Menschheitsdämmerung -  - E-Book

Menschheitsdämmerung E-Book

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Menschheitsdämmerung" ist eine der erfolgreichsten Lyrikanthologien der deutschsprachigen Literaturgeschichte, vielleicht die folgenreichste überhaupt. Sie war ein Fanal dichterischer Jugend und ist es geblieben, einhundert Jahre lang. Denn die Apokalypse, die das Buch beschwört, hat immer Konjunktur. Und unsere unruhige Gegenwart empfindet eine ganz besondere Nähe zu den Jahren rund um den Ersten Weltkrieg. Gedichte von Gottfried Benn, Georg Trakl, Else Lasker-Schüler, Georg Heym und anderen Dichtern: viele jung gestorben, im Krieg gefallen, andere aus der Heimat vertrieben, am Leben verzweifelt, von den Nazis ermordet; einer immerhin wurde Kulturminister in der DDR. Sehr verschiedene Stimmen hat dieses Konzert, und doch bilden sie ein Ganzes. Zur hundertsten Wiederkehr der Erstveröffentlichung bei Rowohlt erscheint nun eine Neuausgabe der legendären Gedichtsammlung, mit den klassischen Illustrationen von Egon Schiel, Oskar Kokoschka und anderen, in zeitgemäßer Gestaltung und mit einem Nachwort von Florian Illies.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 323

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Herausgegeben von Kurt Pinthus

Mit einem Nachwort von Florian Illies

Menschheitsdämmerung

Symphonie jüngster Dichtung

Über dieses Buch

«Menschheitsdämmerung» ist eine der erfolgreichsten Lyrikanthologien der deutschsprachigen Literaturgeschichte, vielleicht die folgenreichste überhaupt. Sie war ein Fanal dichterischer Jugend und ist es geblieben, einhundert Jahre lang. Denn die Apokalypse, die das Buch beschwört, hat immer Konjunktur. Und unsere unruhige Gegenwart empfindet eine ganz besondere Nähe zu den Jahren rund um den Ersten Weltkrieg.

Gedichte von Gottfried Benn, Georg Trakl, Else Lasker-Schüler, Georg Heym und anderen Dichtern: viele jung gestorben, im Krieg gefallen, andere aus der Heimat vertrieben, am Leben verzweifelt, von den Nazis ermordet; einer immerhin wurde Kulturminister in der DDR. Sehr verschiedene Stimmen hat dieses Konzert, und doch bilden sie ein Ganzes.

Zur hundertsten Wiederkehr der Erstveröffentlichung bei Rowohlt erscheint nun eine Neuausgabe der legendären Gedichtsammlung, mit den klassischen Illustrationen von Egon Schiele, Oskar Kokoschka und anderen, in zeitgemäßer Gestaltung und mit einem Nachwort von Florian Illies.

Vita

Kurt Pinthus, geboren 1886, war der bedeutendste Vermittler des literarischen Expressionismus in Deutschland. Er beriet den Rowohlt Verlag, war Lektor beim Kurt Wolff Verlag, später Dramaturg bei Max Reinhardt und Journalist. 1933 wurden seine Werke vom NS-Regime verboten, 1937 floh er in die USA. Erst viele Jahre nach Kriegsende entschloss er sich, nach Deutschland zurückzukehren. In Marbach am Neckar, wo er die letzten Lebensjahre bis zu seinem Tod 1975 verbrachte, arbeitete er im Deutschen Literaturarchiv des Schiller-Nationalmuseums.

Menschheitsdämmerung

ZUVOR

Der Herausgeber dieses Buches ist ein Gegner von Anthologien; – deshalb gibt er diese Sammlung heraus.

Nicht werden hier – nach bisherigem Brauch der Anthologien – viele Dichter, die zufällig zur selben Zeit leben, in alphabetischer Folge je mit ein paar Gedichten aneinandergereiht. Auch nicht sollen Gedichte zusammengestellt werden, die alle ein gemeinschaftliches Thema bindet (etwa Liebesgedichte oder Revolutions-Lyrik). Dies Buch hat nicht den pädagogischen Ehrgeiz, Musterbeispiele guter Poesie zu bieten; es flicht nicht nach der Mode biederer Großväterzeit Blüten der Lyrik, noch Perlen der Dichtung zum Kranz.

Sondern: Dies Buch nennt sich nicht nur «eine Sammlung». Es ist Sammlung!: Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche – unserer Epoche. Es ist gesammelte Projektion menschlicher Bewegung aus der Zeit in die Zeit. Es soll nicht Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, chaotische, berstende Totalität unserer Zeit.

Stets war die Lyrik das Barometer seelischer Zustände, der Bewegung und Bewegtheit der Menschheit. Voranzeigend kündete sie kommendes Geschehen …, die Schwingungen der Gemeinschaftsgefühle …, das Auf, Ab und Empor des Denkens und Sehnens. Dies empfand man in Deutschland so deutlich, daß man die Kultur ganzer Epochen nach der Art ihrer Dichtung charakterisierte: Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Romantik, junges Deutschland, Butzenscheibenpoesie.

Die Geisteswissenschaften des ersterbenden 19. Jahrhunderts – verantwortungslos die Gesetze der Naturwissenschaften auf geistiges Geschehen übertragend – begnügten sich, in der Kunst nach entwicklungsgeschichtlichen Prinzipien und Beeinflussungen nur das Nacheinander, das Aufeinander schematisch zu konstatieren; man sah kausal, vertikal.

Dieses Buch will auf andere Weise zur Sammlung kommen: Man horche in die Dichtung unserer Zeit …, man horche quer durch, man blicke rund herum, … nicht vertikal, nicht nacheinander, sondern horizontal; man scheide nicht das Aufeinanderfolgende auseinander, sondern man höre zusammen, zugleich, simultan. Man höre den Zusammenklang dichtender Stimmen: man höre symphonisch. Es ertönt die Musik unserer Zeit, das dröhnende Unisono der Herzen und Gehirne.

Ebensowenig wie die Anordnung der Gedichte nach dem äußerlichen Schema des Alphabets erfolgte, durfte sie deshalb nach der Chronologie der einzelnen Gedichte oder Dichter, nach der Gruppierung literarischer Cliquen, nach der Feststellung gegenseitiger Beeinflussung oder formaler Gemeinsamkeiten geschehen. Keine mechanische, historische Folge ward angestrebt, sondern dynamisches, motivisches Zusammenklingen: Symphonie!

