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MERKUR 10/2023 E-Book

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Beschreibung

Im Aufmacher analysiert Claudia Gatzka – nicht zuletzt mithilfe von Edward Said –, wie der Westen Deutschlands den "Osten" hervorgebracht hat und immer weiter hervorbringt. Christian Geulen fragt nach alten, "bundesrepublikanischen" Mustern in unserer gegenwärtigen Krisenwahrnehmung. Sophie und Christoph Schönberger untersuchen die "Rechtsfantasien" und "Reichsimaginationen" der Reichsbürger. In der Rechtskolumne fragt Florian Meinel nach möglichen guten und schlechten Gründen für die – aus seiner Sicht problematische – Gesetzgebungs-Entschleunigungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Ulrike Jureit liest Neuerscheinungen rund um Reinhart Koselleck und gießt ein wenig Wasser in den zum hundertsten Geburtstag des Historikers gereichten Wein. Thomas Steinfeld schließt sich den Grundsatzfragen zur Entwicklung der Literaturwissenschaften an, die Erhard Schüttpelz in seinem schmalen, aber gewichtigen Band "Deutland" stellt. Über "Nutzen und Nachteil monumentaler Demokratiegeschichtsschreibung" denkt der Historiker Manfred Hettling nach. Moritz Rudolph entwirft mit Tocqueville eine Skizze zum Anachronismus der Kritik am längst nicht mehr übermächtigen Westen. Sebastian Schwab setzt sich im Wiener Kaffeehaus mit Hans Kelsen zusammen oder auch auseinander. In David Gugerlis Schlusskolumne geht es um die Metapher der "Tabula rasa".

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Seitenzahl: 177

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 893, Oktober 2023, 77. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 4. September 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12177-3

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Claudia Gatzka: Geschichten wider den Osten

Christian Geulen: Bundesrepublikanismus

Überlegungen zur Vorgeschichte der Gegenwart

Christoph Schönberger; Sophie Schönberger: Die Reichsbürger

Eine Geschichte von Macht und Ohnmacht

KRITIK

Florian Meinel: Rechtskolumne

Notbremse gegen die Notstandslogik: Brauchen wir ein demokratisches Recht auf Entschleunigung?

Ulrike Jureit: Über die Unaufgeräumtheit der Geschichte

Zur Aktualität von Reinhart Koselleck

Thomas Steinfeld: »Eigentlich bin ich lieber Student als Professor«

Zu Erhard Schüttpelz’ »Deutland«

MARGINALIEN

Manfred Hettling: Nutzen und Nachteil monumentalischer Demokratiegeschichte

Moritz Rudolph: Tocqueville global. Das Phantom des schrecklichen Westens

Sebastian Schwab: Kelsen im Kaffeehaus – Orte der Reinen Rechtslehre

David Gugerli: Tabula rasa

Vorschau

ClaudiaGatzka, geb. 1985, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Freiburg. 2019 erschien Die Demokratie der Wähler. Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und der Bundesrepublik, 1944–1979. [email protected]

ChristianGeulen, geb. 1969, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz. 2017 erschien die vierte Auflage von Geschichte des Rassismus. [email protected]

ChristophSchönberger, geb. 1966, Professor für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Universität Köln. 2022 erschien Auf der Bank. Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlaments.

SophieSchönberger, geb. 1979, Professorin für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2023 erschien Zumutung Demokratie. Ein Essay. – Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem Buch Die Reichsbürger. Ermächtigungsversuche einer gespenstischen Bewegung, das im Oktober 2023 bei C. H. Beck erscheinen wird.

FlorianMeinel, geb. 1981, Professor am Institut für Grundlagen des Rechts der Universität Göttingen. 2019 erschien Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems. [email protected]

UlrikeJureit, geb. 1964, Historikerin bei der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. 2023 erschien Erinnern als Überschritt. Reinhart Kosellecks geschichtspolitische Interventionen. [email protected]

ThomasSteinfeld, geb. 1954, 2022 erschien die Neuausgabe von Italien. Porträt eines fremden Landes.

