tun ist

«MEMORIAL WIRD GEBRAUCHT, UM ZWISCHEN BEIDEN VÖLKERN WIEDER GUTE BEZIEHUNGEN HERZUSTELLEN»

(WSEWOLOD RETSCHYZKYJ)

– GESPRÄCH: EVGEN ZAKHAROV

«RUSSLAND IST VIEL MEHR ALS PUTIN UND SEIN REGIME»

(JONATHAN LITTELL)

– GESPRÄCH: SASCHA KULAJEWA

«ICH BIN EIN SELTENER VOGEL – EIN ECHTER ANTI-PUTIN-RUSSOPHILER»

(ADAM MICHNIK)

– GESPRÄCH: FILIPP DZYADKO

Stalins Tod

Biografische Wendepunkte

Gefängniserfahrungen

Die Gründe für den Zerfall der Sowjetunion

Bücher, die beim Verständnis der Dissidentenbewegung helfen

Der Unterschied zwischen der Dissidentenbewegung in Russland und in Polen

Nawalny und seine Rückkehr nach Russland

Die Bekanntschaft mit Nawalny

Die gegenwärtige Rolle von Memorial

«MAN MUSS DEN LEUTEN HELFEN ZU BESTEHEN. DAMIT SIE IN DIESEN ZEITEN NICHT DEN HALT VERLIEREN, NICHT ZERBRECHEN»

(SWETLANA ALEXIJEWITSCH)

– GESPRÄCH: FILIPP DZYADKO, ELENA ZHEMKOVA

Die Proteste gegen die Präsidentschaftswahlen in Minsk

Der unfreie Mensch

Die Möglichkeit von Veränderungen

Die neunziger Jahre, die Kaffeemühle als Rettung vor dem Bürgerkrieg und die Ablehnung des Kapitalismus

Brauchen wir die Erfahrung des Leidens?

Der Mensch von heute

Kann man in der Hölle ein Mensch bleiben?

Memorial und die menschliche Dimension der Geschichte

Die Kultur der Heldenverehrung

Tod und Schönheit

Warum es in der Ukraine anders ist

Täter und Opfer

Das Geheimnis menschlichen Lebens und eine Art, die Welt zu sehen

Antworten und Hoffnung

«ICH GLAUBE DARAN, DASS GOTT DIE MENSCHHEIT NICHT VERLASSEN HAT»

(MYROSLAW MARYNOWYTSCH)

– GESPRÄCH: EVGEN ZAKHAROV

VERZEICHNIS DER AUTOREN, HERAUSGEBER UND PERSONEN

AUTOREN (IN DER REIHENFOLGE DER BEITRÄGE)

NOBELPREISREDE

HERAUSGEBER

INTERVIEWER

IN DEN BEITRÄGEN ERWÄHNTE PERSONEN (IN DER REIHENFOLGE DER ERWÄHNUNG)

Zum Buch

Vita

Impressum

VORWORT DER HERAUSGEBER

Totschky opory, tragende Punkte – seit drei Jahren schon ist dieser Ausdruck auf Russisch sehr oft zu hören. Es gibt diese tragenden Punkte offenbar nicht, alle suchen danach. Seit dem 24. Februar 2022, an dem der russische Großangriff auf die Ukraine begann, sind sie verschwunden.

Verzweifelt, schuldbewusst, entsetzt stellen die Menschen sich Fragen: Wie konnten wir diese Katastrophe zulassen? Was sollen wir jetzt tun, während das eigene Land einen furchtbaren Krieg führt und sich die Gefängnisse mit denen füllen, die sich gegen ihn stellen? Welche Zukunft hat unser Land? Worauf sollen wir uns stützen, wenn alle tragenden Elemente herausgerissen worden sind?

Diese Fragen haben größte Bedeutung für Russland. Aber auch anderswo sind sie heute aktuell. Kriege, das aggressive Trommeln für «traditionelle Werte», Gewalt und Grausamkeit, die Einteilung in «uns» und «Fremde», die Atomisierung der Gesellschaft – all das breitet sich gerade weltweit aus. Was empfindet man als Zeuge dieser Entwicklung? Wie lässt sich dieser Gemütszustand charakterisieren? Historiker, die später einmal versuchen, die 2020er Jahre zu deuten, werden womöglich von einer «neuen Ratlosigkeit» sprechen. Vielleicht auch von «Hilflosigkeit» oder «Sprachlosigkeit».