Man möge also nicht nur auf die einzelnen Instrumente und Stimmen des lyrischen Orchesters lauschen: die aufschwebende Sehnsucht der Violinen, die herbstlich-klagende Melancholie der Celli, die purpurnen Posaunen der Erweckung, das ironische Staccato der Klarinetten, die Paukenschläge des Zusammensturzes, das zukunftlockende Marciale der Trompeten, das tiefe, dunkle Raunen der Oboen, den brausenden Sturzbach der Bässe, das rapide Triangelgeklingel und die bleckenden Beckenschläge genußgierigen Totentanzes. Sondern es kommt darauf an, aus den lärmenden Dissonanzen, den melodischen Harmonien, dem wuchtigen Schreiten der Akkorde, den gebrochensten Halb- und Vierteltönen – die Motive und Themen der wildesten wüstesten Zeit der Weltgeschichte herauszuhören. Diese bewegenden Motive (zeugte sie ein inneres Geschehen aus uns heraus, oder ließ nur ein gleichgültiges Werden sie ungeheuer in uns erklingen?) variieren sich je nach Wesen und Wollen der Dichter, rauschen empor zum zersprengenden Fortissimo oder schwinden hin im beglückenden Dolce. Das Andante des Zweifels und der Verzweiflung steigert sich zum befreienden Fortissimo der Empörung, und das Moderato des erwachenden, erweckten Herzens erlöst sich zum triumphalen Maestoso der menschenliebenden Menschheit.

Wenn in diesem Buche weder wahllos und ungesichtet die Stimmen der in unserer Zeit Dichtenden ertönen, noch die Dichtungen einer bewußt sich zusammenschließenden literarischen Gruppe oder Schule gesammelt sind, so soll dennoch ein Gemeinsames die Dichter dieser Symphonie einen. Diese Gemeinsamkeit ist die Intensität und der Radikalismus des Gefühls, der Gesinnung, des Ausdrucks, der Form; und diese Intensität, dieser Radikalismus zwingt die Dichter wiederum zum Kampf gegen die Menschheit der zu Ende gehenden Epoche und zur sehnsüchtigen Vorbereitung und Forderung neuer, besserer Menschheit.

Man erwarte also weder ein Gesamtbild der lyrischen Dichtung unserer Zeit, noch eine nach (lügnerischen) absoluten Maßstäben der Qualitätsbeurteilung zusammengestellte Auswahl der besten zeitgenössischen Gedichte. Sondern charakteristische Gedichte jener Jugend, die recht eigentlich als die junge Generation des letzten Jahrzehnts zu gelten hat, weil sie am schmerzlichsten an dieser Zeit litt, am wildesten klagte und mit leidenschaftlicher Inbrunst nach dem edleren, menschlicheren Menschen schrie.

Demnach mußten nicht nur alle epigonischen und eklektischen Dichter wegfallen, nicht nur die unzähligen, die sich damit beschäftigen, Gefühl, das nicht aus der Tiefe, sondern aus dem Herkömmlichen entspringt, in herkömmliche Reime zu bringen, sondern es war nötig, auch jene sehr begabten Dichter auszuscheiden, die, willentlich jenseits oder über der Zeit stehend, schöne und große Gefühle zu ästhetisch vollkommenen Gebilden oder zu klassischen Strophen formen. Ausgeschieden werden mußten auch alle die, deren Dichtung Kunstgewerbe des Worts, Ornament der Anschauung, gereimte Historie ist, ferner solche, die nur Zeitereignisse besingen oder freudig begleiten, kleine Spezialbegabungen und alle die, welche zwischen den Generationen stehen oder nicht den Mut zur selbständigen Formung haben. Aber wie die Epigonen der älteren Dichtung, so durften auch die Nachläufer der jüngsten Dichtung nicht aufgenommen werden, die glauben, neu und jung zu sein, wenn sie problematische Vorbilder programmatisch nachahmen.

Die Entscheidung darüber, welche Dichter zur vielfältigen Gemeinsamkeit der jungen Generation unserer Zeit zu zählen sind, kann nicht eine Angelegenheit der Altersfeststellung einzelner Dichter, noch eine Sache objektiv kritischer Analyse sein, sondern muß letzten Endes durch intuitives Gefühl und persönliches Urteil getroffen werden. Gerade weil diese persönliche Entscheidung nötig war, darf der Herausgeber aus seiner Anonymität hervortreten und zur weiteren Klärung einiges Persönliche sagen, um dann um so schneller ins Allgemeine führen zu können.

Seit 10 Jahren las ich fast alle gedruckten lyrischen Bücher und sehr viele ungedruckte. Es schien nicht leicht, aus dieser Unzahl die Dichter zu bezeichnen, welche jene eigentliche Generation unserer Epoche ausmachen. Aber als ich inmitten der menschendurchtobten Stadt noch einmal die Hunderte von Gedichtbänden durchsah, konnte ich schließlich fast mit automatischer Sicherheit die für diese Generation wesentlichen Dichter vereinigen (auch wenn sie selbst sich dieser Gemeinsamkeit nicht bewußt waren). Nachdem diese Abgrenzung geschehen war, gab es zwei Möglichkeiten der Sammlung: entweder ich konnte möglichst viele Dichter dieser Generation aufnehmen, so daß jeder nur mit ganz wenigen Gedichten erschien; oder ich konnte möglichst wenige Dichter auswählen und jeden einzelnen mit möglichst vielen Gedichten auftreten lassen. Ich entschied mich für das zweite Prinzip, da es nicht nur ein vollständiges Bild der Zeitbewegung, sondern auch einen möglichst vollkommenen Umriß von der Begabung, Eigenart, Spannweite der einzelnen Dichter gewährte (so daß man an der Hand des alphabetischen Registers, trotzdem die Gedichte jedes Einzelnen durch das ganze Buch verstreut sind, sich wiederum von jedem Dichter urteilsgestattende, geschlossene Gestalt verschaffen kann). Deshalb wurden nach langem Abwägen aus der großen Schar dieser Generation, die sich oft selbst als gemeinsame Phalanx aufrief, für das Buch die selbständigsten und charakteristischsten ausgewählt, damit jene Mannigfaltigkeit der Motive und Formen entstehen konnte, aus der die geistige Symphonie der zerrissenen Totalität unserer Zeit zusammenstrahlt.

Gegen zwei Dichter allerdings könnte man einwenden, daß sie jenseits dieser Generation stehen. Aber Else Lasker-Schüler läßt als Erste den Menschen ganz Herz sein, – und dehnt dennoch dies Herz bis zu den Sternen und zu allen Buntheiten des Ostens. Und Theodor Däubler gehört nicht zu denen, die den Kosmos schlechtweg besingen, sondern er durchwirkt die Welt so sehr mit Geist und Idee, daß er Natur und Menschheit noch einmal zu strotzend-unmateriellem Leben erschafft; er findet tiefe Möglichkeiten der Sprache, die nicht nur neu sind, sondern überraschend weit hinein in Wesen und Zusammenhang des Geschehens leuchten.

