Memory Game - Erinnern ist tödlich - Felicia Yap - E-Book

Memory Game - Erinnern ist tödlich E-Book

Felicia Yap

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Beschreibung

Wie findet man einen Mörder in einer Welt, in der es keine Erinnerungen gibt?

In Claires Welt gibt es zwei Arten von Menschen: solche, die wie sie sind und sich nur an die Ereignisse des vorangegangenen Tages erinnern können, und solche wie ihren Ehemann Mark, deren Gedächtnis zwei Tage zurückreicht. Claire hat nur eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit: ihr Tagebuch. Was sie nicht rechtzeitig aufschreibt, geht für immer verloren. Eines Morgens steht die Polizei vor Claires Tür. Die Leiche einer Frau wurde im Fluss gefunden. Nach Aussage der Beamten war sie Marks Geliebte und er wird des Mordes verdächtigt. Sagt die Polizei die Wahrheit? Kann Claire ihrem Ehemann vertrauen? Und vor allem: Kann sie sich selbst vertrauen?

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Seitenzahl: 522

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Das Buch

In Claires Welt gibt es zwei Arten von Menschen: solche, die wie sie sind und sich nur an die Ereignisse des vorangegangenen Tages erinnern können, und solche wie ihren Ehemann Mark, deren Gedächtnis zwei Tage zurückreicht. Claire hat nur eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit: ihr Tagebuch. Was sie nicht rechtzeitig aufschreibt, geht für immer verloren. Eines Morgens steht die Polizei vor Claires Tür. Die Leiche einer Frau wurde im Fluss gefunden. Nach Aussage der Beamten war sie Marks Geliebte, und er wird des Mordes verdächtigt. Sagt die Polizei die Wahrheit? Kann Claire ihrem Ehemann vertrauen? Und vor allem: Kann sie sich selbst vertrauen?

Die Autorin

Felicia Yap wuchs in Kuala Lumpur auf, studierte Biochemie in London und erwarb ihren Doktor der Geschichte an der University of Cambridge. Sie arbeitete bereits als Biologin, Historikerin, Dozentin, Kritikerin und Journalistin, unter anderem für The Economist und Business Times. Sie lebt in London, wo sie vor Kurzem ein Programm zu Kreativem Schreiben an der Faber Academy abschloss. Memory Game– Erinnern ist tödlich ist ihr Debüt.

Mehr unter www.feliciayap.com

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Felicia Yap

Memory Game

Erinnern ist tödlich

Thriller

Aus dem Englischen von Bettina Spangler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Yesterday« bei Wildfire, an imprint of Headline, London.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung September 2017 bei Penhaligon, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © Felicia Yap 2017

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Penhaligon, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

JB · Herstellung: sam

Redaktion Kristof Kurz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20828-8V001

www.penhaligon.de

Für Alex und Han Shih

Ein Dorf in der Nähe von Cambridge, zwei Jahre vor dem Mord

Ich will dir ein paar schreckliche Geheimnisse verraten. Doch zunächst möchte ich dir ein Foto zeigen.

Das bin ich, ist schon eine ganze Weile her. Damals war ich flachbrüstig und hatte abstehende Ohren. Wenn du genau hinsiehst, wirst du erkennen, dass da einst Hoffnung war in meinem Blick und Feuer in meiner Seele. Heute sind Hoffnung und Feuer dahin. Hinweggefegt durch die vielen Jahre in dieser Einrichtung.

Hier ein zweites Foto. Oh, ich sehe schon, wie du zusammenzuckst. Verständlich. Schließlich zeigt dieses Bild dich. Ein erst kürzlich aufgenommenes Foto von dir höchstpersönlich. Du siehst darauf gar nicht mal so übel aus. Blonde Haare bis über die Schultern, beachtliche Titten. Was meinst du? Ich werde mich so verändern, dass ich haargenau so aussehe wie du. Ich lasse mir die Haare blondieren und Brüste machen genau wie die deinen.

Erkenne ich da ein Stirnrunzeln auf deinem Gesicht? Du verstehst das nicht, nicht wahr? Du fragst dich jetzt: Warum sollte ich so aussehen wollen wie du?

Lass mich dir das erklären. Ich erinnere mich an alles. Ernsthaft, das tue ich. Ich bin der einzige Mensch auf dieser Welt, der sich an seine Vergangenheit erinnert. Und zwar an jedes Detail. Das ist kein Scherz. Und es macht mich verdammt noch mal zu etwas Besonderem.

Du glaubst mir nicht, oder?

Kann ich verstehen. Wie die fünf Milliarden Monos um uns herum erinnerst du dich gerade mal an das, was gestern war. Du wachst jeden Morgen mit dem Kopf voller Fakten auf. Sorgfältig vorsortierte Details, dich selbst und andere betreffend. Du stolperst vom Bett aus zu deinem iDiary, das auf dem blank polierten Küchentresen liegt. Rettest dich zu diesem elektronischen Apparat, als wäre er Verbindung zu deiner Vergangenheit, in dem verzweifelten Wunsch, dir die spärlichen Einzelheiten einzuverleiben, die du gestern Abend aufgeschrieben hast. Du kannst es nicht erwarten, sie deinem Gedächtnis hinzuzufügen. Denn das hat nur das behalten, was gestern war – sowie die paar kalten, sterilen Fakten, die du über dich selbst weißt.

Ziemlicher Mist, was?

Dabei bist du doch längst daran gewöhnt, nicht wahr? Weil du das schon seit deinem achtzehnten Lebensjahr tust, als dein erbärmliches kleines Hirn sich selbst abgeschaltet hat. Kein Wunder, dass du nichts als Neid übrig hast für die Duos, deren Kurzzeitgedächtnis geringfügig besser ist als deines. Doch im Grunde seid ihr alle gleich.

Ihr seid alle so armselig.

Ich will dir eine simple Wahrheit verraten, da du ja nun mein wahres Gesicht kennst.

Wenn man sich wie ich an alles erinnert, erinnert man sich auch an das, was andere Menschen einem angetan haben (selbst wenn die es nicht mehr wissen). Bis ins kleinste, grauenhafteste Detail. Was zwangsläufig den Wunsch nach Rache weckt, wenn man schlimm verletzt wurde. Also so richtig, richtig schlimm. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand hat dafür gesorgt, dass du siebzehn Jahre lang in einer Irrenanstalt eingesperrt bist. Dann sehnst du dich in den schwärzesten Stunden der Nacht, wenn selbst das Lächeln des Mondes erlischt und der Ruf der Eulen verhallt, nach Gerechtigkeit.

Wenn man sich an alles erinnert, kommt man allerdings auch mit fast allem durch. Mit Rache zum Beispiel.

Verflucht praktisch, nicht?

Und genau das ist der Grund, warum ich, Sophia Alyssa Ayling, ungestraft davonkommen werde.

Rache wäre was Wunderbares. Besonders nach allem, was du mir angetan hast. All die grausamen kleinen Dinge, derer du dich im Laufe der Jahre schuldig gemacht hast. Ich erinnere mich an jede einzelne Gelegenheit. Es ist die Summe all der Qualen, die mir in Erinnerung geblieben sind, die meinen Hass so stark macht. Oh ja. Es wird ein Kinderspiel sein, mich zu rächen.

Denn keiner wird sich an das, was ich dir antun werde, erinnern.

Keiner außer mir.

Glück ist ein Prozess, Unglück dagegen ein Zustand.

– Aus dem Tagebuch von Mark Henry Evans

Kapitel 1

Claire

Der Mann in der Küche wimmert. Er versperrt mir den Weg zum Tresen, auf dessen Marmoroberfläche mein iDiary liegt und in regelmäßigen Abständen violett aufleuchtet. Der Mann hält seine linke Hand umklammert. Blut tropft von seinem Zeigefinger. Um ihn herum verstreut liegen die Scherben einer Teekanne.

»Was ist passiert?«, frage ich.

»Ich bin ausgerutscht«, sagt er, den Mund zu einer gequälten Linie verzogen.

»Lass mich mal sehen«, sage ich und trete vorsichtig zwischen den Scherben hindurch. Während ich auf ihn zuschreite, scheint sich der goldene Ring an seiner linken Hand mit einem grellen Blitzen über mich lustig zu machen. Bei seinem Anblick kommen mir die wichtigsten Fakten, die ich mit den Jahren über meinen Ehemann gelernt habe, wieder in den Sinn. Name: Mark Henry Evans. Alter: 45. Beruf: Romanautor mit Ambitionen, die Wahl zum nächsten MP von South Cambridgeshire zu gewinnen. Wir haben am 30. September 1995 um 12 Uhr 30 in der Kapelle des Trinity College geheiratet. Neun Personen waren bei unserer Eheschließung anwesend. Marks Eltern hatten sich geweigert zu kommen. Ich musste Kaplan Walters versprechen, mir jeden Morgen aufs Neue zu sagen, dass ich Mark liebe. Die Kosten für die Hochzeit beliefen sich auf 678,29 Pfund. Wir hatten vor mehr als zwei Jahren das letzte Mal Sex, am 11. Januar 2013 um 22 Uhr 34. Er war bereits nach sechseinhalb Minuten fertig.

Ich weiß nicht so recht, ob ich wegen dieser Tatsachen meinen Mann betreffend enttäuscht, traurig oder wütend sein soll.

»Ich hab versucht, sie im Fallen aufzufangen«, sagt Mark, »aber sie ist gegen die Spülmaschine geknallt.«

Ich betrachte die klaffende Wunde in seinem Zeigefinger. Der Schnitt ist fast anderthalb Zentimeter lang. Ich blicke in Marks Gesicht, mustere die tiefen Furchen auf seiner Stirn. Die fächerförmig um seine Augenwinkel angeordneten Sorgenfältchen. Seinen schmerzverzerrten Mund. Ich weiß noch, wie er sich gestern Nacht im Bett hin und her gewälzt hat, als wollte er im Traum vor etwas davonlaufen.

