MenschensKind - Heidi Heine - E-Book

MenschensKind E-Book

Heidi Heine

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Beschreibung

Anna, eine Frau in den mittleren Jahren, vertrieben und geflüchtet aus Schlesien, erkämpft sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie eine neue Heimat im Osten Deutschlands. Eine schlimme Zeit und schreckliche Erlebnisse liegen hinter ihr, aber sie ist eine, die nach vorn schaut und Biss hat. Glaube, Hoffnung und die Liebe zum Sohn, zur Schwiegertochter und zu den in den Jahren des Aufbaus geborenen Enkeln halten sie aufrecht und wirken als Triebfedern in ihrem Leben. Sie setzt sich ein für andere, vergisst ihr eigenes Leid und kann endlich leben. An ihrem 70. Geburtstag trifft sie die Erinnerung nochmals mit voller Wucht. Heidi Heine legt mit diesem Buch die Fortsetzung ihres Debütwerks „DreckMensch – Leben über zwei Kriege“ vor. Erzählungen der Großmutter, Berichte von Zeitzeugen, eine Vielzahl von Ereignissen und Episoden aus 25 Jahren hat sie phantasievoll zu einem Roman verarbeitet. Sie selbst ist 1955 im Osten Deutschlands geboren, dort aufgewachsen, zur Schule gegangen und lebt heute mit ihrer Familie in der Nähe von Dresden.

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Heidi Heine

MenschensKind

Leben zwischen zwei Fronten

Teil 2

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2016 FRANKFURTER LITERATURVERLAG FRANKFURT AM MAIN

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE

AKTIENGESELLSCHAFT

In der Straße des Goethehauses/Großer Hirschgraben 15

D-60311 Frankfurt a/M

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

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Dieses Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Nachdruck, Speicherung, Sendung und Vervielfältigung in jeder Form, insbesondere Kopieren, Digitalisieren, Smoothing, Komprimierung, Konvertierung in andere Formate, Farbverfremdung sowie Bearbeitung und Übertragung des Werkes oder von Teilen desselben in andere Medien und Speicher sind ohne vorgehende schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und werden auch strafrechtlich verfolgt.

Lektorat: Dr. Andreas Berger

Titelbild: Heidi Heine

ISBN 978-3-8372-1881-7

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 1

Der Flüchtlingstreck hatte sich mühsam dahingeschleppt.

Nach einem Martyrium von Quartieren immer die bange Frage: „Dürfen sie bleiben oder müssen sie weiterziehen?“

Diesmal dürfen sie, Gott sei’s gedankt, bleiben. Für eine Mark pro Pferd am Tag ein Dach über dem Kopf. Zwischen Strohballen und alten Gerätschaften hausen sie auf engem Raum in einer Scheune: kein Wasser, kein Nichts, nur das Dach.

Die Gutsfrau kommt mit Pferd und Wagen und schüttelt den Kopf: „So geht das nicht!“

Dreckerstarrte und verlumpte Gestalten sehen zu ihr auf.

„Ich komm wieder!“ Spricht’s und fährt weiter. Draußen im Vorwerk klopft sie an eine Tür in der alten Kaserne. „Macht schon auf!“ Mit der Gerte schlägt sie sich gegen die Stiefel. „Bruno, du musst die Flüchtlinge hier aufnehmen. Sie können die Quartiere von den Fremdarbeitern nehmen. Richt sie her, übermorgen ist das Lumpengesindel aus der Strohscheune an der Feldbahnstation verschwunden. Aber jag sie nicht weg, wir brauchen die Gespanne und die Arbeitskräfte.“

Die Tür klappt, und das entfernte Schnauben des Pferdes deutet auf das Entfernen der Gutsfrau.

„Bruno, was sollte das jetzt?“ Ängstlich blickt die Frau des Verwalters zu ihrem Mann. „Wenn die hier reinkommen, kannst du gleich die alten Schlösser wieder anbringen. Die haben doch nicht das Schwarze unter dem Fingernagel.“

„Ich geh zum Witold rüber, der muss die Buden von den Fremdarbeitern herrichten!“

„Da sind doch bloß die Eisenbetten mit den Strohsäcken und die alten Öfen drin. Kein Geschirr, kein Schrank, nix, einfach nix!“

„Mei Frau, das sind doch auch Deutsche, keine Untermenschen nicht. Auf keinen Fall Russen, mit denen werd ich schon klar und den Witold hab ich auch noch.“

Schon am nächsten Abend kommt eine auf dem Rad gefahren – klein, hässlich und verdreckt.