Die ausgewählten Gedichte dieser etwa zwei Dutzend Dichter fügten sich schnell, beinahe von selbst, nach wenigen großen Motiven zu jener Symphonie zusammen, die «Menschheitsdämmerung» genannt wurde. Alle Gedichte dieses Buches entquellen der Klage um die Menschheit, der Sehnsucht nach der Menschheit. Der Mensch schlechthin, nicht seine privaten Angelegenheiten und Gefühle, sondern die Menschheit, ist das eigentliche unendliche Thema. Diese Dichter fühlten zeitig, wie der Mensch in die Dämmerung versank …, sank in die Nacht des Untergangs …, um wieder aufzutauchen in die sich klärende Dämmerung neuen Tags. In diesem Buch wendet sich bewußt der Mensch aus der Dämmerung der ihm aufgedrängten, ihn umschlingenden, verschlingenden Vergangenheit und Gegenwart in die erlösende Dämmerung einer Zukunft, die er selbst sich schafft.

Die Dichter dieses Buches wissen wie ich: es birgt unsere Jugend; freudig beginnendes, früh verschüttetes, zerstörtes Leben. Was in den letzten Jahren der Menschheit gar nicht oder nur dumpf bewußt war, was nicht in Zeitungen und Abhandlungen zu lesen stand: das ward in dieser Generation mit unbewußter Sicherheit Wort und Form. Das wissenschaftlich nicht Feststellbare im Menschen – hier trat es prophetisch wahr und klar ans Licht.

Deshalb ist dies Buch keine angenehme und bequeme Lektüre, und der Einwand läßt sich leicht erheben, daß im letzten Jahrzehnt manche reiferen, vollkommeneren, qualitativ besseren Gedichte entstanden sind. Aber kann eine Dichtung, die Leid und Leidenschaft, Willen und Sehnsucht dieser Jahre zu Gestalt werden läßt, und die aus einer ideenlosen, ideallosen Menschheit, aus Gleichgültigkeit, Verkommenheit, Mord und Ansturm hervorbrach, – kann diese Dichtung ein reines und klares Antlitz haben? Muß sie nicht chaotisch sein wie die Zeit, aus deren zerrissenem, blutigem Boden sie erwuchs?

Ein virtuoser Philolog würde eine vollständige Charakteristik dieser Dichtung nur aus Zitaten dieses Buches mosaikartig zusammenstellen können. Doch soll nicht im voraus gesagt werden, was jeder wissen wird, wenn er das Buch gelesen hat. Auch sollen nicht die einzelnen Dichter der Reihe nach charakterisiert werden; denn die meisten von ihnen sind zu reich und vielgestaltig, als daß sie für immer mit einigen einengenden Schlagworten belastet einhergehen sollen. Aber ich will einen Querschnitt durch diese Poesien versuchen, so daß aus der grausamen Wunde des Schnittes das Wesentliche entströmt, was sie eint zur Dichtung dieser Epoche.

Die Jünglinge dieser Generation fanden sich in einer Zeit, aus der jedes Ethos geschwunden war. Es galt, in jeder Situation Haltung zu bewahren; möglichst umfangreich und mannigfaltig mußte die Menge des genießerisch Rezipierten sein; Kunst wurde ganz nach ästhetischem, Leben ganz nach statistisch materiellem Maß gemessen; und der Mensch und seine geistige Betätigung schienen nur da zu sein, um psychologisch, analytisch betrachtet, nach historischen Maximen definiert zu werden. Wenn einer der jungen Dichter versuchte, tiefer von der Oberfläche in sich einzudringen, zerbrach er unter der Last der Umwelt (Walter Calé). Zwar empfand man die Notwendigkeit, von der realistischen Schilderung der Umwelt, vom Auffangen der vorüberjagenden Impressionen sich zu entfernen – und kam doch nur zur äußersten Differenzierung und Sublimierung der zerlegten Genüsse, wodurch wiederum der Genuß vernichtet wurde (Hardekopf, Lautensack).

Aber man fühlte immer deutlicher die Unmöglichkeit einer Menschheit, die sich ganz und gar abhängig gemacht hatte von ihrer eigenen Schöpfung, von ihrer Wissenschaft, von Technik, Statistik, Handel und Industrie, von einer erstarrten Gemeinschaftsordnung, bourgeoisen und konventionellen Bräuchen. Diese Erkenntnis bedeutet zugleich den Beginn des Kampfes gegen die Zeit und gegen ihre Realität. Man begann, die Um-Wirklichkeit zur Un-Wirklichkeit aufzulösen, durch die Erscheinungen zum Wesen vorzudringen, im Ansturm des Geistes den Feind zu umarmen und zu vernichten. Und versuchte zunächst, mit ironischer Überlegenheit sich der Umwelt zu erwehren, ihre Erscheinungen grotesk durcheinander zu würfeln, leicht durch das schwerflüssige Labyrinth hindurchzuschweben (Lichtenstein, Blaß) – oder mit varietéhaftem Zynismus ins Visionäre zu steigern (van Hoddis).

Doch schon fühlten die gereizten und überempfindlichen Nerven und Seelen dieser Dichter deutlich auf der einen Seite das dumpfe Heranrücken der liebe- und freudeberaubten proletarischen Massen, von der andern Seite den heranrollenden Zusammenbruch einer Menschheit, die ebenso hochmütig wie gleichgültig war. Aus der strotzenden Blüte der Zivilisation stank ihnen der Hauch des Verfalls entgegen, und ihre ahnenden Augen sahen bereits als Ruinen eine wesenlos aufgedunsene Kultur und eine ganz auf dem Mechanischen und Konventionellen aufgetürmte Menschheitsordnung. Ein ungeheurer Schmerz schwoll empor – und am frühesten und klarsten in denen, die in dieser Zeit, an dieser Zeit starben: Heym hämmerte (nach Rimbauds und Baudelaires strengem Vorbild) Visionen des Todes, des Grauens, der Verwesung in zermalmende Strophen; Trakl glitt, nichtachtend der realen Welt, hölderlinisch in ein unendlich blaues Strömen tödlichen Hinschwindens, das ein Herbstbraun vergeblich zu rahmen trachtete; Stadler sprach und rang mit Gott und der Welt, sehnsuchtsgemartert, inbrünstig wie Jakob mit dem Engel; Lichtenstein quirlte in leidvoller Heiterkeit die Gestalten und Stimmungen der Stadt zu bitterlustigen Tränken schon in der beseeligenden Gewißheit «groß über alles wandelt mein Menschenangesicht»; und Lotz unter Wolken, aus Drangsal bürgerlichen Daseins, rief nach Glanz und Aufbruch. Immer fanatischer und leidenschaftlicher donnerte zerfleischende Klage und Anklage. Die Verzweiflungen Ehrensteins und Bechers rissen die düstere Welt mitten entzwei; Benn höhnte die faulende Abgebrauchtheit des Kadavermenschen und pries die ungebrochenen Ur-Instinkte; Stramm löste seine Leidenschaft vom Trugbild der Erscheinungen und Assoziationen los und ballte reines Gefühl zu donnernden Ein-Worten, gewitternden Ein-Schlägen. Der wirkliche Kampf gegen die Wirklichkeit hatte begonnen mit jenen furchtbaren Ausbrüchen, die zugleich die Welt vernichten und eine neue Welt aus dem Menschen heraus schaffen sollten.

