Rest in Kies - Maik Bischoff - E-Book

Rest in Kies E-Book

Maik Bischoff

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Beschreibung

Geocacher finden beim Tauchen im Spandauer Kiesteich ein paar alte, an einen Grabstein gekettete Knochen. Was zunächst für ein altes Schulskelett gehalten wird, entpuppt sich recht schnell als menschliche Überreste, die zu einem Cold Case aus den Siebziger Jahren führen. Da ein Teammitglied von Mansfeld & Jensen am Fund beteiligt ist, wird der Fall nicht an eine Abteilung im LKA übergeben, die für Cold Cases zuständig ist, sondern Mansfelds Team ermittelt selbst. Schnell führen die Ermittlungen zu weiteren Todesfällen, die mehr Fragen auswerfen, als die beteiligten Personen zu beantworten bereit sind. Bis die Situation eskaliert.

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Seitenzahl: 225

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Maik Bischoff

 

 

Rest in Kies

 

Ein neuer Fall für Mansfeld & Jensen

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte:             © 2024 Copyright by Maik Bischoff

Umschlag:      © 2024 Copyright by Maik Bischoff

Verantwortlich

für den Inhalt:      Maik Bischoff

Pichelsdorfer Straße 45

13595 Berlin

[email protected]

 

Druck:      epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

 

Dieser Roman ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten zu tatsächlich existierenden Personen sind absolut zufällig. Aber das weiß man ja. Und Lutz, sorry, das war eigentlich anders gedacht.

1

Fump!

Das Geräusch des ins Wasser fallenden Steines schallte über die schwarz glänzende Wasserfläche der ruhig in der Nacht liegenden Kiesgrube. Der stille Beobachter am gegenüberliegenden Ufer rückte noch ein Stück weiter aus seinem Versteck hinaus. Er versuchte, ein wenig mehr von dem zu erkennen, was sich drüben am alten Schrottplatz abspielte.

 

Dort standen fünf Jungen am Rand des steilen Ufers und johlten. Sie feierten den erfolgreichen Wurf des schweren Grabsteines, der die Generalprobe für den eigentlichen Plan darstellte.

Der stille Beobachter hatte am Tag zuvor ein Gespräch zwischen zwei der Jungen vom anderen Ufer mitbekommen. Sie hatten sich darüber unterhalten, dass in der Nacht der ‘Oschi’ seinen Weg in die Kiesgrube finden sollte. Dieser ‘Oschi’ war ein besonders großer Grabstein, der von allen in der Gegend mit einer gehörigen Portion Respekt angesehen wurde. Keiner der Jungen, die recht häufig in der Nacht zum alten Schrottplatz schlichen, um die dort gelagerten Grabsteine in die Kiesgrube zu werfen, hatte sich je an diesen Brocken getraut.

Um die Grabsteine ins Wasser zu bekommen, mussten sie mit viel Schwung geworfen werden, dann rollten sie die letzten Meter des Steilufers hinab und schafften es, ins Wasser zu fallen. Ziel war es dabei, den Stein möglichst flach aufschlagen zu lassen, um auf diese Weise ein möglichst lautes Platschen zu erzeugen.

 

Kinderstreiche. Der stille Beobachter wischte die Gedanken an Sinn oder Unsinn dieser nächtlichen Beschäftigung beiseite, denn am anderen Ufer tat sich etwas.

Die fünf Jungen gingen tatsächlich zu einem am Rande des Schrottplatzes stehenden Anhängers, der mit etlichen Grabsteinen beladen war. Darunter der ‘Oschi’. Der in den Augen der Jungen riesig wirkende Grabstein ohne Inschrift stand majestätisch am Rand neben der herabhängenden Ladeklappe und wartete nur darauf, seiner wahren Bestimmung zugeführt zu werden. Der Sturz ins kalte Nass der Kiesgrube. Zwei der Jungen kletterten auf den Anhänger, während die anderen beiden von unten zupackten. Sie waren sich sicher, den ‘Oschi’ zu schaffen. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, aber sie würden es schaffen.

Langsam schoben sie den gewaltigen Grabstein über den Rand der Ladefläche, gerade so weit, dass die beiden unten verbliebenen Jungen ihn noch halten konnten. Die beiden anderen sprangen nun von der Ladefläche, um mit anzupacken. Durch die plötzliche Entlastung hob sich der Anhänger ein kleines Stück und damit verlagerte sich der Schwerpunkt des Grabsteins, der plötzlich zu rutschen begann.

