Menschenfischer - Maik Bischoff - E-Book

Menschenfischer E-Book

Maik Bischoff

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Beschreibung

An der Spandauer Zitadelle wird eine grausam zugerichtete Leiche gefunden. Ein in die Leiche geritztes Zeichen deutet darauf hin, dass es einen religiösen Hintergrund für diese Tat gibt. Die Presse gibt dem Killer den Namen "Menschenfischer". Es folgen nun täglich weitere Leichen, die stets an auffälligen Orten abgelegt und auf sehr seltsame Art und Weise präsentiert werden. Und sie haben dabei eines gemeinsam: Sie sind Mitglieder im Bauausschuss der Spandauer BVV. Mehr Verbindungen zwischen den Opfern lassen sich zunächst nicht finden, zu unterschiedlich sind ihre Biografien, zu unterschiedlich ihre Lebensentwürfe. Für Hauptkommissar Peter Mansfeld und sein Ermittlerteam beginnt ein Rennen gegen die Zeit, denn schon morgen könnte das nächste Opfer gefunden werden. Als dann einer der Ermittler verschwindet, wird die Jagd nach dem Killer persönlich …

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Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Menschenfischer

 

 

Maik Bischoff

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte:             © Copyright by Maik BischoffUmschlag:      © Copyright by Maik Bischoff

Verlag:            Maik Bischoff

                        Pichelsdorfer Straße 45                        13595 Berlin                        [email protected]

 

Dieser Roman ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten zu tatsächlich existierenden Personen, Religionsgemeinschaften oder politischen Parteien sind absolut zufällig. Aber das weiß man ja.

 

1

Dichter Nebel lag über diesem nasskalten Morgen an der Zitadelle Spandau und die einzigen Geräusche, die gelegentlich den leicht hin und her wabernden Schleier durchdrangen, waren müde Krähenrufe und das regelmäßige Plätschern in Wasser tauchender Ruder. Langsam näherte sich ein Boot. Es umrundete den Festungsbau auf der Westseite und steuerte genau gegenüber dem Ravelin, einem vorgelagerten Wallschild des Festungsbaues, das Ufer unterhalb der Kurtine zwischen Bastion Kronprinz und Bastion König an. Im Boot befand sich eine dunkle Gestalt, ein Mann, vermutlich mittleren Alters und von sichtbar kräftiger Statur. Er war in einen dunklen Regenmantel gehüllt und hatte eine Kapuze weit über den Kopf gezogen. So würde ihn selbst dann niemand erkennen, wenn sich plötzlich der Nebel lichtete. Aber das war noch lange nicht abzusehen.

 

Als das Boot das Ufer erreichte, schaute er sich verstohlen um, stieg aus und zog das Boot ein Stück an Land, um trockenen Fußes das große Paket zu entladen. Das Paket war sehr schwer, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor und ins Wasser fiel, erst in letzter Sekunde konnte er sich fangen und das Paket am Ufer ablegen. Das Paket hatte die Form eines Menschen. Und nichts anderes war es, was sich darin befand. Ein Mensch.

Das Wetter kam ihm bei seinem Vorhaben durchaus zupass, denn heute würde er sein Meisterstück vollbringen und es allen zeigen, die vom rechten Weg abgekommen waren. Sehen sollen sie, was ihnen blüht, wenn sie sich weiter so frevelhaft verhalten. Und bei solchem Wetter verirrte sich um diese frühe Morgenstunde nur sehr selten jemand auf den Weg, der die Zitadelle und den sie umgebenden Wassergraben umrundete. Hin und wieder mal ein Hundebesitzer auf Gassirunde, aber der würde ihm vermutlich gar keine Beachtung schenken, würde denken, dass da ein Arbeiter aus der Zitadelle beschäftigt ist. Er würde die Hände tief in den Taschen vergraben und mit eingezogenem Kopf weiter seines Weges gehen.

 

Zwei Stunden zuvor, im Schutz der absoluten Dunkelheit, die die Zitadelle in der Nacht umgibt, war er schon einmal hier. Dabei hatte er alles perfekt vorbereitet, sodass es jetzt schnell gehen würde.

Er wickelte das Paket aus und legte dessen Inhalt auf die Wiese. Anschließend verrichtete er mit zügigen, aber keinesfalls hektischen Bewegungen sein Werk. Er hatte im Kopf jede Bewegung, jedes Detail schon hunderte Male durchgespielt. Deshalb ging ihm sein Werk auch sehr leicht von der Hand. Zwischendurch galt sein Blick immer wieder dem Inhalt des Paketes, das mit seinen toten Augen in den Himmel starrte. Was ihn ein wenig ärgerte, denn eigentlich sollte dieser Frevler bis zum letzten Atemzug leiden. Diesen Teil seines Planes musste er aber kurzfristig ändern und den finalen Stich schon früher ansetzen. Aber das ließ sich nun nicht mehr ändern und wichtig war am Ende das Resultat, die Botschaft an die anderen Frevler.

 

Als alle Vorbereitungen für das Finale erledigt waren, packte er das leblose Bündel Mensch und tat das, was er tun musste. Zum Abschluss nahm er sein Messer aus der Tasche, um damit ganz langsam und genussvoll sein Zeichen zu hinterlassen.

 

Sie würden es schon verstehen.

 

Samstag, 8.30 Uhr, Wohnung KHK Peter Mansfeld

 

Das Wochenende begann für Hauptkommissar Peter Mansfeld ruhig. Ruhiger, als er es von den letzten Wochenenden gewohnt war und so erschien es ihm beinahe unwirklich, dass er tatsächlich ausschlafen konnte.

Mansfeld war 42 Jahre alt und bezeichnete sich als frisch geschieden, obwohl seine Ex-Frau schon vor drei Jahren das Weite gesucht und die Scheidung eingereicht hatte. Der Grund dafür war sein Job. Wie so oft in seinem Gewerbe, wo die Arbeit keine Rücksicht auf familiäre Befindlichkeiten nimmt und immer dann Anwesenheit verlangte, wenn auch die Familie ihr Recht für sich einforderte.

Bei den ihm unterstellten Ermittlern achtete er stets penibel darauf, dass sie hinreichend Erholungszeiten hatten und sich auch um ihre Familien kümmern konnten. Bei sich selbst hingegen legte er ganz andere Maßstäbe an und die vertrugen sich nicht mit den Vorstellungen, die seine Ex vom Leben hatte. Damals, als sie ihn verließ, war er so beschäftigt, dass selbst dieser Umstand komplett an ihm vorbeiging. Irgendwann war sie eben weg und da der Job keine Zeit dafür ließ, sich lange Gedanken über ihre Gründe zu machen, betrachtete er das einfach als Ende eines Lebensabschnittes. Und Anfang eines neuen, allein, ohne Ehefrau. Und an diese Freiheit hatte er sich inzwischen gewöhnt, es kam ihm beinahe so vor, als wäre er nie verheiratet gewesen.