Man versuchte, das Menschliche im Menschen zu erkennen, zu retten und zu erwecken. Die einfachsten Gefühle des Herzens, die Freuden, die das Gute dem Menschen schafft, wurden gepriesen. Und man ließ das Gefühl sich verströmen in alle irdische Kreatur über die Erdoberfläche hin; der Geist entrang sich der Verschüttung und durchschwebte alles Geschehen des Kosmos, – oder tauchte tief in die Erscheinungen hinab, um in ihnen ihr göttliches Wesen zu finden. (So verknüpft sich die Jugend Hasenclevers, Stadlers, Werfels, Schickeles, Klemms, Golls, Heynickes mit der Kunst der Älteren Whitman, Rilke, Mombert, Hille.) Immer deutlicher wußte man: der Mensch kann nur gerettet werden durch den Menschen, nicht durch die Umwelt. Nicht Einrichtungen, Erfindungen, abgeleitete Gesetze sind das Wesentliche und Bestimmende, sondern der Mensch! Und da die Rettung nicht von außen kommen kann – von dort ahnte man längst vor dem Weltkrieg Krieg und Vernichtung –, sondern nur aus den inneren Kräften des Menschen, so geschah die große Hinwendung zum Ethischen.

Während im Weltkrieg der gewußte Zusammenbruch sich in der Realität ereignete, war bereits die Dichtung wiederum der Zeit vorangestürmt: Aus den Ausbrüchen der Verfluchung brachen die Schreie und Aufforderungen zur Empörung, zur Entscheidung, zur Rechenschaft, zur Erneuerung (Becher, Rubiner, Hasenclever, Zech, Leonhard, Heynicke, Otten, Werfel, Goll, Wolfenstein), nicht aus Lust an der Revolte, sondern um durch die Empörung das Vernichtende und Vernichtete ganz zu vernichten, so daß Heilendes sich entfalten konnte. Aufrufe zum Zusammenschluß der Jugend, zum Aufbruch einer geistigen Phalanx ertönten; nicht mehr das Individuelle, sondern das allen Menschen Gemeinsame, nicht das Trennende, sondern das Einende, nicht die Wirklichkeit, sondern der Geist, nicht der Kampf aller gegen alle, sondern die Brüderlichkeit wurden gepriesen. Die neue Gemeinschaft wurde gefordert. Und so gemeinsam und wild aus diesen Dichtern Klage, Verzweiflung, Aufruhr aufgedonnert war, so einig und eindringlich posaunten sie in ihren Gesängen Menschlichkeit, Güte, Gerechtigkeit, Kameradschaft, Menschenliebe aller zu allen. Die ganze Welt und Gott bekommen Menschenangesicht: die Welt fängt im Menschen an, und Gott ist gefunden als Bruder –, selbst die Steinfigur steigt menschlich herab, die Stadt der Qualen wird zum beglückenden Tempel der Gemeinschaft, und triumphierend steigt das erlösende Wort empor: Wir sind!

Jeder erkennt, wie ungeheuer weit der Bogen ist von Calés Verzweiflung «Und keine Brücke ist von Mensch zu Mensch» …, von Werfels «Fremde sind wir auf der Erde alle» … bis zu Bechers: «Keiner dir fremd, / Ein jeder dir nah und Bruder» … Klemms: «Wir kommen uns so nahe, wie sich nur Engel kommen können» … Heynickes: «Ich fühle, / endelos, / daß ich nicht einsam bin … so nahe bist Du, / Bruder Mensch» … «Doch das Lächeln schlägt Bogen von mir zu Dir / … wir schenken einander das Ich und das Du – / ewig eint uns das Wort: / MENSCH.»

Es scheint, daß nachbetrachtende Darstellung stets den direkten Einfluß der Dichtung auf die realen Zeit- und Volksereignisse überschätzte. Die Kunst einer Zeit ist nicht Verursacher des Geschehens (wie man das z.B. allzusehr von der revolutionären Lyrik aller Zeiten annahm), sondern sie ist voranzeigendes Symptom, geistige Blüte aus demselben Humus wie das spätere reale Geschehen, – sie ist bereits selbst Zeit-Ereignis. Zusammenbruch, Revolution, Neuaufrichtung ward nicht von der Dichtung dieser Generation verursacht; aber sie ahnte, wußte, forderte dies Geschehen. Das Chaotische der Zeit, das Zerbrechen der alten Gemeinschaftsformen, Verzweiflung und Sehnsucht, gierig fanatisches Suchen nach neuen Möglichkeiten des Menschheitslebens offenbart sich in der Dichtung dieser Generation mit gleichem Getöse und gleicher Wildheit wie in der Realität …, aber wohlgemerkt: nicht als Folge des Weltkriegs, sondern bereits vor seinem Beginn, und immer heftiger während seines Verlaufs.

So ist allerdings diese Dichtung, wie manche ihrer Programmatiker forderten (und wie wurde dieser Ruf mißverstanden!): politische Dichtung, denn ihr Thema ist der Zustand der gleichzeitig lebenden Menschheit, den sie beklagt, verflucht, verhöhnt, vernichtet, während sie zugleich in furchtbarem Ausbruch die Möglichkeiten zukünftiger Änderung sucht. Aber – und nur so kann politische Dichtung zugleich Kunst sein – die besten und leidenschaftlichsten dieser Dichter kämpfen nicht gegen die äußeren Zustände der Menschheit an, sondern gegen den Zustand des entstellten, gepeinigten, irregeleiteten Menschen selbst. Die politische Kunst unserer Zeit darf nicht versifizierter Leitartikel sein, sondern sie will der Menschheit helfen, die Idee ihrer selbst zur Vervollkommnung, zur Verwirklichung zu bringen. Daß die Dichtung zugleich dabei mitwirkte, gegen realpolitischen Irrsinn und eine entartete Gesellschaftsordnung anzurennen, war nur ein selbstverständliches und kleines Verdienst. Ihre größere überpolitische Bedeutung ist, daß sie mit glühendem Finger, mit weckender Stimme immer wieder auf den Menschen selbst wies, daß sie die verloren gegangene Bindung der Menschen untereinander, miteinander, das Verknüpftsein des Einzelnen mit dem Unendlichen – zur Verwirklichung anfeuernd – in der Sphäre des Geistes wiederschuf.