Damit hatte keiner der Jungen gerechnet und wie erstarrt hielten alle fünf in ihrem Tun inne. Sie blickten auf den Grabstein, der wie in Zeitlupe langsam hinab rutschte. Und dann ging doch alles ganz schnell. Mit lautem Krachen fiel der Grabstein und begrub einen der Jungen unter sich. Mit weit aufgerissenen Augen lag er da, über ihm der schwere Stein und versuchte ganz offensichtlich zu sprechen. Was ihm jedoch nicht gelang, dafür sah man seinen Augen an, wie langsam das Leben aus ihm wich.

Keiner der drei anderen sagte etwas, sie starrten noch einige Augenblicke auf ihren nun toten Freund und rannten dann in die Dunkelheit der Nacht davon.

 

Der stille Beobachter konnte von seinem Posten am anderen Ufer keine Einzelheiten erkennen, aber als er nur vier Personen davonlaufen sah, wo vorher noch fünf standen, wurde ihm schnell klar, was beim Fall des Grabsteins geschehen sein musste.

Eiskalt lief es ihm den Rücken herunter und er überlegte, was er jetzt tun sollte. Die Neugier zog ihn förmlich zum alten Schrottplatz, aber die Angst vor dem, was ihn dort erwarten könnte, hielt ihn mit eiserner Klammer in seinem Versteck fest. Wäre er doch nur nicht auf die Idee gekommen, sich hierher zu schleichen.

 

Samstag, 09.00 Uhr, Kiesteich Spandau

 

Das Wochenende war herrlich sonnig und Kriminalkommissar Benjamin Blaschke hatte frei. So richtig frei, ganz ohne Bereitschaftsdienst und somit war die Gefahr, mit Leichen oder Ähnlichem konfrontiert zu werden, vergleichsweise gering. Heute sollte es für ihn und einige Hobbyfreunde unter Wasser gehen. Blaschke war begeisterter Geocacher.

 

Beim Geocaching werden für gewöhnlich kleine Dosen mit allerlei Kleinkram und einem Logbuch versteckt, die Geokoordinaten des Versteckes im Internet veröffentlicht und jeder konnte sich mit einem GPS-Empfänger auf die Suche danach machen. Hatte man das Versteck gefunden, so war es üblich, etwas vom Kleinkram zu tauschen. Dafür hatten die meisten Geocacher entsprechende Dinge in ihrer Tasche, meist handelte es sich um billiges Spielzeug oder ähnliches. Und man durfte sich dann im Logbuch eintragen und damit den erfolgreichen Fund dokumentieren.

 

Im Laufe der Jahre hatten sich immer mehr Spielarten des Geocachings entwickelt. So gab es Caches, deren Koordinaten in einem Rätsel versteckt waren, andere erforderten die Suche verschiedener Stationen, die zum Ziel führten und wieder andere erforderten spezielle Ausrüstung.

Da die Community immer weiter wuchs, gab es irgendwann auch Events, bei denen man sich traf und zum Hobby austauschte. Eine Spielart dieser Events war das sogenannte CITO. Diese Abkürzung steht für ‘Cache in, trash out’. Das bedeutet, dass man sich trifft, eine bestimmte Fläche, zumeist Wald, von allem Müll befreit und dann einen Cache dort versteckt.

Heute war so ein Event und die zu reinigende Fläche war der Kiesteich in Spandau. Dieses Event fand einmal jährlich statt und die Hobbytaucher unter den Berliner Geocachern nutzten diese Gelegenheit, zwei Hobbys miteinander zu verbinden.

 

»Hey, Satmaster, bist du endlich soweit?«, sprach ihn ein anderer Geocacher mit seinem Nickname an, die nicht nur online, sondern auch bei realen Treffen verwendet wurden.

»Drängel nicht, ich habe keine Lust wieder Unmengen Schlamm im Anzug zu haben, wie im letzten Jahr.«, antwortete Blaschke und spielte damit auf ein peinliches Erlebnis an. Als er sich im Vorjahr den Tauchanzug auszog, platschten gleich mehrere Schlingpflanzen und jede Menge Schlamm heraus. Er hatte vorher nicht darauf geachtet, den Anzug komplett zu verschließen. Das sollte ihm in diesem Jahr besser nicht passieren, denn das Gelächter seiner Hobbykameraden schallte ihm heute noch im Ohr.

