Menschen wie Dirk - Julia Kohli - E-Book

Menschen wie Dirk E-Book

Julia Kohli

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Beschreibung

Julia Kohli seziert in ihrem zweiten Buch Rollenbilder und Geschlechterkonflikte im Hier und Jetzt. Es sind Paare, Berufskollegen und Unbekannte aus unterschiedlichsten Mi­lieus, die sich begegnen. Sei es ein starker Kerl wie Dirk, eine genervte Zeitungsredaktorin, eine besorgte Mutter oder ein arrivierter Professor: Kohli kommt dem Lebensgefühl ihrer Figuren, ihrem Selbstverständnis, ihren Komplexen und ihrer Ohnmacht im Umgang mit dem anderen Geschlecht mit erstaunlichen Innensichten auf die Spur. Rasant, provokant und sprachgewandt, oft schmunzeln machend und plötzlich wieder schockierend - mit diesen sieben Short Storys legt Julia Kohli eine Textsammlung vor, die mitten in ein gesellschaftliches Reizthema sticht. Sie ist dabei ebenso unangepasst wie überzeugend.

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Seitenzahl: 161

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Julia Kohli

Menschen wie Dirk

Short Storys

Die Autorin

Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, absolvierte eine Buchhandelslehre und studierte Wissenschaftliche Illustration, Anglistik, Osteuropäische Geschichte sowie Kulturpublizistik in Zürich. Sie schreibt u.a. für Das Magazin und die NZZ am Sonntag. Ihr Roman Böse Delphine wurde 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet. Julia Kohli lebt in Zürich.

E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © 2021 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagbild: Max Pixel

eISBN 978 3 85787 990 6

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Inhalt

Dirk

Irina

Urs

Diana

Pierre

Samantha

Kurt

Dirk

Die Salbe kühlt. Dirk hält die Luft an, zieht die hochgekrempelte Trainerhose wieder vorsichtig über seine rechte Wade. Er wischt sich die klebrigen Finger an seinem T-Shirt ab und betrachtet die silberne Tube mit dem schwarzen Schlangenkopf-Aufdruck. Die zweigeteilte Reptilienzunge hängt unentschlossen aus der kleinen Mundöffnung. Seltsame Zeichnung für ein Heilmittel. Die Schlange, Begleiterin von Asklepios, macht Sinn, aber wieso nur ein Kopf, ohne Schwanz? Und heisst das Ding überhaupt Schwanz? Oder Schwanzkörper? Körperschwanz? Dirk legt die Tube wieder zurück in den Medizinschrank, genau dorthin, wo er sie vorgefunden hat. Ana sollte von dem Ding an seiner Wade nie erfahren.

Alles kommt gut, du hast schon Schlimmeres überstanden, flüstert er sich zu, und während er sich die Hände wäscht, denkt er an ein Klassenlager, wo er wegen einer Salmonellenvergiftung Blut geschissen hatte. Er greift nach Anas Haarbürste, kämmt ausgiebig sein bis zur Taille reichendes goldenes Haar und denkt über Bakterien, Antibiotikaresistenzen und sein Immunsystem nach.

Neben dem Badezimmerspiegel zappelt eine Motte in einem Spinnennetz. Das flatterige, staubige Ding kämpft um sein Leben. Dirk benetzt sein Gesicht, den Hals, fasst sich an die Stirn, die sich ganz normal anfühlt, überhaupt nicht heiss. Zur Sicherheit noch ein Aspirin. Er greift nach der grünen Schachtel, die er vor wenigen Tagen am Münchner Flughafen gekauft hat und die ihm bereits alt und fremd vorkommt.

Ein Pfauenschrei, elend wie eine überfahrene Katze, dringt ins Badezimmer. So wird er nicht schlafen können. Dirks Augen verengen sich, seine Kieferknochen malmen, an der linken Schläfe tritt eine Ader hervor. Seine Gereiztheit enttäuscht ihn, lässt ihn umso gereizter werden. In Deutschland hatte er sich vorgestellt, dass er in Mexico City gelassener sein würde, ein neuer Dirk, Mexico-City-Dirk.

