Menschen und Märkte -  - E-Book

Menschen und Märkte E-Book

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Beschreibung

Marktmechanismen beeinflussen unser Leben. Wie komplex das Thema Märkte ist, wurde den Autoren dieses Buches erst während ihrer Arbeit bewusst. Von unterschiedlichsten Standorten näherten sie sich dem Gegenstand. Einfache Wochenmärkte und Handel in der Südsee, übler Tierhandel und die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen in schwerer Zeit werden ebenso beleuchtet, wie Neigungen zu Handel, Übervorteilung und Ausbeutung. Auch eine gehörige Portion Humor kommt nicht zu kurz.

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Ähnliche


Cover Aquarell

„Blumenmarkt auf Kauai“

Rückseite

„Treppe unter Bäumen“

Reiseskizzen auf Seite → bis →

Karin Müller-Wichards

MenschenundMärkte

Inhalt

Jürgen Baasch

Vorwort

Ausschussware

Detlef Tanneberger

Die Reise nach Bordesholm

Muscheln im Gemüsesud für vier Personen

Nichts geht mehr

Elisabeth Albert

Die andere Hand

Vineta, die Prächtige

Extra-Geld

Marktwirtschaft

Heinz Zemke

Das Sonderangebot

Die Erbschaft

Die Schlange

Ein Traum

Statistiken im Marktgeschehen

Menschenhandel

Die Drehorgel

Im Wartezimmer

Ingrid Brandenburger

Grete Christiansen

Am Markt 12

Hof und Handel

Karin Müller-Wichards

Aunti Maili

Kunsthandwerkermärkte

Kunstmarkt, selbstgemacht

Fischmarkt in Hamburg

Die Schweden kommen

Regina Gay

Das Geld liegt auf der Straße

Marktpassion

Mister Frosti

Sadza

Schachern

Der Autoverkäufer

Neuanfang?

Thorsten Schönberg

Außerirdische Einblicke

Maria

Schwarz

Die Flippers und Korn

Freie Marktwirtschaft

Gebrauchtwagenmarkt

Die passende Geschichte

Indianer Jones

Gedichte

Marktschreier

Der Arbeitsmarkt

Der Kapitalismus

Auf dem Wochenmarkt

Baumarkt

Flohmarkt

Aktienmarkt

Eine Tapeziertischlänge

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Märkte und Literatur

Als Gisela Eichholz der Schreibgruppe das Thema „Märkte“ vorschlug, sorgte sie zunächst für Erstaunen. Bei näherer Betrachtung erwies sich das Thema aber als überaus ergiebig. Seit jeher gehören Kirchen, Tavernen und Märkte zu den Erfahrungs- und Handlungsräumen der Menschen, was sich in der Literatur widerspiegelt. Sie sind sich nur bei oberflächlicher Betrachtung fremd, die Welten von Geschäft und Dichtung. Seit der Antike gibt es Geschichten von Menschen im Marktgeschehen. In literarischen Erzählungen werden Individuen und Gruppen in Wettbewerbssituationen dargestellt, ihre Gefühle reflektiert und ihre Handlungsmöglichkeiten beschrieben. Sogar Goethe nahm sich unseres Themas an. Der Dichterfürst lässt in „Faust“ den dauernd klammen Kaiser klagen:

„Ich habe satt das ewige Wie und Wann. Es fehlt an Geld, nun gut, so schaff es denn!“ Mephisto macht ihm ein verführerisches und zugleich bedrückend modernes Angebot:

„Ich schaffe, was ihr wollt, und schaffe mehr.“ Das Anwerfen der Notenpresse als Fortsetzung der Alchemie. Und Gretchen stellt die Betrachtung an:

„Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles!“ Mit Lessings „Nathan der Weise“ wird der ehrbare Kaufmann zu einem literarischen Reihenmodell. Kaufmannsromane beschreiben im 18. und 19. Jahrhundert den Händler und sein Handeln im Markt. Redlich, ordentlich, loyal, entschlossen und genügsam sind die ehrbaren Kaufleute zum Beispiel in den Romanen von Gustav Freytag und Gottfried Keller. In dem ökonomischen Bildungsroman „Soll und Haben“ wird die Entwicklung des Waisenkindes Anton Wohlfahrt zu einem vorbildlichen Kaufmann beschrieben. Thomas Mann thematisiert in seinen „Buddenbrooks“ den Verfall einer Kaufmannsfamilie, deren Motto lautete:

„Mein Sohn, sei mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bei Nacht ruhig schlafen können!“, und sein Bruder Heinrich entlarvt in dem Roman „Im Schlaraffenland“ den Menschheitstraum vom Land, in dem Milch und Honig fließen, als Schimäre. Er dreht den Traum um: Aus der Illusion von der reichen und glücklichen Menschheit wird eine Welt der Märkte, in der jeder gegen jeden agiert. Bei Bertolt Brecht kämpfen die Massen auf den Märkten um ihr Überleben, während die reichen Führungsschichten unter Einsatz aller Mittel nach mehr Gewinn gieren.

Große literarische Vorbilder in Hülle und Fülle also. Unsere Geschichten betrachten das heutige Marktgeschehen, zeigen die nahezu unvermeidbare Verstrickung aller mit den modernen Märkten auf. Zu Hause oder auf fernen Kontinenten. Im Internet oder auf dem Wochenmarkt. Ehrlichen Handel oder üble Abzocke. Natürlich ist in Nischen Platz für Gefühle, Liebe. Wir erproben uns auf den Märkten, werden von ihnen manipuliert oder wollen sie erobern – und der Markt findet gar nicht statt. So vielfältig, wie die Erfahrungen der Autorinnen und Autoren mit Märkten sind, so unterschiedlich ihre Sichten auf das Marktgeschehen, so bunt und abwechslungsreich sind die Geschichten, die in diesem Band zusammengefasst sind. Uns Hobbyautoren hat das Schreiben viel Spaß gemacht. Ihnen wünschen wir viel Vergnügen beim Lesen.