Zum Glück hatte sie ihm die Wohnung gelassen, die er, auch wenn sie eigentlich viel zu groß für eine Person war, wirklich liebte. Im Laufe der Zeit hatte er alle Spuren beseitigt, die ihn an seine Ex erinnerten. Nun war es sein kleines Reich und er hatte sich geschworen, niemals mehr eine Frau hier Einzug halten zu lassen.

 

An diesem Samstagmorgen saß Mansfeld gerade frisch geduscht beim Frühstück, als sein Telefon klingelte. Nur widerwillig nahm er das Gespräch an, denn das Frühstück war ihm heilig. Bei jeder Mahlzeit durfte man ihn stören, nicht jedoch beim Frühstück. Das wussten seine Kollegen auch und dennoch zeigte die Anruferkennung seine Dienststelle. Es war also eine wichtige Sache, sonst würde sich niemand wagen, ihn um diese Uhrzeit und obendrein an einem Wochenende zu stören.

»Mansfeld, wer hat sein Leben satt?«, meldete er sich mit knurrendem Ton.

»Chef, du musst sofort zur Zitadelle Spandau kommen.«

Die Stimme gehörte Oberkommissar Ralf Jensen. Und wenn der sich traute, am Wochenende zur Frühstückszeit anzurufen, dann war sprichwörtlich die Kacke am Dampfen.

Mansfeld rollte mit den Augen und antwortete genervt: »Was ist denn da so Wichtiges los?«

»Eine Leiche. Und sagen wir mal so, es ist wohl nicht sonderlich appetitlich. Der Alte hat gleich sechs Mann dorthin befohlen und du sollst den ganzen Zirkus leiten. Die Spurensicherung ist schon fast vor Ort, die Leichenschnippler haben sich ebenfalls auf den Weg gemacht und man sagt, dass sogar die Staatsanwaltschaft jemanden schickt. Du solltest dich also beeilen.«

Da hatte er recht, denn wenn sogar die Staatsanwaltschaft einen Vertreter schickt, dann handelt es sich für gewöhnlich um einen offensichtlichen Mordfall. Und er sollte als leitender Ermittler der Mordkommission besser noch vor dem Paragrafenreiter am Ort sein und sich ein Bild machen. Sonst meinte der nachher noch, alles besser zu wissen. Das, so hatte Mansfeld oft erlebt, tat er aber vermutlich sowieso.

»Hat das was mit dem Prenzlbergmörder zu tun?«, wollte Mansfeld noch wissen.

Der sogenannte Prenzlbergmörder hielt derzeit die Ermittler in der Berliner Innenstadt auf Trab. Ein klassischer Serienkiller, der in aller Öffentlichkeit mordete und trotzdem nicht gefasst werden konnte. Die Sonderkommission, die in diesem Fall ermittelte, war derzeit ein schwarzes Loch in Sachen Personal, denn sie saugte förmlich jeden in sich auf, der noch irgendwie dienstfähig war.

»Nein, das ist wohl was ganz anderes. Also komm erstmal hin.«

»Okay, ich kann in zehn Minuten da sein. Ich bin schon auf dem Weg.«

»Sehr gut.«, antwortete Jensen. »Ich warte dann am Tor zur Zitadelle auf dich.«

Er legte auf.

 

Oberkommissar Jensen war das, was man landläufig als Mansfelds rechte Hand bezeichnen würde. Ein junger Ermittler, gerade mal dreißig Jahre alt, aus dem einmal, da war sich Mansfeld sicher, etwas werden würde. Er war sehr pfiffig, stellte stets die richtigen Fragen und hatte neben einer guten Kombinationsgabe auch ein Auge für Details. Eine Gabe, die gerade bei der ersten Einschätzung eines Tatortes von nahezu unschätzbarem Wert war. Darüber hinaus verstanden sich beide schon von Anfang an und hatten sehr schnell ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Das lag vielleicht auch ein Stück weit daran, dass Jensen ihn an sich selbst erinnerte. Das oftmals forsche Auftreten, der unbeirrbare Drang sich selbst zu beweisen und die an Aufopferung grenzende Hingabe zum Job.

Mansfeld war froh, ihn an seiner Seite zu wissen und dachte hin und wieder mit etwas Wehmut daran, dass diese Zeit nicht mehr lange währen würde. Schon bald würde Jensen selbst in verantwortlicher Position sein, soviel stand definitiv fest. Jensen hatte das Zeug zum Aufstieg in den höheren Dienst und nicht nur das, auch den dafür nötigen Ehrgeiz brachte er mit.

 

Mansfeld wischte die Gedanken zu Jensen beiseite, stopfte sich den Rest seines Toasts in den Mund, kippte einen Schluck Kaffee hinterher und sprang vom Frühstückstisch auf. Er hasste solche Aktionen, nun würde er wenigstens drei Tage lang Magenbeschwerden haben. Aber der Job hatte da kein Mitleid und hielt sich vor allem nicht an Mansfelds Frühstückszeiten.

Er zog sich einen warmen Mantel an, denn die Zitadelle Spandau war nicht gerade dafür bekannt, sonderlich gut geheizt zu sein. Direkt am Wasser gelegen, war es dort immer sehr zugig und kalt. Und eine Erkältung war so ziemlich das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Eilig verließ er seine Wohnung und machte sich auf den Weg zur Zitadelle.

Unterwegs fiel ihm auf, dass sich Jensen überhaupt nicht mit Details aufgehalten hatte. Mansfeld wusste also absolut nicht, was ihn erwartete. Abgesehen von einer Leiche, das hatte Jensen ja als erstes erwähnt, und der Tatsache, dass es wohl ein wenig unappetitlich sein sollte. Da war es vielleicht auch von Vorteil, nicht allzu viel gegessen zu haben. Die größten Sorgen bereitete ihm aber der Ort, denn die Zitadelle Spandau war ein symbolträchtiges, vor allem aber sehr großes Gebäude. Das würde die Spurensuche nicht unbedingt vereinfachen. Dazu kommen Scharen von Touristen. Die konnte man zwar heute ganz einfach fernhalten, aber die reine Möglichkeit, dass eine vermeintliche Spur von einem der vielen Zitadellenbesucher stammen und damit die Ermittlungen in eine falsche Richtung lenken könnten, bereitete ihm echte Sorgen.