»Sieht schlimm aus«, sage ich. »Ich hole ein Pflaster.«

Schon drehe ich mich um und renne die Treppe nach oben. Tatsache ist: Der Erste-Hilfe-Kasten befindet sich im Badezimmer im Schränkchen gleich neben dem Spiegel. Bevor ich ihn heraushole, betrachte ich mich für einen kurzen Moment darin. Die Augen, die mich daraus anstarren, unterscheiden sich von den schreckgeweiteten Augen, von gestern. Die Pupillen in dem Gesicht von heute sind viel klarer. Nur die Wangen wirken ein klein wenig verquollen, genau wie die Haut um die Augen herum.

Gestern Nacht habe ich mich in den Schlaf geheult. Nachdem ich fast den gesamten Tag im Bett verbracht hatte.

Ich frage mich, warum. Angestrengt starre ich auf mein aufgedunsenes Abbild im Spiegel und versuche krampfhaft, mich an die entscheidenden Fakten zu erinnern. Doch die Ursache für meine gestrige Niedergeschlagenheit entzieht sich mir, flieht flatternd außer Reichweite, ähnlich schwer zu fassen wie die Flügel eines Schmetterlings. Ich weiß nur noch, dass ich mich verkrochen habe, dass ich in mein Kissen schluchzte und das Essen verweigerte. Missmutig verziehe ich das Gesicht; die Person im Spiegel sieht mich stirnrunzelnd an. Vor zwei Tagen muss etwas passiert sein, das die gestrige Verstimmung verursacht hat. Aber was?

Ich habe keine Erinnerung daran, was vorgestern war. Ich weiß es einfach nicht mehr. Ich erinnere mich nur an das, was gestern geschehen ist.

Mein Mann braucht mich, ermahne ich mich seufzend. Ich hole das Set aus dem Schrank und gehe wieder nach unten. Mark sitzt am Küchentisch und hält den verletzten Finger mit der rechten Hand umklammert. Seine Lippen sind immer noch zu einer gequälten Grimasse verzogen.

»Lass mich das machen«, sage ich und öffne das Erste-Hilfe-Set.

Mark zuckt zusammen, als ich das Blut mit einem Wattestäbchen abtupfe. Der Schnitt ist tiefer als erwartet.

»Erst muss ich das desinfizieren.« Ich hole das kleine Fläschchen mit dem Antiseptikum hervor und ziehe den Stöpsel raus.

»Ist halb so wild.«

»Ich lasse dich bestimmt nicht mit einem entzündeten Finger herumlaufen.«

»Ist nur ein harmloser Schnitt.«

Ich achte nicht auf Marks Worte und tupfe eine großzügige Menge von dem Desinfektionsmittel auf die Wunde (wieder zuckt er vor Schmerz zusammen) und wickle ein Pflaster um seinen Finger. Er öffnet den Mund und will etwas sagen, runzelt dann aber nur die Stirn und macht ihn wieder zu.

Ich drücke ihm einen Kuss auf den Finger, bevor ich mich vom Tisch erhebe und das iDiary hole, das immer noch auf dem Küchentresen liegt. Ich presse meinen rechten Daumen auf den Fingerabdruck-Scanner, woraufhin das violette Blinken und die Worte »GESTRIGEN EINTRAG LESEN« erlöschen. Ich scrolle nach unten zum letzten Eintrag. Folgendes habe ich gestern Nacht geschrieben:

11:12 Uhr. Mit einem niederschmetternden Gefühl aufgewacht. Wissen lastet schwer auf Schultern. Stunden weinend im Bett verbracht. Mark um 12 Uhr 25 schlafend im Arbeitszimmer vorgefunden; habe ihn aufgeweckt und ihm Geschenk gegeben, das ich gekauft hatte – dabei ist sein Geburtstag erst in einer Woche. Wieder in Tränen ausgebrochen, zurück ins Bett. Haushalt vollkommen vernachlässigt – selbst Gartenarbeit blieb liegen. Mittag- und Abendessen ausfallen lassen. Mark kam wiederholt ins Schlafzimmer, um mir mit besorgter Miene zu versichern, morgen wäre alles wieder in Ordnung. Er hat recht. Der gestrige Albtraum ist bis zum Morgen vergessen. Um 21 Uhr 15 aufgestanden, um eine Banane zu essen, die üblichen Pillen zu schlucken und zwei große Single Malt zu trinken. Dann wieder zurück ins Bett.

Dies ist ein recht präziser, wenn auch stichpunktartiger Abriss der gestrigen Ereignisse. Doch der Eintrag liefert keine Erklärung für die vergossenen Tränen. Er suggeriert lediglich, dass mein gestriges Unglück durch etwas ausgelöst wurde, das vor zwei Tagen geschehen ist. Etwas, das einem Albtraum gleichkommt. Ich scrolle weiter zum vorletzten Eintrag:

Gewitter bis 9 Uhr 47. Anschließend Spaziergang mit Nettle. Um 13 Uhr 30 Roastbeef mit Kartoffeln zu Mittag, allein im Wintergarten. Mark wollte im Arbeitszimmer essen, um weiterzuschreiben. Rüber in die Grange Road um 16 Uhr 50 für längeres Schwätzchen mit Emily bei Tee und Gebäck. Ereignisloser Abend. Mark im Arbeitszimmer beim Schreiben. Vor dem Fernseher gemütlich gemacht mit aufgewärmten Resten von Mittag.

Ich bin enttäuscht, fast schon ein wenig erbost wegen des Eintrags. Ich hatte erwartet, dass das Tagebuch etwas Licht in die Sache bringen und ich die Gründe für mein gestriges Elend erfahren würde. Der Text allerdings ist ziemlich knapp gehalten, fast schon geheimniskrämerisch. Noch einmal überfliege ich die Zeilen, werde aber auch diesmal nicht schlau daraus. Möglicherweise kann Mark mir sagen, was vor zwei Tagen vorgefallen ist. Im Gegensatz zu mir ist er nämlich ein Duo, und als solcher erinnert er sich an gestern und an vorgestern. Das unterscheidet ihn vom Großteil der Bevölkerung. Und deswegen hält er sich für was Besseres.

»Ich weiß noch, dass ich gestern den ganzen Tag in Tränen aufgelöst war«, sage ich und stelle fest, dass Mark immer noch die Stirn runzelt. »Ich komme aber nicht drauf, warum.«

Unsere Blicke begegnen sich. Da ist ein düsteres Funkeln in Marks Pupillen, das ich nicht so recht zu deuten weiß. Ist es Wut? Schmerz? Oder Furcht?

Er wendet sich von mir ab und starrt einige Sekunden auf meine Orchidee, ehe er antwortet.

»Du hast vorgestern Abend vergessen, deine Medikamente einzunehmen«, sagt er. »Das hat bei dir gestern einen Rückfall ausgelöst.«

Er hat vermutlich recht. Tatsache ist: Seit dem 7. April 2013 nehme ich zwei verschiedene Medikamente ein, die mir Dr. Helmut Jong vom Addenbrooke’s Hospital verschrieben hat: Jeden Tag zwei Pillen Lexapro und eine Pristiq. Ich strecke die Hand nach dem Medikamentenbehälter auf dem Küchentresen aus und durchforsche mein Gehirn nach den entscheidenden Details. Tatsache ist: Am 1. Juni 2015 um 14 Uhr 27 war ich mit einem neuen Rezept von Dr. Jong in der Newnham Pharmacy, um meine Tabletten abzuholen. Sechzig beziehungsweise dreißig Stück, genug für einen Monat also.

Ich zähle die Pillen in den grauen Behältern. Eigentlich sollten fünfzig von den einen und fünfundzwanzig von den anderen übrig sein. Stattdessen zähle ich zweiundfünfzig und sechsundzwanzig.

»Du hast recht«, sage ich seufzend. »Ich habe tatsächlich vergessen, meine Tabletten zu schlucken.«

Mark grunzt, ehe er sich von seinem Stuhl hochhievt. Die Anspannung in seinen Schultern löst sich etwas.

»Ich räume dann mal auf«, sagt er.

Während Mark in der Küche mit Kehrschaufel und Besen zugange ist, gehe ich zum Kühlschrank und hole eine Flasche Milch raus. Mir knurrt der Magen. Ich schütte Cornflakes in eine Schüssel. Dann lehne ich mich mit einem Löffel in der Hand gegen den Küchentresen und stelle das Radio an. Statisches Rauschen macht sich im Raum breit; Augenblicke später erklingt der Werbejingle einer Vergleichswebsite für Autoversicherungen. Mark hat die restlichen Scherben beseitigt. Da er nach wie vor gern Tee hätte, holt er einen Becher aus dem Schrank und gibt einen Beutel Earl Grey hinein.

»Guten Morgen, East Anglia«, verkündet eine männliche Stimme im Radio. »Willkommen zu den Acht-Uhr-Nachrichten. Die Queen hat ihre königliche Zustimmung zu einem Gesetzesentwurf gegeben, der Eheschließungen zwischen Monos und Duos erleichtern soll. Wie die Volkserhebung von 2011 gezeigt hat, liegt das prozentuale Verhältnis in der Bevölkerung mittlerweile bei siebzig zu dreißig. Tief verwurzelte kulturelle Vorurteile haben lange Zeit Eheschließungen zwischen diesen beiden Gruppen erschwert. Im Jahr 2014 wurden in Großbritannien lediglich dreihundertneunundachtzig solcher Ehen registriert.«

Ich werfe Mark einen verstohlenen Blick zu. Er rührt ein Stück Zucker in seinen Tee, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen. Ich weiß, worüber er so erfreut ist. Für seine derzeit laufende Kampagne als Anwärter auf einen Sitz im Parlament sind das gute Nachrichten. Tatsache ist: Er hatte schon vor zwanzig Jahren den Mumm, die Mono Claire Bushey zu ehelichen, trotz heftiger Proteste seitens seiner Familie. Er ist ein Duo, der sich um die Belange der breiten Mono-Masse Großbritanniens kümmert, um ihre Bedürfnisse, ihre Hoffnungen und ihre Ängste. Er ist sogar mit einer Mono verheiratet.