Jürgen Baasch

Jürgen Baasch

Ausschussware

Alex war ein vierschrötiger Kerl: von kräftiger, gedrungener Gestalt mit einem mächtigen Schädel. Die tiefschwarze Maske wurde von einem breiten, mächtigen Fang beherrscht. Wild war er und stürmisch in Freude wie im Leid. Plötzlich konnte er, nach wildem Spiel oder verbotener Tat, den Kopf schräg stellen mit wehmütig versonnenem Blick, den ihm niemand zugetraut hatte. Er war ein wilder Bursche, ging keiner Rauferei aus dem Weg. Und wenn eine Hündin ihn lockte, konnte keine Macht der Welt ihn halten. Immer wieder entwischte er dann, um nach einigen Tagen müde, dreckig und ausgehungert zurück zu kommen, manchmal auch von Blut besudelt und mit verkrusteten Wunden. So war er im Dorf bekannt und bei seinen Leuten. Da machten sich seine Leute zunächst keine großen Sorgen, als er wieder einmal fort war. Für Verwunderung sorgte allerdings, dass er dieses Mal aus dem verschlossenen Auto entkommen sein musste. Oder hatte sein Herr doch vergessen, die Türen zu verriegeln? Egal, Alex würde ja bald wieder vor der Tür stehen. Das war sicher! Denn wenn sich Alex auch nicht immer unbedingt unterordnete, so liebte er doch seine Leute, freute sich auf sein Fressen, genoss die Krauleinheiten, lag glücklich in seinem großen Korb und beobachtete aufmerksam alle Bewegungen. Nun blickten die Familienmitglieder immer wieder zu Alex`s leerem, aufgeräumten Platz. Aber er war nicht da. Was hätten sie ihm alles verziehen, käme er doch nur zurück. Doch Alex blieb verschwunden.

Hera war das Gegenteil: zierlich, aber dennoch kräftig, anschmiegsam und weich mit glattem, glänzendem Fell. Ihre Haltung wies auf vornehme Geburt hin, und trug sie die Nase, über der eine weiße Blesse die schwarze Maske teilte, nicht majestätisch hoch? Hera wohnte bei ihrer Familie in der Kleinstadt, etwa 50 Kilometer entfernt von dem Dorf, dessen Hundewelt Alex dominierte. Sie hing an ihren Menschen, war voller Treue und Hingabe für Ihren Herrn. Die Hündin war sehr gescheit, unterschied mit feinem Gespür. Es schien, als wolle sie Menschen, die sich Hunden gegenüber eher reserviert oder gar ängstlich zurückhaltend zeigten, davon überzeugen, dass alle Sorge unbegründet sei. Sie umschwänzelte die Hundeskeptiker, blickte sie aus ihren dunklen Augen wehmütig versonnen an, leckte vorsichtig die Hand und, wenn sich Gelegenheit bot, auch das Gesicht. Hera und ihr Herr waren im Ort ein vertrauter Anblick. Er führte die Hündin am Fahrrad, wenn er auf dem Weg zu seinen Besorgungen war. Geduldig wartete sie vor Geschäften oder Büros, bis ihr Herr wieder zurückkehrte.

Aber eines Tages, als ihr Herr aus dem Rathaus heraus kam, wartete vor dem Portal, dort, wo er sie angebunden hatte, keine Hera. Nur das Fahrrad stand dort, wie meist nicht angeschlossen und mit einigen kleinen Einkäufen im Gepäckkorb. Tausend Gedanken schossen dem Mann durch den Kopf: Hatte seine Frau Hera vom Warten erlösen wollen und sie mit nach Hause genommen? Ein kurzer Anruf, und diese Hoffnung zerplatzte. Wollte sich jemand einen Scherz mit ihm machen, hatte die Hündin an anderer Stelle angebunden? Die Kreise, die er mit dem Fahrrad um Rathaus und Marktplatz zog, wurden immer größer, die Hoffnung immer geringer, bis sie der Gewissheit wich:

Hera war gestohlen worden.

*

Max Kirchner hatte sich verspätet. Er war mit dem Bus vom Hauptbahnhof zur Slubicer Straße gefahren, hatte die träge dahinströmende Oder auf der Stadtbrücke überquert und zu viel Geld für die Taxifahrt zum Polenmarkt bezahlt. Aber er hatte versprochen, Zigaretten mitzubringen, und das wollte er einhalten. Und zu Essen würde sich auf dem Markt sicher auch noch etwas finden. Er zückte, während er nach Zigarettenhändlern und Essbarem Ausschau hielt, sein Handy, um einige Fotos vom Treiben auf dem Markt zu machen. Duft von Gebratenem stieg in seine Nase. Da sah er auf dem Display des Handys einen jungen Mann mit einem Karton unter dem Arm in die Hauptgasse einbiegen. Dass der Mann sich mehrmals umblickte, als wollte er sich absichern, machte Max Kirchner neugierig. Er drückte auf den Auslöser. Der Mann war an einen Müllbehälter herangetreten, öffnete den Deckel und ließ den Karton mit einer schnellen Bewegung in dem Container verschwinden. Aber hatte sich da nicht etwas bewegt, als der Karton über der Öffnung des Behälters schwebte? Max Kirchner war sich nicht sicher. Er fotografierte dem Mann, der sich mit schnellen Schritten entfernte, hinterher und ging zu dem Abfallcontainer. Bereits bevor er den Deckel hob hörte er leises Winseln. Schnell öffnete er die Klappe. Ein unbeschreiblicher Gestank schlug ihm entgegen. In all dem Müll, in Essensresten und verwelkten Pflanzen, in Verpackungen und Undefinierbarem, krabbelte ein Welpe und blinzelte aus großen Augen in die Helligkeit. Max Kirchner brauchte nicht lange zu überlegen. Er angelte den Karton aus dem Müll und stellte ihn neben sich auf den Boden. Weit musste er sich herein lehnen, um das Tier ergreifen zu können. Der Welpe war federleicht. Kirchner fühlte die Rippen, als er ihn an seiner Brust barg. Beruhigend streichelte er das Tier, redete auf es ein:

„Ja, mein Kleiner, jetzt wird alles gut. Du bleibst bei mir. Wollen sehen, wie wir dich aufpäppeln. Und einen Namen brauchen wir auch noch für dich.“ Er hob das Tier in die Höhe.

„Einen kleinen Rüden haben wir da. Wirst wohl mal ein Boxer werden. Oder ein Pit Bull. Vielleicht eine Mischung aus beiden? Pitboxer, so etwas ist modern. Wir werden sehen. Ajax sollst du heißen. Nach einem der griechischen Helden von Troja. Wollen sehen, dass wir aus deiner traurigen Gestalt einen Helden machen.“

Damit beugte er sich über den beschmutzten Karton, stieß ihn aber angewidert mit dem Fuß beiseite und bat einen Trödelhändler um eine Kiste. Großzügig polsterte der Trödler die kleine Holzkiste mit einem alten Lappen, und darauf fand Ajax erstmals in seinem Leben eine behütete Ruhestätte. Stolz spazierte Max Kirchner mit der Holzkiste unter dem Arm über den Markt. Einen Passanten, der ihn fragte, was der Hund denn kosten solle, wischte er mit einer Handbewegung fort. Kirchner erstand Halsband und Leine, einen kleinen Napf und zwei Dosen Welpenfutter. Der Taxifahrer, der ihn zurück in sein Hotel jenseits der Oder bringen sollte, schien an Hundetransporte dieser Art gewohnt:

„Der Kleine muss eine Viertelstunde in den Kofferraum. Dann ist alles gut“, sagte er.

Ajax und sein neues Herrchen nahmen ihr erstes gemeinsames Mahl in der Ecke eines Gartenrestaurants am Kleistpark ein. Der Hund, durch die neue Leine am Fortlaufen gehindert, bekam seine Mahlzeit aus der auf dem Polenmarkt erworbenen Dose, verfeinert mit einem Löffel der märkischen Pilzrahmsuppe, die zu Herrchens Menü gehörte.

*

Der Tierarzt runzelte die Stirn. Vor ihm auf dem Behandlungstisch lag ein Häuflein Elend.

„Ich fasse jetzt zusammen“, sagte er mit beherrschter, aber vor Zorn bebender Stimme. „Dein Hund wurde viel zu früh von der Mutter getrennt. Der Bauch ist von Würmern aufgequollen. Wurmkuren sind diesen dubiosen Händlern viel zu teuer. Außerdem hat er Staupe und ist unterernährt. Ich gebe ihm keine große Überlebenschance. Und was du am Kaufpreis gespart hast, das werde ich dir genüsslich auf die Behandlungsrechnung schreiben.“

„Aber ich habe ihn doch nicht gekauft. Man hat ihn weggeworfen, entsorgt. Ich habe ihn aus dem Müll gezogen.“

„So etwas sagen viele, die mit einem solchen tierischen Wrack zu mir kommen. Und dann feilschen sie noch um die Behandlungskosten. Geiz ist geil. Aber das will ich dir gar nicht unterstellen. Du wolltest das niedliche Tier nur aus seinem Elend befreien. Aber du kannst nicht die ganze Tierwelt retten. Du förderst nur das Geschäft der Hunde...“

„Stopp!“ Max Kirchners Stimme war schneidend und ernst. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich für einen solchen Trottel hältst. Aber bei aller Freundschaft: behandelst du das Tier oder nicht? Es gibt auch andere Tierärzte!“

Dr. Rahm bemerkte den Ernst in den Worten des Freundes.

„Gut, ich werde tun, was ich kann“, antwortete er, ging zum Medikamentenschrank und zog zwei Spritzen auf.

*

Ajax’s Welpenleben bestand nun aus Schlafen und Fressen. Die meiste Zeit lag er apathisch in seinem Korb. Irgendwann aber wurden seine Augen klarer, er wedelte mit der Rute und schien am Leben teilhaben zu wollen. Max Kirchner nahm ihn mit in eine Welpenspielstunde. Sieben jungen Hunden wurden die Halsbänder abgenommen, sie sollten miteinander toben und tollen. Fünf Minuten lang saß Ajax auf den Füßen von Max Kirchner, dann wagte er einige Schritte von ihm weg, nahm schnuppernd mit den anderen Welpen Kontakt auf und wurde Teil der wogenden, raufenden Welpenbande.

Ajax entwickelte sich gut. Er scheute dunkle kleine Räume, aber sonst hatte er seine traumatische Welpenzeit hinter sich gelassen. Eines Morgens stand sein Herrchen in aller Frühe auf und bereitete das Auto für eine Reise vor.