Kurz darauf war er fertig und die beiden machten sich auf den Weg zum Wasser. Am Ufer hatte sich bereits ein beachtlicher Haufen Müll angesammelt und einige der Geocacher waren emsig damit beschäftigt, den Haufen weiter wachsen zu lassen. Neben einem alten Fahrrad, einer verbeulten Waschmaschinentrommel und schier unermesslichen Mengen Plastiktüten lagen auch einige Mietscooter auf dem Haufen. Diese aus deutschen Großstädten kaum mehr wegzudenkenden Elektroroller spalteten die Gesellschaft. Während die einen sie als wesentlichen Bestandteil ihrer Mobilität ansahen, hassten andere sie abgrundtief. Letztere oft auch bedingt durch Jugendliche, die damit allerlei Unfug trieben und die Scooter nicht selten quer auf Gehwegen oder direkt im Einstiegsbereich einer Bushaltestelle abstellten. Oder sie einfach in Flüsse oder Teiche warfen, so wie hier am Kiesteich.

 

Blaschke und Geospezie, wie sich der andere Geocacher nannte, gingen ans Ufer, kontrollierten noch einmal gegenseitig ihre Atemregler und platschten mit ungelenkem Watschelgang in Richtung Wasser. Als sie gerade knietief im Wasser standen, tauchte wenige Meter vor ihnen ein anderer Taucher aus dem Wasser und riss sich den Atemregler aus dem Mund. Er holte ein paar Mal tief Luft und rief dann ganz aufgeregt: »Die Cops! Wir brauchen die Cops!«.

»Was denn, hast du etwas eine Wasserleiche gefunden?«, rief ein anderer Geocacher belustigt und Blaschke machte große Augen, als diese Frage mit einem heftigen Nicken quittiert wurde.

»So, jetzt mal alles von vorn. Was genau hast du da unten gefunden?«, forderte er den Taucher dazu auf, etwas konkreter zu werden.

»Knochen, eindeutig Knochen. Und die sind ebenso eindeutig von einem Menschen.« Er stand jetzt mit offenem Mund vor Blaschke.

Von hinten rief ein anderer Geocacher lachend: »Mensch Satmaster, du bist doch bei den Bull…, bei der Polizei. Und sogar einer von den Kriminalern. Herzlichen Glückwunsch, du hast einen neuen Fall.«

Blaschke winkte jedoch nur ab und ging nicht weiter auf diesen Spruch ein. Vielmehr redete er weiter mit seinem sichtlich mitgenommenen Tauchkameraden: »Okay, es wirkt menschlich. Das hat noch lange nichts zu bedeuten, es kann ja auch so ein komisches Skelett aus Kunststoff sein, wie sie in jedem Biologieraum einer Hauptschule zu finden sind.«

Sein Gegenüber schüttelte aber nur den Kopf: »Die kenne ich, sowas stand bei mir damals auch im Klassenzimmer. Solche Dinger sind aber so gut wie nie mit Ketten an alten Grabsteinen befestigt.«

 

Blaschke widerstand dem ersten Impuls, gleich ins Wasser zu gehen und sich die Sache selbst anzuschauen.

»Du nimmst mich jetzt aber nicht auf den Arm, oder?«, fragte er noch einmal. Schließlich wäre nichts peinlicher, als jetzt das große Besteck auszupacken und dann am Ende doch nur ein Kunststoffskelett aus dem Teich zu holen.

»Nein.«, lautete die kurze Antwort und für einige Sekunden kehrte beim bisher geschäftigen Treiben am Ufer absolute Stille ein. Blaschke dachte hektisch nach. Er hatte wahnsinnige Angst, sich bei seinen Kollegen lächerlich zu machen, wenn es sich doch nur um ein Schulskelett handelt, aber dieser Angst stand die Befürchtung entgegen, bei weiteren Tauchgängen mögliche Spuren zu vernichten und dafür einen Rüffel zu kassieren.

Blaschke dachte kurz nach, straffte dann den Rücken und rief mit Bestimmtheit in der Stimme: »Alles klar, dann hat die Suche nach Abfall jetzt ein Ende. Alle raus aus dem Wasser, niemand geht mehr rein und alle bleiben hier vor Ort.«

»Das ist doch jetzt ein Gag, oder?«, rief einer der Geocacher noch, aber Blaschke wiederholte seine Aufforderung und machte damit klar, dass die Geocacher jetzt ihr CITO zu beenden hatten. Nicht jeder hatte mitbekommen, was unten am Ufer gesprochen wurde und so kamen alle zusammen, um sich nach dem Grund für das plötzliche Ende zu erkundigen.