»Aktuelle wissenschaftliche Studien belegen, dass ein Mono-Duo-Paar zu fünfundsiebzig Prozent Duo-Kinder zeugt.«

Kinder. Tatsache ist: Ich wünsche mir sehnlichst ein Baby. Mein Herz verzehrt sich nach einem kleinen Menschen, den ich umsorgen und lieben kann. Aber wie soll ich jemals ein Kind kriegen, wenn Sex in unserer Ehe keine Rolle mehr spielt?

»Die Regierung ist der Überzeugung, dass ein höherer Anteil an Duos die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sowie die Produktivität unseres Landes steigern wird«, fuhr der Nachrichtensprecher fort. »Daher befürwortet sie den Gesetzesentwurf für gemischte Ehen, der Mono-Duo-Partnerschaften unter anderem Steuervorteile garantiert. Das Gesetz soll schon am 15. Februar 2016 in Kraft treten.«

Wenn die nur wüssten. Fakten spielen eine entscheidende Rolle. Ich habe mich gezwungen, sie auswendig zu lernen, ob es mir gefällt oder nicht.

Tatsache ist: Mit Duos verheiratete Monos werden täglich neu daran erinnert, wie begrenzt ihre Merkfähigkeit ist. Dies verdammt sie dazu, sich ihrem Partner laufend unterlegen zu fühlen. Vermutlich ist das der Grund, weshalb ich seit Jahren auf Antidepressiva bin. Und trotzdem käme ich nie auf den Gedanken, den Mann zu verlassen, der sich dem größten gesellschaftlichen Tabu widersetzt und mich zur Frau genommen hat. Würde ich das tun, wären meine Aussichten nicht unbedingt rosig. Tatsache ist: Mark hat einen Vorschuss von 350000 Pfund für seinen Roman An des Todes Pforte bekommen, der überaus erfolgreich war. Wir leben in Newnham in einer stattlichen Villa mit Blick auf den Fluss Cam. Sechs Schlafzimmer, Wintergarten und ein halber Hektar Rasenfläche. Zwei Karibikurlaube jedes Jahr, First-Class-Flüge. Hätte ich einen Mono geheiratet, würde ich heute noch als Kellnerin im Varsity Blues jobben.

Der Nachrichtensprecher berichtet vom gestrigen Fußball-Klassiker, dem Spiel England gegen Deutschland.

Ich seufze und schiebe mir noch einen Löffel Cornflakes in den Mund. Knirschend kaue ich die Frühstücksflocken, und eine sirupartige Süße umhüllt meine Zunge. Mein Leben ist perfekt – aber leider nur nach außen hin. Das besagen die Fakten. Wenn es doch nur ein Kind gäbe in meinem Leben. Je mehr Jahre ins Land ziehen, desto größer wird diese Leere in mir. Schließlich bin ich schon neununddreißig. Wenn ich mich doch bloß an die Dinge erinnern könnte wie Mark. Unser divergierendes Erinnerungsvermögen trennt uns wie ein unüberbrückbarer Abgrund.

Gerade sagt der Nachrichtensprecher etwas über Cambridge. Ich horche auf.

»Heute Morgen wurde der Leichnam einer Frau mittleren Alters in einem Naturschutzgebiet unweit des Dorfes Newnham am Ufer des Cam aufgefunden …«

Die Worte gehen in klirrendem Krach unter. Ich blicke ruckartig von meiner Schüssel Cornflakes auf. Mark hat seine Tasse fallen lassen. Sie liegt am Boden, in tausend Scherben zersprungen. Eine dampfende Pfütze Earl Grey breitet sich zu seinen Füßen aus. Der labbrige Teebeutel ist auf seiner Schuhspitze gelandet.

»Ein Sprecher der Polizei von Cambridgeshire gibt an, der Todesfall sei ungeklärt und man habe entsprechende Ermittlungen eingeleitet«, sagte der Nachrichtensprecher. »Und damit zur Wettervorhersage. Der meteorologische Dienst kündigt einen stürmischen Tag an …«

Ich stelle das Radio aus. Die darauffolgende Stille wirkt jedoch gleich doppelt beunruhigend auf mich.

»Was ist los?«, frage ich.

Mark antwortet nicht. Sein Blick wirkt abwesend. Die Schultern sind angespannt.

»Ist es wegen dieser toten Frau?«

Mein Mann blinzelt; dann habe ich offenbar ins Schwarze getroffen. Es geht tatsächlich um sie. Aber warum?

»Ich … bin nur ziemlich schockiert deswegen«, sagt er und stolpert über seine eigenen Worte. »Vermutlich hat man sie im Paradise-Naturschutzgebiet gefunden, gleich die Straße runter. Wie entsetzlich. Deshalb habe ich heute Morgen also Polizeisirenen gehört.«

Forschend beobachte ich sein Mienenspiel. Seine Kiefermuskeln mahlen.

»Ich verstehe nicht, weshalb du deshalb so aufgebracht bist.«

»Bin ich gar nicht«, entgegnet Mark, auch wenn die gestrafften Schultern vom Gegenteil zeugen. »Ich hab bloß nicht aufgepasst. Erst die Teekanne, dann auch noch die Tasse. Tut mir leid. Ich mach gleich wieder sauber.«

Er wendet sich ab und marschiert zur Küche raus.

Ich starre auf den letzten Rest Cornflakes in meiner Schale. Jetzt ist mir der Appetit vergangen.

Mark hat die Scherben beseitigt und sich in sein Arbeitszimmer am anderen Ende des Gartens zurückgezogen. Ich bin versucht, mit Nettle einen Spaziergang durch das Paradise-Naturschutzgebiet zu machen. Der Park wird zwar größtenteils abgesperrt sein, aber vielleicht erhasche ich trotzdem einen flüchtigen Blick auf die Polizisten dort.

Ich nehme also den Hund an die Leine und trete hinaus in den Sonnenschein. Die Luft an diesem Morgen ist frisch, fast ein wenig frostig. Ein zarter Duft nach Geißblatt weht über den Gehsteig. Wir gehen weiter in Richtung des Schwinggatters am Ende der Grantchester Meadows. Nettle springt munter voraus, vermutlich weil er das eine oder andere Kaninchen wittert. Ich ziehe an der Leine. Das Gatter quietscht in den Angeln, als wir das Naturschutzgebiet betreten. Der Boden unter unseren Füßen ist weich, an manchen Stellen etwas sumpfig. Überall sind Fußspuren zu sehen, die meisten davon noch frisch. Ein Schmetterling flattert tänzelnd vor uns auf, eine flimmernde Erscheinung im Gegenlicht.

Als wir den Pfad Richtung Wald einschlagen, vernehme ich gedämpfte Stimmen. Der Weg führt an hohen Weiden und einem Nebenarm des Cam zu unserer Rechten vorbei. In der Ferne sind schwarze Helme zu erkennen. Ich bewege mich auf sie zu. Mehrere Personen haben sich auf einem Wegabschnitt versammelt, die Gesichter von mir abgewandt. Sie werden von drei Polizisten zurückgehalten. Zwischen zwei Bäumen hat man gelbes Absperrband angebracht, die Enden flattern im Wind.

Ich ziehe Nettles Leine noch fester und geselle mich zu der Gruppe Schaulustiger. Ein Mann in Jeans und grüner Steppjacke hantiert mit einer Kamera. Ein Nachrichtenreporter im Anzug mit auffallender Haartolle spricht in ein Mikrofon. Der Großteil der Leute starrt neugierig in Richtung Flussufer. Ich gehe hoch auf die Zehenspitzen und linse über die Köpfe hinweg.

»Keine Smartphones.« Einer der Polizeibeamten hebt drohend den Finger in Richtung eines Jungen.

Die Szene, die sich mir präsentiert, ist im Großen und Ganzen eher enttäuschend. Ich sehe keinen Leichnam, nicht einmal einen Leichensack. Lediglich zwei Männer in weißen Schutzanzügen und blauen Gummihandschuhen. Einer verstaut gerade etwas in einem Plastikbeutel und zieht den Verschluss zu. Der zweite Mann macht Fotos von einem riesigen Baum, dessen Äste sich über den Fluss neigen. Der massive Stamm, der zum Teil im Wasser steht, ragt etwa sechs Meter über den Fluss empor und verzweigt sich nach oben zu zarten Ästen.

»Was ist hier los?«, frage ich einen Mann mit grell orangen Laufschuhen an den Füßen.

»Man hat heute früh einen Leichnam im Fluss gefunden.«

»Ich sehe nichts.«

»Den haben sie schon vor einiger Zeit abtransportiert. Da entlang.« Er deutet auf einen Waldweg gegenüber dem Pfad, auf dem Nettle und ich hierhergekommen sind.

»Muss ein grausiger Anblick gewesen sein.«

»Als ich das erste Mal vorbeigejoggt bin, hat man sie gerade in einem Leichensack verstaut. Das ist schon ein paar Stunden her. Blond. Langes Haar. Ihr Gesicht konnte ich leider nicht erkennen.«

»Wissen Sie, wie man sie gefunden hat?«

»Ich hab zufällig mitbekommen, was der Mann da gesagt hat.« Er deutet mit dem Finger auf den Reporter mit dem Mikrofon. »Angeblich hat ein Jogger sie im Schilf entdeckt. Sie trieb mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Direkt unter dem großen Baum da.«

»Ach herrje.«

»Wäre ich heute Morgen nur früher aufgestanden. Dann hätte ich sie als Erster entdeckt.«

»Wissen sie schon, wer es ist?«

»Der Nachrichtenmensch hat gesagt, dass man einen Führerschein in einer Tasche gefunden hat. Aber ihren Namen hat er nicht erwähnt.«

Ich nicke.