Dem Bruno bleibt der Priem im Halse stecken, als er aus dem Schuppen tritt. „Zigeunerweib, was willst du hier?“

„Was iech wohl hier will?“ Stahlblaue, harte Augen suchen die seinen. „Nachschau’n, wo wir hier unterkriechen sollen. Iech bin die Anna und aus Schlesien bin iech!“

Knurrend gibt ihr der Bruno Zeichen zu warten. Mit einem riesigen Schlüsselbund kommt er wieder. „Seht ihr alle so aus wie du?“

„Natierlich niech!“, brummt die Anna, „nu zeig scho her die Buden!“

Der Bruno geht mit ihr in den Nebeneingang. Gefliester Fußboden im unteren Teil und steile Holztreppen nach oben. Unten vergitterte kleine Fenster, oben nicht mehr, aber etwas größer.

„Wie viele seid ihr denn?“

„34 Personen, darunter elf Kinder.“

„Mein Gott, die krieg ich mein Lebtag hier nicht unter in der Kaserne! Wir haben vier Eingänge. Einen besetz ich mit meiner Frau und den vier Töchtern. Der hier ist frei – oben und unten je eine Wohnung. Hinten eine besetzt der Witold mit zwei Söhnen und Frau. Der letzte Eingang sind wieder zwei Wohnungen, eine oben und eine unten. Die Scheißhäuser und das Waschhaus für alle sind hinten im Nebengebäude. Höchstens 20 kriegen wir hier rein.“

Die Anna rechnet: „Unten zwei Zimmer, eine kleine Kammer, eine Küche mit Ofen. Oben eine Diele, zwei Zimmer und eine Küche ohne Ofen. Für alle einen Schornstein, und zwölf Bettgestelle stehen drin.“

„Ach, Frau, an Bettstellen mangelt’s nicht, Eisengestelle stehen noch in der Scheune, nur Strohsäcke gibt’s keine.“

„Mein Gott, die sind ja nicht mal trocken und total verdreckt!“

„Ich denk, auch verwanzt, die Russen haben gleich mit Stiefeln und Klamotten drin gelegen.“

„Nu zeig scho den Rest, Vater!“

Im hinteren Teil der Kaserne das Gleiche. Nur hier noch die Überraschung – ein junges Mädchen in einem der Eisengestelle. Bleich mit dicken Gelenken und Ausschlag an Armen, Beinen und Händen. Die Anna tritt näher. Große, fiebrige Augen verfolgen sie.

„Lass sie, sie ist vergewaltigt worden. Eltern und Brüder erschossen. Meine Frau bringt ihr Essen.“

„Mensch, das Madel hat doch die Syphilis, die verreckt, wenn ihr die hierlusst!“

„Dann bringen sie sie ins Lager, der Vater Nazi.“

Die Anna schüttelt den Kopf. „Die verreckt so und so. Wenn nicht am Leib, so an der Seele. Ich fahr morgen auf die Kommandantur. Ich kann etwas Russisch, mir tun die niechts. Iech hol a wos zum Entlausen und Entwanzen, und die da kommt ins Lazarett. Wie ist eigentlich dein Name?“ Die Anna schaut zu ihm auf.

„Mein Gott, bist du hässlich! Wer hat dich so zugerichtet?“

„Luss ock sein, es ist nicht deine Sache!“

„Bruno heiß ich und ich bin der Verwalter von dem Vorwerk hier. Seht zu, wie ihr zu den Dingen des täglichen Lebens kommt, wir können euch kaum helfen!“

„Denk nach, Bruno, wo ihr noch elf Personen unterkriegt, das ist immerhin ein ganzes Pferdegespann, was euch fehlt, wenn die weiterziehen müssen. Ob das deiner Herrschaft passt, weiß ich nicht.“ In Gedanken hat die Anna schon aufgeteilt. Bloß gut, hier gibt’s Öfen, Wasser und Scheißhäuser. Der Rest findet sich.