ManfredHettling, geb. 1956, Professor für Neuere Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 2021 erschien Reinhard Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten (Hrsg. zus. m. Wolfgang Schieder). [email protected]

MoritzRudolph, geb. 1989, Redakteur des Philosophie Magazin. 2021 erschien Der Weltgeist als Lachs. [email protected]

SebastianSchwab, geb. 1994, Rechtsreferendar.

DavidGugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-77-10-3

Der »Osten« als »imaginärer Geschichtsraum« – mit dieser Diagnose gelingt es Claudia Gatzka in ihrem Essay, Edward Saids Orientalismus-Kritik mit aktuellen Debatten über die DDR und ihr Fortwirken in der Gegenwart zu verbinden. Eine westlich geprägte Geschichtsschreibung hat, wie sie zeigt, einiges an Arbeit investiert, die DDR zur Fußnote in der Vorgeschichte des wiedervereinigten Deutschland zu degradieren. Zugleich lässt die Imagination »des Ostens« die DDR beim Blick auf einen geografisch umrissenen Raum nicht enden, eine Form von »arrested development«, die dem Gegenstand attestiert wird, in Wahrheit aber die eigene Wahrnehmung bestimmt. Eine Geschichtsschreibung, die das in Rechnung stellte, bekäme nicht nur die Vergangenheit, sondern vor allem die Gegenwart auf angemessenere Weise in den Blick.

Eine genuin historiografische Operation an der Gegenwart nimmt auch Christian Geulen vor, wenn er danach fragt, wie die aktuelle Krisenwahrnehmung in Deutschland durch bundesrepublikanische Muster präfiguriert sein könnte. In seiner Analyse einer Geschichte der Forderung nach fortwährender »Demokratisierung« gelangt er zuletzt zu der Frage, ob sich in den populistischen Forderungen nach mehr demokratischer Mitsprache nicht genau dieses Erzählmuster fortsetzt. Ob also die Populismen der Gegenwart ihre Kraft nicht auch daraus ziehen, »dass sie in vielen Aspekten an eben jene fast fünfzigjährige bundesdeutsche Tradition des Prozessdenkens anschließen«.

Weniger ergänzt als geschichtstheoretisch flankiert werden diese beiden gegenwartsdiagnostischen Beiträge durch Ulrike Jureits Rezensionsessay, der nach der Aktualität des zu seinem hundertsten Geburtstag gerade sehr präsenten Reinhart Koselleck fragt. Ihre Bilanz fällt gemischt aus. Fest steht allerdings: Sowohl bei Claudia Gatzka (mit ihrem Rückgriff auf den Begriff der »Zeitschichten«) wie auch bei Christian Geulen ist Koselleck als Geschichtsdenker sehr präsent.

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-10-5

Claudia Gatzka

Geschichten wider den Osten

Der Orient: eine Hervorbringung des Westens – mit dieser kühnen These verewigte sich Edward Said Ende der 1970er Jahre im Kanon postkolonialer Theorie.1Orientalism nannte er die Denkweise, den »Orient« zum Anderen des »Okzidents« zu machen und dabei diesen zur Norm zu erheben und jenen als korrekturbedürftig darzustellen. Konkret führte Said den Machtanspruch westlicher Mächte über die Gebiete des Nahen und Mittleren Ostens auf das Wissen und die Repräsentationen zurück, die »der Westen« über »den Orient« generierte. In ästhetischen, populären und wissenschaftlichen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts sah Said bestimmte Darstellungsweisen und Zuschreibungen (re)produziert, die »den Orientalen« systematisch als beherrschungsbedürftig und unmündig markierten, mithin eine Minderwertigkeit des Orients diagnostizierten, die an den Parametern der rationalen, kapitalistischen, bürgerlichen Moderne gemessen war.