Manchmal scheint es, als seien nur die rabiaten Zwischenrufe zu hören, die an die niedersten Bedürfnisse des Menschen appellieren und das Schlechte in ihm an den Tag bringen. Sie werden immer lauter, sie sollen uns sprachlos machen und zur Weißglut bringen.

Deshalb ist es so wichtig, durch diesen Lärm zu dringen. Anderen Stimmen Gehör zu verschaffen, ihnen Raum zu geben, in dem sie existieren können.

Zwei Monate vor der russischen Invasion in die Ukraine hat das Putin-Regime die Gesellschaft Memorial aufgelöst. Eine Körperschaft kann man auflösen, das Gedächtnis und die Gedächtnisarbeit nicht. Im Sommer 2022 wurde in Berlin die Organisation Zukunft Memorial gegründet.

Zukunft Memorial arbeitet – wie auch die anderen Organisationen des Memorial-Netzwerks, die in verschiedenen Ländern aktiv sind – weiter daran, die sowjetischen Repressionen und den Widerstand gegen die Diktatur zu erforschen und davon zu erzählen. Wir veranstalten Ausstellungen, sammeln Dokumente und initiieren Bildungsprojekte in mehreren Sprachen. Und wir suchen Antworten auf die Fragen, die die heutige Zeit an uns stellt: Wie kann das Gedächtnis zu einer besseren Zukunft beitragen? Was ist in diesen dunklen Zeiten zu tun?

Dafür haben wir unsere Freunde um Hilfe gebeten. Wir wollten die Suche nach Antworten mit ihnen zusammen angehen. So ist dieses Buch entstanden. Was Sie hier lesen können, sind Überlegungen von Menschen, die gegen totalitäre Regime gekämpft haben und es bis heute tun, von Menschen, die solche Regime erforschen oder sich mit Gedächtniskultur befassen. Gewappnet mit ihrer Erfahrung, beobachten sie – auf ihre je eigene Weise – mit wachem Blick die aktuellen Ereignisse. Sie teilen ihre Sicht unvoreingenommen und unverblümt mit, und zugleich hören wir von ihnen Worte der Unterstützung. Sie geben uns Orientierung und tragen uns.

Wir hoffen, das wird uns helfen, unseren Weg fortzusetzen.

Wir danken allen, die dieses Buch möglich gemacht haben – unseren Autoren und Kollegen, den Memorialzy aus verschiedenen Ländern, den Freunden und Partnern, die unsere Arbeit unterstützen.

Unser Dank gilt Evgen Zakharov und der Charkiwer Menschenrechtsgruppe, Mark Radziwon und Memorial Polen sowie Gabriele Woidelko und der Körber-Stiftung, die unter den Ersten waren, die uns in einer schwierigen Situation Hilfe erwiesen haben. Wir danken weiterhin Heiko Weigel, Boris Belenkin, Irina Galkowa, Mika Golubowski, Sascha Kuljajewa, Natalja M., Irina Ostrowskaja und Darja Fadeeva und Lilja Zainetdinova und nicht zuletzt Detlef Felken, Anke Hügler und dem ganzen Verlag C.H.Beck sowie der Gerda Henkel Stiftung, die dieses Vorhaben und weitere Projekte von Zukunft Memorial unterstützt hat.

Und wir möchten auch all denen danken, die uns als Lesende und Weggefährten begleiten werden.

Die Herausgeber

Filipp Dzyadko, Irina Scherbakowa und Elena Zhemkova

IRINA SCHERBAKOWA

MEMORIAL. DREISSIG JAHRE KAMPF FÜR DAS ERINNERN

Im Dezember 2022 erhielt Memorial International zusammen mit der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Zentrum für bürgerliche Freiheiten und Ales Bjaljazki, dem Gründer der belarussischen Menschenrechtsorganisation Wjasna, den Friedensnobelpreis. Dies war unzweifelhaft die höchste Würdigung, die unsere langjährige Tätigkeit je erfahren hat. Doch zur selben Zeit, als das Nobelpreiskomitee die Preisträger bekannt gab, saßen Mitarbeiter von Memorial in einem Moskauer Gerichtssaal. Die Verhandlung endete mit der Anordnung, das Gebäude der Memorial-Zentrale zu beschlagnahmen und in Staatseigentum umzuwandeln. Schon zuvor hatte das Oberste Gericht der Russischen Föderation die Auflösung von Memorial International verfügt – Ende Februar, nur wenige Tage nach Beginn des Großangriffs auf die Ukraine.