*

„Ich will dir zeigen, woher ich dich habe. Und mal sehen, was sich dort noch so ergibt“, sagte Max Kirchner, als Ajax in seine Hundebox im Kofferraum sprang. Auf dem Markt in Slubice fanden Max und Ajax einen Stand, an dem Krakauer Würstchen angeboten wurden. Von hier aus konnten die beiden sehr gut das Treiben an den Hundeständen beobachten. Herr und Hund teilten sich eine riesige Wurst. Vor den Welpen, die gegenüber in Kartons, Käfigen, Holz- oder Plastikkisten feilgeboten wurden, drängten sich die Menschen.

„Ach, sind die süß!“

„Papa, den Kleinen möchte ich haben!“

„Den wünsche ich mir zum Geburtstag!“

Diese und ähnliche Sätze hörte Max Kirchner oft. Angeboten wurde alles: Bulldoggen und Chihuahuas, Pit Bulls und Rottweiler, Cocker und Wolfshunde...

Max Kirchner konzentrierte sich auf die Verkäufer. Aber der junge Mann, der Ajax in den Müllcontainer entsorgt hatte, schien nicht dabei zu sein. Kirchner hob das Handy, um Fotos von den Hundeständen zu machen.

„Nein! Nicht fotografieren! Verboten!“

Der Mann versuchte, Kirchner das Handy zu entreißen. Aber er war dadurch gehandicapt, dass er in einer Hand zwei Welpen vor der Brust trug. Ajax war hin und her gerissen: Sollte er seinem Herrn beistehen oder die Welpen auf dem Arm des Fremden beschnuppern. Er entschied sich, zu knurren und sich gleichzeitig heftig wedelnd den Welpen zu nähern. Der Hundeverkäufer stand starr vor dem großen Hund. Jetzt hatte Kirchner Zeit, den Mann zu mustern. Ein freudiger Schrecken durchfuhr ihn: Das war der Mann, der Ajax in den Müll geworfen hatte.

„Ein schöner Hund. Ein Boxer. Willst du ihn verkaufen?“ fragte der Mann.

„Nein, auf keinen Fall“, platzte es aus Kirchner heraus. Geistesgegenwärtig fügte er hinzu:

„Aber ich kann mir vorstellen, einen zweiten zu kaufen. Als Spielkameraden. Leider sehe ich keinen Boxer.“

„Moment!“

Der Hundehändler entfernte sich eilig, um bald zurück zu kommen – ohne Welpen im Arm.

„Tut mir leid. Boxer sind sehr beliebt. Ausverkauft. Aber es sind noch zwei zu Hause bei Mutter.“

„Oh, ich habe Zeit. Urlaub“, log Kirchner. „Ich komme gern mit, sehe mir ihre Zucht an.“

„Nein. Das geht nicht. Ich muss noch anderes erledigen. Morgen bringe ich Boxer. Ich bin Marek. Frage morgen nach Marek, wenn du mich hier nicht siehst.“

Damit verschwand er. Kirchner und Ajax folgten ihm. Der Hundehändler ging zu einem weißen Fiat Ducato auf dem Parkplatz, aus dem er zwei Welpen holte. Max Kirchner wusste genug. Er und Ajax machten einen langen Spaziergang an der Oder entlang, buchten sich in einem hundefreundlichen Hotel ein, um gegen Marktende in Sichtweite des weißen Ducato ihre Beobachtungsposition einzunehmen. Ajax durfte auf den Beifahrersitz.

Gegen 17 Uhr kam Bewegung auf den Parkplatz. Händler eilten, übrig gebliebene Waren in ihren Fahrzeugen zu verstauen. Da kam auch der junge Hundehändler zu seinem Kleintransporter. Max Kirchner machte sich klein hinter seinem Lenkrad:

„Nun wollen wir mal sehen, wo du herkommst, Ajax. Der Marek wird uns hoffentlich direkt dorthin bringen.“ Ajax hatte die Ohren gespitzt, den Kopf schräg gelegt und den leisen Worten seines Herrn gelauscht. Der startete und begann die Verfolgung des Hundehändlers. Zunächst ging es auf die E30 Richtung Warschau. Nach einer dreiviertel Stunde setzte Marek Blinker. Über kleine Straßen ging es weiter. Max ließ den Abstand zu Mareks Fiat größer werden. Gerade noch sah er in dem Dorf Przelazy, wie Marek in eine Hofeinfahrt bog. Er notierte sich Straße und Hausnummer. Jetzt konnte er sich nur verdächtig machen. Ebenso zufrieden wie aufgewühlt fuhr er zurück ins Hotel.

Früh machten sich Max Kirchner und sein Hund Ajax auf den Weg. Ihr Ziel war zunächst die Kreisstadt Swiebodzinski. Die Polizei hatte ihren Sitz neben der Starostei. Zunächst erntete Max Kirchner bei den Polizisten nur ein mitfühlendes Lächeln. Die Worte Deutsche Botschaft, Europäisches Recht und vor allem Presse, den Beamten prononciert immer wieder vorgetragen, taten dann ihre Wirkung.

„Gut. Sie sollen ihren Willen haben. Wir werden die Hundehaltung auf dem Hof überprüfen. Meine Mitarbeiter sagen mir, eine Zucht ist dort nicht angemeldet.“ „Wann?“

Der Polizist schüttelte den Kopf. Er blickte in den Dienstplan:

„Um 14 Uhr. Wenn es ihnen gefällt?“

„Dzieknyje, vielen Dank!“ Sagte Max Kirchner.