 

Aber gut, darüber sollten sich andere ihren gut bezahlten Kopf zerbrechen. Für ihn stand eine ganz andere Frage im Vordergrund. Wie schaffte es jemand, in die Zitadelle zu gelangen? Immerhin war es ein Festungsbau und die waren naturgemäß so gebaut, dass eben nicht jeder hereinkam. Oder hinaus, das kam in diesem Fall ganz auf die jeweilige Sichtweise und vor allem auch den Status des Betrachtenden an.

Sehr viel weiter kam er mit seinen Überlegungen aber nicht, denn der Verkehr meinte es gut mit ihm und er kam sogar noch schneller an der Zitadelle an, als zunächst gedacht. Der Platz vor der Brücke, dem einzigen Zugang zur Zitadelle, war mit Einsatzfahrzeugen voll gestellt. Er fand zum Glück noch eine kleine Lücke für seinen Wagen und machte sich dann zu Fuß zur Brücke auf, an der bereits Jensen wartete.

 

Noch immer lag dichter Nebel über der Zitadelle und Mansfeld verlangsamte seine Schritte. Er wollte den Anblick auf sich wirken lassen, sah man die Zitadelle doch nur sehr selten in solch gespenstischer Atmosphäre. Wie ein dickes graues Band wickelte sich der Nebel um das alte Gemäuer, man sah lediglich das prächtige Wappen der Brandenburg-Preußischen Herrscher über dem Torhaus und den gewaltigen Juliusturm, der erhaben über der Bastion König thronte.

Mansfeld versuchte das Gefühl einzuordnen, dass dieser Anblick in ihm hervorrief. Eine Mischung aus Ehrfurcht und Angst war es, die einen dicken Kloß in seinem Hals entstehen ließ. Er schluckte diesen Kloß herunter, schüttelte sich kurz und ging dann auf Jensen zu.

Samstag, 9.00 Uhr, Zitadelle Spandau

 

»Hi Ralf.«, begrüßte er Jensen noch einmal persönlich, als er die Brücke betrat. Sein engster Mitarbeiter war dabei nicht der Einzige, den er mit Vornamen anredete. Schon vor einigen Jahren hatte er in seinem Team dafür gesorgt, dass sich alle duzten und mit Vornamen ansprachen. Das Duzen machte dabei den Umgang persönlicher, ja beinahe familiär und die Verwendung von Vornamen wirkte dabei angenehmer als das bis dahin und auch heute noch in vielen Kommissariaten übliche Ansprechen mit dem Familiennamen. Das hatte in Mansfelds Augen etwas Abfälliges und das wollte er in seinem Team unbedingt vermeiden. Anfänglich stieß er damit nur bei einem seiner Mitarbeiter auf Widerstand. Aber auch der verschwand recht schnell und heute wurde das gar nicht mehr thematisiert. Es fühlte sich an, als wäre es nie anders gewesen.

 

»Weißt du inzwischen schon mehr?«

»Nicht wirklich, die meisten, denen ich begegnet bin, sagten nur, dass es wohl ziemlich übel aussehen soll. Und jeder, der schon in der Nähe der Leiche war, sah extrem blass aus. Machen wir uns also auf das Schlimmste gefasst.«

»Genau so etwas hat mir heute noch gefehlt. Gerade als ich wach wurde, war das quasi mein erster Gedanke. Eine schöne Metzelei zum Samstag und der Tag ist gerettet.«, brummte Mansfeld sarkastisch, vergrub die Hände tief in den Manteltaschen und ging ohne weitere Worte auf das Torhaus der Zitadelle zu.

Jensen folgte ihm pflichtbewusst. »Was wir aber schon wissen, es ist wohl eine männliche Leiche. Irgendwas zwischen vierzig und sechzig Jahre alt, so die erste Schätzung.«, erklärte er.

»Sind denn die Leichenfledderer etwa schon bei ihm?«, hakte Mansfeld nach.

»Die sind kurz vor dir gekommen. Dr. Martin hat heute Dienst. Aber er hat wohl auch nur einen kurzen Blick drauf geworfen, die Spurensicherung lässt noch niemanden durch.«

»Dr. Martin also, na wenigstens ein Lichtblick.«

Dr. Matthias Martin war ein ziemlich entspannter Rechtsmediziner, der auch am Tatort durchaus mal zu einer schnellen Einschätzung bereit war. Das übliche Klischee, von wegen man könne erst nach dreiwöchiger Obduktion eine erste und auch nur sehr vage Einschätzung geben, wie man es von schlechten Kriminalfilmen kannte, galt bei ihm nicht. Auch optisch machte er nicht den Eindruck eines approbierten Mediziners, mit seinen mehr als schulterlangen Haaren und stets verschlissen wirkender, sehr lässiger Kleidung ging er bei den meisten, zumindest auf den ersten Blick, als studentische Hilfskraft im Bürobotendienst durch. Aber spätestens, wenn er zu reden begann, kam der eloquente und von Wissensdurst getriebene Mensch zum Vorschein, der er in Wirklichkeit war.

 

Als die beiden das Torhaus auf der anderen Seite wieder verließen und somit auf dem Innenhof der Zitadelle ankamen, blickte Mansfeld den alles überragenden Juliusturm hinauf. Er sah eine nicht enden wollende Wendeltreppe vor seinem inneren Auge. »Das Ganze hat sich doch hoffentlich nicht dort oben abgespielt, oder?«

»Nein, nein.«, beruhigte ihn Jensen. »Wir müssen noch ein Stück, der Tatort ist außerhalb der Zitadelle direkt an der Kurtine.«

»Außerhalb? An der Kur-was?« Mansfeld schaute Jensen fragend an.

»Kurtine. Aber mach dir nichts draus, ich habe vorhin genauso viele Fragezeichen über dem Kopf gehabt. Dann habe ich mir sagen lassen, dass man die Wand zwischen den beiden Eckbastionen so nennt. Da ist außen zwischen besagter Kurtine und dem Wassergraben, direkt unterhalb des Turmes noch ein winziges Stück Wiese. Und genau das hat sich der Täter für sein Schlachtfest ausgesucht.«

»Und wie kommen wir dorthin, wenn es auf der Außenseite ist? Eine gemütliche Tour mit dem Ruderboot?«

»Man kommt durch einen Versorgungsgang hinaus. Das ist zwar eine ziemlich enge Angelegenheit, aber es geht wohl. Ich weiß das allerdings auch nur vom Hörensagen.«

Zwischenzeitlich waren die beiden an besagtem Durchgang angelangt und man hörte das hektische Klicken einer Kamera. Der Tatortfotograf war also schon fleißig bei der Arbeit. Plötzlich tauchte Klaus Wohlfahrt, der Leiter des Spurensicherungsteams vor den beiden auf.

»Ahh, Peter. Das ging ja mal flott.«, begrüßte er Mansfeld mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht.