»Ich verschwinde jetzt. Wird langsam langweilig. Hübscher Hund.«

Damit dreht er sich um und läuft los. Seine Turnschuhe blitzen noch eine ganze Weile immer wieder zwischen den Bäumen auf. Ich sehe, wie der Nachrichtensprecher das Mikro aus der Hand legt. Die Kamera ist bereits ausgeschaltet. Ich lasse Nettles Leine locker und zerre ihn heimwärts, zwischen den Weiden hindurch, die sachte im Wind rascheln.

Arme Frau. Was ihr wohl zugestoßen ist?

Von Mark keine Spur, als wir nach Hause kommen. Er ist vermutlich immer noch in seinem Arbeitszimmer. Ich nehme Nettle die Leine ab und kippe eine großzügige Ladung Hundekekse in seinen Napf. Während er sie hastig verschlingt, ziehe ich meinen Arbeitsoverall und die Gartenhandschuhe an. Mein Tagebuch verrät mir, dass ich seit mindestens zwei Tagen nicht mehr im Garten gearbeitet habe. Da gibt es sicherlich einiges Unkraut zu jäten und Zweige zu stutzen. Immerhin handelt es sich um einen halben Hektar.

Ich schiebe die Tür des Wintergartens auf und trete wieder hinaus in die Sonne. Der Wind hat leicht aufgefrischt. Ich gehe den Pfad hinunter, der hügelabwärts zum Arbeitszimmer meines Mannes führt. Das morgendliche Gewitter von vor zwei Tagen hat im gesamten Garten Spuren der Verwüstung hinterlassen. Geknickte Zweige und abgebrochene Äste liegen überall verstreut. Hunderte Blätter wirbeln im Kreis und werden vom Wind hochgeweht. Der starke Sturm hat sogar einige der auf Hochglanz polierten schwarz-weißen Kieselsteine entlang des Weges mit sich genommen. Dunkle, kahle Vertiefungen im Gras markieren die Stellen, an denen die Steine gelegen haben.

Die herausgerissenen Steine selbst sind nirgends zu sehen. Nettle muss sie weggetragen haben. Er schnappt sich gerne alle möglichen Sachen, denn in meinem Tagebuch steht, dass ich vergangenes Weihnachten zwei Steine und einen alten, zerkauten Tennisball in seinem Körbchen gefunden habe. Ich bin sehr gut darin, beliebige unbedeutende Fakten auswendig zu lernen, da kann Mark denken, was er will.

Sofort mache ich mich an die Arbeit und hole den Rechen aus dem Schuppen. In kürzester Zeit liegt ein riesiger Haufen welken Laubes gleich bei der Hecke vor dem Haus. Ein wohltuender, erdiger Geruch steigt daraus auf. Gartenarbeit hat wirklich etwas Heilsames, denn das ungute Gefühl in meiner Magengegend löst sich allmählich auf. Oder liegt das daran, dass der wachsende Laubberg beweist, wie nützlich ich mich heute Morgen schon gemacht habe? Hausfrauen wie ich sind dazu verurteilt, ihre täglichen Erfolge daran festzumachen, wie viel sie saubergemacht oder aufgeräumt haben. Das ist vermutlich so ziemlich das Einzige, was uns daran hindert, gänzlich den Verstand zu verlieren (oder einer Depression zum Opfer zu fallen). Anders als Mark kann ich mich nämlich nicht irgendwelcher Buchverkäufe in Millionenhöhe rühmen.

Im Gegensatz zu meinem Ehemann habe ich in meinem Leben leider auch nur sehr wenig vollbracht, worauf ich stolz sein könnte. Behauptet jedenfalls mein Tagebuch.

Dass Mark wie die meisten Duos uns Monos insgeheim für beschränkt hält, verschlimmert die Sache noch. Er hält uns für geistig minderbemittelt, weil wir nicht mehr wissen, was vor zwei Tagen war. Weil wir seiner Ansicht nach nur ein begrenztes Verständnis für die Welt um uns herum haben. Er würde es nie wagen, mir das ins Gesicht zu sagen. Aber ich weiß, dass er das denkt, wann immer ich den Mund aufmache. Mein Tagebuch lässt erahnen, dass ich bereits seit zwanzig Jahren die herablassenden Sticheleien meines Duo-Ehemanns ertragen muss.

Doch ich will mich nicht mit solchen Dingen aufhalten. Will nicht über meine Unzulänglichkeiten nachdenken, ob sie nun echt sind oder imaginiert. Nicht jetzt, wo sich meine Laune endlich bessert.

Ich hole ein paar große Abfallsäcke aus dem Gartenschuppen und fange an, das Laub mit frischem Elan hineinzuschaufeln. In der Ferne ist ein schwaches Klingeln zu vernehmen. Es hört sich an wie die Türglocke. Ist vermutlich der Postbote.

Ich öffne den Seiteneingang in der Gartenhecke und gehe um die Ecke zur Vorderseite des Hauses. Ein Mann steht vor der Eingangstür, den Kopf leicht von mir abgewandt. Es ist nicht der Postbote. Sein Gesicht ist schmal und knochig, mit kräftigem, kantigem Kinn. An seinen Schläfen sind bereits erste graue Stellen zu erkennen. Auf seinem makellosen, schneeweißen Button-down-Hemd ist nicht ein einziges Fältchen. Seine Oxford-Brogues sind auf Hochglanz poliert.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, frage ich.

Der Mann fährt zusammen, dann dreht er sich zu mir um und sieht mich an.

»Oh …«, sagt er nur.

Sein Blick richtet sich auf mich, forschend mustert er den schmutzigen Gartenoverall und die dreckverkrusteten Schuhe. Die Iris seiner Augen sind von stahlgrauer Färbung, sein Blick stechend. Er greift in die Brusttasche und zieht eine Dienstmarke mit Foto heraus, die an einem schwarzen Portemonnaie angebracht ist. Sie hat die Form einer Schneeflocke mit einer Krone obendrauf.

»DCI Hans Richardson, Polizei Cambridgeshire. Ich würde mich gerne mit Mark Evans unterhalten.«

»Weshalb?«

»Wir bräuchten seine Unterstützung bei unseren Ermittlungen.«

»Was für Ermittlungen denn?«

»Es geht um den Tod einer Frau.«

Sprachlos starre ich den Detective an.

»Aber doch nicht, ähm … die Frau aus den Nachrichten heute Morgen? Deren Leichnam man im Cam gefunden hat?«

»Doch, genau die«, bestätigt er nickend. »Ich bin leitender Untersuchungsbeamter in diesem Fall. Deshalb wäre ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie Mr Evans holen könnten. Ihr Ehemann, wie ich annehme?«

Ich nicke. Irgendwas stimmt nicht ganz mit dem Universum heute Morgen, aber ich kann es nicht genau benennen. Mein Blick huscht an Richardson vorbei; sein blau-gelb karierter Dienstwagen steht direkt vor unserem Haus. Ein uniformierter Fahrer sitzt hinter dem Steuer, das Gesicht mit dem Schnurrbart ist wegen der getönten Scheiben nur schemenhaft zu erkennen. Ein paar Nachbarn recken bereits interessiert die Hälse; eine steht sogar im lila Morgenrock vor ihrer Haustür und stiert ungeniert zu uns rüber. Es ist ein ewiges Ärgernis, dass wir genau gegenüber von diesen Reihenhäusern wohnen.

»Mark ist in seinem Arbeitszimmer«, sage ich und kann es kaum erwarten, Richardson von den neugierigen Blicken der Nachbarn wegzuführen. »Kommen Sie bitte mit.«

Der Detective folgt mir ums Haus herum, und ich bemerke das Muster auf seiner Seidenkrawatte. Sieht aus wie das griechische Symbol für die Kreiszahl Pi. Das habe ich vor einer halben Ewigkeit in der Schule gelernt. Nettle springt auf uns zu. Richardson bückt sich, um ihm den Kopf zu kraulen, und erntet dafür ein begeistertes Schwanzwedeln. Als wir durch die Seitenpforte den Garten betreten, fasse ich mir ein Herz und frage:

»Wie war ihr Name?«

Der Detective schürzt die Lippen, ehe er antwortet.

»Sophia Ayling.«

Der Name kommt mir nicht annähernd bekannt vor.

»Warum wird ihr Tod, ähm … als verdächtig behandelt?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.« Er schüttelt den Kopf. »Tut mir leid. Ihr Garten ist übrigens ganz zauberhaft. Wirklich interessant.«

»Vielen Dank. Ich gebe meinem Mann Bescheid.«

Richardson nickt. Ich gehe den Gartenweg entlang, um Mark zu holen. Wie aus heiterem Himmel überkommt mich eine Unruhe, die alles andere in mir verdrängt. Mark kann unmöglich etwas mit Sophia Ayling zu tun gehabt haben. Jedenfalls sind mir keinerlei Fakten über sie bekannt. Um mich zu vergewissern, halte ich kurz inne, ziehe mein iDiary heraus und tippe ihren Namen ein. Keine Treffer.

Jetzt stehe ich vor der Tür zu Marks Arbeitszimmer und klopfe an. Ein lautes Stöhnen ist dahinter zu hören.

»Ich schreibe, Claire.« Marks Stimme klingt gedämpft, doch der genervte Unterton ist nicht zu überhören. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht stören, wenn ich schreibe. Notier dir das heute Abend bitte in dein Tagebuch. Und dann sieh zu, dass du dir diese Tatsache ein für alle Mal einprägst.«

»Es ist wichtig, Mark. Mach bitte auf.«

Ich vernehme ein unterdrücktes Fluchen, gefolgt von Schritten.