 

Während alle aufgeregt durcheinanderredeten, ging Blaschke ein wenig zur Seite, um in Ruhe telefonieren zu können. Er wählte die Nummer von Kriminalhauptkommissar Mansfeld, seinem Chef. Und machte sich auf ein gehöriges Donnerwetter gefasst, weil er am Wochenende störte. 

 

Samstag, 9.30 Uhr, Edeka Heerstraße

 

Kriminalhauptkommissar Peter Mansfeld arbeitete akribisch seinen Einkaufszettel ab. Er wollte nichts vergessen, denn nichts war ärgerlicher, als beim Kochen feststellen zu müssen, dass eine wichtige Zutat fehlte. Und er wollte an diesem Wochenende nichts anderes tun, als sich ein paar schöne Dinge zu kochen und es sich sonst auf der Couch gemütlich zu machen.

Als leitender Ermittler einer Mordkommission hatte er schon lange keine Zeit mehr dafür gehabt, weshalb die Vorfreude heute ganz besonders groß war. Am Vortag war er noch in die Buchhandlung in den Spandau Arcaden gegangen und hatte sich zwei nette Schmöker gekauft. Diese beiden Bücher warteten, angenehm nach altem Papier duftend, auf seine Rückkehr und darauf, dann verschlungen zu werden.

 

Als sein Telefon zu klingeln begann, knurrte er kurz in sich hinein und beschloss, das Klingeln zu ignorieren.

Als sich das Klingeln jedoch hartnäckig hielt, schaute er auf die Anruferkennung und sah, dass es Blaschke war. Blaschke war ein aktueller Neuzugang in seinem Team und hatte beim letzten Mordfall den entscheidenden Hinweis gefunden. Ein junger und vielleicht noch etwas zu aufgeregter junger Ermittler, aber sehr bedacht in seinem Tun. Er würde wohl nicht ohne wirklich triftigen Grund anrufen. Also nahm er das Gespräch an: »Ich habe heute frei. Auf mich wartet ein Sofa, zwei Bücher und eine riesige Portion Pasta Cacio e Pepe. Wehe, es ist nicht wirklich wichtig, sonst platzt der Mond!«

 

Mansfelds eben noch gute Laune erreichte schlagartig einen Tiefpunkt. Und es sollte noch schlimmer werden.

»Chef, ich habe hier eine ziemlich komplizierte, ähh, wie soll ich sagen, ähh, Situation.«, stotterte Blaschke, der nicht so recht wusste, wie er anfangen sollte.

»Eine komplizierte Situation. So so. Und da meinst Du, ruft man einfach mal den ollen Mansfeld an, der kann ohnehin Kaffeesatz lesen, weiß also eine einfache Lösung für eine komplizierte Situation, die ihm völlig unbekannt ist, richtig? Und hier ist gleich die Lösung. Leg Dich ins Bett und trinke weniger Alkohol.« Mansfeld grinste in sich hinein und feierte sich für seine Schlagfertigkeit. Als Blaschke aber einfach nur stumm am Telefon blieb, schwante ihm der Ernst dieser ‘komplizierten Situation’.

»Benjamin?«, versuchte er, Blaschke zum Reden zu bewegen.

Blaschke schluckte hörbar und begann dann zu reden. Er erklärte kurz die Sache mit dem CITO und kam dann auf die Knochen, die Kette und den Grabstein zu sprechen.

Als er fertig war, fragte Mansfeld: »Und das hast du mit eigenen Augen gesehen?« Das ist jetzt kein Kunststoffskelett aus dem Biologieunterricht?«

»Nein, diese Frage habe ich auch als erstes gestellt. Und nein, ich war jetzt nicht im Wasser, um mir das selbst anzusehen. Ich wollte da keine unnötige Spurenvernichtung betreiben. Also, wenn da überhaupt noch Spuren zu finden sind. Aber ich glaube meinem Bekannten. Was also tun?«

»Mensch Benjamin!«, schimpfte Mansfeld nun. »Ruf den Kriminaldauerdienst an, die schicken die Kavallerie zu dir. Und ruf zusätzlich noch direkt bei Doktor Martin an und frag den, ob da noch irgendwelche Spezialisten, also Anthropologen oder Archäologen oder was auch immer benötigt werden. Wir haben hier ja möglicherweise eine nicht ganz so frische Leiche.«

 

Dr. Matthias Martin ist der Gerichtsmediziner, mit dem Mansfeld und sein Team am häufigsten zu tun haben. Ein junger Mann, dem man auf den ersten Blick kaum zutraute, einer der besten Gerichtsmediziner der Stadt zu sein. Mit langen Haaren und verschlissener Kleidung wirkte er eher wie ein ewiger Student. Dieser Eindruck verschwand jedoch schlagartig, wenn man kurz mit ihm sprach und einen hochgebildeten, neugierigen Menschen kennenlernte.