Knurrend hat der Hermann geduldet, dass die Anna sich aufspielt. Aber es kann sonst keiner den slawischen Mischmasch. Dass sie das so gut kann, hat er selbst nicht gewusst. Einen Fluch stößt er aus und denkt nicht weiter drüber nach.

Am nächsten Tag fährt die Anna mit dem Rad zur Kommandantur. Sie weiß nur: In der nahe gelegenen Stadt in der Schule ist sie untergebracht. Sie fragt sich halt durch. „Zum Kommandeur!“, bedeutet sie den Soldaten. Mit der alten Sackschürze, dem ins Gesicht gebundenen Tichel und den Igelitgaloschen an den Füßen sieht sie aus wie eine russische Babuschka. Alles, was sie braucht, hat sie aufgelistet und trägt vor. Der Kommandant nickt, schüttelt den Kopf, nickt, schüttelt den Kopf. Zum Schluss hat sie viel erreicht. Das Pulver zum Entlausen und Entwanzen nimmt sie gleich im Rucksack mit und die Spritze dazu. Den Bruno donnert sie mit Schlägen an die Tür aus der Wohnung. Lässt sich die Schlüssel geben und staubt das Pulver auf die Strohsäcke und in die gesamten Buden. Am nächsten Tag spannt sie den dürrsten Klepper ein und fährt vor der Kommandantur vor. Die Russen grinsen und spucken ihr vor die Füße. Ihr macht das nichts, sie weiß: Sie ist hässlich und kann Russisch. Welch ein Vorteil in dieser Zeit. Alles, was ihr der Russe in einem Nebengebäude zuweist, lädt sie auf: Bettwäsche, Töpfe, Essgeschirr aus Blech und Emaille, eine riesige, gusseiserne Brate und Streichhölzer, die hat sie sich auch erbettelt. Die Russen wuchten ihr das Zeugs auf den Wagen und zum Schluss noch einen riesigen Wasserkessel. Sie nimmt alles mit, aussortieren kann sie später. Garn und Nadeln und sogar eine uralte Nähmaschine hat sie sich ergattert. Für sie überlebenswichtig.

Das Madel geht weg. Ein Märchen hat sie dem Kommandanten aufgetischt, und so haben sie den alten Landarzt mitgenommen, damit er sie anschaut. Als sie ihn schikanieren wollten wegen der Dewuschka, hat er gleich gesagt, dass sie ansteckend krank sei und ins Hospital müsse. Da sind die Russen abgezogen, und er hat sie mit seinem alten, klapprigen Auto in die Klinik gefahren. Wie die dalag und am ganzen Körper zitterte. 15 soll sie sein laut dem Witold.

„Armes Mensch“, denkt die Anna.

Es dauert noch drei Tage, ehe sie in die Kaserne können. In ihre Wohnung parterre sie, der Gerrad, der olle Hermann, die Erna und ihre zwei Bengels. Oben hausen die Teichgräbers mit acht Personen. Laufend raucht derer Ofen, zieht nicht. Die Anna hat den Herd in der Küche schon drin gehabt und so kann sie heizen und kochen. Hauptsache, dem Gerradle ist warm, und er hat a Suppen auf dem Ofen stehen. Kariertes Bettzeug hat sie dem übergezogen und ein graues Laken. Sein Bett und ihres stehen in der Küche. Der Hermann hat seine Bettstatt in der Abstellkammer, und die Erna wohnt mit den Jungeäästern im kleinen Zimmer.

Die Anna führt das Kommando und sie hat den beiden gedroht: „Iech zeig euch an, wenn ihr mir und dem Jungen auch nur ein Haar krümmt und von meinem Fressen wegnehmt. Des sog iech euch, ihr Drecklergen.“

Und so waren die Fronten vorübergehend geklärt. Die Scheißhäuser hat die Anna auch aufgeteilt und die Waschhausnutzung. Und durchgesetzt hat sie, dass die Tschörners mit Eltern, Kindern und Schwester in der Schäferwohnung am Schafstall wohnen können. Die alte Hackeln bewundert sie wegen ihrer Couragiertheit und heimlich steckt sie ihr Eier für das Gerradle zu. Die Nähmaschine privilegiert die Anna und so kann sie dem Bruno zwei Schiepel abschwatzen und schon im Frühjahr 1946 züchtet sie wieder Hühner.