Demgemäß ist es natürlich, daß dies die Worte sind, die sich am meisten in ihr finden: Mensch, Welt, Bruder, Gott. Weil der Mensch so ganz und gar Ausgangspunkt, Mittelpunkt, Zielpunkt dieser Dichtung ist, deshalb hat die Landschaft wenig Platz in ihr. Die Landschaft wird niemals hingemalt, geschildert, besungen; sondern sie ist ganz vermenscht: sie ist Grauen, Melancholie, Verwirrung des Chaos, ist das schimmernde Labyrinth, dem Ahasver sehnsuchtsvoll sich entwinden will; und Wald und Baum sind entweder Orte der Toten, oder Hände, die zu Gott, zur Unendlichkeit hinsuchen. Mit rasender Schnelligkeit bewegt sich diese Dichtung vom fanatischen Kampfruf zum Sentimentalen, vom anarchischen Toben zur Didaktik des Ethischen. Wenig nur ist Freude und Glück in ihr; Liebe ist Schmerz und Schuld, – Arbeit wird zu gefühlvernichtender Qual; noch das Trinklied ist dumpfes Schuldbekenntnis; und lichtere, frohere Töne erklingen nur aus der Sehnsucht nach dem Paradies, das verloren ist, und das doch vor uns liegt.

Niemals war das Ästhetische und das L’art pour l’art-Prinzip so mißachtet wie in dieser Dichtung, die man die «jüngste» oder «expressionistische» nennt, weil sie ganz Eruption, Explosion, Intensität ist – sein muß, um jene feindliche Kruste zu sprengen. Deshalb meidet sie die naturalistische Schilderung der Realität als Darstellungsmittel, so handgreiflich auch diese verkommene Realität war; sondern sie erzeugt sich mit gewaltiger und gewaltsamer Energie ihre Ausdrucksmittel aus der Bewegungskraft des Geistes (und bemüht sich keineswegs, deren Mißbrauch zu meiden). Sie entschleudert ihre Welt … in ekstatischem Paroxismus, in quälender Traurigkeit, in süßestem musikalischen Gesang, in der Simultanität durcheinanderstürzender Gefühle, in chaotischer Zerschmetterung der Sprache, grausigster Verhöhnung menschlichen Mißlebens, in flaggelantischschreiender, verzückter Sehnsucht nach Gott und dem Guten, nach Liebe und Brüderlichkeit. So wird auch das Soziale nicht als realistisches Detail, objektiv etwa als Elendsmalerei dargestellt (wie von der Kunst um 1890), sondern es wird stets ganz ins Allgemeine, in die großen Menschheitsideen hingeführt. Und selbst der Krieg, der viele dieser Dichter zerschmetterte, wird nicht sachlich realistisch erzählt; – er ist stets als Vision da (und zwar lange vor seinem Beginn), schwelt als allgemeines Grauen, dehnt sich als unmenschlichstes Übel, das nur durch den Sieg der Idee vom brüderlichen Menschen aus der Welt zu schaffen ist.

Die bildende Kunst dieser Jahre zeigt dieselben Motive und Symptome, zeigt das gleiche Zersprengen der alten Formen und das Durchlaufen aller formalen Möglichkeiten bis zur Konsequenz völliger Auflösung der Realität, zeigt den gleichen Einbruch und Ausbruch des Menschlichen und den gleichen Glauben an die lösende, bindende Macht des menschlichen Geistes, der Idee. Es geschah bereits, daß manche Versuche und Entartungen für nachahmende Nichtkönner zur leeren Form, zur Formel, zur geschäftsmäßigen Phrase wurden. Und Pathos, Ekstase, große Gebärde brechen nicht nur hervor und empor, sondern stürzen oftmals zusammen im Krampf, weil sie zur Form sich nicht verwesentlichen können. Immer wieder aber bläst in die ungeheure Eruption des Gefühls klärend und reinigend der Geist; erschallt aus dem Zerfallenden der Ruf nach der Gemeinsamkeit des Menschlichen; schwebt über dem ziellosen Chaos der Gesang der Liebe.

Und immer wieder muß gesagt werden, daß die Qualität dieser Dichtung in ihrer Intensität beruht. Niemals in der Weltdichtung scholl so laut, zerreißend und aufrüttelnd Schrei, Sturz und Sehnsucht einer Zeit, wie aus dem wilden Zuge dieser Vorläufer und Märtyrer, deren Herzen nicht von den romantischen Pfeilen des Amor oder Eros, sondern von den Peinigungen verdammter Jugend, verhaßter Gesellschaft, aufgezwungener Mordjahre durchbohrt wurden. Aus irdischer Qual griffen ihre Hände in den Himmel, dessen Blau sie nicht erreichten; sie warfen sich, sehnsuchtsvoll die Arme ausbreitend, auf die Erde, die unter ihnen auseinanderbarst; sie riefen zur Gemeinschaft auf und fanden noch nicht zueinander; sie posaunten in die Tuben der Liebe, so daß diese Klänge den Himmel erbeben ließen, nicht aber durch das Getöse der Schlachten, Fabriken und Reden zu den Herzen der Menschen drangen.

Freilich wird die Musik dieser Dichtung nicht ewig sein wie die Musik Gottes im Chaos. Aber was wäre die Musik Gottes, wenn ihr nicht die Musik des Menschen antwortete, die sich ewig nach dem Paradies des Kosmos sehnt … Von den vielen, vielen Dichtungen dieser Generation werden fast alle mit den verebbenden Stürmen ihrer Epoche untergegangen sein. Statt einiger großer leuchtender wärmender Gestirne wird Nachlebenden ihre Menge wie die von unzähligen kleinen Sternen erschimmernde Milchstraße erscheinen, die fahlklärenden Glanz in wogende Nacht gießt.

Keiner dieser Dichter kokettiert mit der Unsterblichkeit, keiner wirft sich den Triumphmantel mit distanzierend heroischer Gebärde um, keiner will als Olympier in edler Haltung entschweben; und wenn diese Dichter in ausschweifender Weitschweifigkeit, in unmäßigem Fortissimo psalmodieren, stöhnen, klagen, schreien, fluchen, rufen, hymnen – so geschieht es niemals aus Hochmut, sondern aus Not und Demut. Denn nicht sklavisches Kriechen, untätiges Warten ist Demut; sondern es ist Demut, wenn einer hintritt und öffentlich aussagt, bekennt und fordert vor Gott und den Menschen, und seine Waffen sind nur sein Herz, sein Geist und seine Stimme.