Und Martin war es, den Blaschke als Nächstes anrief. Einerseits, um ihn vorzuwarnen und andererseits, um die Sache mit den Spezialisten zu klären.

»Martin, was kann ich für sie tun?«, begrüßte ihn der Gerichtsmediziner überschwänglich und freundlich.

»Doc, Blaschke hier. Wir haben da so eine Situation.« Die Redewendung mit der Situation begann Blaschke zu gefallen. »Hier im Kiesteich wurden ein paar Knochen gefunden. Menschliche Knochen, die mit einer Kette an einem Grabstein befestigt sind oder waren.«

»Das bedeutet, ich darf gleich dorthin, richtig?«, fragte Martin daraufhin.

»Darauf läuft es wohl hinaus. Was aber viel wichtiger ist, ich habe vom Chef noch einen Auftrag bekommen. Er will nämlich wissen, ob wir da Anthropologen oder ähnliches brauchen.«

Dr. Martin überlegte kurz. »Nein«, entgegnete er dann, »den benötigen wir erst später. Vor Ort kann er auch nichts weiter tun. Knochenanalysen und dergleichen sind eher Laborarbeit. Wenn, dann könnte höchstens ein Archäologe vonnöten sein, aber auch das werden wir erst noch sehen. Ist denn schon alles am Rollen?«

»Das kommt gleich, ich wollte erst klären, was wir brauchen.«

»Gut so. Ich komme dann direkt zum Kiesteich. Wo denn da? An der Badestelle?«

»Nicht ganz. Näher an der Straße, wo die Stege durch den Schilfgürtel führen. Wir sind hier aber kaum zu übersehen.«, versuchte Blaschke möglichst schnell und einfach seinen Standort einzugrenzen.«

»Ihr?«, fragte Martin erstaunt?

»Ja, wir. Hier sind jede Menge Geocacher."

Dr. Martin lachte kurz auf. »Alles klar, bei der Schatzsuche einen Zufallsfund gemacht. Das kann wirklich nur dir passieren.« Immer noch lachend legte Dr. Martin auf.

Blaschke blieb nun nur noch der finale Anruf. Er informierte die Dienststelle und wusste, dass es jeden Moment um die Ruhe am Kiesteich geschehen sein würde. 

 

Samstag, 10.00 Uhr, Kiesteich Spandau

 

Mansfeld hatte direkt nach Blaschkes Anruf seinen Einkauf abgebrochen und erreichte jetzt als Erster den Kiesteich. Er war über den Magistratsweg gekommen, da er auf diese Weise an der Brücke oberhalb des Teiches anhalten und sich einen Überblick verschaffen konnte. Er stand jetzt am Brückengeländer und beobachtete die Szene. Inmitten etlicher aufgeregt wirkender Menschen sah er Blaschke stehen. Er wirkte ein wenig verlassen und schien sich nicht sicher zu sein, was als Nächstes zu tun sei.

 

Mansfeld lächelte innerlich. Der Neue, wie er Blaschke insgeheim nannte, auch wenn er die Verwendung dieser doch ein wenig stigmatisierenden Bezeichnung in seinem Team untersagt hatte, hatte sich da gerade einen ziemlich dicken Nagel eingetreten. Also bildlich gesprochen. Alte Knochen können viel bedeuten, mit etwas Glück war es uraltes Material, das durch Schlamm hinreichend konserviert wurde und deshalb gleich mehrere hundert Jahre überdauert hatte. Mit etwas Pech war es hingegen ein nicht allzu altes Kapitalverbrechen und dann sah es ziemlich mies aus.

 

Alte Knochen aus einem See, als dann meist einzig verfügbare Spur, das machte die Aussichten auf eine erfolgreiche Klärung eher unwahrscheinlich. Und wenn Mansfeld etwas hasste, dann waren es ungeklärte Mordfälle. Immerhin hat jedes Todesopfer das Recht, dass sein Tod gesühnt wurde. Und auch dessen Angehörige hatten in Mansfelds Augen dieses Recht und mussten zudem erfahren, was genau mit ihren Liebsten geschehen ist. Und bestenfalls auch, weshalb es geschehen ist.