Jetzt hatte man uns auch noch das Haus genommen, wo nicht nur die Büros zahlreicher Mitarbeiter, sondern auch die über viele Jahre hinweg aufgebauten Archive untergebracht waren und wo Ausstellungen und Veranstaltungen viele Besucher angezogen hatten. Bei aller Freude über die Auszeichnung war dies für uns ein aufwühlender Moment. Unsere Arbeit und unser Leben würden nie wieder sein wie zuvor.

Umso mehr haben wir heute Anlass, uns den Weg, den wir in diesen dreißig Jahren gegangen sind, immer wieder in Erinnerung zu rufen. Nicht um uns der Verzweiflung zu überlassen, auch wenn es Grund dazu gibt, sondern um besser verstehen zu können, was unter den neuen Verhältnissen unsere Aufgabe ist.

Warum hat die überwiegende Mehrheit der russischen Gesellschaft sich von den Ideen losgesagt, in deren Namen Memorial 1989 gegründet wurde – «Frieden, Fortschritt, Menschenrechte»?[1] Warum hat sie die Idee der historischen Wahrheit verschmäht und ist bereitwillig der russischen Staatsführung gefolgt, die einmal mehr die Geschichte umschreibt und Stalin heroisiert? Diese Führung rechtfertigt nicht nur einen Eroberungskrieg mit der «großen» geopolitischen Vergangenheit, sondern suggeriert der Bevölkerung auch unaufhörlich, es gebe für sie keine andere Zukunft als die Rückkehr in dieses imaginäre Gestern. Dazu nutzt sie ein Arsenal abenteuerlicher historischer Mythen, Zitate wirrer Philosophen und Verschwörungstheorien – also all das, was Putin in seinen Artikeln und Reden als «Geschichte» bezeichnet. Doch beginnen wir beim Ende der 1980er Jahre, als die Situation noch ganz anders aussah.

WER WAR TREIBER DER PERESTROIKA?

Memorial ist aus der ersten breiten gesellschaftlichen Bewegung in den Jahren 1987/88 hervorgegangen, deren Ziel es war, den Opfern des kommunistischen Regimes zu historischer Gerechtigkeit zu verhelfen und die jahrelange Unterdrückung der Wahrheit über die Verbrechen der sowjetischen Führung zu beenden.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die sowjetische Gesellschaft eine humanitäre Katastrophe durchgemacht. Sie erlebte Massenterror, der alle sozialen Schichten betraf, gewaltsame Kollektivierung und staatlich organisierten Hunger, einen furchtbaren Krieg mit ungeheuren Verlusten an Menschenleben, Zwangsarbeit in den Lagern und die Deportation ganzer Völker. Millionen sowjetischer Menschen waren Opfer, Zeugen, Beteiligte oder Initiatoren von Staatsverbrechen. Doch ihre Erfahrungen blieben viele Jahre lang unter dem Mantel des Schweigens verborgen. Nach Stalins Tod 1953, als die sogenannte Tauwetterzeit anbrach und Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU den «Personenkult» anprangerte, wurden erstmals Stimmen laut, die Zeugnis von dem ablegten, was die Stalin-Ära ausgemacht hatte: den Massenrepressionen und dem Gulag-System. Mit Breschnews Machtantritt Mitte der 1960er Jahre wurde der Prozess der Entstalinisierung jedoch gestoppt. Es war nun wieder verboten, die Repressionen zu thematisieren. Jahrelang kamen sie nur in der inoffiziellen oder im westlichen Ausland verlegten Literatur («Samisdat» und «Tamisdat») zur Sprache, die dem breiten Publikum nicht zugänglich war. Und gerade die Literatur war von größter Bedeutung, um die Erinnerung an den Terror wachzuhalten, insbesondere die biografischen Zeugnisse der ehemaligen Gulag-Insassen.