Nach einem Spaziergang mit Ajax durch die Kreisstadt machten sich die beiden auf den Weg nach Przelazy. Max Kirchner wollte vor der Polizei dort sein. Selbstbewusst fuhr er in die Auffahrt, in der Marek gestern verschwunden war. Wie selbstverständlich ließ er Ajax aus dem Auto, leinte ihn an und suchte an der Pforte nach einem Klingelknopf. Den fand er nicht. Aber das schwere Tor war nicht verschlossen. Kirchner drückte es langsam auf. Er stand auf einem parkähnlichen Gelände mit zwei großen Gebäuden. Der Weg führte direkt auf ein renoviertes Bauerhaus zu. Daneben stand eine große Scheune, aus der klägliches Hundegebell klang. Ajax sträubten sich die Haare zur Bürste. Nachdem sie einige Schritte auf das Haus zu gegangen waren, öffnete sich die Tür. Eine alte Frau in Kittelschürze trat auf die Treppe und sprach die Besucher an. Ihr Misstrauen war unüberschaubar.

„Marek schickt mich. Ich will einen Hund kaufen. Einen Boxer“, sagte Max Kirchner, formte mit beiden Händen die Größe eines Welpen und zeigte auf Ajax.

„Marek“, wiederholte er und schlug, ohne auf die Reaktion der Stallwache zu achten, den Weg zur Scheune ein.

Die Alte folgte ihm zögerlich. Sie wusste nicht, was sie von der Sache halten sollte. Aber wenn Marek es so wollte! Als Max Kirchner das Scheunentor öffnete, schlug ihm bestialischer Gestank entgegen. Die große Halle war durch Drahtgitter in zahlreiche Verschläge abgeteilt. Wie Legebatterien. Aus den meisten Boxen blickten Hündinnen durch die rostigen Gitter. Aber keine Lebensfreude wedelte den Ankömmlingen entgegen.

In den verkoteten Käfigen lagen verwesende Fleischreste. Apathisch ließen einige Hündinnen den Ansturm der Welpen auf ihr Gesäuge über sich ergehen. Max Kirchner presste sich ein Taschentuch vor den Mund. Der Gestank wurde unerträglich. Vor Kirchner tat sich jetzt ein großer, von Käfigen freier Raum auf. An der Wand waren Hunde angekettet. In dem Dämmerlicht erkannte Kirchner einen Schäferhund, einen Wolfshund und in einer Ecke zahlreiche kleine Rassen.

„Das sind sicher die Zuchtrüden“, dachte Max Kirchner und trat so weit an die Tiere heran, wie der Boden nicht von Exkrementen und Futterresten verdreckt war. Da erblickte er ihn. Der Boxer war bis auf die Rippen abgemagert. Elend sah er aus, mit entzündeten Augen, dreckverklebtem Fell und blutig gekratzten Pfoten. Als der Hund sich aber aufrichtete, weil Max und Ajax an ihn heran traten, straffte sich der Körper der geschundenen Kreatur, die verborgene majestätische Statur deutete sich an.

„Das muss dein Vater sein, Ajax,“ sagte Max. Während er die Kette von der Wand löste, beschnupperten sich die beiden Hunde vorsichtig.

„Du kommst mit uns, alter Freund. Jetzt suchen wir nur noch deine Gefährtin – oder wie soll ich sie nennen?“

Mit zwei Hunden an der Hand eilte Max Kirchner durch die Gänge zwischen den Boxen. In der Mitte einer Reihe hätte er fast den schmutzig braunen Fleck in einem der Käfige übersehen. Ja, das war eine Boxerhündin. Sie mochte nicht aufstehen, als der Mann die Käfigtür öffnete. Heute Morgen hatte man ihr die letzten zwei Welpen weggenommen. Die Milch drückte. Der Fremde zog sie an ihrem viel zu engen Halsband hoch, bot ihr ein paar Leckerli an, die sie gierig verschlang, und befestigte eine dünne Leine an ihrem Halsband. Dann strebte er mit den drei Hunden dem Ausgang zu.

„Stopp!“ rief die alte Frau, jetzt sehr resolut, und streckte Kirchner ein Handy entgegen.

„Marek! Stopp! Warten!“

Aber Kirchner schob sie beiseite, setzte seinen Weg zum Portal mit schnellen, aber gemessenen Schritten fort. Die Hunde knurrten. Sie hatten das Auto fast erreicht, als ein herbeieilender Mann den Deutschen ansprach:

„Sie sollten auf Marek warten!“

Der grauhaarige Herr trug einen dunklen Anzug und wirkte sehr bestimmt. Noch während Max Kirchner sich eine Antwort überlegte, näherte sich ein PKW und hinter ihm ein Traktor. Der nicht mehr ganz neue Mercedes stellte sich quer vor Kirchners Auto, und der Traktorist brachte sein blubberndes Fahrzeug hinter dem Wagen zum Stehen. Fortfahren unmöglich.

„Ich sage, Stopp bis Marek kommt!“ Die alte Dame hatte jetzt ein breites Lächeln aufgesetzt. Max blickte auf seine Armbanduhr. „Schon nach halb drei“, fluchte er leise vor sich hin. Polnische Wirtschaft und korrupte Bande waren noch die sanftesten Schimpfwörter. Da blinkte Blaulicht durch den gleißend hellen Nachmittag. Zwei Polizeiwagen und einige Zivilfahrzeuge rollten auf die Szene zu. Max setzte sein breitestes Grinsen auf: „Polizei wartet jetzt auf Marek.“

Aber die Beamten kümmerten sich nicht um die Gruppe an der Pforte. Geschickt umkurvten sie die Fahrzeuge vor der Einfahrt, hielten auf dem Hof und stürmten in die Gebäude. Mit rauer Stimme erteilte Befehle klangen herüber. Max hatte genug gesehen. Mit einer Handbewegung forderte er die Fahrer auf, ihm den Weg freizumachen. Er öffnete die Heckklappe, und Ajax sprang freudig in sein Reisequartier. Den beiden anderen Hunden half Kirchner auf die Rückbank. Er stieg ein, startete und fuhr unbehelligt davon.

