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Eine Prophezeiung. Vier Prüfungen. Sechs Gesichter. Das Ziel: Die Befreiung von Meridion. Ein schwärzlicher Wolkenschleier windet sich am Himmel. Wächter schleichen durch die verlassenen Dörfer. Die Finsternis naht. Die Vernichtung der Eiszone hat bereits begonnen, als Tyran und seine Freunde in Krytos ankommen. Konfrontiert mit dunklen Geheimnissen, beginnt für die Gruppe ein Wettlauf gegen die Zeit, der den Zusammenhalt der vier Zonen unter eine gefährliche Prüfung stellt. Werden sie es schaffen, die Prophezeiung zu erfüllen, die in Wahrheit viel mehr in sich birgt, als die Flammen es offenbart haben?
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Seitenzahl: 487
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potentiell triggernde Themen. Mehr dazu auf Seite →.
Für meine Familie, weil ihr mich gelehrt habt, für meine Träume zu kämpfen.
Prolog
Kapitel 1: Krytos - Tyran
Kapitel 2: Krytos - Louisa
Kapitel 3: Krytos - Tyran
Kapitel 4: Krytos - Louisa
Kapitel 5: Krytos - Tyran
Kapitel 6: Krytos - Louisa
Kapitel 7: Krytos - Tyran
Kapitel 8: Krytos - Louisa
Kapitel 9: Krytos - Tyran
Kapitel 10: Krytos - Louisa
Kapitel 11: Krytos - Tyran
Kapitel 12: Krytos - Louisa
Kapitel 13: Krytos - Tyran
Kapitel 14: Krytos - Louisa
Kapitel 15: Krytos - Tyran
Kapitel 16: Krytos - Louisa
Kapitel 17: Krytos - Tyran
Kapitel 18: Krytos - Louisa
Kapitel 19: Krytos - Tyran
Kapitel 20: Krytos - Louisa
Kapitel 21: Krytos - Tyran
Kapitel 22: Krytos - Louisa
Kapitel 23: Krytos - Tyran
Kapitel 24: Krytos - Louisa
Kapitel 25: Krytos - Tyran
Kapitel 26: Krytos - Louisa
Kapitel 27: Krytos - Tyran
Kapitel 28: Krytos - Louisa
Kapitel 29: Krytos - Tyran
Kapitel 30: Krytos - Elysa
Kapitel 31: Krytos - Tyran
Kapitel 32: Krytos - Elysa
Kapitel 33: Krytos - Louisa
Kapitel 34: Krytos - Tyran
Kapitel 35: Krytos - Louisa
Kapitel 36: Krytos - Louisa
Kapitel 37: Krytos - Louisa
Kapitel 38: Krytos - Tyran
Kapitel 39: Krytos - Louisa
Kapitel 40: Eislabyrinth - Tyran
Kapitel 41: Krytos - Louisa
Kapitel 42: Eislabyrinth - Tyran
Kapitel 43: Krytos - Louisa
Kapitel 44: Eislabyrinth - Tyran
Kapitel 45: Krytos - Louisa
Kapitel 46: Eislabyrinth - Tyran
Kapitel 47: Krytos - Louisa
Kapitel 48: Dornenwald - Tyran
Kapitel 49: Krytos - Louisa
Kapitel 50: Dornenwald - Tyran
Kapitel 51: Krytos - Louisa
Kapitel 52: Dornenwald - Tyran
Kapitel 53: Krytos - Louisa
Kapitel 54: Eissee - Tyran
Kapitel 55: Krytos - Louisa
Kapitel 56: Eissee - Tyran
Kapitel 57: Krytos - Louisa
Kapitel 58: Gletscherhöhle - Tyran
Kapitel 59: Krytos - Louisa
Kapitel 60: Gletscherhöhle - Tyran
Kapitel 61: Krytos - Louisa
Kapitel 62: Zentrale - Tyran
Kapitel 63: Krytos - Louisa
Kapitel 64: Zentrale - Tyran
Kapitel 65: Krytos - Louisa
Kapitel 66: Zentrale - Tyran
Kapitel 67: Krytos - Louisa
Kapitel 68: Zentrale - Tyran
Kapitel 69: Krytos - Louisa
Kapitel 70: Zentrale - Tyran
Kapitel 71: Krytos - Louisa
Kapitel 72: Zentrale - Tyran
Kapitel 73: Krytos - Louisa
Kapitel 74: Krytos - Tyran
Knisternd lodert das Feuer auf. Funken fliegen umher. Die Flammen schlagen bestialisch in die Höhe. Vom Kern dehnt sich ein greller Schein aus. Vollendet wird das Bild von einem rötlichen Umhang, der versucht, der inneren Hitze Einhalt zu gewähren. Gebändigt, doch keineswegs ergeben, speit die Seele des Feuers weitere Flammen, die zum Himmel emporschlagen. Es demonstriert seine unbestrittene Macht. Die Vorstellung gleicht einem Todestanz. Im Inneren braut sich etwas Düsteres zusammen. Brennende Hände schnellen aus den Flammen und ziehen Gestalten der Dunkelheit zu sich heran. Als diese in der Glut aufgehen, scheint die Herrschaft des Grauens vollends übernommen. Explosionsartig breiten sich die Flammen weiter aus. Dabei reißen sie alles mit sich, was sich ihnen in den Weg stellt. Und so verbrennen sie nach und nach die Welt, aus der sie einst erschaffen wurden.
Devaki schreckt auf und schnappt nach Luft. Sie weiß die Zeichen und die Botschaft ihres Traumes sofort zu deuten. Es besteht kein Zweifel. Noch nie wurde sie von ihnen getäuscht. Ihre Träume hatten schon immer eine tiefere Bedeutung. Es liegt in ihrem Blut. Die Aufgabe in ihrem Stamm war ihr bereits bestimmt, als sie noch im Bauch ihrer Mutter ausgetragen wurde. Sie fügte sich stets widerspruchslos ihrem Schicksal, auch wenn ihre Gabe Schatten birgt. Ihre Visionen tragen oft grausame Wahrheiten ans Licht und überdecken nicht selten den wundersamen Zauber dieser Macht.
Eilig schwingt Devaki ihre Beine über das Bett. Sie staunt selbst über ihre Agilität, die in ihrem hohen Alter äußerst ungewöhnlich erscheint. Es ist die Magie, die ihre Knochen jünger hält, als es ihr äußerlich anzusehen ist. Trotzdem greift sie zu dem Stock, der an der Anrichte lehnt. Sie benötigt ihn zwar nicht zum Gehen, aber sie fühlt sich wohler damit. Er gibt ihr etwas, das ihrem Alter gerecht wird. Auf diese Weise fühlt sie sich dazugehörig. Als wäre sie eine gewöhnliche Frau, die ihrem natürlichen Alterungsprozess unterliegt. Es gibt ihr etwas Normalität in dieser Haut, in der ganz und gar nichts normal erscheint. Weder die Bilder, die ihr Kopf stets unangekündigt empfangen muss, noch die Symbole, die sie Tag für Tag zu entziffern versucht. An die permanenten Kopfschmerzen hat sie sich über die Jahre gewöhnt. Das qualvolle Stechen, das ihren Körper heimsucht, wenn sie Illusionen empfängt, nimmt sie kaum noch wahr.
Hastig schiebt sie den Vorhang ihrer Jurte zur Seite. Die beiden Krieger, die stets an ihrer Seite wachen, regen sich nicht, als sie schnellen Schrittes ihre Behausung verlässt. Sie wissen damit umzugehen. Es kommt nicht selten vor, dass Devaki aufgrund einer Vision übereilt handeln muss.
Sie spürt den Schutz der zwei Krieger in ihrem Rücken. Dieses Gefühl verleiht ihr zusätzliche Stärke für den beschwerlichen Weg, der vor ihr liegt.
Es ist noch früh am Morgen. Das Sonnenlicht blinzelt schüchtern durch das Dickicht der Bäume. Die meisten Bewohner des Dorfes Acaharos schlafen noch. Nur wenige Frauen sind bereits auf den Beinen und verrichten vor ihren Zelten die anstehenden Arbeiten. Sie schauen auf, als Devaki an ihnen vorbeiläuft. In den Augen der Bewohner schimmert Angst. Angst davor, welch grauenvolle Vision sich der Stammesältesten dieses Mal gezeigt hat.
Devaki spürt Erleichterung, als sie endlich die ausgebrannte Feuerstelle erreicht. Sie kniet sich in die Asche und beginnt hektisch das Holz von dem Scheiter zu entfernen. Darunter kommen nach und nach die magischen Feuersteine zum Vorschein, die in ihrem Zusammenspiel mit den Sonnenstrahlen zu funkeln beginnen.
Die Feuersteine gelten in Morung seit Anbeginn der Zeit als Symbol der Weisheit. Es heißt, sie vermitteln Botschaften des Übernatürlichen. Daher ist es ein Ritual, sie stets unter dem Feuer zu beherbergen, damit sie ihre Kraft dort entfalten können.
Während Devaki einen Stein nach dem anderen von dem Schutt befreit, ohne dabei deren Position zu verändern, eilt ihre Tochter Saphira an ihre Seite. Irritiert beobachtet sie ihre Mutter bei ihrer Prozedur.