»Ja, trotz Wochenende und nächtlicher Stunde bin ich wie ein geölter Blitz hierher, nur um zu arbeiten. Die Aussicht, dein freundliches Konterfei in Augenschein nehmen zu dürfen, hat mich dabei wahrlich beflügelt.« Mansfelds Stimme klang noch immer etwas knurrig. »Können wir denn mal hin und uns die Sache anschauen?«

»Da draußen ist extrem wenig Platz, wenn ihr also noch ein paar Minuten warten könnt, bis der Fotograf fertig ist, wäre das echt fein.«, entgegnete Wohlfahrt.

»Klar. Kannst du uns denn derweil schon etwas sagen?«, fragte Mansfeld, während Jensen gleich seinen Notizblock zückte und sich schreibfertig machte.

 

»Das schaut ihr euch besser selbst an. Eine ziemlich üble Sache. Aber zumindest gibt es da draußen viel Gestrüpp, was in aller Regel auch viele Spuren bedeutet. Der Täter kam vermutlich mit einem Boot, darauf lassen passende Schleifspuren an der Uferkante schließen. Ich würde auch behaupten, dass er mindesten zweimal vor Ort war. Dabei hat er leicht versetzt angelegt und die beiden Anlandespuren weisen einen sichtbar unterschiedlichen Trocknungsgrad auf. Deshalb meine Vermutung. Einzig brauchbare Schuhabdrücke konnten wir nicht finden. Trotzdem bitte ich euch, auf jeden Fall nur die gekennzeichneten Flächen zu betreten.« Wohlfahrt hörte auf zu reden und schaute erwartungsvoll zu Mansfeld.

»Aber sicher doch, das Übliche. Kennen wir.«, bestätigte er Wohlfahrt, die Anweisung verstanden zu haben. Und zu Jensen gewandt: »Los, wir verkleiden uns schon mal, der Fotograf dürfte ja jeden Moment durch sein und dann können wir das hinter uns bringen.«

Kaum hatten die beiden die obligatorischen Schutzanzüge angezogen, war wie auf Befehl der Fotograf fertig und Wohlfahrt gab den Durchgang für Mansfeld und Jensen frei.

 

Draußen zeigte sich, dass die Ankündigungen zum Tatort nicht zu viel versprochen hatten. Das Stück Wiese war sehr klein, eher eine kleine Nische zwischen einer Ecke der Bastion und der Kurtine. Um einen vollständigen Eindruck der Szene zu erhalten, mussten die beiden sehr nahe an der Leiche vorbei. Etwas näher am Ufer stehend, konnten Mansfeld und Jensen die Szene auf sich wirken lassen.

Noch immer lag etwas Nebel über der Wasserfläche. Er ließ nicht nur das alte, steil über ihnen aufragende Ziegelgemäuer besonders gruselig wirken. Mit dichten Schwaden verschluckte er auch mehr oder weniger komplett die sonst allgegenwärtigen Nebengeräusche, das Grundrauschen der Stadt. Diese gedämpfte Stille ließ alles sehr unwirklich erscheinen und sorgte so für eine sehr beklemmende Atmosphäre.

Die Nische, in der sich der Tatort befand, wurde um etliche Meter von Bastion und Kurtine überragt, es sah fast so aus, als würde sich die riesige Ziegelmauer jeden Moment auf jeden stürzen wollen, der sich hier aufhielt. Das ganze Gebäude, das aus der Ferne betrachtet majestätisch im Wasser ruhte, wirkte hier aus der direkten Nähe furchteinflößend und tödlich, ja beinahe lebendig aggressiv.

 

Der Täter hatte ein Gestell aus Holz gebaut, das schräg an der Kurtine lehnte. Daran hatte er sein Opfer mit Seilen befestigt, die wie alte Netze aussahen. Die Arme waren ausgebreitet und mit einer schwarzen, nicht klar definierbaren Flüssigkeit übergossen. Sie wirkten dabei verbrüht, genau ließ sich das jedoch nicht erkennen.

Der Hals des Opfers war quer durch einen sehr tiefen Schnitt geöffnet, so tief, dass die Halswirbelsäule zwischen klaffenden Hautlappen sichtbar war. Die gesamte Umgebung war blutgetränkt. Der Rest des Körpers schien auf den ersten Blick unversehrt, lediglich auf dem Brustbein war ein Symbol in die Haut geschnitten, das an einen Fisch erinnerte. Insgesamt wirkte der Tatort so, als solle diese Inszenierung etwas Bestimmtes darstellen.

 

»Was will uns der Täter damit sagen?«, fragte Jensen?

»Irgendetwas soll das doch bedeuten, oder?«

»Sieht ganz so aus. Das Opfer wirkt wie gekreuzigt, auch wenn es kein echtes Kreuz ist. Außerdem wäre es dann mit Nägeln befestigt und nicht mit diesen Netzen, oder was auch immer das ist. Zumindest, wenn es eine realistische Darstellung sein sollte. Außerdem ist da ja noch dieses schwarze Zeug.«

»Vielleicht hat das alles aber auch gar keine Bedeutung und soll uns einfach nur in die Irre führen.«, überlegte Jensen.

»Das glaube ich weniger. Denn in dem Fall hätte der Täter sein Opfer einfach umgebracht und irgendwo liegen gelassen. Bestenfalls hätte er es noch gut versteckt. Das hier hat eine ganz andere Qualität, das hier soll uns oder der Welt etwas sagen. Wir müssen die Botschaft nur erkennen.«

Mansfeld drehte sich um und blickte auf den Zitadellengraben. Am gegenüberliegenden Ufer standen, durch den Nebel nur schemenhaft erkennbar, die ersten Schaulustigen.

»Wir müssen den Weg um die Zitadelle sperren lassen, sonst haben wir, sobald sich der Nebel etwas lichtet, die ganze Scheiße hier als Fotos in den sozialen Netzwerken. Und sowas können wir nun wahrlich nicht gebrauchen.«

»Ich kümmere mich gleich darum.«, antwortete Jensen mit einem Nicken. Mobiltelefone mit Fotofunktion waren die Pest, zumindest dann, wenn Gaffer sie in den Händen hielten.

Wortlos, in Gedanken versunken, standen die beiden noch einen Moment dort, bevor sich Mansfeld abwandte.

»Lass uns hereingehen und die anderen ihren Job machen. Ich für meinen Teil habe genug gesehen.«, forderte er auch Jensen zum Gehen auf.

 

Im Inneren der Zitadelle wartete schon Wohlfahrt auf freie Bahn für die Spurensicherung.