In der Sowjetunion regte sich in der poststalinistischen Zeit kein nennenswerter Widerstand gegen das Regime. Es kam nicht zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft, wie es die Solidarność in Polen war. Arbeiterproteste flammten nur punktuell und spontan auf, so etwa 1961 in Nowotscherkassk, wo Protestaktionen gegen die Erhöhung von Preisen und Arbeitsnormen brutal unterdrückt wurden. Dissidente Haltungen blieben – mit Ausnahme der Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen Unionsrepubliken und der Westukraine – auf einen engen Kreis beschränkt. In den 1960er Jahren entstand jedoch eine breite urbane wissenschaftlich-technische Bildungsschicht. Viele ihrer Vertreter waren an einer Kultur interessiert, die eine Alternative zur staatlichen Propaganda zu bieten hatte. Diese Kultur brachte Werke hervor, die im besten Fall sogar unter Zensurbedingungen den offiziellen ideologischen Rahmen sprengten. In jedem Fall humanisierten sie das gesellschaftliche Bewusstsein, indem sie den Wert des Menschen in den Mittelpunkt rückten. Ebendiese technische Intelligenz war der Motor der Perestroika, was in Russland heute keine Erwähnung mehr findet, schon gar nicht bei denen, die diese Zeit dämonisieren und die Ereignisse von 1989 bis 1991 als Ergebnis einer «Verschwörung» gegen die UdSSR betrachten. Unterstützung für Gorbatschows Reformen kam vor allem aus der Leserschaft der in Millionenauflagen verbreiteten «dicken Zeitschriften», in denen ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zuvor verbotene Literatur und aktuelle Perestroika-Publizistik erschienen. Sie bildete die Basis einer gesellschaftlichen Bewegung, die nicht nur mit dem Stalinismus, sondern mit der kommunistischen Vergangenheit insgesamt abrechnen wollte. Die soziale Zusammensetzung dieser Bewegung erklärt zu einem großen Teil, warum unter denen, die damals zu Tausenden für die Reformen auf die Straße gingen, nur wenige junge Leute der Geburtsjahrgänge um 1970 waren. Sie waren in einem Klima des Zynismus, Doppeldenk und Opportunismus aufgewachsen und taten sich schwerer damit, sich politisch zu positionieren.

DIE GRÜNDUNG VON MEMORIAL UND DER BEGINN DES KAMPFES UM DIE ERINNERUNG

Als Memorial 1989 gegründet wurde, war es nach vielen Jahrzehnten die erste unabhängige Vereinigung, die in der Sowjetunion offiziell zugelassen wurde. Ihre Mitglieder forderten, die Geheimarchive zu öffnen, die vom kommunistischen Regime verübten Verbrechen gesetzlich zu verurteilen, die Repressionsopfer zu rehabilitieren und ihrer öffentlich zu gedenken. Diese Einstellung wurde damals allem Anschein nach von vielen geteilt.

Wer waren die Leute, die Memorial gründeten? Sie waren keine Fachhistoriker, sondern gesellschaftliche Aktivisten verschiedener Alters- und Berufsgruppen mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund. Einige hatten unter Stalin in den Gulag-Lagern gesessen. Andere, wie der Gründungsvorsitzende Andrei Sacharow, der Biologe Sergei Kowaljow, die Mathematikerin Larissa Bogoras und der Philologe Arseni Roginski, waren Dissidenten und gerade erst aus dem Lager oder der Verbannung zurückgekehrt. Auch ganz junge Doktoranden und wissenschaftliche Mitarbeiter gehörten dazu.

Memorial bestand von Anfang an aus mehreren untereinander vernetzten Organisationen. Zur Gründungskonferenz im Januar 1989 reisten über tausend Menschen aus den damaligen Unionsrepubliken an. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die Memorial-Organisationen in den neuen unabhängigen Staaten weiter aktiv. Auch in anderen europäischen Ländern wurden Memorial-Gesellschaften gegründet: in Deutschland, Italien, Frankreich und Tschechien. Es entstand ein internationales Netzwerk – nicht nur, weil in den Lagern des Gulag-Systems Menschen verschiedener ethnischer und nationaler Herkunft gesessen hatten, sondern vor allem, weil die humanitäre Katastrophe, die das kommunistische Regime herbeigeführt hatte, ein Verbrechen gegen die gesamte Menschheit war.