„Mutter, im Dorf herrscht Aufregung über deine Eile in der Früh. Die Menschen sorgen sich. Was hast du gesehen? Und was hat es mit unserer Feuerstelle zu tun?“, fragt Saphira sichtlich nervös.
Devaki hätte sich gewünscht, dass ihre Tochter ihre Kraft verstehen würde. Doch leider war es ihr nicht bestimmt, ihre Gabe an sie zu übertragen. Stattdessen zeigt ihr Enkel Moang gelegentlich Anzeichen außergewöhnlicher Fähigkeiten. Es kommt in der Geschichte Morungs nicht selten vor, dass die Gabe des Sehens eine Generation überspringt.
„Ich muss einer Vision nachgehen. Der Traum, der sich mir gezeigt hat, vermittelte mir eine Warnung, die mit dem Feuer zu tun hat. Nun müssen wir hoffen, dass sich die Bilder nicht bewahrheiten“, entgegnet Devaki beunruhigt.
So angespannt wie in diesem Moment hat Saphira ihre Mutter noch nie erlebt. „Ich dachte, deine Visionen haben dich noch nie getäuscht“, erinnert sich Saphira an die Worte ihrer Mutter.
„Das stimmt, mein Kind. Aber heute ist es anders. Wir müssen Thomas den Großen anflehen, dass sie mich diesmal in die Irre führen.“
„Aber was kann denn so schrecklich sein, dass…“, setzt Saphira an. Doch sie verstummt, als sie das erschrockene Gesicht ihrer Mutter sieht, die plötzlich erstarrt. Nur ihre Augen bewegen sich in ihrer Augenhöhle. Unruhig betrachten sie die Anordnung der Feuersteine, die Devaki zuvor freigelegt hat. Das pure Entsetzen spiegelt sich in ihrem Ausdruck wider.
Saphira kennt diesen Blick ihrer Mutter und sie weiß, dass er nichts Gutes verheißt.
Angespannt betrachtet auch sie die Anordnung der Steine, erkennt dahinter jedoch kein Schema. Wie sehr sie sich manchmal wünscht, die Gabe ihrer Mutter wäre auch ihr zuteilgeworden. Zu gern würde sie lernen, die Magie zu verstehen.
„Was siehst du?“, fragt Saphira angespannt, die das Schweigen ihrer Mutter nur schwer ertragen kann.
„Die Prophezeiung ist in Gefahr. Sieh nur.“ Devaki zeichnet mit ihrem Finger eine Linie in die Asche, die die verschiedenen Positionen der Steine symbolisch miteinander verknüpft. Mit jeder Linie wird das Bild vor Saphiras Augen klarer.
„Das Symbol von Meridion“, spricht Saphira ihre Gedanken aus. „Aber wofür stehen die Steine?“
Devaki stöhnt auf, als würde es ihr alles abverlangen, die Bilder, die ihr Traum ihr gezeigt hat, erneut abzurufen und mit dem, was die Steine ihr zeigen, zu verknüpfen. „Sie symbolisieren die Menschen, die an der Erfüllung der Prophezeiung mitwirken.“
„Aber ich dachte es wären nur sechs. Das hat uns das Feuer doch offenbart, als wir die Gäste aus Adurnis beherbergt haben“, wundert sich Saphira. „Warum liegen dort acht Steine? Und warum liegen in der Mitte zwei beieinander, während die anderen einzeln ihre Position vertreten?“
„Das ist der Punkt, der auch mir Sorgen bereitet. Die Nachricht in den Flammen war eindeutig. Noch nie hat mich eine Vision getäuscht.“ Devaki beugt sich erneut nach vorne und beginnt die Steine nacheinander umzudrehen. Sie gleichen sich von beiden Seiten in ihrer hellen Farbe.
Devaki zögert, bevor sie sich den Steinen in der Mitte zuwendet. Der erste Stein, den sie umdreht, ist den anderen ebenbürtig, doch als sie den achten und damit den letzten Stein umdreht, zieht sie ihre Hand zurück, als hätte der Stein ihre Haut verbrannt. Der Stein weist im Gegensatz zu den anderen Steinen eine dunkle Rückseite auf.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragt Saphira verwirrt. „Ich dachte, dass Feuersteine alle gleich aussehen. Warum ist dieser andersfarbig?“
Devaki schaut ihrer Tochter nun direkt in die Augen. Zu Beginn strahlen sie noch das gewohnte bläuliche Schimmern aus, doch dann verfärben sie sich und lassen eine tiefe Schwärze zurück. Saphira musste diesen Prozess schon oft miterleben, trotzdem erscheint es ihr immer wieder befremdlich, wenn ihre Mutter sich ihrer Kraft hingibt.
„Thomas lag mit seiner Prophezeiung nie falsch, allerdings übersah er das Bindeglied in der Mitte, das die Gruppe zusammenhält und den Verräter, der versucht die Gruppe zu entzweien. Vielleicht konnte sich die Wahrheit in den Flammen nicht offenbaren, weil keine der beiden dem Medium entspricht, das die Flammen gebraucht hätten. Unsere Besucher aus Adurnis werden auf unterschiedliche Weise bei der Erfüllung der Prophezeiung mitwirken, aber keiner der beiden stellt das Bindeglied in der Mitte dar, das die Prophezeiung erreichen müsste.“
„Dann versuch die Person, die das Bindeglied ist, zu erreichen“, versucht Saphira ihrer Mutter Mut zuzusprechen. „Du hast es doch schonmal geschafft, deine Fähigkeiten über die Zonen hinauszutragen. Vielleicht gelingt es dir wieder und du kannst die Person rechtzeitig warnen.“
Devaki lässt ein verzweifeltes Seufzen entweichen. „Das würde voraussetzen, dass die Person offen für die Übermittlung der Prophezeiung ist.“
Saphira beobachtet gebannt, wie sich die Augen ihrer Mutter wieder zurückverwandeln. „Er ist noch nicht so weit. Hoffen wir, dass er es rechtzeitig sein wird. Sonst wird der achte Stein alles zerstören, wofür Thomas gekämpft hat und woran wir geglaubt haben. Wenn es der Person, die dem dunklen achten Stein zugehörig ist, gelingt, die Bindung zwischen den anderen sieben zu trennen, wird Meridion nicht befreit und eine Welle der Unterdrückung wird sich über unser Land ergießen.“
Saphira spürt Angst in sich aufsteigen. Sie will nicht, dass sich die Vision ihrer Mutter bewahrheitet. Aber ihr bleibt nichts anderes übrig, als an diesen einen Menschen zu glauben, der das Schicksal von ganz Meridion in seinen Händen hält.
Über Krytos liegt ein dichter Nebel, der das Tal unter seinem Schleier verborgen hält. Die Lichtstrahlen der aufgehenden Sonne versuchen vergeblich durch die Nebeldecke zu dringen. Doch sie werden an der Pforte abgewiesen, so dass das Tal noch länger in der verschluckenden Dunkelheit schlummern muss, die die Nacht in Krytos mit sich bringt. In der Ferne erstreckt sich das Oneygebirge. Die mit Schnee bedeckten Bergspitzen reflektieren das Licht der Sonne. Es scheint, als hätte sich nichts verändert. Doch es ist nichts mehr, wie es einmal war.
Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Ich weiß meine Empfindungen und Gedanken nicht einzuordnen. Einerseits habe ich Angst vor der schier unüberwindbaren Herausforderung, der wir uns stellen müssen, andererseits freue ich mich darauf, endlich wieder heimzukehren.
Einst hielt ich diesen Ort, der meiner Familie und mir nur Pech zu bringen schien, für eine ungerechte Bestrafung. Immerzu habe ich Antworten darauf gesucht, warum ich dazu verdammt war, dieses Leben zu führen. Erst nach unsere Reise durch die Zonen ist mir klar geworden, dass es für mich nur einen Ort gibt, an dem ich mich Zuhause fühle.
Es ist nicht Adurnis, nicht Morung, nicht Eritima und auch nicht Krytos. Es ist dort, wo ich die Liebe meiner Familie empfange, den Zusammenhalt meiner Freunde spüre und mich die lebensfrohe Art der Munschis daran erinnert, dass es sich lohnt, jeden Moment im Leben in vollen Zügen zu genießen. Es ist ein Ort, der stets in Bewegung ist und sich mit den Personen, die mich auf meinem Weg begleiten, immer weiter vergrößert.
Doch ich habe Angst davor, dass die nächsten Tage diesen heimischen Ort beschädigen könnten. Wir wissen nicht, was uns in Nepos erwarten wird.
Konnten die Bewohner die Stadt nach den Krawallen wieder aufbauen? Haben die Jäger einen Weg gefunden, die Wächter abzuschirmen? Gab es noch mehr Aroxangriffe? Wie geht es meinem Vater?
Ich schlucke und spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Bald werde ich endlich Gewissheit haben. Ich umklammere das kleine Fläschchen in meiner Hand noch fester. Ich habe das Zucristat während unserer Reise nicht einmal aus den Augen gelassen.