Mansfeld fragte ihn: »Sag doch mal, hast du eine Idee, was das schwarze Zeug sein könnte, das auf den Armen des Opfers ist?«

»Das dürfte etwas Ähnliches wie Teer sein, zumindest riecht es so.«

»Sag nicht, du bist da mit der Nase ran?«, entgegnete Jensen entsetzt.

»Aber natürlich doch. Das ist schließlich mein Job. Und für eine erste Einschätzung ist oft auch der Geruch wichtig bis ausschlaggebend. Übrigens, wenn man nah genug rangeht, dann sieht man auch kleinere Blasen, ähnlich Verbrühungsverletzungen. Wenn ihr mich fragt, wurde das Zeug also kochend drübergekippt. Aber nagelt mich nicht darauf fest, das soll lieber die Medizinertruppe machen. Ihr wisst schon, Fachgebiet und so.«

Mansfeld und Jensen sahen sich wortlos an und schienen das eben Gehörte zu verarbeiten, als Wohlfahrt nachlegte: »Steht hier nicht so herum, sondern macht hin und besorgt euch ein Silbertablett. KSK ist nämlich inzwischen eingetroffen und will mit Sicherheit direkt einen Täter darauf präsentiert haben.«

 

KSK war Kriminalrat Siegfried Koch, der Chef von Mansfeld und Jensen. Er war dafür bekannt, am liebsten schon vor dem Mord den Täter genannt bekommen zu wollen. Oft stand seine Ungeduld den Ermittlungen im Wege, aber stets sorgte es dafür, dass die Ermittler besonders eifrig arbeiteten, wenn sich KSK persönlich in die Ermittlungen einschaltete.

Und tatsächlich, auf dem Innenhof stand Koch mit Dr. Martin beim gemütlichen Plausch. Als er Mansfeld und Jensen bemerkte, wechselte sein Gesichtsausdruck vom freundlichen Lächeln, dass er eben noch für Dr. Martin übrig hatte, zu einer nahezu unbeweglichen, sehr ernsten Maske.

»Peter, hast du schon etwas Greifbares?«, kam er, an Mansfeld gewandt, direkt zur Sache. Er vergeudete eben keine Zeit durch unnötige Höflichkeitsfloskeln oder Begrüßungen.

»Guten Tag, lieber Siegfried.«, entgegnete Mansfeld und zeigte mit einem gestelzten Lächeln seine Zähne. »Und nein, bisher haben wir noch keine Verhaftung vorgenommen.« Er machte sein charmantestes Gesicht und brach damit auch bei KSK ein wenig das Eis, denn der entspannte zusehends.

»Ja, ja, guten Tag, lieber Peter. Hallo Ralf.«, holte er die ausgelassene Begrüßung nach. »Seid ihr schon direkt am Tatort gewesen?«

»Genau dort kommen wir gerade her.«, antwortete Mansfeld und fasste kurz zusammen, was bisher an Erkenntnissen vorhanden war: »Kein schöner Anblick, da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Wirklich viel können wir aber noch nicht sagen. Es ist ein männliches Opfer, das auf einer Art Holzgestell befestigt ist. Es ist mit Netzen oder etwas ähnlichem festgebunden. Der Hals ist komplett aufgeschlitzt und auf der Brust ist ein Symbol eingeschnitten. Dazu kommt eine uns bisher unbekannte Flüssigkeit auf den Armen in Verbindung mit fraglichen Verbrühungsverletzungen. Da soll ganz klar eine Botschaft überbracht werden, wir wissen nur noch nicht genau, welche das sein soll. Das Gesicht ist noch gut erkennbar, also sollte die Identifizierung problemlos möglich sein und nicht allzu lange dauern. Die Hände sind ebenfalls, auf den ersten Blick, noch intakt. Falls wir also irgendwo die Abdrücke haben, geht es erst recht schnell.«

»Will ich mir die Sache persönlich ansehen?«, fragte KSK.

»Eher nicht. Fotos sollten ausreichen.«, antwortete Jensen auf die Frage und dachte dabei daran, dass der Chef schon bei weniger zugerichteten Leichen sehr schnell blass wurde.

»Dann vertraue ich mal auf eure Einschätzung und belasse es bei der Bilderschau. Der Fotograf ist ja schon wieder weg, da sollte also in Kürze hinreichend Material geliefert sein.«

Jensen nickte nur zur Bestätigung.

»Peter, wie willst du weiter vorgehen?«, fragte er nun Mansfeld.

»Ich denke, ich schaue mich mit Ralf noch ein wenig hier in der Zitadelle um. Ich will ein Gefühl für den Ort bekommen. Die anderen werde ich gleich direkt ins Kommissariat umleiten und dort treffen wir uns dann um elf Uhr zum ersten Briefing. Und mal schauen, vielleicht habe ich bis dahin schon eine Idee, wie wir den Fall hier möglichst schnell zum Abschluss bringen können. Das heißt …« Mansfeld unterbrach sich selbst, überlegte kurz und redete dann weiter: »Ich schätze mal, schon wegen der seltsamen Darstellung des Toten sollten wir gleich eine Sonderkommission ins Leben rufen. Das wird dann nachher gleich mit angeleiert. Auch wenn wir wegen des Personalbedarfs im Prenzlbergfall vermutlich erstmal mit deutlich weniger Kräften als üblich auskommen müssen.«

KSK nickte zufrieden und während er sich in Richtung Torhaus drehte, sagte er: »Da kommt auch Kehlheim. Den übernehme ich, legt ihr mal los, damit ihr nachher nicht zu spät seid.«

 

Dr. Franz Kehlheim war der angekündigte Staatsanwalt. KSK ging ihm entgegen und bewahrte Mansfeld und Jensen so davor, unnötig Zeit damit zu verschwenden, das Ganze noch einmal erzählen zu müssen.

Mansfeld nahm sein Telefon hervor und rief die anderen, seinem Team zugewiesenen Ermittler an, die sich fast alle schon auf dem Weg zur Zitadelle befanden. Er schickte sie direkt ins Kommissariat und informierte sie über den festgelegten Termin zum ersten Briefing.

Es war zwar oft hilfreich, wenn jeder Ermittler den Tatort selbst in Augenschein nahm, aber hier hielt er es nicht für angebracht. Der Tatort selbst war sehr klein und wenn zu viele Leute über das winzige und feuchte Stück Wiese gingen, wurden nur unnötig Spuren zerstört. Und wenn die Spurensicherung da durch war, dann gab es ebenfalls nicht mehr sehr viel vom ursprünglichen Tatort zu sehen. Die anderen mussten also dieses Mal mit Fotos auskommen. Abgesehen davon war der Anblick Leiche nicht unbedingt etwas, das man selbst gesehen haben musste.