Die Tür wird mit einem lauten Quietschen aufgerissen. Dahinter kommt Marks ordentlich aufgeräumtes Arbeitszimmer zum Vorschein. Mein Mann steht mit unstetem Blick im Türrahmen. Die Pupillen scheinen leicht geweitet. Wenn er die letzte Stunde tatsächlich geschrieben hat, muss es ihn ziemlich aufgewühlt haben.

»Ein Detective will dich sprechen. DCI Hans Richardson von der Polizei Cambridgeshire. Er ermittelt im Fall der toten Frau, über die heute Morgen im Radio berichtet wurde.«

Marks Gesicht wird kreidebleich. Seine linke Hand fängt an zu zittern.

Scientific American, 15. September 2005

Die Macht der Vererbung: Wissenschaftler haben das Gen (und Protein) entdeckt, das für den gedächtnisbezogenen Klassenunterschied verantwortlich ist

Wissenschaftlern der Harvard University ist es gelungen, jenen genetischen Schalter zu identifizieren, der für die Unterschiede im Kurzzeitgedächtnis von Duos und Monos verantwortlich ist. Das betreffende Gen reguliert die Produktion eines bestimmten Proteins, das camp response element-binding protein, auch bekannt als CREB.

Blutproben von 5000 Freiwilligen bestätigen, dass sowohl Duos als auch Monos im Erwachsenenalter im Gegensatz zu Kindern und Jugendlichen unter achtzehn Jahren eine sehr geringe CREB-Konzentration aufweisen. Dennoch verfügen Duos über mehr CREB im Blut als Monos, was ausschlaggebend dafür ist, dass das Kurzzeitgedächtnis von Duos zwei Tage und nicht nur einen zurückreicht.

Die Forscher sind sich einig, dass die Produktion dieses Proteins bei Duos mit dreiundzwanzig Jahren und bei Monos im Alter von achtzehn Jahren gehemmt wird, was den Unterschied zwischen beiden Gesellschaftsgruppen zu erklären vermag. Man versucht nun nachzuvollziehen, wie und warum es dazu kommt und ob dies schon immer der Fall war.

Duo Patrick Kilburn, der Leiter des Projekts, ist der Überzeugung, dass dieser genetische Schalter durch ein Zusammenspiel aus körperlichen und emotionalen Stressfaktoren aktiviert wird. Kilburn zufolge müssen also beide Formen des Traumas zur selben Zeit auftreten, um diese Aktivierung auszulösen. Bei Mäusen, die simultan physischem und emotionalem Stress ausgesetzt werden, ist laut Kilburn eine höhere Konzentration von CREB nachzuweisen, während sie gleichzeitig über ein besseres Kurzzeitgedächtnis verfügen.

Ein Sprecher des International Memory Fund (IMF), welcher die Forschungsarbeiten finanziell fördert, erklärt: »Die Entdeckung dieses Gen-Schalters lässt hoffen, dass für die Menschheit in Zukunft tatsächlich Aussicht auf eine Besserung der Gedächtnisleistung bestehen könnte. Zumindest ließen sich eines Tages sämtliche Monos zu Duos machen.«

Kapitel 2

Mark

Als ich heute Morgen die Nachrichten gehört habe, dachte ich, es könnte nicht mehr schlimmer kommen. Aber es kam noch schlimmer.

Wie heißt es so schön: Selig sind die Unwissenden. Ich blicke in Claires Augen, diese Augen, die mich vor zwanzig Jahren in ihren Bann schlugen, als ich sie im Varsity Blues das erste Mal sah (das verrät mir mein Tagebuch). Ihre Pupillen sind heute kristallklar, ungetrübt von der Last des Wissens. Was für einen Unterschied ein einziger Tag machen kann. Gestern noch lag in ihrem Blick ein gepeinigter Ausdruck. Heute dagegen hat sie die fliederfarbene Iris einer restlos zufriedenen Frau, gefeit vor dem Unbehagen des Erinnerns, sicher vor der Strafe des Wissens.

Heulend fährt der Wind in die Baumkronen.

Ausnahmsweise würde ich alles geben, nur um ein Mono zu sein wie Claire. Gerade heute. Ich weiß, dass sie auf mich neidisch ist. Sehr sogar. Dies sorgt für wiederkehrende Konflikte in unserer Ehe – wie ich aus meinem Tagebuch weiß. Ich weiß nicht, wie oft ich schon Sätze wie »In ihrer letzten Schimpftirade gegen uns Duos hat Claire gesagt, dass …« geschrieben habe.

Claire ahnt ja nicht, welch ein Segen ihr Dasein als Mono ist. Denn allein diese Tatsache erlaubt es ihr, ein glücklicherer Mensch zu sein.

Ich hole tief Luft und bemühe mich, meine rasenden Gedanken zu beruhigen.

»Wie seltsam«, sage ich.

»Inspektor Richardson wartet, Mark.« Claire verschränkt die Arme vor der Brust und heftet ihren gequälten Blick auf mich.

Mir bleibt keine andere Wahl, als ihr über den Gartenweg zum Haus zu folgen, wo der Detective wartet. Selbst aus einiger Entfernung erkenne ich, dass er groß und stattlich gebaut ist, mit kräftigen Schultern. Schultern, die verraten, dass mit ihm nicht zu spaßen ist.

Ich blinzele; der Mann lässt etwas in seiner Tasche verschwinden. Sieht aus wie die Hülle einer Kamera. Verdammt. Was hatte er denn in meinem Garten zu fotografieren? Auf den letzten Metern beschleunige ich meine Schritte.

»Guten Morgen, Inspektor«, sage ich. Aus der Nähe bemerke ich die hakenförmige Nase, die sein Gesicht etwas verunstaltet.

»Guten Morgen, Mr Evans.«

»Wie ich höre, wünschen Sie mich zu sprechen.«

»Verzeihen Sie die Störung. Ich weiß, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind. Aber ich habe traurige Neuigkeiten Miss Sophia Ayling betreffend. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass man ihre Leiche heute Morgen aus dem Cam gefischt hat.«

»Wie bitte?«

»In so einem Fall ist es Standardvorgehen, Zeugenaussagen von Familienmitgliedern und Freunden aufzunehmen. Wir müssen in Erfahrung bringen, wo die Verstorbene sich kurz vor ihrem Tod aufgehalten hat, damit sämtliche Fakten für die Feststellung der Todesursache vorliegen. Wie es aussieht, waren Sie mit Miss Ayling bekannt. Macht es Ihnen etwas aus, mich ins Parkside-Revier zu begleiten, um Ihre Aussage zu Protokoll zu geben? Das sollte nicht allzu lange dauern.«

Ich höre, wie Claire scharf die Luft einsaugt.

»Sagten Sie … sagten Sie, Mark und Sophia wären miteinander bekannt gewesen?«

»Ja, das sagte ich.« Der Inspektor nickt bekräftigend.

»Mark …« Claire wirft mir einen anklagenden Blick zu. Ihre Pupillen sind geweitet. »Ist das eine Tatsache?«

Verdammt. Ich muss das misstrauische Funkeln im Blick meiner Frau irgendwie entschärfen.

»Ich sehe nach«, sage ich, hole mein iDiary heraus und betrachte es mit möglichst unschuldiger Miene.

»In meinem Tagebuch steht, dass ich Sophia vor zwei Jahren auf einer Autorenkonferenz in York begegnet bin«, sage ich. »Eine angehende Schriftstellerin, die … ähm … über die Insassen einer Irrenheilanstalt und ihre durch Medikamente ausgelösten Wahnvorstellungen geschrieben hat. Sie bat mich, ihr Exemplar von An des Todes Pforte zu signieren, und sagte, sie sei eine große Verehrerin meiner Bücher. Woher wissen Sie, dass wir uns kannten, Inspektor?«

»Miss Ayling hat Sie in ihrem Tagebuch erwähnt.«

Scheiße. Wie kommt dieser Inspektor an Sophias Tagebuch?

»Es überrascht mich, dass Sie Einblick in ihr Tagebuch hatten«, sage ich und gebe mir allergrößte Mühe, ruhig zu klingen. »Gibt es nicht Gesetze zum Schutz der Privatsphäre? Dies schließt auch alle Formen der Korrespondenz sowie Tagebücher ein, oder nicht?«

»Das ist korrekt, Sir, aber es gibt Ausnahmen.«

Der Detective legt eine kurze Pause ein und kräuselt die Lippen.

»Das Datenschutzgesetz von 1998 wurde dahingehend korrigiert, dass es der Polizei die Möglichkeit einräumt, eine Vollmacht zu erwirken, mit der persönliche Daten im Notfall offengelegt werden müssen. Wir dürfen demnach im Interesse der nationalen Sicherheit E-Tagebücher konfiszieren und einsehen. Oder wenn wir im Falle von Verbrechen wie einem Mord oder Kindesentführung ermitteln. In wirklich gravierenden Vergehen also.«

Ich muss kräftig schlucken, als ich das höre.

»Wir sind befugt, Sophias Tagebuch einzusehen. Und wir sind davon überzeugt, dass uns sein Inhalt bei unseren Ermittlungen, was ihren Tod betrifft, weiterhelfen wird.«

»Was hat Sophia über mich geschrieben?«

Der Detective schüttelt schweigend den Kopf und schiebt den Unterkiefer vor.

»Inspektor.« Eindringlich sehe ich ihn an. »Sie haben mir soeben erzählt, dass man die arme Sophia tot aus dem Cam gezogen hat. Und Sie stehen hier in meinem Garten und bitten mich um meine Mithilfe. Da hätte ich schon gern etwas mehr Kontext.«

»Wünschen Sie das wirklich?«

»Ich bestehe darauf.«

»Nun, wenn das so ist …« Er hält meinem Blick entschlossen stand.