„Es wird ihm dabei helfen, gesund zu werden. Mach dir bitte nicht so viele Sorgen.“ Elysa legt ihre Hand auf meine und streichelt mit ihrem Daumen sanft über meine Haut. Ihre Berührung kann meine Ängste für einen Moment verdrängen. „Vielleicht solltest du es mir mal geben. Es ist nicht gut, wenn du es die ganze Zeit bei dir hast. Ich werde es sicher bewahren, versprochen.“ Elysa zieht leicht an dem dünnen Röhrchen.
Doch meine Finger umklammern es so fest, als wären sie mit dem Glas zu einer Einheit verschmolzen. Elysas Augenbrauen ziehen sich zusammen. Sie schaut mich auffordernd an. Ich kann ihren hell schimmernden Augen einfach keinen Wunsch abschlagen. Einmal hineingeschaut gibt es kein Entkommen mehr. Ihr Blick versetzt mich jedes Mal in einen hypnoseähnlichen Zustand, in dem ich alles tun würde, was sie mir abverlangt.
Schnaufend lasse ich meine Finger von dem Glas gleiten. „Wie machst du das bloß immer? Gib doch endlich zu, dass du heimlich von Cantata angelernt wurdest, um eines Tages als ihre Nachfolge in Krytos die Zukunft der Menschen heraufzubeschwören.“ Ich gestikuliere mit meinen Händen in der Luft. „Seht her, ich bin Elysa die Schaurige und ich kann die Zukunft sehen. Ich sehe eine düstere Zukunft. Kehre nicht nach Hause und wage es nicht die Türschwelle zu übertreten. Denn heute wird Schwarzwurzeleintopf gekocht und…“
Elysa boxt mir leicht in die Seite. Ihr herzhaftes Lachen erfüllt jede Pore meines Körpers mit einem Gefühl des Glücks. Seit unserer Konfrontation mit Uthelia hat Elysa sich zurückgezogen. Sie ist stiller geworden. Doch jedes Lächeln, das ich ihr entlocken kann, bringt sie wieder ein Stück näher zu mir zurück.
Elysa schüttelt amüsiert den Kopf.
Sie scheint etwas erwidern zu wollen. Doch als ihr Blick das Fenster zu meiner Rechten streift, an denen man die Landschaften vorbeiziehen sieht, erfriert ihr Lachen urplötzlich.
„Wir werden bald ankommen“, stellt Elysa ernüchtert fest. „Wir sollten zurück zu den anderen gehen. Fühlst du dich bereit?“
Ich folge ihrem Blick nach draußen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, die Welt so schnell an sich vorbeirauschen zu sehen. Es vermittelt den Eindruck, fliegen zu können. Doch die schier greifbare Freiheit, die hinter diesen Fensterscheiben liegt, existiert nicht. Nicht, solange wir an diesem Ort gefangen sind. So lange Meridion weiter existiert, werden wir niemals frei sein.
„Nein“, gebe ich schließlich zu. „Aber ich habe wohl keine andere Wahl.“ Ich erhebe mich langsam von dem Strohballen, auf dem wir die letzten Stunden geruht haben. Es tat gut, etwas Abstand von dem Trubel im Hauptwaggon zu gewinnen. „Es wird sicherlich nicht mehr so sein, wie wir es verlassen haben.“
„Nein, das wird es vermutlich nicht.“ Ich kann Elysa ansehen, dass ihre Gedanken bei ihrem Vater sind. „Aber wir werden zusammen eine Lösung für all das finden. Wir sind so viele. Ich bin sicher, wenn es einen Weg gibt, den Untergang aufzuhalten, werden wir ihn finden!“ Elysa streckt mir ihre Hand entgegen. „Uthelia darf nicht gewinnen.“
Ich greife ihre Hand und verschränke meine Finger mit ihren. Am liebsten würde ich sie niemals wieder loslassen.
Ich höre, wie eine Tür aufgeschlagen wird. Aufgeregt recke ich meinen Kopf. Ich muss mich auf Zehenspitzen stellen, um über die gedrängte Menschenansammlung hinwegsehen zu können. Es sind Tyran und Elysa, die Hand in Hand in unseren Waggon zurückkehren. Ich spüre ein unangenehmes Stechen in meiner Brust. Schnell wende ich meinen Blick von den beiden ab. Es ist nicht so, dass ich ihnen ihr gemeinsames Glück nicht gönnen würde, aber der Liebe nach meinem Verlust direkt ins Gesicht zu schauen, schmerzt einfach zu sehr.
Mein Vater stellt sich hinter mich und legt seine Hand behütend auf meine Schulter. Ich weiß, dass er mich mit dieser Gestik nur stärken will, aber in diesem Moment vermittelt mir diese Berührung eher das Gefühl, als würde mir niemand zutrauen, dass ich auch auf eigenen Beinen stehen könnte. Als würden sie mich für zu schwach halten, um das alleine durchzustehen. Aber das bin ich nicht. Und ich muss lernen, mich aus dieser Rolle herauszukämpfen.
Ich bin schon längst nicht mehr das kleine leichtgläubige Mädchen aus Kathagias. Die schmerzhaften Erfahrungen haben mich verändert. Ich bin auf dem Weg, eine selbstsichere und eigenständige Frau zu werden. Und diese innere Veränderung will ich auch nach außen strahlen. Es ist Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Ich trete einen Schritt vor, so dass die Hand meines Vaters von meiner Schulter gleitet.
Ich höre ihn hinter mir seufzen. Sein Mitleid erdrückt mich. Ich brauche Abstand. Unruhig schaue ich mich um. Mittlerweile haben sich alle Mitreisenden wieder in dem mittleren Waggon eingefunden, den wir als eine Art Sammelpunkt nutzen. Einst hat er als Lagerraum für die Waren aus Adurnis gedient. Doch leider ist der leichte süße Duft, den ich mit meiner Heimat verbinde, längst verflogen. Stattdessen liegt nun ein strenger Schweißgeruch in der Luft.
Wir harren nun schon mehrere Tage ununterbrochen in diesem engen Abteil aus und ich merke, wie mich dieser andauernde Zustand langsam an meine Grenzen bringt. Nun, kurz vor der Ankunft in Krytos, ist es kaum noch auszuhalten. Man spürt förmlich die Anspannung, die in der Luft liegt. Es fühlt sich an, als würde sich die Decke über unseren Köpfen in Zeitlupe auf uns herabsenken, um uns schließlich unter sich zu zerquetschen.
Ich recke meinen Kopf erneut in die Höhe, um nach Peter und Sorelia Ausschau zu halten, doch ich kann sie in dem Gedränge nicht ausfindig machen. Inmitten der unbekannten Gesichter der Anwohner Eritimas fühle ich mich zunehmend unwohl. Ich brauche mehr Raum. Vorsichtig dränge ich mich an einem der Eritimaner vorbei. Während der Fahrt haben sie ihre ranzige Kleidung durch warme Kleider und Felle getauscht, die in den hinteren Waggons gelagert waren.
Ich ducke mich, um durch einen Spalt zu huschen, der sich zwischen zwei Eritimanern aufgetan hat. Dann kann ich endlich durchatmen.
Ich schließe meine Augen und massiere meine pochende Schläfe.
„Louisa, nicht wahr?“
Erschrocken reiße ich meine Augen auf und schaue mich um. Ein junger Mann mit tiefdunklen weichen Augen erwidert neugierig meinen Blick. Er sitzt auf dem Boden und schaut von unten zu mir auf. Sofort fallen mir die hellen Pigmentflecken auf, die so gar nicht in das Bild seiner sonst so einheitlich sonnengebräunten Haut passen. Unterhalb seines Mundes erkenne ich eine Narbe. Die Haut rund um die frisch verheilte Wunde ist noch leicht geschwollen. Auf dem Kopf trägt er ein hoch gebundenes Tuch. Meine Augen wandern über sein freundliches Gesicht und bleiben an einem glitzernden Amulett haften, das vor seiner Brust baumelt.
„Was ist das?“, frage ich den Unbekannten neugierig, ohne auf seine vorherige Frage einzugehen. Er sieht mich verunsichert an. Ich deute mit meiner Hand auf sein Amulett.
„Oh, ach das. Nur ein Familienerbstück“, winkt der Fremde ab und verhüllt das Amulett unter einem Fell, das über seiner Schulter liegt. „Ich bin übrigens Argon. Freut mich, dass du fragst.“ Er grinst mich frech an.
„Sie hat doch gar nicht gefragt, du Dummkopf“, klinkt sich auf einmal eine zierliche Stimme in das Gespräch ein. Erst jetzt fällt mir das kleine Mädchen auf, das vor Argon im Schneidersitz auf dem Boden hockt und mich akribisch mit ihren leuchtenden Augen beobachtet.
Ich erinnere mich an sie.
Es ist das kleine Mädchen aus Eritima. Sie ist das einzige Kind, das wir retten konnten. Bei dem Gedanken an all die zurückgebliebenen Kinder muss ich schwer schlucken.
Argon beugt sich zu dem Mädchen vor. „Rumea, du bist sehr aufmerksam. Ein kluges Mädchen. Vermutlich liegt es an mir, dass sie mir ihren Namen nicht verrät. Vielleicht solltest du es mal versuchen“, ermutigt Argon das kleine Mädchen.