*

„Die habe ich geklaut!“ Die beiden abgemagerten Hunde bibberten im Behandlungszimmer. Aus verklebten Augen beobachteten sie misstrauisch jede Bewegung des Tierarztes und seiner Assistentin. „Ich glaube, das sind die Eltern von Ajax.“

Während Dr. Rahm zunächst den Rüden untersuchte, erzählte ihm Max Kirchner die Geschichte der Befreiung der Boxer.

„Zu Hause habe ich sie mit kleinen Portionen gefüttert. Der Rüde hat alles, was ich ihm vorsetzte, gierig verschlungen. Und noch bei den anderen Hunden geklaut. Die Hündin frisst nicht. Sie liegt die ganze Zeit teilnahmslos in ihrer Ecke.“

„Sie vermisst ihre Welpen, will ihre Milch los werden. Hast du beide gewogen?“

„Ja, gerade, im Wartezimmer. Er wiegt 24 Kilo. Ajax mit seinen 12 Monaten wiegt schon 33 Kilo. Und sie bringt gerade mal 18 Kilo auf die Waage.“

„Beide total unterernährt. Du musst sie erst mal aufpäppeln. Ich impfe sie jetzt, spritze ihnen ein Stärkungsmittel und gebe dir Wurmkurtabletten mit.“ Der Tierarzt blickte auf. „Aber vielleicht musst du dich gar nicht mehr lange um sie kümmern“.

Er wandte sich an seine Sprechstundenhilfe:

„Geben Sie mir bitte das Chiplesegerät.“

Mit dem Gerät fuhr Dr. Rahm langsam über die linke Schulter der Tiere. Bei beiden Hunden gab das Lesegerät einen Piepton von sich.

„Das ist schon mal gut! Nun müssen wir nur noch prüfen, ob die beiden bei Tasso registriert sind.“

„Wieso? Sie sind doch gechipt.“

„Ja, aber nicht alle Chips sind im Zentralregister erfasst. Obwohl das kostenlos ist. Leute, die oft mit ihren Tieren ins Ausland fahren, verwenden den Chip nur zum Nachweis, dass der Hund das zum Ausweis passende Tier ist.“

„Eigentlich doch Unsinn, wenn die Registrierung nichts kostet. Mir tut es jetzt schon fast ein wenig leid, dass ich die beiden abgeben soll.“

„Schauen wir mal.“ Der Tierarzt blickte gespannt auf das Display des PC.

„Mit dem Rüden haben wir Glück. Er stammt von einem Dorf, nicht weit von hier. Aber die Hündin ist nicht registriert“, sagte er.

Max sah die Hündin an:

„Dann wirst du wohl bei uns bleiben müssen. Vielleicht bringst du deinem Sohn ja etwas mehr Feingefühl bei.“ „Wenn ich dir einen Rat geben darf, oder eine Bitte äußern. Ich drucke dir die Daten des Hundebesitzers aus. Aber vielleicht kannst du den Hund ja noch ein paar Tage behalten, ihn stabilisieren. Und auch mal baden!“ Der Tierarzt rümpfte lachend die Nase.

„Sonst nehmen ihn mir seine Leute gar nicht ab, meinst du?“

*

Drei Wochen später hielt ein Geländewagen vor dem Haus von Max Kirchner. Ein Ehepaar öffnete die Gartenpforte. Max Kirchner, der ahnte, wer da kam, ließ die drei Hunde aus der Haustür. Ajax sprang auf die Besucher zu, begrüßte sie nach Boxerart, sprang um sie herum und an ihnen empor. Molly, wie Kirchner die Hündin genannt hatte, weil er sie füttern wollte, bis sie ihrem neuen Namen Ehre machte, näherte sich den Fremden vorsichtig, wedelte dann aber freudig. Der alte Rüde strebte zunächst auch zu den Gästen. Dann stutzte er, hob die Nase, suchte eine Witterung zu erfassen, die ein leichter Wind herübertrug und in ihm etwas rührte, was tief verborgen, fast vergessen war. Nach langen Sekunden löste sich seine Erstarrung, er machte einige Schritte auf die Besucher zu, um wieder witternd stehen zu bleiben. Mit einigen Sätzen war er dann bei dem Paar, schnupperte an Hosenbeinen, leckte an Händen, prüfte von allen Seiten diese Menschen, diese Fremden Vertrauten, die sich, wie verabredet, zunächst nicht regten. Auch Molly und Ajax hatten wohl bemerkt, dass da etwas Besonderes vor sich ging. Sie kehrten zu Max Kirchner zurück und beobachteten die Szene.

Der in seinen Grundfesten erschütterte Hund umkreiste die Ankömmlinge. Wer waren sie, wer waren diese Leute?

Dann legte sein alter Herr langsam eine Hand auf den Kopf des Hundes und sagte:

„Alex, unser Alex!“

Da gab es kein Halten mehr. Mit einem Satz sprang Alex an ihm hoch, fuhr ihm mit der Zunge übers Gesicht rannte dann kreuz und quer durch den Garten, um immer wieder zu seinen Leuten zurück zu kehren, sie stürmisch zu liebkosen. Dann stand er still, streckte seinen Körper und stieß ein durchdringendes, einem Weinen ähnliches Heulen aus.

Man verbrachte noch einige Zeit auf der Terrasse. Alex wuselte zwischen allen, Menschen und Hunden, hin und her. Er zeigte allen: Seht her, das sind meine Leute!