Als einer, der mitten unter ihnen stand, vielen durch Freundschaft und allen durch Liebe zu ihren Werken verbunden, trete ich vor und rufe: Laßt es genug sein, die Ihr Euch selbst nicht genügtet, denen der alte Mensch nicht mehr genügte; laßt es genug sein, weil Euch diese zerklüftete, ausbrechende, zerwühlende Dichtung nicht genügen darf! Laßt es nicht genug sein! Sondern helft, alle, voraneilend dem Menschheitswillen, einfacheres, klareres, reineres Sein zu schaffen. Denn jener Augenblick wird, muß kommen, da aus Beethovens Symphonie, die uns den Rhythmus unserer Jugend gab, im wildesten Chaos der tobenden Musik plötzlich die vox humana emporsteigt: Freunde, nicht diese Töne! Lasset uns andere anstimmen und freudenvollere!

Ihr Jünglinge aber, die Ihr in freierer Menschheit heranwachsen werdet, folget nicht diesen nach, deren Schicksal es war, im furchtbaren Bewußtsein des Unterganges inmitten einer ahnungslosen, hoffnungslosen Menschheit zu leben, und zugleich die Aufgabe zu haben, den Glauben an das Gute, Zukünftige, Göttliche bewahren zu müssen, das aus den Tiefen des Menschen quillt! So gewiß die Dichtung unserer Zeit diesen Märtyrerweg wandeln mußte, so gewiß wird die Dichtung der Zukunft anders sich offenbaren: sie wird einfach, rein und klar sein müssen. Die Dichtung unserer Zeit ist Ende und zugleich Beginn. Sie hat alle Möglichkeiten der Form durchrast –, sie darf wieder den Mut zur Einfachheit haben. Die Kunst, die durch Leidenschaft und Qual der unseligsten Erdenzeit zersprengt wurde, – sie hat das Recht, reinere Formen für eine glücklichere Menschheit zu finden.

Diese zukünftige Menschheit, wenn sie im Buche «Menschheitsdämmerung» («Du Chaos-Zeiten schrecklich edles Monument») lesen wird, möge nicht den Zug dieser sehnsüchtigen Verdammten verdammen, denen nichts blieb als die Hoffnung auf den Menschen und der Glaube an die Utopie.

 

Berlin, Herbst 1919.

K.P.

Sturz und Schrei

JAKOB VAN HODDIS · WELTENDE

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

In allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

 

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

GEORG HEYM · UMBRA VITAE

Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen

Und sehen auf die großen Himmelszeichen,

Wo die Kometen mit den Feuernasen

Um die gezackten Türme drohend schleichen.

 

Und alle Dächer sind voll Sternedeuter,

Die in den Himmel stecken große Röhren,

Und Zauberer, wachsend aus den Bodenlöchern,

Im Dunkel schräg, die ein Gestirn beschwören.

 

Selbstmörder gehen nachts in großen Horden,

Die suchen vor sich ihr verlornes Wesen,

Gebückt in Süd und West, und Ost und Norden,

Den Staub zerfegend mit den Armen-Besen.

 

Sie sind wie Staub, der hält noch eine Weile.

Die Haare fallen schon auf ihren Wegen.

Sie springen, daß sie sterben, und in Eile,

Und sind mit totem Haupt im Feld gelegen,

 

Noch manchmal zappelnd. Und der Felder Tiere

Stehn um sie blind und stoßen mit dem Horne

In ihren Bauch. Sie strecken alle Viere,

Begraben unter Salbei und dem Dorne.

 

Die Meere aber stocken. In den Wogen

Die Schiffe hängen modernd und verdrossen,

Zerstreut, und keine Strömung wird gezogen,

Und aller Himmel Höfe sind verschlossen.

 

Die Bäume wechseln nicht die Zeiten

Und bleiben ewig tot in ihrem Ende,

Und über die verfallnen Wege spreiten

Sie hölzern ihre langen Finger-Hände.

 

Wer stirbt, der setzt sich auf, sich zu erheben,

Und eben hat er noch ein Wort gesprochen,

Auf einmal ist er fort. Wo ist sein Leben?

Und seine Augen sind wie Glas zerbrochen.

 

Schatten sind viele. Trübe und verborgen.

Und Träume, die an stummen Türen schleifen,

Und der erwacht, bedrückt vom Licht der Morgen,

Muß schweren Schlaf von grauen Lidern streifen.

WILHELM KLEMM · MEINE ZEIT

Gesang und Riesenstädte, Traumlawinen,

Verblaßte Länder, Pole ohne Ruhm,

Die sündigen Weiber, Not und Heldentum,

Gespensterbrauen, Sturm auf Eisenschienen.

 

In Wolkenfernen trommeln die Propeller.

Völker zerfließen. Bücher werden Hexen.

Die Seele schrumpft zu winzigen Komplexen.

Tot ist die Kunst. Die Stunden kreisen schneller.

 

O meine Zeit! So namenlos zerrissen,

So ohne Stern, so daseinsarm im Wissen

Wie du, will keine, keine mir erscheinen.

 

Noch hob ihr Haupt so hoch niemals die Sphinx!

Du aber siehst am Wege rechts und links

Furchtlos vor Qual des Wahnsinns Abgrund weinen!

JOHANNES R. BECHER · VERFALL

Unsere Leiber zerfallen,

Graben uns singend ein:

Berauschte Abende wir,

Nachtsturm- und meerverscharrt.

Heißes Blut vertrocknet,

Eitergeschwür verrinnt.

Mund Ohr Auge verhüllet

Schlaf Traum Erde der Wind.

Gelblich träger Würmer

Enggewundener Gang.

Pochen rollender Stürme.

Wimpern blutrot lang.

… «Bin ich zerbröckelnde Mauer,

Säule am Wegrand die schweigt?

Oder Baum der Trauer,

Über den Abgrund geneigt?» …

Süßer Geruch der Verwesung,

Raum Haus Haupt erfüllend.

Blumen, flatternde Gräser.

Vögel, Lieder quillend.

 

«Ja –, verfaulter Stamm …»

Schimmel Geächz Gestöhn.

Unter wimmelnder Himmel Flucht

Furchtbarer Laut ertönt:

Pauke. Tube Gedröhn.

Donner. Wildflammiges Licht.

Zimbel. Schlagender Ton.

Trommelgeschrill. Das zerbricht. –

 

Der ich mich dir, weite Welt,

Hingab, leicht vertrauend,

Sieh, der arme Leib verfällt,

Doch mein Geist die Heimat schaut.

Nacht, dein Schlummer tröstet mich,

Mund ruht tief und Arm.

Heller Tag, du lösest mich

Auf in Unruh ganz und Harm.

 

Daß ich keinen Ausweg finde,

Ach, so weh zerteilt!

Blende bald, bald blind und Binde.

Daß kein Kuß mich heilt!

Daß ich keinen Ausweg finde,

Trag wohl ich nur Schuld:

Wildstrom, Blut und Feuerwind

Schande, Ungeduld.