 

Mansfeld und Jensen gingen nun schweigend über das Gelände der Zitadelle. Von innen wirkte alles viel größer, als es von außen den Anschein hatte. Deutlich größer. Und so schrecklich der Anlass auch war, es war eine gute Gelegenheit, die Zitadelle mal ohne Unmengen von Touristen in Augenschein nehmen zu können.

Die beiden schlenderten über den Hof und gelangten so zum Wassertor, einem tief gelegenen Gittertor, das direkten Zugang zum Wasser an der Nordseite der Zitadelle ermöglichte. Mansfeld ging hinunter und blickte durch das Gitter auf den Zitadellengraben. Dabei bemerkte er ein kleines Boot, das im Becken innerhalb der Zitadelle lag und mit nassen Fußabdrücken übersät war.

»Sag mal Ralf, dieses Boot hier wurde doch vor kurzem benutzt, oder?« Er wies mit der Hand auf die vielen Wasserspuren im Inneren des Bootes.

»Sieht so aus, aber wie soll er dann durch das Tor gekommen sein? Das ist schließlich zu und sieht nicht so aus, als könnte man es ohne Weiteres öffnen.«, zweifelte Jensen an dieser Theorie. »Aber ja, die Spuren sind schon seltsam.«

»Halten wir das mal fest und schicken nachher nochmal Wohlfahrts Leute hierher, die sollen das genau unter die Lupe nehmen. Und vielleicht finden wir hier irgendwann noch einen Verantwortlichen, der uns dann verraten kann, ob und wie das Tor geöffnet werden kann.«

»Warte, ich hole gleich jemanden her.«, antwortete Jensen und zog derweil sein Telefon aus der Tasche. Er rief Wohlfahrt an und schilderte kurz, was sie gefunden hatten. Anschließend nickte er ein paar mal und machte dabei bestätigende Geräusche. Nachdem er aufgelegt hatte, konnte er das Rätsel lösen: »Wohlfahrt hat die Spuren schon erklärt. Er selbst war vorhin schon auf Rundgang in der Zitadelle und dabei ist ihm das Boot aufgefallen. Es war allerdings unbenutzt, er hat es dann aber selbst genutzt, um das Tor ein wenig genauer zu untersuchen. Und dabei hat er es eben auch nass gemacht. Das Tor hat er übrigens nicht geöffnet bekommen und schließt es damit als Bestandteil des Tatortes aus.«

Mansfeld grübelte kurz. »Klar, es wäre letztlich auch viel zu umständlich. Der Täter hätte dazu auch erst in die Zitadelle reingemusst, nur um dann wieder raus zu gelangen. Wäre er aber mit seinem Opfer ins Innere der Zítadellenanlage gekommen, hätte er es beispielsweise hier auf dem Hof viel dramatischer und vor allem deutlich öffentlichkeitswirksamer ausstellen können. Also gut, schließen wir das Wassertor aus. Immerhin etwas.«

Jensen schüttelte den Kopf. »So sehr würde ich mich darauf nicht festlegen wollen. Es kann durchaus sein, dass die Außenseite ganz gezielt gewählt wurde. Ich glaube, das gehört zur Inszenierung dazu. Und frag mich nicht, wie ich darauf komme. Das ist lediglich ein Gefühl.«

»Du meinst also ernsthaft, jemand würde eine kleine, kaum betretbare Nische im Schatten der Zitadelle dem Innenhof vorziehen? Und macht sich dann die Mühe sein Opfer so aufwändig zu platzieren, wenn er dabei Gefahr laufen muss, dass es erst sehr spät entdeckt wird. Und wenn sich möglicherweise schon allerlei Tiere darum gekümmert und kaum etwas übrig gelassen haben?«, antwortete Mansfeld ungläubig.

»Ich weiß, das klingt komisch. Aber wie gesagt, ich kann es nicht genau erklären, ich habe da lediglich so ein Gefühl. Und mal ehrlich, wenn der Täter es gewollt hätte, dann wäre er sicher auch in die Zitadelle hineingekommen. Die Zeiten, in denen hunderte Soldaten das Ding bewacht haben, sind schon lange vorbei. In der Nacht sollte man da also leichtes Spiel haben.«

Mansfeld dachte kurz nach. »Okay, dann halten wir das einfach mal als eine Option fest. Immerhin benötigen wir noch ein Motiv und wenn der Platz an der Kurtine gezielt gewählt wurde, dann gehört das mit Sicherheit dazu. Aber wir dürfen uns nicht zu sehr darauf festlegen, es bleibt also lediglich eine Möglichkeit von vielen.«

»Schon klar.«, antwortete Jensen und folgte Mansfeld, der nun den Weg durch die Zitadelle fortsetzte.

Die beiden vollendeten eine Umrundung der Zitadelle, allerdings ohne weitere Dinge zu finden, die ihr Interesse wecken konnten. Das war also eine ganz klare Niete.

»Ich für meinen Teil habe hier genug gesehen.«, sagte Mansfeld und ließ dabei noch einmal seinen Blick über den Innenhof der Zitadelle schweifen. »Dieser Ort ist, gerade an so einem nebligen Tag wie heute, einfach nur bedrückend und melancholisch. Das schlägt aufs Gemüt. Also nichts wie weg hier. Oder hast du noch eine Idee, für deren Umsetzung wir hier bleiben müssten?«

»Nein. Maximal für das Ritteressen, aber das ist ja zumeist am Abend.«, witzelte Jensen mit einem Blick auf die Werbetafel zu den allabendlich stattfindenden Ritterevents im Restaurant der Zitadelle.

Mansfeld lachte jedoch nicht und so schob Jensen schnell nach: »Du hast recht, lass uns hier verschwinden. Außerdem erwarten uns die anderen um elf, wenn wir hier noch lange die Ziegelsteine anschauen, verpassen wir den Termin.«

 

Mansfelds Antwort war nicht mehr zu verstehen, sie ging in einem Grummeln unter. Es klang aber durchaus zustimmend und da er sich umdrehte und in Richtung Torhaus davon stürmte, war es das wohl auch. Jensen beeilte sich, ihm zu folgen.

Noch auf der Brücke holte er Mansfeld ein. »Peter, wir treffen uns dann im Kommissariat.«, verabschiedete er sich von Mansfeld, der das mit einem fragenden Blick bedachte. »Wir sind heute mit getrennten Autos hier?«, erinnerte er Mansfeld fragend daran, dass die Anfahrt zur Abwechslung nicht gemeinsam erfolgt war.