Ich höre, wie Claire erneut tief Luft holt.

»Sophia lässt in ihrem Tagebuch kaum Zweifel daran, dass Sie beide sich nach Ihrer ersten Begegnung in York recht nahekamen …« Die Mundwinkel des Detective zucken verräterisch.

Claire weicht einen Schritt zurück. Sie sieht aus, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube abbekommen. Doch der Schrecken, der sich zunächst auf ihrer Miene abzeichnete, ist nun etwas anderem gewichen. Ihre Wangen glühen tiefrot. Ihre Augen funkeln, und sie presst die Lippen fest aufeinander.

Mist. Gerade habe ich einen schwerwiegenden Fehler begangen. Am besten wäre es gewesen, ich hätte jegliche Erinnerung an Sophia geleugnet. Doch Claires anfängliche Reaktion hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Jetzt muss ich die Suppe auslöffeln, die ich mir eingebrockt habe. Und zusehen, dass ich mir nicht noch so einen Fauxpas leiste.

Ich habe folgende vier Möglichkeiten:

Leugnen, dass wir eine Affäre hatten.Zweifel an Sophias Glaubwürdigkeit wecken.Herausfinden, was Sophia in ihrem Tagebuch über mich geschrieben hat, am besten nicht in Claires Gegenwart.Alle obigen Optionen zusammengenommen.

»Das ist eine glatte Lüge«, sage ich und balle meine Hände zu Fäusten. »Sophia hat sich da was zusammenfantasiert. Sie sagte, sie sei verrückt nach meinen Büchern. Verrückt nach mir, dabei waren wir uns noch nie zuvor begegnet.«

Der Detective wirkt nicht sonderlich überzeugt.

»Sie hat aufgeschrieben, was sie glauben wollte. Meiner Meinung nach war sie psychisch ziemlich aus dem Gleichgewicht. Sie verschwenden nur Ihre Zeit, Inspektor.«

»Ich bin dazu verpflichtet, sämtlichen Hinweisen nachzugehen.« Der Detective lässt sich nicht umstimmen. »Und dies betrifft auch all jene Männer, mit denen Miss Ayling näher bekannt war.«

Ich werfe Claire einen verstohlenen Blick zu. Sie hat die Hände zu Fäusten geballt, genau wie ich. In ihrem Blick brodelt flüssige Lava. Doch zum Glück ist sie empfänglich für meine hartnäckigen Überredungskünste, wie diverse Tagebucheinträge der letzten zwanzig Jahre belegen. Tatsache ist: In einem Eintrag von Juni 1995 steht zum Beispiel, dass Claire eine Vorliebe für purpurrote Rosen hat und dass »beharrliches Betteln der Schlüssel zu ihrem widerspenstigen Herzen ist«.

Und trotzdem schaudert mir bei dem Gedanken. Sollte die Presse je Wind davon kriegen, dass ich Claire möglicherweise untreu war, kann ich mich von meinem Traum, zum MP gewählt zu werden, verabschieden.

»Inspektor«, sage ich. »Ich hoffe, Sie haben nicht vor, mich festzunehmen …«

»Gütiger Himmel, nein. Natürlich nicht, Sir. Wir benötigen lediglich Ihre Zeugenaussage.«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir jetzt Sorgen machen oder erleichtert sein soll.

Richardson räuspert sich und neigt seinen Kopf ganz leicht zur Seite.

»Sie wollten wissen, was Sophia über Sie geschrieben hat«, sagt er. »Nun, wir sind auch befugt, den Inhalt des Tagebuchs denjenigen gegenüber preiszugeben, die von den Ermittlungen unmittelbar betroffen sind. Kommen Sie mit aufs Revier, dann kann ich Ihnen die relevanten Details mitteilen.«

Der Detective glaubt wohl, ich will um jeden Preis erfahren, was Sophia geschrieben hat.

»Ich begleite Sie, Inspektor«, sage ich seufzend. »Und ich bin bereit, Ihnen bei den Ermittlungen zu helfen, auch wenn Sophia sich getäuscht hat, was die Art unserer Beziehung angeht.«

»Ich danke Ihnen.«

»Vertrau mir, Claire«, sage ich und sehe sie mit möglichst inständig flehendem Blick an.

Doch Claire antwortet nicht, und ich folge dem Detective durch den Garten zu seinem Wagen.

Ich hatte damit gerechnet, in einem Verhörzimmer zu landen. In einem von diesen Räumen, wie man sie in Filmen immer sieht, mit nichts als einem Tisch und einem Stuhl und einer grellen Halogenleuchte darin, die auf die Augen des unglückseligen Verdächtigen gerichtet ist.

Stattdessen führt man mich in Richardsons Büro. Sein Schreibtisch ist leer, abgesehen von einem Computer, einem iDiary (möglicherweise Sophias), einem digitalen Aufnahmegerät, einem ziemlich großen Tacker und einem Schachspiel aus Holz, das die linke vordere Ecke des Tisches in Beschlag nimmt. Die Bauern scheinen in ein heftiges Gefecht verwickelt. Hoch aufgetürmte Aktenstapel, ein wildes Durcheinander an Unterlagen oder Kaffeebecher mit schimmeligen, fünf Tage alten Resten darin sucht man vergebens. Dafür geben die Regale hinter dem Schreibtisch umso mehr über Richardsons Persönlichkeit preis. Sie sind vollgestopft mit verschiedenfarbigen, ordentlich aufgereihten Notizbüchern.

Ich muss vorsichtig sein.

Ganz bestimmt darf ich mir meine Furcht nicht anmerken lassen, auch wenn ich mir vor Angst fast in die Hosen mache.

Mein Blick fällt auf ein Metallschild an der Wand. Darauf ist eingraviert:

Genie kann man nicht erzwingen. Es geschieht einfach.

Ebenso wenig wie Inspiration.

Sie schlägt zu, wenn man es am wenigsten erwartet.

Und doch kann man Probleme innerhalb eines Tages lösen. Dazu braucht man nur einen Baseballschläger.

- Anonym

Ich muss mich wirklich vor ihm in Acht nehmen. Extreme Vorsicht ist geboten. Er scheint ein unnachgiebiger Typ à la Inspektor Javert zu sein, der auf der Suche nach der Wahrheit nichts unversucht lässt. Er sieht aus wie einer, der für seinen Job lebt. Ein hakennasiger Detective, der nicht eher ruhen wird, bis er die Wahrheit ans Licht bringt.

»Vielen Dank, dass Sie mitgekommen sind«, sagt Richardson. Er deutet auf den uniformierten Sergeant, der uns ins Zimmer begleitet hat, ein ernst dreinblickender junger Mann mit buschigen Augenbrauen. »Sergeant Donald Angus wird Ihre Aussage in das erforderliche MG11-Formular tippen. Dieses müssen Sie anschließend unterschreiben.«

Ich nicke.

»Sie sind also ein Duo, Mr Evans.«

»Selbstverständlich.«

»Wie lange sind Sie schon verheiratet?«

»Seit zwanzig Jahren.«

»Kinder?«

»Nein.«

»Sie sind als Schriftsteller sehr erfolgreich. Gleichzeitig bewerben Sie sich bei den kommenden Wahlen als unabhängiger Kandidat um das Amt des MP für South Cambridgeshire.«

»Korrekt.«

»Was hat Sophia Ayling gesagt, als sie nach Ihrem Vortrag in York auf Sie zukam?«

»Lassen Sie mich nachsehen.«

Ich ziehe mein iDiary aus der Tasche und tippe auf der Tastatur, ehe ich wieder zu Richardson aufblicke.

»Sie sagte, sie liebe meine Bücher und lese sie schon seit Jahren. Und sie hoffe, ihr noch unveröffentlichtes Manuskript möge von ähnlichem Erfolg gekrönt sein. Zumindest steht es so in meinem Tagebuch.«

»Sonst noch etwas?«

»Nein.«

»Warten Sie. Sagte Miss Ayling nicht auch, sie wäre verrückt nach Ihnen?«

Der ist wirklich nicht auf den Kopf gefallen, dieser Inspektor Richardson.

»Ach ja. Das sagte sie.«

»Und wie lautete Ihre Antwort?«

»Ich sagte ihr, ich fühlte mich geschmeichelt.«

»Was geschah danach?«

Ich halte kurz inne. Ich würde tatsächlich alles tun, um zu erfahren, was Sophia in ihrem Tagebuch über unsere erste Begegnung geschrieben hat.

»Sie lud mich zum Abendessen ein. Ich habe abgelehnt.«

»Sie haben also dieser bildhübschen Blondine eine Abfuhr erteilt?« Ein ungläubiger Ausdruck huscht über das Gesicht des Inspektors.

»So war es.« Ich begegne Richardsons Blick, wohl wissend, dass hier Sophias geschriebene Worte gegen meine stehen. Doch ich habe einen Vorteil gegenüber Sophia: Eine tote Frau kann sich nicht länger mit Worten verteidigen. Ich schon.

»Aber warum?«

»Ich nehme keine Einladungen von irgendwelchen Leuten an, die ich auf Autorenkonferenzen treffe. Selbst wenn es sich um bildhübsche Blondinen handelt.«

»Warum nicht?«

»Wenn jemand angibt, verrückt nach mir zu sein, klingeln bei mir die Alarmglocken.«

»Und warum das?«

Um eine passende Antwort verlegen, tippe ich die Worte »verrückt + Konferenz« in mein iDiary ein. Zu meiner Erleichterung poppt ein einzelner Treffer auf. Ich überfliege den Text, bevor ich mich wieder Richardson zuwende.

»Bei solchen Veranstaltungen begegnet man immer wieder dem einen oder anderen Bekloppten, Inspektor. In meinem Tagebuch vom vergangenen Jahr steht, ich hätte gesehen, wie eine Frau mit einem auffällig pinkfarbenen Lippenstift einen Literaturagenten mit ihrer Handtasche attackiert hat.«

Der Detective zieht zweifelnd die Braue hoch.