Der Pfau ist ausdauernd. Ein weiteres Auuu hallt im Innenhof. Dirk greift nach einer Seife, als wäre sie eine Handgranate, öffnet das Fenster und streckt den Kopf in die Nachtluft. Ein kühler Wind bläst ihm über die erregte Ader. Die Nacht und die Mexikaner, alles da draussen amüsiert sich über ihn. Ein silbernes Rauschen zieht durch die Palisanderbäume, flüstert über diesen sonderbaren Deutschen mit dem blonden Haar, den Idioten mit dem entzündeten Bein. Die Äste, wie eingefrorene Blitze, strecken sich dem Himmel entgegen, wohl in Kontakt mit himmlischen Kräften, peitschen Stromschläge direkt in Dirks Nervenbahnen. Ein Meer violetter Blüten flimmert über seinem Kopf, tänzelt und bebt, als sei Scheisskarneval. Der Pfau ist nicht zu sehen.

Schhhhhhh!, zischt Dirk. Laut zu werden, traut er sich nicht. Jemand könnte ihn für verrückt halten. Wahrscheinlich werden Menschen hier schon für weniger abgeknallt. Doch auf der Strasse rührt sich nichts, da liegen nur faulige Blütenblätter. Die Stadt antwortet ihm mit entfernten Polizeisirenen, dem üblichen Kläffen eines Strassenköters. Er atmet tief ein, seine Gereiztheit bröckelt, zerfällt, als er nochmals wütend werden will, verwandelt sich in einen eisernen Block in der Brust. Gefühlsschwankungen, fuck, was macht diese Stadt mit mir, kriege ich meine Tage, bin ich schwanger, liegt es am Essen? Dirks Hals schwillt an, die Tränendrüsen schmerzen. Schnell die Augen schliessen, zusammenkneifen, den Moment vorbeigehen lassen. Dieser Pfau. Wieso meint er den Ruf aus der Vergangenheit zu kennen? Aus einer Art Parallelvergangenheit? Vorvergangenheit? Als ob der Pfauenschrei jede Zellteilung, jeden Schritt der Entfremdung vom Urknall bis zur Zelle bis zum Schnitt der Nabelschnur nachzeichnen könnte. Einsame Kohlenstoffverbindungen linear vertont. Dirk schlägt seinen Kopf gegen den Fensterrahmen.

Die Seife immer noch in seiner verkrampften Faust. Er riecht daran. Sandelholz. Verdammter Hippiegeruch. Ana hatte sie wohl ausgewählt. Zwei schwere Tränen lösen sich aus seinen Augenwinkeln, fallen, obwohl das nicht möglich ist, ungewöhnlich langsam vom zweiten Stock, glitzern kurz auf im trübgelben Licht der Strassenlampe und landen im Kakteenbeet.

Dirk schliesst das Fenster. Woher diese verdammte Melancholie? Es gibt überhaupt keinen Grund. Er hat Ana gefunden: Chefin einer IT-Firma, Death-Metal-Fan wie er, Zapotekin, die schärfste Frau, die er je gesehen hat. Die Sache zwischen ihnen: eine ständig wiederkehrende Explosion. Eine Explosion in Zeitlupe, wie die Schlussszene von Antonionis Zabriskie Point. Nur schon der Gedanke an sie lässt ihn innerlich in Slow Motion explodieren, Millionen Bluttröpfchen und Knochensplitter schiessen zum Soundtrack von Pink Floyd in die Unendlichkeit. Dirk bereut, nichts über die Zapoteken zu wissen. Er sollte dies nachholen. Seine sechzehn Semester Romanistik nützen ihm hier nichts.