*

So blieben Max Kirchner und Ajax mit seiner Mutter Molly allein. Langsam erholte sich Molly, sie gewann an Gewicht, ihr Fell begann zu glänzen. Im folgenden Frühjahr spazierte Max Kirchner mit seinen Hunden über einen Handwerkermarkt. Molly war wieder ganz die majestätische Boxerhündin. Nur ihre Maske war früh ergraut. So schritt sie neben Ajax, ihrem Sohn und Beschützer, am Doppelhalsband vor den glänzenden Fenstern eines Cafés entlang. Drinnen saß, bei Kaffee und Torte, ein Ehepaar:

„Sieh mal, die Boxerhündin dort. Sie sieht aus wie unsere Hera!“ Die Frau war ganz aufgeregt. Er blickte auf:

„Hat sie auch eine Blesse?“

„Ja, ich glaube…“

Der Mann sprang auf, aber als er aus dem Lokal gestürmt war, waren Max Kirchner und seine Hunde in dem Besucherstrom verschwunden. Nur Molly glaubte, einen Ruf aus längst vergangener Zeit zu vernehmen: „Hera! Hera!“

Thorsten Schönberg

Marktschreier

Martin brüllt aus voller Kehle,

laut, als wären es Befehle,

und zum wiederholtem Male:

„ Aale, Aale, Aale, Aale!“

Nebenan wird auch geworben

Nudel-Uwe schreit: „ Ihr Horden!“

Stopft in eine Plastiktüte:

„ Nudeln nur von höchster Güte!“

Weiter geht’s zu Taschen-Ole.

Der besticht durch Bass-Gejohle.

Ruft, krakeelt und bietet feil

manches Taschenmonsterteil.

Und nur einen Meter nach ihm

kauft man Würste ein bei Achim.

Heringshunger? Halb so schlimm…

dafür brüllt ja Matjes-Tim.

Aus dem Dezibel-Gewitter

ragt hervor ein weit’rer Ritter.

Doch statt Rüstung trägt er Schürze:

Ecki bringt uns die Gewürze!

Und so werben sie mit Worten,

Käse-Rudi und Konsorten.

Brüllen, rufen und beschwatzen…

bis selbst Trommelfelle platzen!

Detlef Tanneberger

Die Reise nach Bordesholm

Schon in meiner Jugend, selbst auf dem Lande lebend, brauchte sich keiner Gedanken über den Erwerb frischer Fische oder von Teilen dieser, zu machen. Zweimal in der Woche, immer am Dienstag und am Freitag kam der Fischmann mit seinem Verkaufsauto. Eine große bronzene Glocke schwingend, rief er laut, frische Fische - frische Fische.

Einmal in der Woche wurde Fisch gegessen. Bei uns war es der Freitag, an dem eine Fischmahlzeit auf den Tisch kam. Ich denke, es lag daran, dass der Fisch freitags am günstigsten zu erwerben war. Die Ware musste weg, am Montag konnte sie nicht mehr zum Verkauf angeboten werden.

Obwohl der Fischmann sein Angebot kühl auf Eis lagerte und ständig die besondere Frische seiner Ware hervorhob, konnte sich keiner so richtig sicher sein, wie lange die Schuppentiere bereits auf Tournee waren.

Das Angebot richtete sich nach der Fangsaison der einzelnen Arten und war bei weitem nicht so vielfältig wie heute. So gab es Neujahr natürlich Karpfen, bis März Kochfisch, dann Hering bis Mai. Ab Juni bis August Matjes, hin und wieder Scholle und dann bis Neujahr Kochfisch. Wobei mancher Kochfischesser nicht einmal genau wusste, um welchen Fisch es sich handelte. Kochfisch wurde schon in portionsgerechten Stücken angeboten - und das hatte auch seinen Grund.

In der heutigen Zeit kaum zu glauben - aber wahr. Arme Leute kauften und aßen sogar mehrfach in der Woche Fisch, um ihren Geldbeutel zu schonen.

Die Sache mit der Frische

Das Wichtigste beim Fischeinkauf ist und bleibt die Frische der zum Verzehr bestimmten Kreaturen. Zumindest für uns Schleswig-Holsteiner.

Wie mein Schwager Karl-Josef aus Köln darüber befinden muss, werden wir im weiteren der Geschichte noch erfahren.

Hartnäckig, seit Urväterzeiten, selbst bis in die heutigen Tage hinein, hält sich das Gerücht: Fische schmecken nur richtig gut in den Monaten des Jahres, in deren Namen ein „r“ zu finden ist, oder zumindest schmecken sie wesentlich besser als in den übrigen Monaten.

Die Ursache für diese Behauptung liegt im Marketing des Fischhandels aus dem vorigen Jahrhundert. Sind es doch gerade die „r“-Monate, die in den kühleren Jahreszeiten liegen. Die leicht verderbliche Ware Fisch konnte, auf Eis gelagert, frischer an den Kunden gebracht werden und hatte somit eine bessere Qualität als im Sommer.

Aber noch ganz andere Strategien wurden angewandt, um die fischige Ware an den Mann oder an die Frau zu bringen. In heutiger Zeit sicher nicht mehr möglich - oder?

Wann ist ein Fisch am schmackhaftesten, wann ist ein Fisch wirklich frisch. Muss Fisch frisch sein?

Viele Fragen - ein paar Antworten.