Aber wenn er weiter hier oben auf der Brücke Maulaffen feil hielt, würde er wohl nie erfahren, wozu sich Blaschkes Fund entwickelt und so setzte er sich wieder in seinen Wagen und fuhr hinunter zum Parkplatz.

 

Er parkte gerade ein, als ein ihm sehr bekanntes Fahrzeug auf den Parkplatz einbog. Dabei handelte es sich um Kriminalrat Siegfried Koch, Mansfelds direkten Vorgesetzten.

Woher hatte der Alte, oder KSK, wie er oft auch nur kurz genannt wurde, schon wieder von dieser Nummer hier erfahren?

Nun, diese Frage würde er sicher gleich beantworten und wollte, so wie Mansfeld seinen Chef kannte, auch gleich einen Täter oder wenigstens einen Verdächtigen präsentiert bekommen. Völlig unabhängig davon, ob es überhaupt ein Verbrechen gegeben hat.

 

»Hallo Siegfried«, begrüßte er ihn. »Wie kommt es, dass du hier auftauchst? Aktuell wissen wir doch noch nicht einmal, ob wir oder die Stadtarchäologen zuständig sein werden.«

Mansfeld versuchte, dabei ein möglichst erstauntes Gesicht zu machen. Koch ging jedoch nicht darauf ein.

»Hallo Peter. Ich war vorhin wegen eines wichtigen Termins im Präsidium und bin dann noch kurz ins Büro. Was man am Wochenende eben so macht. Und da habe ich das mitbekommen und bin jetzt aus reinem Interesse hier. Und falls es etwas für uns ist, muss ich nicht extra los.«

Er zwinkerte Mansfeld an und lief dann in Richtung Kiesteich los, während Mansfeld erstaunt stehen blieb und sich innerlich die Augen rieb. Hatte er seinen Chef gerade tatsächlich ganz locker und entspannt erlebt? Das kannte er so überhaupt nicht von ihm. Ein so entspanntes Verhalten passte überhaupt nicht zum sonst enorm zugeknöpften Beamten Koch. Aber gut, sich zu ändern ist eine gute Eigenschaft, besonders dann, wenn die Änderung zum Positiven erfolgt. Mansfeld schüttelte kurz lächelnd den Kopf, konzentrierte sich wieder auf die anstehenden Dinge und wollte Koch zum Kiesteich folgen.

 

Nach nur zwei Schritten sah er jedoch ein weiteres ihm sehr gut bekanntes Fahrzeug auf den Parkplatz fahren, mit dem er absolut nicht gerechnet hatte. Es handelte sich dabei um den Wagen von Ralf Jensen, einem aufstrebendem Kriminaloberkommissar und quasi seiner rechten Hand. Und derzeit im Erholungsurlaub befindlich.

Er wartete kurz ab, bis Jensen ausgestiegen war und ging dann auf ihn zu. Er begrüßte ihn: »Ralf, alter Urlauber! Schön dich zu sehen, aber was machst du hier?«

»Hallo Chef! Ich bin nur rein informatorisch hier. Ich hab vom großen Leichenfund des Frischlings gehört und will mir dieses grandiose Spektakel natürlich nicht entgehen lassen.« Jensen lachte laut auf, hörte jedoch schnell wieder auf, als er Mansfelds grimmigen Blick sah.

»Dieses Wort möchte ich nicht hören!«, knurrte Mansfeld.

»Schon gut Chef, ist ja nicht böse gemeint.«, entschuldigte sich Jensen. »Streng genommen kam mir die Information über Benjamins Sensationsfund sogar ganz gelegen.«

»Wie denn das? Wer lässt sich denn gern aus dem Urlaub reißen?«, fragte Mansfeld erstaunt.

»Ganz einfach, ich musste, ähh, durfte natürlich, heute meine Liebste beim Einkaufen begleiten. Und ich saß inzwischen locker drölfzig Stunden vor der Umkleide im Karstadt und habe abwechselnd großes Staunen, totale Begeisterung und ähnliches heucheln dürfen. Und dabei immer in Sekundenschnelle am Blick der Liebsten erkennen, welche Reaktion nun von mir erwartet wird. Das ist echte Schwerstarbeit.«, antwortete Jensen und versuchte dabei, ein möglichst erschöpftes Gesicht zu machen.