Rumea nickt eifrig und dreht sich augenblicklich zu mir. Ihre eisblauen großen Augen ziehen mich sofort in ihren Bann und ich kann nicht anders, als sie direkt in mein Herz vordringen zu lassen. Rund um ihre vollen Wangen bahnen sich bereits einzelne strammere Gesichtszüge an, die einen erahnen lassen, wie wunderschön sie einmal als junge Frau aussehen wird.
Das Mädchen kichert. „Argon weiß nicht, wie man mit Frauen redet. Er wird dann immer so komisch.“ Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Argon grinsend den Kopf schüttelt. „Ich bin Rumea.“ Sie reicht mir ihre Hand und lächelt mich auffordernd an. Für einen Moment ruht mein Blick schweigend auf ihrer ausgestreckten Hand. Dann lege ich meine Hand zaghaft in ihre. Die Hand des Mädchens fühlt sich so zart an, dass ich befürchte, sie unter meiner Berührung zu zerbrechen.
Kaum haben sich unsere Hände eine Sekunde berührt, da zieht das Mädchen schlagartig ihre Hand zurück. „Nun, da ich dir meinen Namen verraten habe, sagst du mir auch deinen?“ Sie hebt ihre Stimme am Ende ihres Satzes an, so dass sich ihre Frage unzweifelhaft wie eine Aufforderung anhört. Ihr selbstsicheres Auftreten macht mich für einen Augenblick sprachlos.
Das kleine Mädchen starrt mich erwartungsvoll an. Ihre Pupillen huschen ungeduldig zwischen meinen Augen hin und her, als würden sie dort eine Antwort auf ihre Frage finden.
Ich zögere kurz, bevor ich mich schließlich zu ihr setze. „Nun gut, du scheinst nicht so schnell locker zu lassen. Ich heiße tatsächlich Louisa.“
Rumea schaut zufrieden in Argons Richtung und grinst selbstgefällig. „Siehst du, das war doch jetzt gar nicht so schwer.“
„Das ist auch unfair. Bei deinem drängenden Blick würde es selbst ein Wächter nicht wagen, sich dir zu widersetzen. Dagegen habe ich keine Chance“, tut Argon beleidigt.
Das Mädchen streichelt Argon tröstend über den Arm. „Sei nicht traurig, Argon. Es gibt bestimmt auch etwas, das du gut kannst.“ Rumea überlegt angestrengt. „Mir fällt nur gerade nichts ein.“ Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern.
Ich lausche dem spielerischen Schlagabtausch der beiden gebannt und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Weißt du, Rumea, es zeugt nicht von Stärke etwas besonders gut zu können. Es zählt nur das, was hier drin ist.“ Ich lege meine Hand oberhalb meiner linken Brust.
„Du meinst das Herz?“, fragt Rumea vorsichtig. Ihre großen Augen bleiben neugierig auf Höhe meiner Hand haften.
„Ja, ich meine, dass das Herz das Stärkste ist, was ein Mensch besitzt. Die Liebe kann über allem stehen, wenn man es zulässt. Wenn man kein gutes Herz hat, bringt einen auch das beste Talent nicht weiter. Verstehst du, was ich meine?“
Rumea nickt nachdenklich. Ihre Augen lösen sich langsam von meiner Hand. Auf einmal schwindet das Funkeln aus ihren Augen. Es sieht plötzlich so aus, als hätte sie den Spaß daran verloren, mit den Augen ihre Welt zu erkunden. Als hätte sich etwas Dunkles über ihre Augenlider gelegt. Ein trauriger Schatten breitet sich über ihrem Gesicht aus.
Betreten senkt sie ihren Blick. „Mein Vater hat ein großes Herz.“ Als sie ihren Kopf wieder anhebt, schimmern Tränen in ihren Augen auf. „Ich vermisse ihn so sehr. Argon hat mir versprochen, mich wieder zu ihm zu bringen, wenn das hier vorbei ist. Argon hat gesagt, wir machen nur vorher einen kleinen Ausflug. Dann bringt er mich wieder nach Hause.“
Bei ihren Worten fühlt sich mein Herz auf einmal so schwer an wie Stein. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen.
„Es…es tut mir so leid. Ich wollte nicht…“
Argons ruhige, aber beherrschte Stimme durchbricht mein unsicheres Gestammel. „Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Louisa.“ Argon rutscht vorsichtig näher zu Rumea heran und legt beschützend seinen Arm um das weinende Mädchen. Er dreht den Kopf zu mir herum, ohne seine zugewandte Haltung zu ändern.
Dann spricht er so leise, dass nur ich ihn verstehen kann: „Sie hat eine schwierige Zeit hinter sich. Ich kenne ihren Vater schon lange. In Eritima waren wir Wüstenwanderer. Wir waren oft tagelang ununterbrochen unterwegs, stets auf der Suche nach einer Quelle, die uns Rohstoffe bietet. Wir waren da draußen in der unendlichen Weite der Wüste auf uns alleine gestellt und hatten nur den nötigsten Proviant dabei. Wir waren gezwungen, uns auf unseren Reisen durch die Wüste gegenseitig unser Leben anzuvertrauen. Ihr Vater vertraut mir und das ist auch der einzige Grund, warum sie mir vertraut. Ich bin ihre einzige Bezugsperson hier. Ich muss sie beschützen.“
„Das ist eine große Verantwortung“, antworte ich mitgenommen, während ich mit meinem Fingernagel an dem Holz unter mir knibble. Ich fühle mich immer noch schlecht, weil ich Rumea mit meinen Worten zum Weinen gebracht habe. „Habt ihr je eine Quelle gefunden?“
Argon schaut betrübt drein. „Wenn wir eine gefunden hätten, wären wir nicht hier. Glaub mir, ich habe in den letzten Jahren jedes Sandkorn umgedreht. Aber die Wüste ist unergründlich. Jeden Tag, an dem wir in der Wüste erwachten, schien es so, als hätte sie sich über Nacht verändert. Es gab dort draußen keinen Pfad, dem wir folgen konnten. Irgendwann haben wir gelernt, die Zeichen der Natur zu lesen und uns an ihnen zu orientieren. Trotzdem war es meistens mehr dem Glück als unserem Verstand zu danken, wenn wir wieder nach Hause zu unseren Familien fanden. In der Wüste haben wir bereits so viele gute Männer verloren.“
Argon schnauft ergriffen und senkt den Blick.
„Ich wusste nicht, dass die Ressourcenverteilung in den Zonen so unterschiedlich ist. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schlimm das Leben für euch an diesem Ort gewesen sein muss. Es tut mir so unfassbar leid, was ihr durchmachen musstet“, äußere ich benommen und traue mich nicht, ihm in die Augen zu schauen. Meine Sorgen kommen mir auf einmal so lächerlich vor.
Was ist ein gebrochenes Herz im Vergleich zu so einem Leben?
„Louisa, du musst dich nicht für etwas entschuldigen, für das dich keine Schuld trifft.“ Argon schaut mich nun eindringlich an. „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Ich weiß, du kennst sie noch nicht lange und vermutlich ist es zu viel verlangt, diese Frage zu stellen, aber Rumea lässt nicht jeden an sich heran. Dich scheint sie zu mögen. Kannst du mir dabei helfen, auf sie aufzupassen?“
Ich zögere keine Sekunde. „Aber natürlich!“, erwidere ich mit einem Lächeln. „Ich mag sie wirklich gern.“
Als hätte sie meine Worte wahrgenommen, hören die Schultern des kleinen Mädchens auf einmal auf zu beben. Sie wischt sich mit ihrem Handrücken über ihr Gesicht und schnieft laut hörbar. Ihre gläsernen Augen schweifen an mir vorbei. Vorsichtig hebt sie eine Hand und zeigt durch die Beine der um uns versammelten Menschen.
„Was ist das?“, fragt sie zögernd. Ihre gebrechliche Stimme birgt einen Schimmer von Neugier unter sich.
Ich will mich gerade umdrehen, als sich ein zierliches Fiepen zu mir vorarbeitet. Im nächsten Moment tapst Chico in mein Sichtfeld und legt seinen Kopf auf den Schoß des kleinen Mädchens ab.
Ich lächle. „Das ist Chico. Ein guter Freund von mir.“
Rumeas Augen beginnen zu leuchten, als sie sanft über Chicos Fell streichelt.
Im nächsten Moment geht plötzlich ein kräftiger Ruck durch den Zug. Ich werde von der ungeahnten Kraft zu Boden gerissen. Zwischen den aufgeregten Rufen der Menschen, höre ich nun deutlich das Zischen der Bremsen. Wir sind da.
Ich stoße einen der zehn Soldaten aus Uthelias Garde grob vor mir her. Angestrengt versucht er sich aus meiner Umklammerung zu winden. Doch als er merkt, dass seine Bemühungen nicht zielführend sind, gibt er meinem Drängen schließlich nach.