Die Klara ist heimgekommen aus der Klinik. Plötzlich war sie wieder da und weiß nicht, wohin. Das Haus der Eltern ist besetzt, da kann sie nicht unterkommen.

Die Anna nimmt sie beim Arm und setzt sie auf einen Küchenschemel. Die Munitionskiste und Geschirr stellt sie im Hausflur ab und wirft stattdessen einen dritten Strohsack in die Küche. „Da kannst bleiben bis auf Weiteres“, sagt sie zur Klara und schaut ihr von unten her ins Gesicht.

Die schlägt die Hände vors Gesicht und lässt sich auf den Strohsack fallen.

„Halt, halt, mei Madel, Decken bring ich dir noch, wir wollen sehen, woher.“

Wenn der Gerrad aus der Schule kommt, sitzt in der Küche die Klara. Die Anna gibt ihm Zeichen und zieht ihn in den Hausflur.

Die Worte der Anna rauschen an ihm vorbei. „Rühr sie nicht an“ ist das Einzige, was hängenbleibt.

Er schüttelt den Kopf. „Iech schlof beim Wilfried!“

Die Anna rauft sich die Haare. Der Hermann tobt wie das Vieh, als er das fremde Aast dasitzen sieht.

Die Anna blitzt ihn an: „Von einem deiner Nazigenossen ist das die Brut, und so gib ihr die Hilfe, die sie brucht.“

Das Kastenschloss knallt, als er die Tür zu seiner Kammer zuschlägt. Schon am nächsten Tag hat sich die Klara die Pulsadern aufgeschnitten. Als die Anna vom Feld kommt, sickert Blut in den Strohsack ein. Mit dem Bruno hievt sie das Madel auf den Handwagen, und sie bringen sie zum Landarzt Roderich.

Der näht die Handgelenke, träufelt Jod und verbindet. „Mein Mädchen, das Leben geht weiter, und du musst vergessen.“ Er streicht ihr über die Zöpfe.

Kaum merklich schüttelt sie den Kopf. Der Bruno und die Anna karren sie wieder nach Hause.

„Anna, ich nehm sie mit zu meinen Mädchen, die muntern sie vielleicht auf. Sie kann die Sachen der Christa tragen, hat doch nichts, das arme Ding. Meine Frau wird sich schon kümmern, ist den Tag über da.“

Zwei Tage später schreit der Gerrad durchs Haus: „A Messer, a Messer, Mama, die Klara …“

Sie schnappen das Schlachtmesser, und der Gerrad rennt zum Waschhaus. Davor steht der Bruno, hat den Schlüssel abgezogen und blockt die Tür.

„Iech muss rein, die Klara!“, schreit der Gerrad und fuchtelt mit dem Messer.

Der Bruno schüttelt den Kopf, Tränen rollen über die eingefallenen Wangen. Als der Gerrad schließlich den Schlüssel erkämpft und aufschließt, hängt die Klara still von der Decke. Durch den Haken hat sie den Strick gezogen, an dem sonst die geschlachteten Lämmer und die Felle aufgehangen werden.

Die Anna rauft sich die Haare. „Nehmt sie nicht ab, wir müssen erst den Gendarmen und den Roderich holen.“ Wieder schwingt sich die Anna auf ihr Rad und fährt, als wär’ der Deibel hinter ihr her.

Es gibt keine Ruhe in ihrem Leben, die Grauslichkeit nimmt kein End. Zwei Tage liegt sie im Waschhaus, die Klara. Einen Selbstmörder hat der Pfarrer nicht in die Kapelle legen lassen. Nur mit Mühe haben sie einen Platz auf dem Kirchhof für das Madel ergattern können. Drei Munitionskisten haben sie für den Sarg geopfert, den der alte Teichgräber zusammengezimmert hat. Ein Ave Maria hat der Pfarrer ihr schließlich zugestanden. Das Loch hat der Gerrad mit dem Wilfried gebuddelt. Fünf Leut geben ihr die letzte Ehre: der Bruno mit seiner Frau, die Anna und die beiden Jungen.