Mansfeld lachte: »Selbst Schuld, wer geht auch freiwillig mit Frauen Klamotten kaufen? Nicht nur, dass es anstrengend ist, man kann am Ende ohnehin nur verlieren, weil man irgendwann was Falsches sagt.«

 

Jensen nickte, zuckte kurz mit den Schultern und sagte: »Na los, schauen wir doch mal, was uns am Teich geboten wird.«

Jensen packte Mansfeld an der Schulter und schob ihn in Richtung Kiesteich. Mansfeld ließ sich das gefallen und lachte innerlich nur über seine Truppe. Die Ermittler waren sehr gut vernetzt und tauschten sich auch privat sehr intensiv aus. Whatsapp machte es möglich und auch wenn er sich als Chef absichtlich aus dieser Sache heraushielt, wollte er schon manchmal gern Mäuschen spielen und wissen, was dort so alles besprochen wurde. Aber aktuell musste Blaschkes Fund das Hauptthema sein und Mansfeld rechnete damit, dass der Rest des Teams auch noch am Kiesteich auftauchen wird.

 

Mansfeld und Jensen kamen gerade am Ort des Geschehens an, als von hinten eine Stimme ihre Namen rief: »Peter, Ralf, rennt mal nicht so. Ein alter Mann ist schließlich kein Rennwagen.«

Die Stimme gehörte Klaus Wohlfahrt, dem Leiter der Spurensicherung. Mansfeld drehte sich um und begrüßte ihn: »Hallo Klaus. Du also auch noch hier. Was findet ihr alle an ein paar alten Knochen dermaßen interessant, dass ihr in Scharen hier auftaucht?«

»Grüß dich, Peter!«, antwortete Wohlfahrt und nickte dann zu Jensen. »Ralf.«

 

Wieder an Mansfeld gewandt, erklärte er sein Auftauchen: »Na denkst du etwa, ich lasse mir diesen Spaß entgehen? Euer Nachwuchs alarmiert die Kavallerie, weil im Kiesteich ein altes Schulskelett liegt und der frisch gebackene Herr Kriminaloberrat hält den Fall für wichtig genug, selbst am Ort des Geschehens zu erscheinen.«

»Kriminaloberrat?«, fragte Mansfeld erstaunt. »Wurde der Alte tatsächlich befördert?«

»Hat er dir nichts verraten? Er kommt doch direkt von der Beförderung.« Wohlfahrt wunderte sich, dass Koch aus dieser Sache ganz offenbar ein Geheimnis gemacht hatte.

»Nein, er hat nicht einmal eben etwas gesagt, als er mir auf dem Parkplatz über den Weg lief. Aber das erklärt das für seine Verhältnisse doch eher ungewöhnlich debile Grinsen, das er im Gesicht hatte, ebenso wie die für seine Verhältnisse viel zu gute Laune.«

Mansfeld lachte kurz, wurde dann aber wieder ernst, als er Blaschke entdeckte. Blaschke wirkte irgendwie verloren inmitten des Gewusels, das sich inzwischen am Kiesteich entwickelt hatte. Die Polizeitaucher waren inzwischen vor Ort und es sah ganz so aus, als würden die beteiligten Zivilisten gerade erklären, wo genau die Knochen zu finden sind.

»Lasst uns mal den Benjamin ein wenig aufbauen.«, forderte er zumindest Jensen, aber auch Wohlfahrt dazu auf, mit ihm zu Blaschke zu gehen.

Als Blaschke seinen Chef entdeckte, hellte sich sein Gesicht merklich auf und er schien plötzlich sehr erleichtert zu sein.

 

»Benjamin, was hast du denn jetzt wieder angerichtet?«, begrüßte Mansfeld seinen Kollegen und hielt ihm dann die Hand zum Gruß hin. Blaschke schlug ein und murmelte nur ein paar unverständliche Worte.

»Wie meinen?«, hakte Jensen dann nach und schüttelte ebenfalls Blaschkes Hand.