Bewusstlos waren mir diese Barbaren eindeutig lieber. Aber so lange sie in diesem geknebelten und gefesselten Zustand sind, kann ich ihre Gesellschaft gerade noch ertragen. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir uns schon während der Fahrt nach Krytos ihren Körpern entledigt. Ihre kaltherzigen Handlungen haben mir offenbart, dass die Soldaten keine Seele zu haben scheinen. Und wer scherrt sich schon um einen seelenlosen Körper? Ich hätte sie einfach bei voller Geschwindigkeit aus dem Zug geworfen. Doch Peter hatte den Vorschlag geäußert, sie als Gefangene zu halten. Sie seien schließlich die Einzigen, die über Uthelias böswilligen Plan Bescheid wussten. Ich habe Peters Idee für gut befunden. Nur aus diesem Grund sind diese Schandgestalten noch am Leben. Vielleicht können wir uns ihr Wissen tatsächlich noch zu Nutze machen, um Krytos vor der Eliminierung zu bewahren.
Der Soldat stolpert beinahe, als er die Stufe zum Bahnsteig verfehlt. Stöhnend ziehe ich seinen schweren Körper wieder zu mir heran, bevor er seinen Fuß schließlich auf dem steinigen Untergrund absetzt.
Ich trete unmittelbar hinter dem Soldaten nach draußen auf den Bahnsteig. Gierig sauge ich die frische Luft durch meinen ausgetrockneten Mund hindurch und atme sie tief in meine Lungen ein.
Erst dann trete ich aus dem Schatten des Zuges heraus, um den Menschen, die hinter mir aus dem Zug strömen, ausreichend Platz zu gewähren. Die Augen der Bewohner Eritimas weiten sich, als sie die ihnen fremde Umgebung das erste Mal ergründen.
„Schaut euch ruhig um, aber bleibt in der Nähe und lasst die Gefangenen nicht aus den Augen!“ weise ich die Eritimaner an, die alle zustimmend nicken. Es scheint, als hätten sie vor Aufregung ihre Stimmen verloren.
Unruhig schaue ich mich in dem Getümmel um und entdecke schließlich Louisa, die mit Chico auf dem Arm, dem kleinen Mädchen und einem jungen Mann aus Eritima aus dem Zug steigt.
„Kannst du den hier mal kurz übernehmen?“, spreche ich einen kräftigen Mann aus Eritima an, der meiner Anweisung ohne zu zögern nachkommt und den Soldaten unter seine Fittiche nimmt. „Danke“, sage ich noch beiläufig, bevor ich mich an ihm vorbeidränge, um mich zu Louisa vorzuarbeiten.
Als Louisa mich in der Menge auf sie zulaufen sieht, bleibt sie unvermittelt stehen. Ich beobachte, wie sie sich zu dem kleinen Mädchen herunterbeugt und ihr eine Strähne hinter ihr Ohr streicht. Louisas Lippen bewegen sich und das kleine Mädchen nickt langsam mit ihrem Kopf. Als hätte Louisa es ihr aufgetragen, greift das Mädchen im nächsten Moment die Hand des Mannes neben sich. Auch wenn ich weiß, dass es nicht der Vater der Kleinen sein kann, wirken die beiden sehr vertraut. Louisa erhebt sich, richtet ein Wort an den Mann neben sich und kommt dann strammen Schrittes auf mich zugelaufen.
Chico drückt sich mit seinen Pfoten von Louisas Brust ab, während er seinen Kopf aufgeregt in meine Richtung streckt. Louisa ist sichtlich bemüht, Chico festzuhalten, damit er ihr nicht aus den Armen hüpft.
„Er kann es scheinbar kaum abwarten, wieder bei dir zu sein.“ Louisa legt ihre Hände unter Chicos Bauch, hebt seinen Körper behutsam an und streckt ihn in meine Richtung. Chico baumelt mit ausgestreckten, zappelnden Pfoten vor mir in der Luft.
Doch statt ihn entgegenzunehmen, strecke ich abwehrend meine Hände vor ihm aus. „Auch wenn Chico manchmal so tut, als hätte er keine Beine. Ich weiß definitiv, dass er welche hat, und er weiß auch ganz genau, wie er sie benutzen kann. Nur weil er sich nicht gerne bewegt, heißt das nicht, dass wir ihn den ganzen Tag tragen müssen. Setz ihn ruhig auf dem Boden ab. Er hat in den letzten Tagen ordentlich zugelegt. Etwas Bewegung tut ihm gut.“
Chico zieht eine beleidigte Schnute und lässt seine Pfoten langsam schlaff an seinem Körper runterhängen.
„Tut mir leid, Chico.“ Louisa zuckt entschuldigend mit den Schultern und setzt Chico dann auf dem Boden ab. Als wisse Chico nichts mehr mit seiner alten Umgebung anzufangen, bleibt er genau an der Stelle sitzen, an der Louisa ihn abgesetzt hat und starrt schmollend in meine Richtung.
Ich wende mich an Louisa. „Hast du die anderen gesehen? Ich habe in dem Gedränge den Überblick verloren.“ Ich will es möglichst vermeiden, unsere Zeit mit einer belanglosen Konversation zu vertrödeln.
Louisa atmet schwer aus. „Sorelia und Peter habe ich schon in dem Trubel im Waggon aus den Augen verloren, aber sie können ja kaum weit sein. Elysa steht dort drüben und unterhält sich mit meinen Eltern und…“ Plötzlich weiten sich Louisas Augen. Sie schüttelt aufgeregt an meinem Arm. „Vaaston steigt gerade aus, schnell, wir müssen ihn über die Ereignisse der letzten Tage in Kenntnis setzen. Der Arme hat in seiner Fahrerkabine vermutlich gar nichts mitbekommen.“
Ich drehe mich augenblicklich um.
Vaastons verkümmerte Gestalt gleicht eher der eines Toten, als eines Lebenden. Seine Silhouette wirkt so unscheinbar, dass sie in den trüben Nebelschwaden, die über dem Bahnsteig liegen, beinahe untergeht. Schwerfällig steigt er die Stufen der Fahrerkabine herab. Er zittert dabei so sehr, dass ich befürchte, er könne jeden Moment stürzen. Seine Hände umklammern die seitlich angebrachten Griffe so fest, dass seine Fingerknöchel deutlich hervorstehen.
„Ja, du hast recht. Wir sollten ihn besser einweihen. Komm mit“, fordere ich Louisa auf. „Die anderen können wir später noch suchen.“
Hastig laufen wir zu Vaaston. Chico versucht angestrengt mit unserem Tempo mitzuhalten. Dabei japst er unüberhörbar.
„Hey, Vaaston!“, rufe ich ihm zu, als er in Reichweite ist.
Vaastons Kopf, der bisher nur dem Boden zugewandt war, fährt schlagartig zu mir herum. In seinem Gesicht spiegelt sich vermutlich nur ein Bruchteil der Verwirrung wider, die gerade in seinem Kopf herrschen muss.
„Tyran, Louisa.“ Er flüstert unsere Namen kaum hörbar vor sich hin. Er schaut sich verunsichert um. „Was…was ist hier los? Die ganze Fahrt über habe ich nicht verstanden, was vor sich geht. Wie habt ihr die ganzen Menschen…?“ Vaastons Stimme bricht.
Louisa schaut unschlüssig zwischen Vaaston und mir hin und her. Schließlich setzt sie an: „Es ist alles gut. Wir haben…-“.
Ich hebe meine Hand, um Louisa zum Schweigen zu bringen. Ich ahne, dass ihre Erzählungen sonst wieder ins Unermessliche ausschweifen. „Keine Zeit für lange Erklärungen“, führe ich ihren Satz notdürftig zu Ende.
„Tyran, das kann nicht dein Ernst sein?“, zischt Louisa in meine Richtung. „Siehst du nicht, wie verwirrt er ist? Er war tagelang alleine in dieser Kabine eingepfercht. Er verdient eine vernünftige Erklärung!“
Ich schaue Vaaston nun direkt in die müden Augen. Doch er erwidert meinen Blick nicht. Es wirkt beinahe so, als hätte er sich während der Fahrt selbst verloren. Ungeduldig sehe ich mich nach den anderen um. Mittlerweile haben sich alle Reisenden auf dem Bahnhof eingefunden. Die anfängliche Aufruhr scheint verflogen zu sein. Ruhig, ja beinahe gelassen stehen die Eritimaner beieinander und lassen die neue Umgebung auf sich wirken.
Ich drehe mich seufzend um. „Nun gut, aber nur die Kurzfassung“, gebe ich nach. Louisa rollt mit den Augen, aber davon lasse ich mich nicht beirren.
Ich gehe einen Schritt zurück, so dass Vaaston freien Blick auf die Menschenansammlung auf dem Bahnsteig hat. „Wir haben diese Menschen aus Eritima gerettet, die Soldaten während der Fahrt überwältigt und haben beschlossen, Uthelias Plan zu durchkreuzen. Dafür müssen wir uns aber erstmal einen Überblick verschaffen, was in unserer Abwesenheit hier passiert ist. Reicht das fürs Erste?“, dränge ich ungeduldig.
„Ich verstehe nicht ganz…-“, will Vaaston erwidern, doch ich lasse ihn nicht ausreden.
„Lasst uns erstmal aufbrechen. Den Rest können wir dir noch unterwegs erklären.“ Ich will mich gerade in Bewegung setzen, aber Vaaston hält mich zurück.
„Tyran!“ Vaastons plötzlicher panischer Ausdruck in den Augen jagt mir Angst ein. „Hast du dich überhaupt schon einmal richtig umgesehen?“, fragt er unruhig, während er seinen Kopf langsam zum Himmel ausrichtet. „Hier stimmt irgendetwas nicht.“
„Was meinst du?“, frage ich verwirrt.