„Du konntest sie nicht retten, Gerrad. Sie hätt’s wieder und wieder getan. Das musste ein Ende haben. Die Elbe wär’ nicht besser gewesen, die hätt’ sie weggeschwemmt, und am Ende hätten sie noch die Hunde gefressen. Gell, Anna?“ Der Bruno streicht der Anna über den Arm, und seine Frau nickt.

„Vielleicht hast ock recht“, brummt die Anna.

Der Gerrad schläft wieder zu Hause, und der Hermann hält sein verdammtes Maul.

Wenig später erkrankt die Christa vom Bruno an Diphtherie. Die Anna lässt sie mit Katzescheiße gurgeln, und sie wird tatsächlich wieder gesund.

„Du bist eine Hex!“, sagt die Hackeln und steckt ihr ein Huhn zu.

Für den Gerrad hat die Schule wieder begonnen.

„A was Bessres soll der Junge werden“, und so schickt ihn die Anna auf das Gymnasium, 25 Kilometer entfernt, in die Stadt.

Aber der zarte Gerrad schafft den Schulweg nicht jeden Tag. Geld fürs Internat ist nicht, und so muss er täglich den weiten Weg mit dem Rad fahren. Abends ist der Jung so kaputt, dass er nicht einmal die Suppen von der Anna löffeln kann, und schläft schon am Tisch ein. Spindeldürr wird er binnen weniger Wochen.

Der Hermann, der schon am neuen Haus auf dem zugewiesenen Land baut, hat auch keine Hilfe in dem Jungen. „Verflucht noch a mol, so geht das ni!“ Seine Faust schlägt auf den Tisch. „Der Jung wird krepieren von der Hetzerei in die verdammte Schule.“

Selbst die Anna muss das einsehen, und so schmeißt er das Gymnasium und macht auf der normalen Schule weiter. Jetzt hilft er dem Papa auf dem Bau und sonntags geht er mit den anderen Bengels auf dem Schwarzmarkt. Die Taschen haben sie voll mit Lebensmitteln und die Hosen voll von Angst. Zu dritt oder viert ziehen sie los und tauschen ein für den Bau: Fensterscheiben, Wasserrohr, Kessel, einfach alles.

Kapitel 2

Leblos stehen sie am Eingang der alten Kaserne: zwei Gestalten – ein Mann und eine Frau. Sie reden nicht, sie schauen nur, und deshalb fallen sie der Anna auf. Die hatte gerade die Bettwäsche von der alten Hackeln zum Bleichplan vorn am Haus bringen wollen. Zurzeit kann die kaum kriechen, hat es wieder mal im Kreuz. Gestern noch war sie im Waschhaus gewesen, hatte die Wäsche im Kessel gekocht, in x Wannen gespült und dann durch die Mangel gezogen. Heut früh wollt’ sie die Wäschestücke in der Sonne bleichen, aber da kam sie kaum aus dem Bett. Sonst war die früh auf, und als es halber zehne wurde, kam das der Anna schon seltsam vor. Sie klopfte sachte an derer Tür, öffnete sie vorsichtig und sah die Hackeln vornübergebeugt auf dem alten Sessel vom Bruno in der Küche sitzen.

„Mei Anna, mir geht’s halt gar net gut. Mei Kreuze, mei Kreuze! Die Wäsche muss auf den Plan, die wird sonst muffig. Kannst mir net helfe?“

„Doch!“ Die Anna klopft ihr auf die Schulter. „Iech richt jetzt das Essen. Wenn der olle Hermann gegen elfe vom Schrotboden kommt, will der fressen. Die fette Erna ist verreist mit die Bengels für drei Tag, und da trifft das Mannsbild bei mir ein. Nach dem Essen gleich leg ich die Wäsche auf den Plan, Hackeln.“

Die Anna lässt den Korb los, den sie mit der Wäsche über den Boden schleift. Zum Tragen ist der zu schwer für die gebeutelte Anna.