Beim Warten vor den Toiletten hat er sie kennengelernt, diese zapotekische Göttin, nach dem Konzert von Ancient Infection. Einzig dafür war Dirk nach Mexico City gekommen, ein spontaner Entschluss war das gewesen, weil er entschieden hatte, nur noch zu tun, was ihm gefällt. Sie hat ihn angesprochen, ihn gefragt, welche Produkte er für sein Haar benutze, ihn dabei angeschaut, als sei er eine exotische Pflanze. Dirk errötete, fasste sich aber angesichts der Einmaligkeit dieses magischen Moments wieder und lud sie auf ein Bier ein. Und eigentlich, so realisiert er jetzt, in diesem Badezimmer in dieser Wohnung in Polanco an der Avenida Schiller, hat sein Leben genau an diesem Tag begonnen. Deutschland ist zu einer nebligen Legende zusammengeschrumpft, einem Jammertal am anderen Ende der Welt, bevölkert von bucklig grauen Windjackenträgern.

Dirk wischt sich mit dem Ärmel das letzte Nass aus den Wimpern. Alles könnte perfekt sein. Wäre da nicht dieses Bein. Er steigt bekleidet in die leere Badewanne und versucht sich an Deutschland zu erinnern. Was hatte er dort gemacht? Als Teenager hatte er sich als Satanist versucht, die Werke von Aleister Crowley gelesen, Myrrhe und Weihrauch verbrannt, Runengedichte in Holzstücke geritzt, wallende schwarze Kleidung im Gruftikatalog bestellt, die Kontaktanzeigen dort studiert, schöne Brieffreundschaften – ja, das gab es damals – mit anderen Satanisten gepflegt. Er hatte sich aber seinen eigenen kleinen Satanismus gestaltet, ohne jemanden zu stören. Dirk Ackermann war schon damals kein Herdentier und würde niemals eins sein. In seinem Kult waren weder Hühner geschlachtet noch sonstige blutige Rituale in Wäldern abgehalten worden. Kopfhörer aufsetzen, Ancient Infection aufdrehen, mit wehendem Mantel durch Münchens Fussgängerzone spazieren, sich vom röchelnden Schrei des Leadsängers leiten lassen, so hatte sein Alltag ausgesehen. Nur so hatte er die in Steppjacken gehüllten Tanten mit ihren Pudeln und goldenen Brillenketten, die kreischenden bauchfreien Mädchen in Hüftjeans, die hirnbefreit pöbelnden Fussballerjungs ertragen können, nur so seine verkorkste Katholikenfamilie, den ganzen kleinbürgerlichen Dreck überlebt. Ancient Infection ist er treu geblieben, wieso er die Kräuterrituale aufgegeben hat, weiss er nicht einmal.

In wenigen Stunden wird er mit Ana nach Oaxaca fahren. Könnte problematisch werden. Gestern hat er sich das erste Mal mit ihr gestritten. Keine Angst, ich stelle dich als Freund vor, nicht als Verlobten, beruhigte sie ihn, als sie ihm die Reise vorschlug. Meine Verwandten haben noch nie jemanden aus Deutschland kennengelernt. Wieso betonst du Deutschland, als sei es eine Krankheit?, fragte Dirk. Ihr habt fast hundert Faschisten im Bundestag und eine bemerkenswerte Vergangenheit, falls dir das entfallen ist. Ana nannte ihm auch die genaue Anzahl AfD-Abgeordneter in Sachsen und Thüringen. Dirk hatte sie unterschätzt, ärgerte sich, war beeindruckt, schämte sich, wollte sich rechtfertigen, doch ein Trotz überkam ihn, wieso sollte er, war an der Misere schliesslich nicht schuld. Er entschied sich für die Strategie, die bisher bei allen Metal-Girls funktioniert hatte. Er sei eben verdammt noch mal nicht politisch, gehe nie wählen, Politiker seien sowieso alle korrupt, Lobbyisten, machtgeil, pädophil, schau sie dir an, das System, die Struktur an sich krank und so weiter. Ein grosser Fehler.