»Na, seht ihr das hier nicht? Hätte ich bloß nichts gesagt. Jetzt taucht hier das halbe Kommissariat auf, bloß weil der Frischling ein paar Knochen gefunden hat. Oder meint, welche gefunden zu haben. Und nachher ist es doch bloß ein Fehlalarm. Ich kann jetzt schon das Gelächter hören. Oh Mann, ich werde mich nie wieder im Kommissariat blicken lassen können. Am besten versinke ich ganz tief im Boden und lasse mich dann ins tiefste Bayern versetzen. Irgendeine Dorfwache, wo mich niemand kennt.«

Blaschke versuchte, seinen Worten mit einem Grinsen Nachdruck zu verleihen, aber es gelang ihm nicht. Er schien tatsächlich sehr verzweifelt zu sein und sich nun über seine eigene Courage zu ärgern.

»Unfug!«, meldete sich jetzt auch Wohlfahrt zu Wort. »Da gibt es einen Verdacht und dem muss nachgegangen werden, also hast du alles richtig gemacht. Nichts zu sagen, wäre ein grober Fehler gewesen.«

»Klaus hat vollkommen recht, das passt schon. Und wenn da ein paar Nasen nur aus Sensationsgeilheit hier auftauchen, dann ist das eben so.« Mansfeld zwinkerte Jensen dabei zu, der sich prompt ertappt fühlte und rot wurde.

 

Sehr viel weiter konnte das aber nicht ausgeführt werden, denn vom Kiesteich war plötzlich ein lauter Ruf zu hören: »Wir haben etwas!«

Wie auf Kommando drehten sich die vier Kollegen dorthin um und sahen einen der Polizeitaucher aus dem Wasser kommen. Wie eine Trophäe hielt er einen Schädel in die Höhe. Einen eindeutig menschlichen Schädel. Blieb nur die Frage offen, ob er auch wirklich echt war.

Und diese Frage beantwortete der schnell zum Ufer geeilte Doktor Martin, der den Schädel kurz etwas genauer betrachtete und dann verkündete: »Das Ding sieht auf den ersten Blick echt aus. Ab sofort wird das hier alles wie ein Tatort behandelt.«

 

Die Worte des Gerichtsmediziners hatten die Situation schlagartig verändert und aus dem lockeren Treiben mit viel Spaß und Scherzen wurde nun Ernst. Mansfeld beobachtete die Szenerie mit etwas Abstand und staunte einmal mehr, wie sehr ihn das alles trotz vieler Dienstjahre und jeder Menge Tatortarbeit noch immer faszinierte. Wie ein Uhrwerk lief alles ab, die verschiedenen Abteilungen arbeiteten Hand in Hand und ohne viel Gerede wusste ein jeder, was er zu tun hatte.

 

Mansfeld drehte sich zu Blaschke um und sprach ihn an: »Und Benjamin, ist der erste Schreck verdaut?«

»Ich glaube schon. Bayern ist jedenfalls fürs Erste gestrichen. Aber wie geht es jetzt weiter?«

»Das wird sich zeigen. Wir haben es ja nicht mit einem herkömmlichen Tatort zu tun, wo man sich einen ganz frischen Eindruck vom Geschehen machen kann. Wir wissen ja nicht einmal genau, ob hier überhaupt der Tatort war. Damit bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten. Wenn die Knochen einer bestimmten vermissten Person zugeordnet werden können, dann haben wir einen Fall. Wenn nicht, dann gibt es auch für uns nichts zu tun.« Mansfeld zuckte mit den Schultern.

 

Eine halbe Stunde später meldete sich Doktor Martin bei Mansfeld: »Peter, wie es aussieht, haben wir alles gefunden, was da unten noch vorhanden war. In Summe ein Schädel, eine fast vollständige Wirbelsäule, ein paar Handknochen, mehrere Rippen, einen Oberarm- und zwei Oberschenkelknochen. Ich vermute, viel mehr wird es auch nicht. Auf den ersten Blick sind die Knochen schon etwas älteren Datums, aber noch lange nichts für die Archäologen. Wir packen jetzt also alles ein und dann versuchen wir als erstes Geschlecht und Alter zu bestimmen. Was ich aber auf jeden Fall sagen kann, es war entweder ein sehr kleiner Erwachsener oder ein Kind.«

 

Das Wort ‘Kind’ hallte einen Moment in Mansfelds Kopf nach. Tote Kinder machten jeden Fall dramatisch und gingen den Ermittlern oft an die Nieren.

»Wann wirst Du denn erste Informationen haben?«

»Das geht ganz zügig. Da wir die Oberschenkelknochen haben, lässt sich das Alter ganz gut bestimmen und wenn wir das Alter haben, dann hilft das Becken bei der Bestimmung des Geschlechts. Nur die Identität wird nicht sofort feststehen.«