Zögerlich kommen die Gestalten jetzt näher. Die Frau hat sie schon einmal gesehen, kann sich die Anna erinnern, aber der Mann, der ist ein Fremder.

Ein Kleid aus Fallschirmseide trägt die Frau, ganz hochgeschlossen, und die Haar nach oben gesteckt. An den Füßen breite, flache Schuhe. Als sie direkt vor der Anna steht, flüstert sie: „Bist du die Anna?“

Die Augen, die Augen: Der Anna hämmert das Blut gegen die Schläfen, ganz schlecht wird ihr. Jetzt weiß sie es: Es sind die Augen der Vaterschwester. Sanft, gütig und voller Schmerz. Die Anna beginnt zu zittern. Die Wucht der Vergangenheit haut sie fast um.

„Die Selma bin ich.“ Die Vaterschwesteraugen suchen die ihren. Diese Ruhe in den ebenmäßigen Zügen. Nicht die Vaterschwester ist es, nein, ihre eigene Schwester, zum letzten Mal als Kind gesehen.

Die Anna beginnt zu schwanken, wird aufgefangen von den Armen der Frau, die sie ans Bänkle am Bleichplan führt. Sie hat die Anna nicht losgelassen, nein, fest an sich gedrückt. Leise Tränen verschwinden im Haar der Anna, deren Tichl sich vom Kopf gelöst hat. Die Anna hat die Hände in sich verkrampft. Beherrschung ist alles, das weiß sie. Nur starke Menschen können überleben, und Gefühle verraten den Menschen, machen ihn angreifbar. Das hat sie gelernt, sie nennt es das elfte Gebot. Eine Ewigkeit sitzen die beiden auf der Bank, der Anna kommt es zumindest so vor.

„Was sitzt hier müßig rum? Kumm ocke zum Schrotabfüllen aufs Gut!“, schreit der Hermann zu ihr herüber. Er hat seine Mittagsruh in den stiebigen Klamotten auf dem Kanapee in der Küche gehalten.

Die Knoche hat wieder gejaucht und gestunken. Ein Splitter ist wieder rausgeeitert, und nun ist die Ferse offen. Dann ist der Hermann mit dem Rad im Vorwerk verschwunden, nachdem er dem Fremden Schimpfworte zugerufen hatte.

Die Anna strafft sich und rückt ein wenig von der Selma ab. „Erzähl a mol, Schwester, iech höer!“

Die Selma winkt den Mann zu sich. Ein dickes, schwarzes Lockengeflecht befindet sich auf seinem Kopf, der auf einem langen Hals thront. Ansonsten ist der ganze Mensch groß, aber hager mit eingefallenen Wangen. Er reicht der Anna keine Hand, schaut sie nur unverwandt an. Etwas Vorwurfsvolles kann die Anna in seinem Blick erkennen. Wieder eine Ewigkeit, so kommt es der Anna vor, ehe er sie mit seinen Augen loslässt.

„Das ist dein Schwager, der Janos, Schwester!“ Ganz schnell stößt sie die Worte hervor, als hätte sie Angst vor deren Wirkung.

Die Anna hält den Kopf jetzt gesenkt, ein Schweigen breitet sich aus. Was soll sie dem Fremden sagen? Weiß er vom Schicksal seiner Frau? Die Worte des Paul schießen ihr durch den Kopf: „A Glick ist’s, dass von die ka jüdisches Mischwerk niech rumläuft.“

„Sag du uns, Anna, was damals geschehen ist. Der Janos hat a Anrecht auf die Wahrheit.“ Bitter stößt die Selma die Worte hervor. Ihre Hände zittern jetzt, und mit der Ruhe ist es vorbei, als sie die Anna an der Schulter rüttelt.

Der Janos setzt sich ins Gras vor die Bank, damit er der Anna ins Gesicht blicken kann.

Die schaudert’s bei seinem Anblick und der Erinnerung. Wieder eine Ewigkeit, ehe sie zu reden beginnt. Sie erzählt, was sie weiß. Es ist nicht viel mehr als das, was die Selma kennt. Nur den Brief von der Anstalt, den hat sie nicht gelesen. „Kommt ock mitte!“ Sie winkt den beiden im Gehen. In der alten Munitionskiste, ganz unten, da zieht sie das Papier hervor.