Von Beginn an brachte Memorial auch diejenigen, die die Geschichte der politischen Repressionen aufarbeiten wollten, mit Menschenrechtsaktivisten zusammen, die Menschenrechtsverletzungen hier und jetzt dokumentierten. Der Kampf um die Wahrheit über die Verbrechen der Vergangenheit in Russland und der Kampf um Menschenrechte waren nicht voneinander zu trennen. In dieser Hinsicht knüpfte Memorial auch an die gemeinsame Arbeit an, die die Dissidentenbewegungen in Russland, der Ukraine und den baltischen Ländern zu Sowjetzeiten verbunden hatte.

Auf der Gründungskonferenz im Januar 1989 sagte Andrei Sacharow, die Aufgabe von Memorial sei es jetzt, «zu jedem Schicksal vorzudringen». Dieses Ziel erschien natürlich utopisch, aber vielen war klar, worum es im Kern ging: Unser Auftrag war es, den Menschen, die für immer aus der Geschichte ausgelöscht werden sollten, ihre Namen zurückzugeben. Wir mussten Zeitzeugnisse in Gestalt von Dokumenten und Objekten sammeln und ein Archiv des persönlichen und familiären Gedenkens an die Opfer des kommunistischen Terrors aufbauen. Die regionalen Memorial-Verbände begannen, «Erinnerungsstätten» einzurichten. Dort konnten Menschen ihre Dokumente und Erinnerungen vorbeibringen, um sie denen anzuvertrauen, die sie aufbewahren wollten.

Der Mitgründer Arseni Roginski schärfte den Memorialzy[2] ein, dass es nicht einfach nur um Aktivismus gehe, sondern auch um tägliche Recherche- und Aufklärungsarbeit. Sie würden in mühsamer Arbeit die Vergangenheit Schicht um Schicht freilegen müssen – Millionen von Datensätzen sammeln und Karten von Gulag-Lagern, Sammelbände und Nachschlagewerke erstellen. Sie würden das riesige unbestellte Feld der Erinnerung bewirtschaften müssen. Und auch das Instrumentarium und die Methoden dafür galt es «unterwegs» erst noch zu entwickeln. Memorial war – so hat es Aleida Assmann gesagt – mehr als ein Projekt mit einem konkreten Ziel, es war ein Lern- und Entwicklungsprozess. Und das Neue daran war, dass man die Geschichte nicht als abgeschlossen betrachtete – dass eine Organisation auf den Plan getreten war, die Verantwortung dafür übernahm, dass der Opfer gedacht wurde.

DIE «ARCHIVREVOLUTION» DER 1990ER JAHRE

Zu Beginn der 1990er Jahre sah es ganz danach aus, als habe die Gesellschaft – oder genauer, ihr aktivster Teil, der die demokratischen Reformen am stärksten unterstützte – schon eine Antwort auf die beiden wichtigsten Fragen der Zeit gefunden: «Wer hat Schuld?» und «Was tun?» Schuld hatten vor allem das kommunistische Regime und die KPdSU, und was zu tun war, schien klar: das Einparteiensystem abschaffen, die Demokratisierung vorantreiben und marktwirtschaftliche Reformen einführen, um das Erbe der Vergangenheit schnellstmöglich zu überwinden. Um die Wahrheit über diese Vergangenheit zu erfahren, mussten die Geheimarchive geöffnet werden, die als der Ort galten, wo diese Wahrheit heimlich aufbewahrt und abgeschirmt wurde.