„Schau doch“, entgegnet Vaaston, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden. Er streckt seinen zittrigen Arm in die Höhe. Als meine Augen den Himmel erfassen, bleibt mir der nächste Atemzug im Halse stecken.
Unsicher folge ich Tyrans Blick. Eine gigantische Wolkendecke nimmt den Himmel gänzlich ein. Ich kann weder ihren Anfang noch ihr Ende ausmachen. Es sieht aus, als würde ihr dunkles Gewand ganz Krytos unter sich begraben. Die Sonnenstrahlen, die sich von außen gegen die dichte Schicht drängen, hinterlassen kleine weiße Risse in dem tintenblauen Überzug. Der Anblick strahlt eine Kraft aus, die mir unheimlich erscheint. Über unseren Köpfen beginnt sich ein schwärzlicher Wolkenschleier im Kreis zu winden, der immer mehr der umliegenden Wolken in sich verschluckt.
Verängstigt trete ich einen Schritt an Tyran heran. „Ist das, was da oben vor sich geht, in Krytos normal?“
Tyran wendet schlagartig seinen Kopf vom Himmel ab, als sei er erst durch meine Worte zurück in die Realität befördert worden. Seine sonst so kontrollierten Gesichtszüge sind ihm entglitten. Ein Ausdruck von Angst schimmert in seinen Augen auf.
„Nein, das ist es definitiv nicht. So etwas habe ich in Krytos noch nie gesehen“, entgegnet Tyran besorgt. „Wir sollten zurück zu den anderen gehen und dann nach Nepos aufbrechen. Wir müssen unsere Familien finden und dann einen sicheren Unterschlupf für alle organisieren.“ Tyran wippt nervös von einem Fuß auf den anderen, während er sich ungeduldig umschaut.
„Okay, du hast vermutlich recht. Lasst uns hier verschwinden“, willige ich ein. Ich gehe auf Vaaston zu, der immer noch verwirrt dreinblickt und hake mich bei ihm unter. Dann werfe ich ihm ein ermutigendes Lächeln zu. „Ich helfe dir.“
Tyran läuft eiligen Schrittes voran, so dass ich Mühe habe mit Vaaston an meiner Seite Anschluss zu finden. Chico tapst mit seinen kurzen Beinchen direkt hinter Tyran her. Zwischendurch schaut Chico sich immer wieder nach uns um, als würde er sichergehen wollen, dass wir mithalten.
Auf halber Strecke kommt uns plötzlich Elysa aus der Menge entgegengelaufen. „Habt ihr den Himmel gesehen?“, japst sie aufgewühlt, als sie uns erreicht.
Tyran nickt nur benommen, macht aber keine Anstalten seinen schnellen Gang zu entschleunigen. Elysa schließt daher auf gleicher Höhe zu ihm auf.
„Was hat das zu bedeuten?“, höre ich sie fragen.
„Ich weiß es nicht“, entgegnet Tyran trocken.
„Meinst du, das ist bereits Teil von Uthelias Plan? Der Himmel verhält sich doch nicht normal. Vielleicht hat sie die Zentrale bereits unter Kontrolle und beginnt mit der Eliminierung von Krytos.“
Ich kann ihrem hektischen Redefluss kaum folgen. Mühsam versuche ich mit Vaaston Schritt zu halten, um kein Wort ihrer Unterhaltung zu verpassen. Ihm scheint es schon wieder deutlich besser zu gehen, denn er leistet meiner rascheren Schrittabfolge keinen Widerstand. Und so laufen wir fast in Tyran hinein, als er Elysa schlagartig zum Stoppen bringt.
„Was machst du denn?“, empört sich Elysa, während sie versucht ihren Arm aus Tyrans Umklammerung zu ziehen.
Tyran dreht seinen Kopf zu Vaaston und mir herum. „Ihr solltet zu den anderen gehen“, spricht er mit harschem Tonfall. „Wir kommen sofort nach.“
Ich schaue unsicher zu Elysa, die mir mit einem leichten Nicken zu verstehen gibt, dass ich Tyrans Aufforderung besser nachkommen sollte. „Okay, wir warten dann auf euch“, gebe ich zögernd zurück und gehe mit Vaaston an den beiden vorbei. Doch als Tyran seine Aufmerksamkeit wieder Elysa zuwendet, verlangsame ich meine Bewegungen, so dass wir uns kaum von der Stelle rühren.
„Was machst du denn?“, flüstert Vaaston mir zu. „Du hast Tyran doch gehört, wir sollen…-“
„Pssst“, unterbreche ich ihn und versuche angestrengt Tyrans Worten zu folgen, die er in diesem Moment an Elysa richtet.
„Elysa, tu mir einen Gefallen und hör auf, dir anhand von Vermutungen und Anmaßungen irgendetwas zusammenzuspinnen. Wir sind gerade erst angekommen und müssen Ruhe bewahren. Wir haben die Verantwortung für all diese Menschen hier. Eine Panikwelle ist das letzte, was wir jetzt gebrauchen können. Halte dich einfach zurück und verbreite keine Unruhen!“
„Aber wir können ihnen doch nichts vorspielen! Irgendetwas stimmt hier nicht. Das ist doch nicht zu übersehen!“, wendet Elysa aufgebracht ein. „Sie haben schon so viel durchgemacht. Ich werde ihnen garantiert nicht noch mehr Lügen auftischen!“
„Elysa, warte doch…“, setzt Tyran an, aber schon im nächsten Moment zischt sie wütend an uns vorbei.
„Verdammt!“, höre ich ihn fluchen. Er dreht sich zu uns um. Sofort spüre ich seinen zornigen Blick auf mir ruhen. „Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt schonmal vorgehen?“ Tyran schüttelt verärgert den Kopf und zieht dann hastig an uns vorbei.
Ein Gefühl des Unwohlseins nistet sich wie ein schwerer Stein in meinem Bauch ein. „Ich hätte nicht lauschen sollen“, gebe ich betreten zu, als Tyran außer Hörweite ist.
„Mach dir keinen Kopf“, versucht Vaaston mich aufzumuntern. „Es ist alles zu viel, auch für ihn. Der kriegt sich wieder ein.“
Ich streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Du kennst ihn wesentlich besser als ich. Ich hoffe nur, du behältst mit deiner Aussage recht.“
„Fiep.“ Chico schaut mit schrägem Kopf zu uns auf.
„Du hast recht, Chico“, deute ich seinen Blick. „Wir sollten zurück zu den anderen gehen und endlich aufbrechen.“
„Lass ruhig“, winkt Vaaston ab, als ich mich erneut bei ihm unterhaken will. „Es geht schon wieder. Ich kann ab jetzt alleine gehen.“
„Bist du sicher?“
Vaaston schmunzelt, als er meinen bekümmerten Blick auffängt. „Es ist wirklich charmant von dir Louisa, aber mir geht es wirklich gut und meine Beine funktionieren einwandfrei, also tu dem alten Mann einen Gefallen und lass ihn eigenständig gehen.“
„In Ordnung“, gebe ich nach und lasse von ihm ab.
Langsam schließen wir zu den anderen auf, die sich in einem Kreis um Tyran versammelt haben, der die nächsten Anweisungen geben möchte. Auf der gegenüberliegenden Seite entdecke ich endlich Peter und Sorelia. Lächelnd winke ich ihnen zu. Erst als Peter seine Hand hebt um mir zurückzuwinken, fällt mir auf, dass seine andere Hand die von Sorelia umfasst.
Als Louisa und Vaaston sich schließlich als letzte in den Kreis einordnen, räuspere ich mich. Die vielen Augenpaare, die schlagartig auf mich gerichtet werden, fühlen sich wie Nadeln an, die sich tief unter meine Haut bohren. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre ich solch einer Situation einfach entflohen. Aber diese Zeiten sind vorbei. Ich werde mich an die Aufmerksamkeit gewöhnen müssen, wenn ich diese Gruppe anführen will. Wenn ich uns allen eine Zukunft ermöglichen will.
Unsicher trete ich einen Schritt nach vorne. „Ich weiß, dass ihr von den Strapazen der letzten Tage und der langen Reise müde seid. Aber wir haben keine Zeit uns auszuruhen. Wir müssen wachsam bleiben. Wir wissen nicht, was uns hier in Krytos erwartet. Hinter jeder Ecke könnte ein Wächter oder eine andere Gefahr lauern. Ich möchte daher, dass ihr eng zusammenbleibt. Wechselt euch beim Bewachen der Soldaten ab, damit es nicht zu anstrengend für euch wird. Glaubt mir, ihr Leben scherrt mich grundsätzlich nicht, aber von ihrem Überleben hängt auch unseres ab. Wir brauchen ihr Wissen über Uthelias Plan. Elysa und ich werden euch nach Nepos führen. Die Stadt ist fußläufig in weniger als einer Stunde zu erreichen.“ Ich schaue mich in der Runde um. „Gibt es noch Fragen?“
Ein stämmiger Mann mit einem angeschwollenen Auge tritt einen Schritt in den Kreis hinein.