Als Deutscher? Gerade als Deutscher gehst du nicht wählen?

Ana sprang auf, schlug seinen Arm dabei von ihrer Schulter.

Für einen kurzen Moment hatte er Angst.

Genau solche pseudogebildeten Menschen wie du sind das Problem, schrie sie ihn an. Ja, schrie. Dir sind alle scheissegal, nur du und deine kindischen Bedürfnisse zählen, du gehst reisen, um arme Menschen anzuschauen, Konzerte zu hören, kehrst zurück in dein Nazidorf, wirst damit angeben, eine Eingeborene in Mexiko flachgelegt zu haben, dann lebst du noch fünfzig Jahre in irgendeinem Einfamilienhaus mit einer braven apolitischen Tussi, schraubst an deinem Synthesizer herum, kaufst ein paar Platten, und das alles, ohne jemals deine demokratischen Rechte genutzt zu haben. Und schaust dabei zu, wie diese rechten Schweine sich dein Land zurückerobern. Ich würde mich schämen.

Dirk konnte ihr nichts entgegnen. Im Normalfall hätte er mindestens zurückgeschrien, Respekt gefordert, wäre abgehauen, hätte die Zicke verflucht, die ihm solches an den Kopf warf, hätte sich zu Hause in einem einschlägigen Forum darüber informiert, wie mit solchen Frauen umzugehen war.

Stattdessen starrte er nach Anas Tirade eine Stunde lang auf seine Füsse und holte schliesslich Essen beim Take-away um die Ecke, nachdem er schüchtern nach ihrem Wunsch gefragt hatte. Sie sass währenddessen am Computer und programmierte wütend.

Der siebte Tag ist angebrochen, der siebte Tag meines Lebens, denkt Dirk und spürt, dass seine Kräfte ihn verlassen. Gestern, nach dem Streit und nachdem sie sich wieder halbherzig versöhnt hatten, begann seine Wade zu brennen. Halb schlafend, halb fluchend, kratzte er sich blutig, riss mit seinen schmutzigen Fingernägeln das noch nicht verheilte Tattoo auf. Vielleicht hatte sich das Ganze schon viel früher entzündet, aber sein Glücksgefühl war in der letzten Woche so überwältigend gewesen, dass er davon nichts mitbekommen hatte.

Mitschuldig an der Misere waren zwei Chinesinnen. Es war kaum zwei Monate her, in einem Genderseminar, das er zwecks Feldforschung gebucht hatte. Wollte wissen, worüber Feministinnen den ganzen Tag sprachen. Genderseminare besuchen war zum neuen Trend geworden auf dem Männerforum, das er gelegentlich, also täglich, aus Spass besuchte: ein bisschen rapportieren und austauschen, die Hässlichkeitsvariationen der Frauen dort besprechen. Wie lang die Haare an den Beinen, unter den Achseln waren, wie viele Pickel, Falten, wie schlecht die Zähne waren, welche zuerst weinen würde. Ein kleiner Spass zum Studienabschluss.

Kurz vor Lektionsbeginn des Seminars »Transformation von Männlichkeit« hatte er eine chinesische Austauschstudentin gefragt, ob er sich neben sie setzen könne. Sorry, besetzt, hatte diese gesagt. Okay. Sie wühlte dabei in ihrem bescheuerten Katzen-Glitzeretui, an dem eine debile flauschige Glitzerkatze baumelte. Dirk hatte gelächelt, wie er es immer tat, und sich in die erste Reihe gesetzt, neben einen Typen mit lackierten Fingernägeln und lila Wollpullover.

Er hatte seinen sorgfältig mit rosa Leuchtstift markierten Einführungstext über intersektionalen Feminismus hervorgekramt und diesen nochmals überflogen.