Auf Initiativen aus der Gesellschaft hin und unter Mitwirkung von Memorial wurden zwei wichtige Gesetze beschlossen, die – so glaubte man damals – nur erste Schritte auf dem Weg zur konsequenten Aufarbeitung der unbewältigten Vergangenheit sein würden. Sie sollten den Umgang des Staates mit den Repressionsopfern regeln und den riesigen Bestand an zu Sowjetzeiten unter Verschluss gehaltenen Dokumenten zugänglich machen. Zuerst wurde im Oktober 1991 das Gesetz «Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen» verabschiedet. Die Präambel erinnert im Tonfall an die Publizistik der Zeit:

«In den Jahren der Sowjetherrschaft sind Millionen von Menschen Opfer der Willkür des totalitären Staates geworden und waren wegen ihrer politischen und religiösen Überzeugung, aus sozialen, nationalen oder anderen Gründen Repressionsmaßnahmen ausgesetzt. Die Föderationsversammlung der Russischen Föderation verurteilt den jahrelangen Terror und die massenhafte Verfolgung des eigenen Volkes als unvereinbar mit der Idee des Rechts und der Gerechtigkeit. Sie drückt den Opfern der ungerechtfertigten Repressionen und deren Angehörigen und Freunden ihr tiefes Mitgefühl aus und erklärt, dass sie konsequent darauf hinarbeiten wird, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte effektiv zu garantieren.»

Im Juni 1992 unterzeichnete der damalige russische Präsident Jelzin in einem weiteren entscheidenden Schritt den Erlass «Über die Aufhebung des Geheimhaltungsgrads für gesetzliche Bestimmungen und andere Dokumente, die als Grundlage für Massenrepressionen und Angriffe auf die Menschenrechte dienten». Er ordnete an, sämtliche Dokumente in den Staats- und Behördenarchiven zu deklassifizieren, die Repressionen und Menschenrechtsverstöße betrafen. Das galt ohne Rücksicht auf die Verjährungsfrist, also für den gesamten Zeitraum der Sowjetherrschaft von 1917 bis 1991.

Diese beiden Gesetze setzten den Prozess in Gang, der später «Archivrevolution» genannt worden ist. Diese Bezeichnung ist nicht übertrieben. Erstmals nach langen Jahren konnten Forschende aus Russland selbst und auch aus dem Ausland auf bisher geheim gehaltene Dokumente zugreifen. In den Medien hieß es, nun würden «die weißen Flecken getilgt». Tatsächlich war dies jedoch erst der Anfang der gewaltigen und komplexen Arbeit an der Erforschung des Sowjetsystems – insbesondere seinen verschlossensten und geheimsten Seiten wie etwa der Geschichte der politischen Repressionen, des Gulag und der Maschinerie des Massenterrors. Ende der 1990er Jahre begann diese Arbeit Früchte zu tragen. Und obgleich die Historiker nur auf einen begrenzten Teil des ungeheuren Bestands an Geheimdokumenten über die Massenrepressionen zugreifen konnten, wurden dank der engagierten Forschungsarbeit der Memorial-Mitarbeiter erste grundlegende Nachschlagewerke veröffentlicht. 1997 wurde ein Handbuch zur Geschichte des Gulag-Systems fertiggestellt, in dem das Netz der Lager, das sich über das gesamte Gebiet der Sowjetunion erstreckt hatte, erstmals ausführlich beschrieben wurde. Auch eine Karte der Gulag-Lager wurde erstellt. Im selben Jahr ermöglichten es die statistischen Erkenntnisse erstmals, das Ausmaß der Verfolgungen zu ermitteln und die tatsächliche Zahl der Opfer zu beziffern: Etwa zwölf Millionen Menschen waren von Repressionsmaßnahmen betroffen gewesen, und über eine Million von ihnen waren erschossen worden. Memorial publizierte auch die sogenannten Erschießungslisten, mit denen der Nachweis geführt werden konnte, dass Stalin und andere Politbüromitglieder unmittelbar und persönlich Verantwortung für den Tod von ca. 40.000 Menschen trugen. Dies war, wie sich zeigte, nur ein kleiner Teil der Hunderttausenden von Menschen, die in den Massenoperationen der Jahre 1937 und 1938 verfolgt worden waren. Der Große Terror hatte sich nicht nur gegen die Parteielite gerichtet, sondern gegen so gut wie alle Schichten der sowjetischen Gesellschaft. Auch den sogenannten nationalen Operationen fielen Zehntausende Sowjetbürger zum Opfer, die allein aufgrund ihrer polnischen, deutschen oder finnischen Herkunft der Spionage bezichtigt wurden.