„Wäre es nicht sinnvoll, die übrigen Vorräte aus dem Zug mitzunehmen? Ich erinnere nur ungern daran, aber wir haben in Eritima miterleben müssen, wozu die Menschen imstande sind, wenn sie Hunger leiden.“
„Das ist ein guter Einwand,…“, setze ich an, zögere dann aber, weil mir auffällt, dass ich den Namen des Mannes noch gar nicht kenne.
„Berin“, ergänzt der Mann meinen Satz.
„Danke, Berin. Sorelia und Peter, nehmt euch fünf weitere Leute, geht zurück in den Zug und packt alles zusammen, was ihr tragen könnt. Die übrigen Lebensmittel lassen wir zurück und holen sie zu einem späteren Zeitpunkt. Ich will nicht, dass wir uns zu viel Ballast zumuten. Zudem könnten die Lebensmittel einen Arox oder im schlimmsten Fall einen Wächter anlocken. Wir dürfen nichts riskieren.“
„In Ordnung“, willigt Peter ein. „Wir kümmern uns darum.“
„Vielen Dank.“ Berin nickt zufrieden und ordnet sich wieder in die Reihe ein.
Ich schaue in die Runde. „Sonst noch Unklarheiten?“ Keiner der Anwesenden tritt nach vorne. „Gut, in fünf Minuten brechen wir auf. Keine Sekunde später. Wir haben schon zu viel Zeit verloren. Bis Sonnenuntergang müssen wir einen sicheren Schlafplatz für euch alle gefunden haben.“ Aufmerksam beobachte ich, wie der geordnete Menschenkreis langsam auseinanderströmt.
Peter und Sorelia verschwinden mit fünf Männern aus Eritima im Zug, während die anderen sich in kleinen Grüppchen zusammenfinden. Ich weiß mich in der Situation nicht einzuordnen und verharre starr in meiner Position, ohne mich von der Stelle zu rühren.
Am anderen Ende des Bahnsteigs entdecke ich schließlich Elysa, die mir den Rücken zukehrt und ihren Blick in die Ferne schweifen lässt. Ich seufze und beschließe, die verbleibenden Minuten dafür zu nutzen, ein klärendes Gespräch mit ihr zu führen. Wir müssen zusammenhalten, wenn wir das hier überstehen wollen.
Durch die grauen Betonplatten zu meinen Füßen ziehen sich tiefe Risse. Teilweise haben sich die Platten bereits so verschoben, dass die abgebrochenen Teilstücke spitz in die Höhe ragen. Durch die dicke Schneeschicht sind die gefährlichen Stolperfallen kaum zu erkennen. Ich laufe an dem kleinen Lagerhäuschen vorbei, das durch die Witterungsbedingungen in Krytos deutlich mitgenommen wirkt.
Die senkrecht angebrachten Holzbretter haben ihre natürliche Farbintensität schon vor Jahren verloren. Zurückgeblieben ist ein tristes Matt. Zahlreiche Risse ziehen sich durch das morsche Holz. In den Mulden zwischen den Brettern liegt eine dünne Moosschicht, auf der sich kleine Eiskristalle gebildet haben. Das Dach reicht etwa einen Meter über das Gebäude hinaus und wird durch seitlich angelegte Balken gestützt. Am unteren Ende des Daches sprießen aneinandergereihte Eiszapfen dem Boden entgegen. Insgesamt macht das Lagerhaus keinen besonders stabilen Eindruck mehr. Aber für die Zwischenlagerung unserer Lieferungen für den Transport zu den anderen Zonen hat es in der Vergangenheit allemal gereicht.
Nun aber sind die auf Bauchhöhe angelegten Fenster eingeschlagen. Die Glasfragmente, die noch in den hölzernen Fensterrahmen hängen, ragen scharfkantig ins Leere. In der Mitte der Fenster befindet sich ein großes Loch, durch das Eindringlinge in das Lagerhaus hineingelangt sein müssen.
Ich höre den Wind im Inneren des Gebäudes sein Unwesen treiben. Sein langgezogenes Heulen, kombiniert mit dem Klappern loser Holzbretter, die immer wieder in ihre Fugen zurückschnellen, verleiht dem leerstehenden Gebäude eine gespenstische Wirkung.
„Was willst du hier?“, faucht Elysa mich an, ohne sich nach mir umzudrehen.
Ich lasse bewusst etwas Abstand zu ihr. Schweigend folge ich ihrem Blick in die Ferne. Ich verschränke meine Arme hinter meinem Rücken und bemühe mich um einen möglichst aufrechten Stand.
Erst als ich das bedrückende Gefühl habe, die Stille nicht eine Sekunde länger ertragen zu können, erhebe ich vorsichtig meine Stimme. „Wir müssen die Menschen gemeinsam nach Nepos führen. Es ist nicht die Zeit, sich wegen etwas Belanglosem zu streiten. Das birgt nur negative Schwingungen, die wir jetzt nicht gebrauchen können. Wir müssen sie mit Stärke leiten.“
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Elysa ihre Arme vor der Brust verschränkt. „Belanglos nennst du das also?“ Sie betont das Wort `belanglos´ mit einer Verachtung in ihrer Stimme, die mich meine Wortwahl augenblicklich bereuen lässt.
„So meinte ich das nicht. Ich…-“, will ich ausholen, doch Elysa kommt mir zuvor.
„Wie meintest du es denn dann?“ Sie dreht ihren Kopf zu mir herum, so dass ich ihre innere Wut nun auch deutlich ihrem verzogenen Gesichtsausdruck entnehmen kann. Ihre rechte Augenbraue schnellt abwartend in die Höhe. Verzweifelt gehe ich in meinem Kopf die Wörter durch, die ich erwidern kann, ohne dass sie mir gleich an die Gurgel geht.
Ich schnaufe angestrengt. „Es tut mir leid. Ich hätte dir nicht vorschreiben sollen, was du zu tun hast. Ich habe nur Angst davor zu scheitern. Davor, einen Fehler zu machen. Diese Menschen haben sich uns angeschlossen, weil wir ihre letzte Hoffnung auf ein Leben in Freiheit sind. Was ist, wenn wir es nicht so weit schaffen? Ich weiß nicht, wie wir Uthelia aufhalten sollen. Wir wissen eigentlich gar nichts. Was ist, wenn unser Plan, sie aufzuhalten, nicht funktioniert?“
Elysas versteifter Blick weicht unter meinen Worten langsam auf. „Ach, Tyran.“ Sanft streicht sie mit ihrem Handrücken über meine Wange. Meine Haut beginnt unter ihrer Berührung zu prickeln. „Du machst dir viel zu viele Gedanken über die Zukunft. Lass uns erstmal das Hier und Jetzt bewältigen. Über alles andere machen wir uns Gedanken, wenn wir so weit sind. Du kannst dir nicht die Verantwortung für all diese Menschen aufbürden. Das ist selbst für dich zu viel.“ Sie lässt die Hand von meinem Gesicht gleiten und schaut mich nun ernst an. „Keiner erwartet von dir, dass du uns die Lösung für all die Probleme aufzeigst, für die du nicht verantwortlich bist. Schuld sind die Menschen vor Meridion, die uns durch ihre nachlässige Lebensweise in dieses System gezwungen haben. Und Menschen wie Uthelia, die den Sinn dieses Systems entfremden, indem sie es für ihren eigenen Nutzen missbrauchen. Wir alle werden zusammen diesen Weg gehen. Da gibt es kein `DU´ oder ein `ICH´. Da gibt es nur ein `WIR´.“ Elysa greift nach meiner Hand und drückt sie fest.
Ich schaue betroffen zu Boden. „Danke“, ist die einzige Antwort, die ich über die Lippen bringe. Ihre Worte bringen mich in Verlegenheit. Vor ihr will ich der starke tapfere Tyran sein, der sie beschützen kann und sich vor nichts fürchtet. Aber Elysa kennt mich mittlerweile zu gut. Es ist, als könnte sie in mein Herz hineinsehen und das aussprechen, was sich in ihm abspielt. Das, was ich versuche in mir verborgen zu halten, stülpt sie ungefragt nach außen. Es ist eine Gabe, die ich einerseits schätze und andererseits fürchte.
Ich bin fast dankbar, als sich im nächsten Moment Peters Stimme hinter uns erhebt. „Wir haben alles zusammen. Die anderen werden allmählich unruhig und fragen, wann wir endlich aufbrechen.“
Ich drehe mich zu ihm herum. Elysa lässt ihre Hand schlagartig aus meiner gleiten. Es fühlt sich an, als hätte sie durch das Zurückziehen ihrer Hand eine Mauer zwischen uns hochgezogen. Unsere körperliche Trennung bringt mich kurz aus dem Konzept. Ich falte meine Hand zu einer Faust, um wieder das Gefühl für meinen eigenen Körper zu bekommen.
Schließlich wende ich mich Peter zu. „Du kannst ihnen sagen, dass wir jeden Moment aufbrechen. Sie sollen zu uns kommen. Nepos liegt in dieser Richtung.“ Ich zeige mit meiner Hand geradeaus.
„Okay, ich sage ihnen Bescheid.“ Peter macht auf dem Absatz kehrt und geht zu der Gruppe zurück.
„Dann ist es wohl soweit. Kein Zurück mehr“, sage ich an Elysa gewandt.