In der Literatur, insbesondere in den Werken von Goscinny, hervorragend bebildert von Uderzo, ist nachzulesen und nachzuschauen, wie ein Fischhändler auf einem Markt in Frankreich gerade besonders gut abgehangene und in gewisser Weise aromatisch duftende Fische anpries. Wurde die Ware dennoch nicht gekauft, wurde der Preis nach oben gesetzt, jetzt musste es klappen. Eine so teure Essware, die sich kaum noch einer leisten konnte, musste eine echte Spezialität sein. Wenn aber dies alles nichts nützte und der Fisch drohte, sich langsam aber sicher von selbst aufzulösen, wurde zum letzten Mittel gegriffen. Ein Gerücht wurde geschickt gestreut: Je älter und anrüchiger ein Fisch sei, desto mehr kommt seine potenzsteigernde Wirkung zum Tragen. Nun gab es kein Halten mehr.

Ob die Fische nunmehr von Männern oder von Frauen begierig gekauft wurden, bleibt zu untersuchen.

Früher und heute

Es ist noch gar nicht so lange her, sagen wir einmal so etwa zweihundertfünfzig Jahre. An den Küsten von Nord- und Ostsee lebten viele Fischer, die oft nur mit sehr kleinen Booten in Küstennähe dem Fischfang nachgingen. Mit dem Handel und Verkauf oder mit der Veredelung ihrer frischen Ware konnten sie nicht nur ihre Familien gut ernähren, sondern recht komfortabel leben und viele Arbeitsplätze sichern. Viele alte, sehr schöne ehemalige Fischerhäuser zeugen davon. Man kann sie heute noch in vielen ehemaligen Fischerorten bewundern. Allerdings war die Fischerei eine harte handwerkliche Arbeit. Netze, Reusen oder Langleinen wurden am Abend gestellt oder ausgelegt und am frühen Morgen wieder eingeholt.

Der Fang war an Land. Die frischen Fische wurden auf feuchtem Seetang gelagert und auch noch damit bedeckt. Darüber wurde gestoßenes Eis gegeben.

Jeden Winter, wenn die Eisschicht auf den Seen des Landes stark genug war, wurden große Blöcke herausgesägt und in tiefen kühlen Kellern gelagert. Das so eingelagerte Eis hielt recht gut das ganze Jahr hindurch. Die Brauereien im Lande sägten übrigens eifrig mit, um so ihr Bier gut gekühlt auch an warmen Sommertagen transportieren zu können.

Alles wurde fangfrisch auf offene, schattige Wagen verladen und gelangte, von Pferden gezogen, immerhin in weniger als zehn Stunden an jeden Ort des Landes, heute Schleswig-Holstein genannt.

Hingegen fernab der Küste, zum Beispiel in Köln, sah die Welt schon ganz anders aus. Nach tagelangem Transport der Meeresfrüchte ist in dieser, dem Meer sehr weit abgelegenen Region, der noch heutzutage gebräuchliche Ausdruck „alter Stinkfisch“ geprägt worden, - denk ich mal.

Heute hingegen ist alles völlig anders, wenn wir uns ein frisches Fischfilet zubereiten möchten.

Die Gewässerbereiche in Küstennähe sind leergefischt, kleine Kutter haben kaum noch eine Chance am harten Wettbewerb teilzunehmen.

Große Fangschiffe fahren weltweit nur noch von wenigen Orten auf die Meere hinaus und Räubern alles was schwimmt und schwabbelt, bis ihre Laderäume prall gefüllt sind.

Aber lassen wir uns nicht ablenken von diesem Fischfrevel und verfolgen kurz die Reise eines frischen Seelachsfilets für zwei Personen:

Auch das für den Laien auf den ersten Blick als hochseetüchtig anzusehende riesige Schiff legt mit blitzsauber gereinigten Laderäumen und einer reichlichen Portion Stangeneis an Bord von der Fischfabrik in Lyngdal, im Süden von Norwegen, ab. Die Fanggründe liegen im nördlichen Atlantik. Sind aber schnell, nach zwei Tagen strammer Fahrt, zu erreichen.

Noch ehe unser Seelachs sich Gedanken über seine Zukunft machen kann, hat der Kapitän des Fangschiffes ihn mitsamt seiner über hundert Kameraden aus einer Entfernung von über zehn Kilometern schon lange ausgemacht. Zwar befindet sich unserer Seelachs, den wir noch gut kennenlernen werden, und ihn im Folgenden somit einfach nur Köhli nennen, in einem kleinen Schwarm von nur achthundert Kilogramm Gesamtgewicht. Aber die Entscheidung ist gefallen, die Mitnahme lohnt sich.

In diesem Moment ist Köhli's Weg in die heiße Pfanne beschlossene Sache und vorgezeichnet.

Nun gut, Köhli wird bereits am ersten Fangtag und dazu noch als erster in das Fangnetz bugsiert und landete somit ganz unten im Fangsack und kam mit der ersten Hohle an Bord. Als erster im Sack, als erster an Bord, sagt da eine alte Fischerweisheit.

Auf einmal geht alles nur noch rasend schnell. Köhli wird an Deck aus dem Netzwerk befreit. Der letzte Moment, in dem er noch apathisch etwas aufnehmen kann, es wird ihm schwarz vor Augen.

In atemberaubender Geschwindigkeit, auf bewässerten Rutschen, wird er in den großen Bauch des Schiffes befördert. Unten angekommen wird er wie viele, sehr viele anderer seiner Artgenossen schichtweise - Fisch - Eis - Fisch - Eis - eingelagert.

Was für ein Glück für den frischfischliebenden Endverbraucher, die Laderäume sind bereits nach sechs Tagen restlos gefüllt. Sofort und schnurstracks geht es wiederum in nur zwei Tagen nach Lyndahl zurück.