»Ach ja, ich vergaß.« Mansfeld winkte nur ab und verschwand in Richtung Parkplatz. Jensen hingegen blieb noch einen Moment auf der Brücke stehen und dachte über Mansfeld nach. Der wirkte heute ein wenig zerstreut und abwesend. Er schob das auf die Störung am Wochenende, die in der Tat enorm bedrückende Atmosphäre der im Nebel liegenden Zitadelle und den brutalen Tatort. Ihm selbst begann es auch aufs Gemüt zu schlagen. Also beschloss er, nicht weiter darüber nachzudenken, zuckte kurz mit den Schultern und ging dann ebenfalls zu seinem Auto, um möglichst zeitgleich mit Mansfeld im Kommissariat anzukommen.

 

Samstag, 11.00 Uhr, Kommissariat

 

Der Plan ging auf, denn Jensen fuhr direkt hinter Mansfeld auf den Parkplatz des Kommissariats, der zu dieser Zeit ungewöhnlich leer war. Mansfeld, noch immer recht wortkarg, nickte Jensen nur kurz zu und deutete ihm damit an, ihm direkt zu folgen. Dieser folgte der stummen Aufforderung ebenso wortlos.

Im Sitzungsraum der Sonderkommission warteten bereits die Ermittler, die Mansfeld für die Aufklärung dieses Verbrechens zugeteilt waren. Auf den Tischen lagen allerlei Fotos vom Tatort. Wohlfahrts Mann hatte wohl schon geliefert, was Mansfeld gefiel. So blieben ihm umständliche Beschreibungen des Tatortes erspart, da sich jeder selbst ein Bild machen konnte.

Die anwesenden Ermittler hatten inzwischen das Erscheinen von Mansfeld und Jensen bemerkt und alle verstummten. Während Jensen sofort damit begann, jeden einzeln zu begrüßen, ging Mansfeld zunächst an die Kaffeemaschine und nahm sich eine Tasse der undefinierbaren Flüssigkeit, die diese für gewöhnlich absonderte. Kaffee war es jedenfalls nicht, Mansfeld selbst bevorzugte Vollautomaten oder Siebträger, wusste also, was ein richtiger Kaffee war, aber dieses Zeug hier enthielt zumindest Koffein und genau das brauchte er jetzt. Er nahm einen Schluck und versuchte, dabei das Gesicht nicht allzu offensichtlich zu verziehen.

 

»Klaus, mach doch mal bitte kurz ein Fenster auf.«, forderte er Kriminalkommissar Klaus Welfert auf, vor dem Briefing noch etwas frische Luft in den inzwischen ziemlich stickigen Raum zu lassen. Welfert war schon einige Jahre im Kommissariat und leistete für gewöhnlich solide Ermittlungsarbeit. Aber er tat sich nie wirklich hervor und zeigte selten echten Ehrgeiz, weshalb eine normalerweise schon längst erfolgte Beförderung zum Oberkommissar noch immer auf sich warten ließ. Das schien ihm jedoch nichts auszumachen. Diese Charaktereigenschaft sorgte immer wieder dafür, dass sich Mansfeld dabei ertappte, ihm all die kleinen Aufgaben zuzuteilen, die ein karrierebewusster Mitarbeiter eher als Strafe oder Herabwürdigung empfinden könnte. So auch dieses Mal und Mansfeld nahm sich fest vor, solche Dinge künftig auch auf die anderen Ermittler zu verteilen.

Jetzt war aber keine weitere Zeit für Überlegungen zu Personal und Menschenführung, es galt einen Fall aufzuklären und das sollte so schnell wie möglich geschehen.

 

Mansfeld räusperte sich laut hörbar und die Gespräche im Raum verstummten.

»Zunächst einmal guten Tag und Entschuldigung, dass euch das Wochenende so plötzlich versaut wurde.«, begrüßte Mansfeld sein Team. »Und falls sich jemand wundert, dass ich euch direkt hierher und nicht zum Tatort beordert habe, das hatte seine Gründe. Wie ihr ja auf den Fotos sehen könnt, ist es dort sehr beengend und viele Menschen hätten viele Spuren zerstört. Darüber hinaus dürften die Fotos eine hinreichend verständliche Sprache sprechen.«

Alle nickten zustimmend.

»Aber das hat ja auch etwas Gutes, so brauchen wir nicht auslosen, denn es bleibt nur Ralf für das erste Brainstorming, nicht wahr?« Erstmals seit Betreten des Raumes zeigte sich ein Lächeln auf Mansfelds Gesicht.

Das erste Brainstorming war eine Tradition unter Mansfeld. Dabei wurde für gewöhnlich einer der Ermittler nach der Tatortbesichtigung ausgelost, um zunächst die vorgefundene Situation zu schildern und anschließend ganz offen und frei seine Ideen und Schlussfolgerungen vorzustellen. Auf diese Weise konnten recht einfach erste Ermittlungsansätze entwickelt werden. Dabei gab es keine Denkverbote, jeder konnte dabei Kreativität und Fantasie freien Lauf lassen. Jensen hatte sich aber schon innerlich darauf vorbereitet, denn ihm war sein Schicksal schon in dem Moment klar, in dem Mansfeld beschlossen hatte, die anderen direkt ins Kommissariat zu schicken.

 

»Vorher müssen wir aber noch etwas Organisatorisches klären. Wir bilden, aber das dürfte ohnehin jedem klar sein, eine Sonderkommission. Oder vielmehr ein Sonderkommissiönchen, denn zunächst bleiben wir hier im Kernteam unter uns. Für diese Sonderkommission brauchen wir wie üblich einen ›schmissigen‹ Namen. Wobei hier ja der Name ›Zitadelle‹ naheliegt, nicht wahr? Oder gibt es Einwände?«

Niemand erhob die Stimme, im Gegenteil, es gab durch die Bank weg zustimmendes Nicken, also sagte Mansfeld: »Dann sei es so.«

Jetzt war aber Jensen dran und trat vor die Gruppe, während sich Mansfeld im hinteren Teil des Raumes niederließ. Als Mansfeld saß, nickte er Jensen zu und dieser begann mit einer detaillierten Schilderung der vorgefundenen Situation und ließ dabei auch die Atmosphäre nicht aus, die geradezu plastisch greifbar rund um die Zitadelle herrschte. Erstaunlich präzise schilderte er, was auch Mansfeld vor Ort gefühlt hatte. Dann begann das Schießen aus der Hüfte, wie Mansfeld es gern nannte.

»Was schließe ich also aus der Gesamtsituation?« Jensen blickte kurz mit gespielt grübelnder Miene in Richtung Decke. »Besonders auffällig finde ich die Kombination aus Gewässernähe, den netzartigen Seilen, mit denen das Opfer am Holzgestell befestigt wurde und den in die Brust geritzten Fisch. Das alles deutet für mich auf einen zutiefst religiösen Hintergrund der Tat hin.«

Daraufhin wurde es unruhig im Raum und Kommissarin Anja Stölzner meldete sich zu Wort.