Genauso wie sie vor sechs Jahren stößt auch der Janos hervor: „Lungenentzündung – umbrucht ham sie mein schönes Madel!“ Es ist ihm gleich, ob die beiden Frauen seine Tränen sehen. Sie laufen als endloses Rinnsal aus seinen Augen die bleichen, hohlen Wangen hinunter und tropfen auf sein Hemd.

Die Anna rückt die zwei Stühle an den Küchentisch und bittet Schwester und Schwager, sich zu setzen. Tee gießt sie in zwei angeschlagene Tippel und dann erzählt sie von dem Tag, als der Paul ihr den Brief brachte.

„Immer noch wird alles vertuscht!“ Bitter stößt der Janos das hervor. „Jud bin ich und Jud bleib ich! Ungeliebt in Breslau, ungeliebt in Görlitz. Obwohl ich mich mit dem Judentum und derer Sitten niech auskenn’. Was sull iech weiter sogen? Um das Schicksal der kleinen Leute und von Leuten, die anders sind, schert sich auch nach dem Zusammenbruch keiner. Für mich ist das hier totes, ungeliebtes Land geworden. Ka Luft krieg iech hier niech zum Atmen. Auswandern werd iech zum ungeliebten, unbekannten Vater nach Amerika. Die Selma kommt mit, auch ihr ist das Deutschtum vergangen. Nur a wenig Aufklärung und Unruhe stiften will iech noch, bevor iech verschwindt. Dei Schwester, den blonde Deibel, die Nazihure, will iech finden. Unruhige Nächte soll sie haben und etwas von der Angst wiederkriegen, die wir damals ausgestanden haben, meine Martha und iech.“

Die Anna schnauft. Ka Ruh wird’s geben in ihrem Leben, zu viel Leid, aus dem wieder Leid geboren. „Auch iech, eine Mitläuferin, Schwester!“

„Nein, nein, Anna, iech weiß, was du gelitten, und trotzdem hast im Kleinen geholfen. Der Paul hat uns ab und zu erzählt davon, wenn er in Breslau war. Wir wollten nur wissen, wo sie die Martha umbracht han, damit wir dort Andacht halten und Blumen niederlegen können. Ein Gebet will der Janos sprechen, damit er seine Ruhe find’t und seinen Seelenfrieden. Die Anstalt wissen wir jetzt. Auf Wiedersehen, Schwester, ka Zeit haben wir niech, unser Leben ist schon so viel vorbei. Es gilt, aufzuarbeiten und zur Ruhe zu kommen. Neu zu beginnen in unserem Alter und gleichzeitig das Alte nicht zu verdrängen. Denn das macht krank.“ Die Selma streicht der Anna übers Haar. „Die Adress weiß iech und iech schreib, wenn wir angekommen sind da drüben.“

Der Schwager nickt. „Wenn sich die Mindl meld’ bei dir, schreib uns derer Adress. Wenn wir sie nicht schon gefunden haben. Zum Paul, das ist unsere nächste Station, der ist nach Aachen gegangen.“

„Hust a Adress für miech, Selma?“ Die Anna schreit fast, so ist ihr das Herz gesprungen. „Da kann iech wenigstens a Brief verfassen an den Bruder. Er hat mir das Leben erträglicher gemacht in jener schlimmen Zeit damals. Selma, weißt eigentlich, dass iech an Sohn hab, das Gerradle?“ Sie holt das schwarz-weiß gezackelte Bild hervor.

Kurz blickt die Selma drauf, schüttelt dann den Kopf. Der Janos gibt ihr Zeichen. Er kann den Familienkram gerade nicht ertragen. Alles erinnert ihn an die Martha. Wie hat er jeden verdammten Tag im Lager gehofft, dass sie da draußen auf ihn wartet. Und nur das hat ihn überleben lassen.

Die beiden rücken die Stühle zurück, erheben sich und verlassen die Küche. Die Anna geht mit zurück bis zum Bleichplan und erfasst nochmals der Schwester Hand. Dann dreht sie sich weg und beginnt, die Wäsche auszulegen.