»Und was geschah als Nächstes?«, erkundigt er sich. »Nachdem Sie Miss Aylings Einladung ausgeschlagen hatten?«

»Sie machte einen recht enttäuschten Eindruck. Doch sie ging.«

»Was meinen Sie damit, sie ging?«

»Sie verließ den Raum«, sage ich, bemüht, nicht allzu unwirsch zu klingen.

»Um dann in einem anderen Raum mit Ihnen zu schlafen?«

»Natürlich nicht.«

»Sind Sie sicher?«

»Hören Sie, Inspektor.« Es fällt mir schwer, mir meine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. »Ich verstehe ja, dass Sie Sophias Tod schnellstmöglich auf den Grund gehen wollen. Aber Sie sind auf dem falschen Dampfer, was mich betrifft.«

»Was ist nach der Konferenz geschehen?«

»Nichts.« Ich schüttle den Kopf. »Behauptet sie in ihrem Tagebuch denn, wir hätten über Jahre eine heiße Affäre am Laufen gehabt?«

Der Detective bleibt mir eine Antwort schuldig. Ich sehe, wie er erneut das Kinn vorschiebt, und wappne mich für die nächste Frage.

»Hatten Sie hinterher noch in irgendeiner Form Kontakt zu ihr?«

Statt zu antworten, tippe ich erneut auf mein iDiary ein.

»Ich erhielt ein paar recht überschwängliche E-Mails. Nachrichten, aus denen ich schließen konnte, dass sie immer noch von mir besessen war. Ich habe sie allesamt gelöscht. Meine Agentin Camilla leitet mir regelmäßig ganz ähnliche Mails von weiblichen Fans weiter.«

»Muss ein tolles Gefühl sein, wenn die Frauen einen so anhimmeln.«

»Mein Tagebuch sagt mir, dass es mitunter gehörig nerven kann.«

»Ihr Name taucht wiederholt in Sophias iDiary auf«, sagt Richardson nun zu meiner Verblüffung. »Ganze einhundertvierundachtzig Mal, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»So besessen war sie also von mir?«

»In ihrem Tagebuch finden sich … sagen wir … recht explizite Details«, meint Richardson und heftet den Blick auf mich. »Ich habe das immer noch nicht ganz verdaut. Das Tagebuch ist anders als alle, die ich bislang in Zusammenhang mit Mordfällen lesen durfte.«

Hellhörig geworden richte ich mich in meinem Stuhl auf.

»Das Ganze liest sich wie ein recht sprunghafter innerer Monolog«, fährt er fort. »Oder vielmehr wie ein reißender Strom an assoziativen, halbbewussten Hirngespinsten. Ein faszinierendes Geflecht von Gedanken.«

Ich wusste ja immer schon, dass Sophia recht launisch sein konnte (das steht in meinem Tagebuch), aber dass sie derart von der Rolle war, ist mir neu.

»Was hat sie über mich geschrieben?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Aber … aber … Sie meinten doch, Sie würden mir die relevanten Details mitteilen, sofern ich mit aufs Revier komme.«

»Ich sagte, ich könnte sie Ihnen mitteilen.«

»Hat sie geschrieben, dass sie total in mich verknallt war?«

»Die Fragen stelle immer noch ich.«

»Tut mir leid, Inspektor«, sage ich. »Ich bin nur neugierig, das ist alles. Sie haben mir immerhin gerade erzählt, dass mein Name einhundertvierundachtzig Mal in ihrem Tagebuch auftaucht.«

»Machen wir weiter.« Richardson hat den Mund zu einer schmalen Linie verzogen. »Können Sie mir bitte ganz genau schildern, wo Sie in den letzten drei Tagen waren? Fangen wir mit dem gestrigen Tag an.«

Wieder habe ich vier Möglichkeiten:

Richardson die Wahrheit über das sagen, was ich getan habe.Die Wahrheit über das sagen, was Claire getan hat.Lügen.Nichts von alledem.

»Meine Frau fühlte sich schon nach dem Aufwachen nicht wohl, da sie am Vorabend vergessen hatte, ihre Pillen einzunehmen«, fange ich an. »Deshalb beschloss ich, zu Hause zu bleiben. Ich habe sogar ein Treffen mit ehrenamtlichen Wahlkampfhelfern abgesagt, um ein Auge auf sie zu haben. Zum Glück war sie so vernünftig, den Tag im Bett zu verbringen, daher ging alles gut.«

»Was hatte sie denn?«

Ich stöhne. Tatsache ist: Claires Zustand sorgt bei mir schon seit Jahren immer wieder für Verdruss.

»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, Inspektor«, sage ich seufzend, »meine Frau leidet an Depressionen. Ihr Verhalten ist mitunter etwas unberechenbar. Ich wäre Ihnen übrigens sehr dankbar, wenn Sie diese Information vertraulich behandeln würden. Ich wünsche nicht, dass die Presse von den … ähm … gesundheitlichen Problemen meiner Frau erfährt.«

Richardson nickt, ehe er stirnrunzelnd etwas in sein Notizbuch kritzelt.

»Also waren Sie und Mrs Evans gestern den ganzen Tag zu Hause.«

»Ja.«

»Was haben Sie sonst noch getan, abgesehen davon, dass Sie ein Auge auf sie hatten?«

»Ich habe versucht, am Küchentisch ein wenig zu schreiben, während Claire sich oben ausruhte. Aber letzten Endes war ich nicht allzu produktiv. Also beschloss ich, in meinem Arbeitszimmer ein paar organisatorische Dinge zu erledigen. Ich habe jede Stunde nach Claire gesehen.«

»Was für organisatorische Dinge?«

»Tabellen. E-Mails. Dinge, für die es keiner Inspiration bedarf.«

»Und was inspiriert Sie, Mr Evans?«

»Das alltägliche Leben. Die einfachsten Dinge.«

»So was wie eheliche Turbulenzen zum Beispiel? Hat Sie so etwas zu dieser Szene in An des Todes Pforte inspiriert? Die, in der sich Gunnar gerade mal zwei Tage, bevor ihr gemeinsames Kind stirbt, mit seiner Frau Sigrid streitet?«

Der Detective hat also meinen Roman gelesen.

»Es ist unmöglich zu erklären, wie sich das wirkliche Leben auf die Gestaltung eines Romans auswirkt.« Meine Worte klingen leider etwas barscher als beabsichtigt.

»Wie behalten Sie den Überblick über das, was Sie inspiriert?«

Tatsache ist: Aus irgendeinem Grund haben mir auf Autorenkonferenzen bislang nur Monos diese Frage gestellt. Ich weiß nicht, wieso: Muss wohl mit einem für Monos typischen Minderwertigkeitskomplex zu tun haben. Aber der Detective ist doch sicherlich kein Mono, oder? Jedenfalls sollte ich ihm die übliche Antwort liefern, die ich jedes Mal von mir gebe.

»Indem ich mir alles in meinem Tagebuch notiere selbstverständlich. Alles. Das Grausame, das Herzzerreißende und das Absurde.«

»Und woher wissen Sie, was Sie bereits geschrieben haben, wenn Sie an einem Roman arbeiten?«

»Ich lese einfach alles, woran ich mich nicht mehr erinnern kann, noch einmal nach.«

»Und warum kommt Gunnar dann an einer Stelle aus Valberg und an einer anderen aus Varberg? Das eine liegt in Norwegen, das andere in Schweden.«

Fassungslos starre ich den Detective an. Tatsache ist: Diesen Druckfehler habe ich selbst erst zwei Monate nach Erscheinen des Buches entdeckt, er war allen, die an dem Buch gearbeitet hatten, entgangen. Und doch hat keiner meiner Leser je diesen Fehler bemerkt – nicht bis zum heutigen Tag. Richardson muss den Roman äußerst gewissenhaft gelesen haben. Das macht mich gleich doppelt nervös.

»Sie kennen sich offenbar aus mit der Geografie Skandinaviens, Inspektor.«

»Ich bin zu einem Viertel Schwede und zu einem Viertel Däne.«

Ich blinzele.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagt er.

»In allen Romanen finden sich … hm … solche Druckfehler. Verbringen Sie Ihre wertvolle Zeit etwa damit, Patzer in Büchern ausfindig zu machen?«

»Meine Aufgabe ist es, in scheinbar makellosen Oberflächen Risse aufzuspüren.« Der Detective sieht mich mit seinen grauen Augen eindringlich an. »Wie würden Sie eigentlich den Zustand Ihrer Ehe beschreiben?«

»Glücklich natürlich.« Meine Stimme scheint zu zittern, als ich dies sage, dabei gebe ich mir allergrößte Mühe, souverän zu klingen.

»Und was meinen Sie mit glücklich?«

Ich zermartere mir das Hirn nach einer angemessen sachlichen Antwort, ehe ich beschließe, mich einfach mit ein paar Zeilen aus An des Todes Pforte zu behelfen.

»›Es kommt ganz darauf an, wie man Glück definiert. Mein persönliches Verständnis von Glück lautet, dass man erst im Nachhinein weiß, dass man glücklich war.‹«

Richardson zieht eine Augenbraue nach oben, ehe er sich wieder ein paar Notizen macht.

»Was ist am Tag davor geschehen? Am Donnerstag?«

Jetzt wird es schon etwas kniffliger. Ich muss genau aufpassen, was ich sage.