»Was hat denn Wasser mit Religion zu tun?«, fragte sie. »Ich bin in Sachen Religion nicht wirklich vorbelastet, deshalb erschließt sich mir kein Zusammenhang.«

»Na der ist doch offensichtlich!«, warf daraufhin Oberkommissar Andreas Meinert mit leicht besserwisserischer Tonlage ein. »Das alles deutet auf einen Fischer hin, der wiederum auf dem Siegelring des Heiligen Vaters, also des Papstes abgebildet ist. Er stellt den Apostel Petrus dar, der ebenso wie sein Bruder Andreas als Menschenfischer bezeichnet wurden.«

»Das Markusevangelium.«, warf Hauptkommissarin Rita Schwarz hinterher.

»So so, du bist also bibelfest? Das ist ja etwas ganz Neues.«, witzelte Meinert in ihre Richtung.

»Nein, aber ich hatte nach Sichtung der Fotos einen ähnlichen Gedanken und einfach mal Wikipedia bemüht. Also einfach nur etwas Allgemeinwissen in Verbindung mit ebenso klassischer, wie auch höchst brillanter Ermittlungsarbeit.«, lobte sie sich, die Gelegenheit schamlos ausnutzend, gleich selbst.

 

Gerade wollte Mansfeld das sich anbahnende verbale Gemetzel unterbrechen, als Dr. Martin, der Gerichtsmediziner, den Raum betrat.

»Na hier geht es ja schon richtig rund. Sagt Bescheid, bevor es in eine handfeste Schlägerei ausartet, damit ich dann schnell die Flucht ergreifen kann. Oder Wetten abschließen.«

Diese Ansage wirkte und alle verstummten. Meinert wirkte ein wenig beleidigt, aber so war es oft mit ihm. Austeilen konnte er, nur das Einstecken gehörte nicht gerade zu seinen Stärken.

»Klaus, gut, dass du da bist. Wir haben, wie man eben ganz eindrucksvoll bemerken durfte, bereits einen ersten Ermittlungsansatz, jetzt fehlt nur noch die Bestätigung dafür. Und die kannst du bestimmt liefern.«, begrüßte Mansfeld ihn und übergab ihm damit gleich das Wort.

»Nun, ob ich da wirklich liefern kann, das vermag ich nicht zu sagen, aber ich kann etwas zur Identität des Opfers sagen.«, antwortete er an Mansfeld gewandt.

»Perfekt, denn wenn wir das Opfer kennen, wissen wir auch schnell, ob dessen Umfeld zu unserem Ansatz passt.«

 

»Dann will ich mal.«, sagte Dr. Martin und richtete das Wort dann an alle. »Beim Opfer handelt es sich um Jens Schmid. Zweiunddreißig Jahre alt und derzeit arbeitslos. In seiner damit üppigen Freizeit sitzt für die PSD in der Bezirksverordnetenversammlung. In dieser Funktion ist er vornehmlich im Bauausschuss tätig. Er ist verheiratet und hat eine kleine Tochter. Die Kleine ist gerade fünf Jahre alt. Zur Todesursache kann ich noch nichts Genaues sagen. Es sieht zwar zunächst klar nach einem Schnitt durch den Hals aus, aber der kann ihm auch nachträglich beigebracht worden sein. Ebenso kann ich noch nichts zu dieser schwarzen Flüssigkeit sagen, da ist aber das Labor schon dran. Aus dem Stand würde ich auf etwas teerähnliches tippen.« Dr. Martin machte eine kurze Pause, bevor er fragte: »Das war‹s fürs Erste. Passt es zu eurer Theorie?«

 

Nun übernahm Mansfeld wieder. »Das lässt sich so noch nicht sagen, dazu müssen wir erst seinen persönlichen Hintergrund ein wenig mehr beleuchten. Ein Politiker sagst du? Das bringt natürlich noch unendlich viele weitere Optionen ins Spiel. Hoffen wir mal, dass uns da Abteilung 5 nicht auch noch in die Arbeit reinpfuscht.«

Die Abteilung 5 des Landeskriminalamtes ist der polizeiliche Staatsschutz und für politisch motivierte Straftaten zuständig. Die ebenfalls zum Staatsschutz gehörende Abteilung 8 war dabei auf Islamismus und den Staatsschutz betreffende Ermittlungen mit Finanzbezug zuständig.

Dr. Martin wiegelte direkt ab: »Na die wachen doch nur dann auf, wenn es sich tatsächlich um politisch motivierte Kriminalität handelt. Das hier sieht mir aber bisher weniger danach aus. Und wenn es um seine politische Arbeit ginge, wäre das Rathaus doch ein besserer Präsentierteller als die Zitadelle, oder?«

»Wir sind noch ganz am Anfang. Das heißt, es ist grundsätzlich alles möglich und nichts wird ausgeschlossen. Aber ich gebe dir recht, das Rathaus wäre dann vermutlich eher der Tatort gewesen. Kollege Jensen hat vorhin schon geäußert, dass er den kleinen Platz dort außerhalb der Zitadelle für exakt den Ort hält, der zur Inszenierung gehört. Also nicht einmal der große Schauplatz im Inneren der Zitadelle richtig gewesen wäre.«, sagte Mansfeld daraufhin und Jensen schwoll vor Stolz innerlich die Brust.

»Welche Theorie habt ihr eigentlich, vielleicht fällt mir ja etwas Passendes dazu ein?«, fragte Dr. Martin nun und brachte damit das Gespräch wieder in seine ursprüngliche Bahn zurück.

»Im Raum steht ein religiöser Hintergrund, denn sowohl Gewässernähe, also auch die Netzdingsbumse und der in die Brust geritzte Fisch deutet darauf hin.«

»Soso, das Markusevangelium.« Dr. Martin nickte, während ihn alle erstaunt anblickten.

 

»Ach, du kennst dich auf diesem Gebiet aus?«, wollte Mansfeld wissen.

»Nein, überhaupt nicht. Ich habe nur ein wenig aufgeschnappt, als es hier eben noch die Diskussion gab, die sich fast in Richtung Bibelzitatewettstreit entwickeln wollte.« Dr. Martin grinste und im Raum gab es Gelächter.

»Okay.«, unterbrach Mansfeld die Heiterkeit. »Matthias, wenn du nichts mehr hast, dann würden wir jetzt weitermachen wollen.«

»Nein, ich wollte euch nur fix die Identität des Opfers mitteilen, die Obduktion wird erst morgen stattfinden. Bist du dann selbst dabei?«

»Ja, vermutlich werde ich mit Jensen dabei sein, aber das kann sich auch noch ändern. Du weißt ja, sich ändernde Situationen und so.«