Als die zweite Frau eintraf, für die der Platz frei gehalten worden war, auch eine Chinesin, begannen die beiden hinter Dirks Rücken aufgebracht zu kichern und erzählten sich allerlei auf Kantonesisch oder Mandarin, er kannte den Unterschied nicht. Er hörte jedoch ganz genau zu, wunderte sich, was so lustig sein könnte, bis er sich sicher war, in diesem unverständlichen Geschnatter das Wort »Incel« gehört zu haben. Doch. Sogar ein zweites Mal: »Incel«. Die zwei Silben hatten sich langsam in seinen Rücken gebohrt, »In«, »cel«. »In«. »Cel«. Involuntary Celibate. Verlierer des Jahrhunderts. Für die Besucherinnen dieses Seminars war er ein einsamer, frauenhassender Wichstroll.

Der Raum wurde klein und stickig. Incel. Wieso er? Er hatte zahlreiche Beziehungen gehabt. Seine Ex Daria hatte Atomtitten. Der Traum jedes Incels. Und im Unterschied zu einem Incel las Dirk antike Dichter, interessierte sich für Philosophie. Hirnwindungen eines Incels konnten Werke von Sophokles, Kant, Nietzsche, Schopenhauer gar nicht verarbeiten. Pickel hatte er auch schon lange nicht mehr. Er gleiche Chris Hemsworth, hatte ihm Daria einmal gesagt, bevor sie ihn verliess. Der lief unter Sexiest Man Alive, wie er erfuhr, als er den Typen gegoogelt hatte. Von wegen Incel.

Dirk packte darauf seine Texte wieder ein und verliess das Seminar. Wahrscheinlich hätte er diesen chinesischen Gänsen sonst den Hals umgedreht. Seine Wut auf die zwei wurde in den nächsten Tagen immer grösser. Sie berechtigte ihn, zahlreiche SM-Pornos mit gefesselten Asiatinnen zu konsumieren. Das Genre hatte ihn zuvor eher abgeschreckt – doch nach dem Vorfall im Genderseminar öffneten sich in ihm neue Räume. Und die Idee mit dem Tattoo entstand.

In der Badewanne fühlt Dirk das Gewicht seines Körpers. Er inspiziert das Bein noch einmal vorsichtig. Ein Teil der Hose klebt auf dem Gemisch aus Eiter und Salbe. Schmierige rote Pusteln vermischen sich mit dem Schwarz und Rot der Tinte. Seine Wade scheint in Flammen zu stehen. Hätte er jetzt ein Messer zur Hand, er würde dieses Stück Haut rausschneiden. Ganze zweihundert Euro hat er sich nur schon die Zeichnung kosten lassen. Die Illustratorin hat es verdammt gut hingekriegt. Doch sie schaute ihm kein einziges Mal in die Augen, lächelte kein einziges Mal, als sie ihm das Werk überreichte, streckte bloss die Hand hin, steckte die zwei Hunderter ein, machte auf dem Absatz kehrt. Das Stechen im Studio »Unterwelt« kostete ihn nochmals vierhundert. Der Tätowierer sagte zwar nichts, schaute ihn jedoch etwas zu nachdenklich an. Arschgesicht, dachte Dirk. Das war zwei Wochen her.

Er blickt zur Decke. Wie hatte er sich gefreut, mit dem Tattoo durch die Scheissaltstadt zu schlendern, dabei all die Ökoweiber, Emanzen und alten Steppjacken aufzuscheuchen. Kink-Shaming, Prüderie, Intoleranz und so weiter, das alles hätte er ihnen an den Kopf geworfen, hätten sie ihre Moralzeigefinger gezückt, ihre blöden Münder auch nur halb geöffnet. Sein Tattoo verstiess gegen keine einzige gesetzliche Vorschrift.