„Ja, kein Zurück mehr“, wiederholt sie meine Worte und atmet hörbar schwer aus. „Ich habe Angst vor dem, was uns in Nepos erwartet.“
„Das haben wir alle“, flüstere ich kaum hörbar und richte meinen Blick erneut in die Ferne.
Zwischen dem dichten Schneetreiben erkenne ich bereits die Umrisse der Gebäude, die in ihrem Gesamtbild zu der Stadt zusammenfließen, die ich einst so gut gekannt habe.
Nepos. Die Stadt des wilden Treibens und des heiteren Getratsches. Dem wilden Treiben bin ich bisher möglichst aus dem Weg gegangen und das heitere Getratsche wollte ich nicht zu meinen Ohren durchdringen lassen. Nun würde ich mir nichts sehnlicher wünschen, als genau das dort wiederzufinden.
Schnee – so nennen sie diese pulvrige weiße Substanz, von der es hier in Krytos nur so wimmelt. Wachsam stapfe ich hinter den anderen her. Dabei versuche ich möglichst in ihre hinterlassenen Fußspuren zu treten, um nicht bei jedem Schritt immer wieder aufs Neue im Schnee zu versacken. Leider waren im Zug keine Stiefel gelagert, so dass ich mit meinen herkömmlichen Stoffschuhen auskommen muss. Eine unangenehme Nässe dringt von unten durch meine viel zu dünne Sohle. Durch die anhaltende Kälte werden meine Füße allmählich taub. Jeder Schritt ist mit Schmerzen verbunden.
Tyran hat uns bereits während der Fahrt erklärt, auf welche neue Umgebung wir uns einstellen müssen. Er sagte zudem, dass Schnee nichts anderes sei als gefrorenes Wasser. In meinen Vorstellungen verfestigte sich bei seinen Worten der Gedanke, dass Krytos quasi nur die gefrorene Variante von Adurnis sei. Aber dass sich Kälte so schlimm anfühlen kann, hätte ich nicht erwartet.
Ich spüre mein Gesicht kaum noch. Meine Nase läuft unnachgiebig und meine Augen tränen unter dem Einfluss des eisigen Windes. Meine Zähne klappern ungebändigt aufeinander. Ich streiche mit meiner Zunge über meine vor Kälte bibbernden Lippen, um sie zu befeuchten. Meine Finger sind klamm gefroren. Als ich versuche meinen Zeigefinger zu beugen, spüre ich, wie sich ein schmerzhaftes prickelndes Gefühl durch ihn hindurch zieht. Am ganzen Körper zitternd, winde ich den Mantel noch enger um meinen Körper. Anschließend rücke ich die Kapuze über meinem Kopf zurecht, so dass sie auch Teile meines Gesichtes mit ihrer weichen Fütterung umschmiegt.
Warum nur habe ich meine Eltern so kaltherzig abgewiesen, als sie sich vor wenigen Minuten nach meinem Befinden erkundigten? Ich bereue, dass ich so gereizt reagiert habe. Ja, ich habe den Entschluss gefasst, eigenständiger zu werden, aber gehe ich mit meiner Sturheit womöglich zu weit? Nun sehne ich mich nach den trostspendenden Worten meiner Mutter und den wärmenden Umarmungen meines Vaters.
Ich fluche, als ich über meine eigenen Beine stolpere.
„Du siehst etwas unbeholfen aus. Kommst du zurecht?“ Die Stimme dringt nur gedämpft durch die dicke Fellschicht, die meine Ohren unter sich schützt.
Ich muss meinen Kopf mühsam zur Seite wenden, um die männliche Stimme seinem Besitzer zuzuordnen. „Arg---g---gon“, bringe ich angestrengt über meine steifgefrorenen Lippen.
Eng in seinen Armen eingekuschelt, entdecke ich das kleine Mädchen Rumea. Ihr Kopf lehnt auf der starken Brust von Argon, die sich in regelmäßigen Abständen hebt und senkt. Ihre Wangen sind leicht gerötet. Ihr lockiges Haar umspielt ihr friedlich wirkendes Gesicht. Sie trägt eine braune Fellmütze, die für ihren zierlichen Kopf viel zu groß erscheint. An den seitlichen Enden ist die Mütze so genäht, dass sie die Ohren des kleinen Mädchens vollständig bedeckt. Ihre Augen sind geschlossen. Ein sanftes Lächeln umspielt ihren Mund. Es sieht so aus, als würde sie gerade einen schönen Traum durchleben.
Ich spüre, wie ich beim Anblick von Rumeas schlummerndem Körper innerlich ruhiger werde. Sie bringt etwas Harmonie in die für mich so herausfordernde neue Situation.
„Ach herrje, Louisa. Ich glaube, dir bekommt die Kälte nicht gut. Du bist schon ganz blau angelaufen“, äußert Argon besorgt. Als hätten erst seine Worte mich wieder zurück in die Realität geholt, durchzieht mich im nächsten Moment wieder ein eisiger Schauer, der meinen Körper steif werden lässt.
„G----g---geht schon. Ich k--k--komme zurecht“, winke ich stotternd ab.
Doch Argon hält mich mit seiner freien Hand zurück. „Warte, das kann ich nicht mit ansehen. Du erfrierst ja.“ Ohne seinen Griff um Rumeas Körper zu lockern, zieht er das Fell von seinen Schultern und streckt es mir entgegen.
„N--n--nein“, schlage ich seine gutmütige Geste aus. „Sonst frierst du doch.“
„Jetzt nimm schon. Wir beide halten uns gegenseitig warm.“ Er deutet mit dem Kinn Richtung Rumea. „Du brauchst es dringender als ich.“
„Danke, d---d---das ist wirklich nett von dir, Argon.“ Ich nehme das Fell entgegen, lege es über meine Schultern und ziehe oberhalb meiner Brust die beiden Enden fest zueinander. Eine erste Wirkung ist sofort spürbar. Die Wärme breitet sich langsam unter der zusätzlichen Schicht aus und lässt meinen erfrorenen Körper etwas auftauen.
„Besser?“, fragt mich Argon prüfend.
„Wesentlich besser.“ Ich grinse Argon an. Sein strahlend weißes Lächeln nimmt sein halbes Gesicht ein.
Verlegen wende ich meinen Kopf wieder nach vorne und konzentriere mich erneut darauf, die Fußabdrücke im Schnee zu treffen. „Ich hätte mir ja gerne Chico als Kuschelpartner gegriffen, aber der läuft ganz vorne mit Tyran. In meinem Schritttempo werde ich die beiden wohl nie einholen.“
„Da hast du wohl recht“, stimmt Argon mir schmunzelnd zu. Ich spüre, wie sein Blick seitlich auf mir ruht. „Warum bist du nicht bei deinen Freunden aus Adurnis?“
Seine direkte Frage kommt so unerwartet, dass ich für einen Moment inne halte. Wie viel will ich diesem Menschen anvertrauen, den ich erst seit ein paar Stunden kenne? Er ist aufmerksam und charmant, aber ich bin nach den Erfahrungen mit Mark nicht daran interessiert, eine tiefere Verbindung mit einem Mann einzugehen.
Argon scheint zu spüren, dass er mich mit seiner Frage verunsichert hat. Zögernd schiebt er hinterher: „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht ausfragen. Ich dachte nur, du willst vielleicht darüber reden.“
„Ist schon gut“, besänftige ich ihn. Ich will nicht, dass ihn wegen meiner zurückhaltenden Einstellung ein schlechtes Gewissen plagt. Er hat es nur gut gemeint.
Ich hole tief Luft. „Während die beiden in Morung waren, scheint etwas zwischen ihnen entstanden zu sein. Ich habe das Gefühl, sie wollen es vor mir verbergen und halten deshalb Abstand zu mir.“ Den Teil mit Mark lasse ich bewusst außen vor. Ich kenne Argon einfach noch nicht gut genug, um meinen schlimmsten inneren Schmerz mit ihm zu teilen. Es würde sich nicht richtig anfühlen.
„Ich verstehe. Das muss merkwürdig für dich sein. Aber du solltest spätestens bei unserer Ankunft in Nepos mit ihnen sprechen. Du brauchst deine Freunde nun dringender denn je. Und sie brauchen dich“, führt Argon aus.
„Ja, du hast recht“, seufze ich. „Ich werde mit ihnen sprechen, versprochen.“
„Du musst es mir nicht versprechen. Du musst für dich selbst entscheiden, was sich für dich richtig anfühlt.“ Mit diesem Satz beendet Argon unser Gespräch.
Schweigend laufen wir nebeneinander her. Doch es ist keineswegs unangenehm. Es fühlt sich eher so an, als würden wir beide die gesprochenen Worte des anderen im Stillen verarbeiten. Das dichte Schneetreiben und der undurchlässige Nebelschleier gewähren meinen Augen nur ein eingeschränktes Sichtfeld. Die Umrisse der beiden Personen, die vor uns herlaufen, kann ich mit meinen bloßen Augen noch erahnen. Doch alles was dahinter liegt, verläuft sich bereits im Nebelfeld.
Es fühlt sich an, als würden wir auf der Stelle laufen. Ich hoffe, dass Tyran und Elysa in dieser tristen Einöde nicht die Orientierung verlieren.