 

Tag, du herbe Bitternis!

Nacht, gib Traum und Rat!

Kot Verzerrung Schnitt und Riß –

Kühle Lagerstatt …

Alles muß noch ferne sein,

Fern, o fern von mir –

Blüh empor im Sternenschein,

Heimat, über mir!

 

Einmal werde ich am Wege stehn,

Versonnen, im Anschaun einer großen Stadt.

Umronnen von goldener Winde Wehn.

Licht fällt durch der Wolken Flucht matt.

Verzückte Gestalten, in Weiß gehüllt …

Meine Hände rühren

An Himmel, golderfüllt,

Sich öffnend gleich Wundertüren.

 

Wiesen, Wälder ziehen herauf.

Gewässer sich wälzen. Brücken.

Gewölbe. Endloser Ströme Lauf.

Grauer Gebirge Rücken.

Rotes Gedonner entsetzlich schwillt.

Drachen, Erde speiend.

Aufgerissener Rachen, die Sonne brüllt.

Empörung Lachen Geschrei.

 

Verfinsterung. Erde- und Blutgeschmack.

Knäuel. Gemetzel weit …

… «Wann erscheinest du, ewiger Tag?

Oder hat es noch Zeit?

Wann ertönest du, schallendes Horn,

Schrei du der Meerflut schwer?

Aus Dickicht, Moorgrund, Grab und Dorn

Rufend die Schläfer her?» …

GEORG HEYM · DER GOTT DER STADT

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.

Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.

Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit

Die letzten Häuser in das Land verirrn.

 

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,

Die großen Städte knieen um ihn her.

Der Kirchenglocken ungeheure Zahl

Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

 

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik

Der Millionen durch die Straßen laut.

Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik

Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

 

Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.

Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.

Die Stürme flattern, die wie Geier schauen

Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

 

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.

Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt

Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust

Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.

JOHANNES R. BECHER · BERLIN

Der Süden wird verbluten in der Sonne Stunden.

Der Taten Gott erzürnt aus Lavagrüften schlug.

Es kreiset um das Land der Berge Flammenrunde.

Da brachen auf wir schwarz, ein dünner Totenzug.

 

Der Süden ist bestimmt zu ewiger Trauer Schlafe.

Wir haben unserer Träume Barken ausgebrannt.

Wir winken mit den Fackeln nach dem stillen Hafen,

Die streichet aus der Finsternisse Mutterhand.

 

Des Südens Atem klebt an unseren krummen Rücken

Mit Winden lau und dumpfer Glocken Grabgedröhn.

Betrübet euch! Des Abends rote Nebelmücken

Bestürmen euch mit Sang. Laßt uns vorübergehn!

 

Maultiere brechen hart von schartigem Messergrate.

Lawinen übertünchen uns mit Liebe weißem Fächer.

Wildbäche überblitzen hoch der Brücken Drahte.

Geysire platzen aus der brüchigen Felsen Köcher.

 

Wir sanken morgens in der Spalten grüne Kammern.

Wir tauchten mittags ein in Gletschermühle Becken.

Es sauste nieder des Erdrutsches Keulenhammer.

Des Winters Sturm riß uns aus wohlichtem Verstecke.

 

In Höhlenlöchern warteten die zarten Wunder.

Mit Gerten schlugen wir uns Labung aus dem Stein.

Wir stürzten ab mit nasser Büschel Fleckenschrunde.

Wir starben in den Kelchen der Enziane klein.

 

Wir tauten auf beim Hirtengruß und dem Geblöke

Der Herden. Aus der Blumen Grunde warmem Lauch

Sog uns zu Funkengärten schräger Purpurkegel.

Es trug uns Raub der neuen Heimat Wirbelhauch.

 

Aus Dächerfirnen strahlt der Meere Glanzgebreite,

Urwälder sind in Schlot und Balken hochgewachsen.

Der Rauche rußiger Hain beschattet die Gemäuer.

Der Krater Trichter schrumpften, schiefe Aschenzacken.

 

Der Wiesen Fluren tanzen um als Wimmelplätze.

In langer Straßen Schluchten weinen Abendröten.

Ein Quellenstrudelschwarm zum Himmel hetzet

Bei Kellertunnelnot und Krach der Speicherböden …

 

Berlin! Du weißer Großstadt Spinnenungeheuer!

Orchester der Äonen! Feld der eisernen Schlacht!

Dein schillernder Schlangenleib ward rasselnd aufgescheuert,

Von der Geschwüre Schutt und Moder überdacht!

 

Berlin! Du bäumst empor dich mit der Kuppeln Faust,

Um die der Wetter Schwärme schmutzige Klumpen ballen!

Europas mattes Herze träuft in deinen Krallen!

Berlin! In dessen Brust die Brut der Fieber haust!

 

Berlin! Wie Donner rattert furchtbar dein Geröchel!

Die heiße Luft sich auf die schwachen Lungen drückt.

Der Menschen Schlamm umwoget deine wurmichten Knöchel.

Mit blauer Narben Kranze ist dein Haupt geschmückt!

 

Wir wohnen mit dem Monde in verlassener Klause,

Der wandelt nieder auf der Firste schmalem Joche.

Der Tage graue Gischt zu sternenen Küsten brauset.

Auf Winkeltreppe ward ein Mädchen wüst zerstochen.

 

Wir lungern um die Staatsgebäude voll Gepränge.

Wir halten Bomben für der Wagen Fahrt bereit.

Die blonde Muse längs sich dem Kanale schlängelt,

Quecksilberlicht aus Läden lila sie beschneit.

 

Auf Pflaster Nebeldämpfe feuchte Wickel pressen.

Auf trägem Damme erste Stadtbahnzüge schnaufen.

Die alten Huren mit den ausgefransten Fressen,

Sie schleichen in den bleichen Morgen, den zerrauften …

 

O Stadt der Schmerzen in Verzweiflung düsterer Zeit!

Wann grünen auf die toten Bäume mit Geklinge?

Wann steigt ihr Hügel an in weißer Schleier Kleid?

Eisflächen, wann entfaltet ihr der Silber Schwinge?

 

Auf prasselnder Scheiter Haufen brennet der Prophet.

Der Kirchen Türme ragen hager auf wie Galgen.

Die Haare Flachs. Sein Leib auf Messingfüßen steht,

Im Ofen heiß wie glühender Erzkoloß zerwalket.

 

Und seine Stimme schwillt wie Wasserrauschen groß,

Da löschet aus des Brandes Qual auf heiliges Zeichen.

Ein fahles Schiff, das löset sich vom Ufer los,

Sich das Gerüste hebt und in die Nacht entweichet. –

 

Einst kommen wird der Tag! … Es rufet ihn der Dichter,

Daß er aus Ursprungs Schächten schneller her euch reise!