Sein rechter Daumen hat sich inzwischen tief in die Seife gebohrt. Dirk wird leicht übel. Er legt das Stück auf eine Ablage, wo ein Buch von einer Rupi Kaur liegt. Er hebt es auf und schlägt Seite 119 auf, wo Ana ein Eselsohr hinterlassen hat. »you are snakeskin«, liest Dirk. Und er liest das Gedicht zu Ende. Verdammt, schon wieder. Unter seinen Fingern die Zeichnung einer sich häutenden Schlange.

Dirk schluchzt auf, erschrickt, weil er gleich wieder schluchzt, obwohl er das Gedicht nicht gelungen findet, da das Wort »exquisite« darin vorkommt und es zu pathetisch ist. Er legt das Buch wieder hin, lehnt sich zurück, atmet tief ein, versucht sich zu entspannen. Er inspiziert sein Haar und findet überall an den Enden hässliche feine Gäbelchen. Er sieht sich nach einer Schere um, doch da ist keine. Er könnte sein Haar schwarz färben, fällt ihm ein. Vielleicht würde er dann als Mexikaner durchgehen, könnte für immer hier untertauchen.

Oaxaca auf keinen Fall falsch aussprechen. Uahaca, Uahaca, Uahaca, flüstert Dirk. München ist 9841 Kilometer entfernt. Du bist für mich eine richtige Frau, sagte er zu Ana, nachdem sie gegessen hatten und Dirk sich ziemlich sicher war, dass ihr erster Streit vorüber war. Sehr feminin. Und natürlich.

Dirk, so was sagen Sextouristen in Tijuana, erwidert sie. Das erste Mal sprach sie seinen Namen aus.

Das war ein Kompliment!

Blondie, du hast die Hausaufgaben nicht gemacht.

Nenn mich nicht Blondie. Das ist verletzend.

Verletzend. Herrlich. Und was soll ich mit feminin? Mit natürlich? Was soll ich damit?

Ich dachte nur, weil du dich nicht für deinen Körper schämst. Deutsche Frauen nörgeln immer an ihren Körpern rum, sind steif, geldbesessen. Verdammt, schon war die Harmonie, die er hatte heraufbeschwören wollen, wieder futsch, nichts konnte er recht machen.

Denkst du, du bist in Disneyland? Und ich Pocahontas? Wirst du mir später auch noch erklären, wie ich mich richtig emanzipieren soll?

Vergiss es. Er drehte sich um und gab vor zu schlafen.

Nein, ich vergesse es nicht. Erklär mir verdammt noch mal, was eine natürliche, feminine Frau ist! Waren die zehn Frauen, die heute in Mexiko von ihren Männern umgebracht wurden, nicht natürlich genug?

Spinnst du jetzt, wie kannst du das vergleichen? Vergiss es! Eine Woche lang hatten sie sich geliebt wie zwei tollwütige Raubkatzen, eng umschlungen, stundenlang.

Feminin und natürlich! Ich kotze gleich. Ana stand auf, rollte sich einen Joint, programmierte weiter.

Wie oft soll ich es noch wiederholen, es war als Kompliment gemeint! Er wollte es nicht weinerlich sagen, doch seine Stimme zitterte.

Mach mir das nächste Mal Komplimente über meine Codes.

Ich kenne mich damit nicht aus.

Dann bring ich’s dir bei.

Jetzt graut ihm vor der morgigen Reise. Unsicher, ob er sie überstehen würde. Er hievt sich aus der Badewanne, tappt durch den dunklen Korridor und legt sich wieder zu Ana ins Bett. Sie erwacht kurz, legt ihre warme Hand auf seinen Bauch, schläft sofort wieder ein. Dirk googelt sich in die Morgenstunden. Bei einer Sepsis kann sich die Haut schwarz verfärben. Er scrollt sich durch Bilder von entzündeten Tätowierungen. Meint kurz, sich übergeben zu müssen. Er sucht nach Hautausschlag. Ein Arztbesuch sei dringend angeraten, vor allem wenn der Ausschlag plötzlich auftrete, stark jucke und sich schnell ausbreite. Dirks Herz schlägt fünf Minuten sehr wild, doch seine Müdigkeit überwältigt ihn. Irgendwann gegen drei Uhr schläft er ein.