»Da war ich auch zu Hause. Ich habe fast den ganzen Tag in meinem Arbeitszimmer verbracht, um zu schreiben. Anders als gestern war das ein recht produktiver Tag. Ich habe annähernd achthundert Wörter geschrieben. Am Nachmittag habe ich dann E-Mails beantwortet.«

»Sie haben das Haus also nicht verlassen?«

»Nein.«

»Haben Sie im Laufe des Tages mit irgendjemandem gesprochen?«

»Am späten Nachmittag habe ich mit meiner Agentin Camilla und meinem Wahlkampfmanager Rowan telefoniert.«

»Was geschah am Abend?«

»Nicht viel. Ich bin in meinem Arbeitszimmer vor dem Fernseher eingeschlafen.«

»Und vor zwei Tagen? Am Mittwoch?«

Ich strecke die Hand nach meinem iDiary aus und überfliege den Eintrag von Mittwoch.

Den ganzen Vormittag habe ich mit Glücksfall Dasein gekämpft, eine extrem frustrierende Angelegenheit, aber bis zur Mittagszeit ist es mir dann doch gelungen, beinahe achthundert Wörter zu schreiben. Dann ging ich in die Küche, um mir ein Sandwich zu machen, bevor Claire von ihrem Blumenworkshop aus Cambridge zurückkam. Ich genoss es, mein Sandwich zu verschlingen, ohne mich mit meiner Frau über läppisches Zeug unterhalten zu müssen. Es ist eine Schande, dass mich ihre Gegenwart neuerdings derart langweilt. Nach dem Mittagessen rief ich Camilla an, um ihr zu versichern, dass ich mit Glücksfall Dasein gut vorankomme.

– So ein Glück! Autoren und Abgabetermine passen nur in den seltensten Fällen zusammen. Das ist eine Tatsache. Aber du wirst pünktlich liefern, nicht wahr?

– Ich bin froh, dass sich dieser Shitstorm wegen meines Artikels in der Sunday Times in den letzten Tagen etwas gelegt hat.

– Ein Shitstorm ist genau das, was wir brauchen, damit dein Buch sich gut verkauft. Das war wohl die beste Eigenwerbung, die du je zu Papier gebracht hast. Vielleicht solltest du nächsten Monat gleich noch so einen Artikel hinterherschicken?

Camilla sagte außerdem, unser Presseagent Ben versuche noch ein Prime-Time-Interview im Fernsehen zu organisieren, kurz vor Veröffentlichung des Romans im kommenden Frühjahr. Er sei recht zuversichtlich, meinte sie noch. Nicht zuletzt dank der Aufregung um den Artikel.

Etwas später rief Rowan an, um die Uhrzeit für unsere Pressekonferenz in der Gemeindehalle von Cambridge zu bestätigen: zwölf Uhr an diesem Samstag, zufällig etwa zur gleichen Zeit wie die Verabschiedung des Gesetzesentwurfs für Mischehen, der am Freitag die königliche Zustimmung erhalten soll. Ich solle das Beste aus der Tatsache machen, dass ich schon seit zwanzig Jahren in gemischter Ehe mit einem Mono lebe.

– Man muss die Gelegenheiten beim Schopfe packen, wenn sie sich ergeben, Mark. Das ist eine der wichtigsten Regeln in der Politik. Nicht minder entscheidend ist das richtige Timing, falls du nicht schon von selbst draufgekommen bist.

Rowan hat recht. Ich habe den gesamten Nachmittag damit verbracht, mir Antworten auf mögliche Fragen der Journalisten zu überlegen, die ich unter dem Namen PRESSEKONF.DOC abgespeichert habe. Anschließend habe ich E-Mails beantwortet und mich um Korrespondenz gekümmert, die mit meiner Kampagne zusammenhängt (Gott, wie ich diese Bürokratie hasse – vielleicht sollte ich mir eine Sekretärin zulegen?)

Das Abendessen nahm ich dann gemeinsam mit Claire ein, die den ganzen Nachmittag damit zugebracht hatte, mein Lieblingsessen zu kochen, Kanincheneintopf. Ich fühle mich jedes Mal schrecklich mies, wenn ich sehe, wie sie sich in der Küche abrackert. Warum nur will sie mir immer krampfhaft eine Freude machen? Ich fühle mich gleich doppelt schuldig, wenn sie versucht, mir was Gutes zu tun. Das Kaninchen war spektakulär lecker, doch den Gesprächen fehlte es wie immer an intellektuellem Feuer. Warum interessiert sich Claire nicht für Kunst oder klassische Literatur? Für Stücke von Ibsen, Wagner-Opern oder die Werke von Virginia Woolf? Was um alles in der Welt findet sie an diesen albernen Frauenmagazinen auf ihrem Nachtkästchen? Warum muss ich mir jedes Mal auf die Zunge beißen, wenn ich irgendwelche Wendungen im Plot von Glücksfall Dasein diskutieren möchte? Weil ich ja ohnehin weiß, dass ein Mono wie sie da niemals mitkommen würde?

Den Rest des Abends verbrachte ich in meinem Arbeitszimmer vor dem Fernseher und kam weit besser mit der Flasche Château Lafite Rothschild (Jahrgang 1996) voran als mit Glücksfall Dasein.

»Ich habe den Vormittag mit Schreiben verbracht«, verkünde ich und blicke von meinem Tagebuch auf. »Zum Mittagessen hatte ich ein Sandwich, danach habe ich mit Camilla und Rowan telefoniert. Anschließend habe ich mich den restlichen Nachmittag um E-Mails und anderen lästigen Kram gekümmert und den Abend vor dem Fernseher verbracht.«

»Bei Ihnen scheinen die Tage recht ähnlich abzulaufen, wirklich erstaunlich.« Der Detective hebt die linke Augenbraue und sieht mich forschend an. »Sie haben am Mittwoch exakt dasselbe getan wie am Donnerstag.«

Mist. Ich hab’s wieder vermasselt.

»Ich bin Schriftsteller«, erkläre ich und gebe mir alle Mühe, gefasst zu klingen. »Im Laufe meiner Karriere habe ich gelernt, die Symptome kreativen Wahnsinns zu erkennen und zu versuchen, das Beste daraus zu machen. Das ist der Grund, weshalb ich die ganze Woche zu Hause verbracht habe, um zu schreiben. Das steht so in meinem Tagebuch. Ich verlasse das Haus nur, wenn ich muss.«

»Kreativer Wahnsinn«, wiederholt Richardson meine Worte mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Ich erinnere mich, diesen Ausdruck in Sophias Tagebuch gelesen zu haben.«

Das überrascht mich nicht im Geringsten, weil ich den Ausdruck ursprünglich von Sophia habe. Tatsache ist: Sie hat ihn in Bezug auf mich benutzt, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Ich war so begeistert davon, weil er die produktiven Phasen meines Schaffens, wie ich sie gelegentlich erlebte, so haarscharf auf den Punkt bringt, und deshalb habe ich ihn mir sofort aufgeschrieben und anderntags auswendig gelernt.

»Sophia war natürlich selbst eine angehende Autorin«, gebe ich zu bedenken. »Die meisten Schriftsteller, da bin ich mir sicher, hoffen früher oder später auf einen Ausbruch kreativen Wahnsinns.«

»Aber nichts in ihrem Tagebuch deutet darauf hin, dass sie sich selbst als Schriftstellerin sah.«

Der Blick des Detective bohrt sich in meine Augen.

»Sie nimmt nirgends auf unveröffentlichte Manuskripte Bezug«, fügt er hinzu. »Und sie erwähnt auch mit keinem Wort, dass sie an irgendwelchen literarischen Meisterwerken geschrieben hätte.«

»Wie seltsam, Inspektor«, sage ich, immer noch angestrengt darum bemüht, die Fassung zu wahren. »Sie muss doch ganz bestimmt ein Manuskript erwähnt haben, in dem es um Patienten in einer Irrenheilanstalt geht.«

»Schon sonderbar, dass Sie das sagen.« Richardsons Mundwinkel zucken. »Miss Ayling schien sich nämlich tatsächlich gut auszukennen mit dieser Sorte Einrichtungen. Ihr Tagebuch dreht sich praktisch ausschließlich um dieses Thema.«

Mit einem Mal habe ich einen schalen Geschmack im Mund.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit sagen, dass sie in einer psychiatrischen Anstalt war, aus der sie erst vor zwei Jahren entlassen wurde.«

»Sie war in der Psychiatrie?«

»Ja. Sieben Jahre lang.«

»Das ist mir neu, Inspektor.«

Offenbar ist dem Detective das leichte Zittern am Ende meines Satzes nicht entgangen, denn jetzt beugt er sich mit unerschrockenem, unerbittlichem Blick vor. Er erinnert mich an einen Leoparden kurz vor dem Sprung, bis aufs Äußerste angespannt, eine hungrige Raubkatze, die ihr Opfer beäugt.

»Jemand hat Miss Ayling umgebracht«, presst er nun mit einem Knurren in der Stimme hervor, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. »Ich spüre es in den Knochen, auch wenn mein Deputy denkt, es war Selbstmord. Jedenfalls ist bis Ende des Tages der Bericht der Gerichtsmedizin fertig. Ich bin sicher, dass der meinen Verdacht bestätigen wird. Sophia Ayling hat sich keinen Mantel übergezogen, die Taschen mit Steinen gefüllt und sich im Cam ertränkt wie Virginia Woolf. Ja, ich kenne mich auch aus mit Literatur. Und noch bevor dieser Tag zu Ende geht, werde ich herausgefunden haben, wer ihr Mörder ist. Merken Sie sich meine Worte, Mr Evans. Ich werde es herausfinden.«

Offizielle Richtlinien für Monos und Duos anlässlich ihrer Transition am 18ten/23ten Geburtstag:

Wie man einzelne Details aus einem Tagebuch in Fakten umwandelt

Nehmen Sie die Einträge in Ihr Tagebuch immer erst gegen Ende des Tages vor, selbst wenn Sie ein Duo mit einer Gnadenfrist von zwei Tagen sind. Sie sollten alles notieren, was Ihnen wichtig ist, Details, die Sie für bedeutsam halten.