Des Feuers Geist ward der Geschlechter Totenrichter.

Es zerren ihn herauf der Bettler Orgeln heiser.

 

Einst kommen wird der Tag! … Die himmlischen Legionen,

Sie wimmeln aus der Wolken Ritze mit Geschmetter.

Es schlagen zu mit Knall der Häuser Särgebretter.

Zerschmeißen euch. Es hallelujen Explosionen.

 

Einst kommen wird der Tag! … Da mit des Zorns Geschrei

Der Gott wie einst empört die milbige Kruste sprengt.

Im Scherbenhorizonte treibt ein fetter Hai,

Dem blutiger Leichen Fraß aus zackichtem Maule hängt.

ALFRED WOLFENSTEIN · STÄDTER

Nah wie Löcher eines Siebes stehn

Fenster beieinander, drängend fassen

Häuser sich so dicht an, daß die Straßen

Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.

 

Ineinander dicht hineingehakt

Sitzen in den Trams die zwei Fassaden

Leute, wo die Blicke eng ausladen

Und Begierde ineinander ragt.

 

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,

Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine,

Flüstern dringt hinüber wie Gegröhle:

 

Und wie stumm in abgeschloßner Höhle

Unberührt und ungeschaut

Steht doch jeder fern und fühlt: alleine.

JAKOB VAN HODDIS · DIE STADT

Ich sah den Mond und des Ägäischen

Grausamen Meeres tausendfachen Pomp.

All meine Pfade rangen mit der Nacht.

 

Doch sieben Fackeln waren mein Geleit

Durch Wolken glühend, jedem Sieg bereit.

 

«Darf ich dem Nichts erliegen, darf mich quälen

Der Städte weiten Städte böser Wind?

Da ich zerbrach den öden Tag des Lebens!»

 

Verschollene Fahrten! Eure Siege sind

Zu lange schon verflackt. Ah! helle Flöten

Und Geigen tönen meinen Gram vergebens.

ALFRED WOLFENSTEIN · BESTIENHAUS

Ich gleite, rings umgittert von den dunklen Tieren,

Durchs brüllende Haus am Stoß der Stäbe hin und her,

Und blicke weit in ihren Blick wie weit hinaus auf Meer

In ihre Freiheit … die die schönen nie verlieren.

 

Der harte Takt der engen Stadt und Menschheit zählt

An meinen Zeh’n, doch lose schreiten Einsamkeiten

Im Tigerknie, und seine baumgestreiften Seiten

Sind keiner Straße, nur der Erde selbst vermählt.

 

Ach ihre reinen heißen Seelen fühlt mein Wille

Und ich zerschmelze sehnsuchtsvoller als ein Weib.

Des Jaguars Blitze gelb aus seinem Sturmnachtleib

Umglühn mein Schneegesicht und winzige Pupille.

 

Der Adler sitzt wie Statuen still und scheinbar schwer

Und aufwärts aufwärts in Bewegung ungeheuer!

Sein Auftrieb greift in mich und spannt mich in sein Steuer –

Ich bleibe still, ich bin von Stein, es fliegt nur er.

 

Es steigen hoch der Elefanten graue Eise,

Gebirge, nur von Riesengeistern noch bewohnt:

Von Wucht und Glut des wilden Alls bin ich umthront

Und ich steh eingesperrt in ihrem freien Kreise.

ALFRED LICHTENSTEIN · DIE DÄMMERUNG

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.

Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.

Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,

Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

 

Auf lange Krücken schief herabgebückt

Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.

Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.

Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

 

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.

Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.

Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.

Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

ERNST STADLER · ABENDSCHLUSS

Die Uhren schlagen sieben. Nun gehen überall in der Stadt die Geschäfte aus.

Aus schon umdunkelten Hausfluren, durch enge Winkelhöfe aus protzigen Hallen drängen sich die Verkäuferinnen heraus.

Noch ein wenig blind und wie betäubt vom langen Eingeschlossensein

Treten sie, leise erregt, in die wollüstige Helle und die sanfte Offenheit des Sommerabends ein.

Griesgrämige Straßenzüge leuchten auf und schlagen mit einem Male helleren Takt,

Alle Trottoirs sind eng mit bunten Blusen und Mädchengelächter vollgepackt.

Wie ein See, durch den das starke Treiben eines jungen Flusses wühlt,

Ist die ganze Stadt von Jugend und Heimkehr überspült.

Zwischen die gleichgültigen Gesichter der Vorübergehenden ist ein vielfältiges Schicksal gestellt –

Die Erregung jungen Lebens, vom Feuer dieser Abendstunde überhellt,

In deren Süße alles Dunkle sich verklärt und alles Schwere schmilzt, als wäre es leicht und frei,

Und als warte nicht schon, durch wenige Stunden getrennt, das triste Einerlei

Der täglichen Frohn – als warte nicht Heimkehr, Gewinkel schmutziger Vorstadthäuser, zwischen nackte Mietskasernen gekeilt,

Karges Mahl, Beklommenheit der Familienstube und die enge Nachtkammer, mit den kleinen Geschwistern geteilt,

Und kurzer Schlaf, den schon die erste Frühe aus dem Goldland der Träume hetzt –

All das ist jetzt ganz weit – von Abend zugedeckt – und doch schon da, und wartend wie ein böses Tier, das sich zur Beute niedersetzt,

Und selbst die Glücklichsten, die leicht mit schlankem Schritt

Am Arm des Liebsten tänzeln, tragen in der Einsamkeit der Augen einen fernen Schatten mit.

Und manchmal, wenn von ungefähr der Blick der Mädchen im Gespräch zu Boden fällt,

Geschieht es, daß ein Schreckgesicht mit höhnischer Grimasse ihrer Fröhlichkeit den Weg verstellt.

Dann schmiegen sie sich enger, und die Hand erzittert, die den Arm des Freundes greift,

Als stände schon das Alter hinter ihnen, das ihr Leben dem Verlöschen in der Dunkelheit entgegenschleift.

THEODOR DÄUBLER · DIADEM

Die Bogenlampen krönen Sonnenuntergänge,

Ihr lila Scheinen wird den Abend überleben,

Sie geistern schwebend über lärmendem Gedränge.

Es muß verglaste Früchte andrer Welten geben!

 

Beschwichtigt nicht ihr Lichtgeträufel das Getöse?

Ich kann das Wesen dieser Lampen schwer vernehmen.

Die Sterne scheinen klug, der Mond wird gerne böse.

Warum erblaßt du unter Sternendiademen?

THEODOR DÄUBLER · FLÜGELLAHMER VERSUCH

Es schweift der Mond durch ausgestorbne Gassen,

Es fällt sein Schein bestimmt durch bleiche Scheiben.

Ich möchte nicht in dieser Gasse bleiben,