Warmes Licht strömt am Morgen in Anas Wohnung. Das erste Mal hat sie die Vorhänge gezogen. Kein einziges Bild hängt an den makellos weissen Wänden. Dafür leuchten am Boden bunte Mosaiksplitter, die Dirk erst jetzt wahrnimmt, als er den Kopf über die Bettkante streckt und Ana beim Giessen der Zimmerpflanzen beobachtet. Sogar winzige Spiegelchen sind im Boden eingelassen und reflektieren das Sonnenlicht. Als Ana Kaffee aufsetzt, huscht er schnell ins Badezimmer. Er will sich waschen, doch die Sache gestaltet sich auf einem Bein in der Badewanne nicht einfach. Dirk stöhnt auf, als doch ein wenig Wasser auf die entzündete Stelle gelangt. Er könnte ohnmächtig werden. Wieder streicht er die Salbe ein. Der kühlende Effekt ist diesmal weniger stark. Er zieht die Hose an, dann ein frisches T-Shirt, schluckt zwei Aspirin.

Du siehst müde aus. Ana lacht ihn an und streicht ihm über die Wange. Die Fahrt bis Oaxaca wird etwa sechs Stunden dauern.

Dirk nickt.

Vielleicht ein Kater?

Ich glaube nicht, sagt Dirk.

Ana reicht ihm ein Glas Orangensaft.

Sie fahren los. Anas riesiger schwarzer Cadillac schaukelt gemächlich auf den staubigen Strassen. Dirk möchte über etwas reden, Normalität herstellen, doch ihm fehlt die Energie. Seine Augenlider flackern. Er nickt ein. Schreckt auf. Merkt, dass sein Mund weit offen steht. Ana ist fröhlich und redet viel, überdreht, laut, scheint den gestrigen Streit vergessen zu haben. Schau, hier haben sie letzten Monat fünf Mitglieder der Bürgerwehr ausgegraben, hier kommt der beste Tequila her, hier haben sie eine Politikerin geköpft, und hier im selben Dorf wurden zehn Frauen … Dirk hört nur Wortfetzen. Er möchte, dass sie aufhört. Als er wieder aufwacht, sind bereits drei Stunden vergangen. In seinem Kopf summt und dröhnt es, er vergisst kurz zu atmen, ringt nach Luft. Sein T-Shirt ist nass. Gott. Mir geht es beschissen. Dieses Bein bringt mich um.

Was? Ana trägt Kopfhörer. Sie nimmt einen vom Ohr. Was hast du gesagt?

Fieber, sagt Dirk. Ich verdurste gleich, es geht mir beschissen.

Ana reicht ihm eine Wasserflasche. Ihr Gesicht verfinstert sich.

Ich muss weiterschlafen. Dirks Lider fallen wieder zu, seine Augäpfel heiss wie zwei Magmakugeln. Es ist Fieber. Er lacht in sich hinein. Ganz ruhig. Ganz ruhig. Bleib ruhig. Dein System funktioniert. Er kichert, schläft ein, merkt nicht mehr, dass Ana aufs Gas tritt und gleichzeitig telefoniert.

Nicht Ayahuasca, bitte, wimmert Dirk, als sie die kleine Wohnung von Anas Tante betreten. Ich habe darüber einen Artikel gelesen, flüstert Dirk, ich will das Zeug nicht, doch niemand hört ihn. Er schwankt auf einen Sessel zu. Bitte, Ana, ich will das nicht. Ich brauche Antibiotika.

Du kriegst kein Ayahuasca, beruhig dich, sagt die Tante.

Er heisst Dirk, sagt Ana.

Die Tante hält ihm die Hand hin. Ich bin Maru.