Orientalismus produzierte so ein Bild »des Orients«, das die westliche Dominanz über diesen Raum rechtfertigte. Damit verband der amerikanisch-palästinensische Literaturwissenschaftler den machtanalytischen Diskursbegriff Foucaults und geopolitische Raumkonzepte. Er verwies so auf die Bedeutung imaginierter Geografien für die Begründung von Macht und Dominanz. Saids Kritiker warfen ihm fehlende Differenzierung und Überspitzung vor, auch mangelndes historisches Denken.2

Knapp ein halbes Jahrhundert später hat der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann mit dem Titel Der Osten: eine westdeutsche Erfindung einen Bestseller gelandet und Kontroversen ausgelöst. Er kritisiert den westdeutschen Diskurs über Ostdeutschland »in Form von konstant negativen Identitätszuschreibungen und Essentialisierungen« als binär und monolithisch.3 Verblüffend ist, dass er ohne Verweise auf Said auskommt.

Stattdessen begreift Oschmannn den Diskurs um »den Osten« im Anschluss an Axel Honneth und Jacques Rancière als eine »gesellschaftliche Imagination«, die bestimmte soziale Gruppen ihrer Machtchancen beraube, indem sie ihnen fixe Eigenschaften zuschreibe, die deren Machtlosigkeit moralisch oder rational begründen sollen. Sie diene also letztlich der Legitimation der Machthabenden. Damit steht bei Oschmann hinter »dem Osten« eher eine soziale Gruppe innerhalb eines größeren Herrschaftsverbands, die Opfer diskursiver Marginalisierung wird, und weniger ein imaginierter Raum, dem mutmaßlich gewisse als stabil zugeschriebene Merkmale zueignen.

Insofern könnte das von ihm kritisierte Diskursphänomen auch »die Ostdeutschen« heißen. Dennoch verbindet ihn mit Said die überspitzte, zum Zweck der Veranschaulichung selbst nicht vor Essentialisierungen zurückschreckende Kritik an einem Diskurs, der Machtungleichheit zu begründen scheint, indem er Himmelsrichtungen zu Bedeutungsträgern eines binären Unterschieds stilisiert.

Innerdeutscher Orientalismus

Oschmanns Buch lässt sich, wenngleich er ohne den Begriff auskommt, als eine in Teilen womöglich fiktionalisierte Orientalismus-Kritik lesen,4 wie sie auch bereits in den Texten Jana Hensels anklang.5 Einige der Diskursphänomene, die er beschreibt, werden nicht nur verständlicher, sondern auch entprovinzialisiert, also vom Ruch des Nationalkitschs befreit, wenn man sie als produktive Faktoren einer historisch gewachsenen, imaginären Geografie begreift, die den innerdeutschen Diskurs um »den Osten« und »den Westen« prägen.

Die Ostdeutschen, um die es ihm geht, würden dann nicht zufällig und auch nicht nur aus kontingenten Gründen zum Objekt der inkriminierten Zuschreibungen. Vielmehr wären diese Zuschreibungen dann Produkt einer länger währenden Orientalisierung des Territoriums, auf dem das heutige »Ostdeutschland« liegt, das aber auch Ostmitteleuropa, Osteuropa und Teile Südosteuropas umschließt.6 Diesem imaginären Geschichtsraum »Osten« begegneten Deutsche vor 1945 nicht nur mit einer orientalistischen, sondern auch mit einer kolonialistischen Haltung, die durch NS-Deutschland brutal ins Werk gesetzt wurde, zuvor aber über Jahrhunderte in Wellen deutscher Siedlungsbewegungen ihren Ausgang genommen hatte.7

Orientalismen können, wie Said hervorhob, kolonialen Herrschaftsformen den Weg ebnen, weil sie die imperiale Einstellung gegenüber einem gewissen geografischen Raum intellektuell absichern. Sie müssen aber nicht an koloniale Kontexte gebunden sein. Innereuropäischer Orientalismus richtete und richtet sich immer wieder auch gegen eigene Staatsangehörige – ein Nebenprodukt, um nicht zu sagen Abfallprodukt, der Nationsbildung, in deren Zuge kulturelle Abgrenzungen innerhalb desselben Herrschaftsverbands quasi abgestufte Inklusion ermöglichten.

Das beste Beispiel in der deutschen Geschichte waren neben den Juden vielleicht die Katholiken im Kaiserreich. Auch in Italien oder Frankreich oder im Vereinigten Königreich, wo die Regionalidentitäten Schottlands oder Wales’ nicht einfach »da« waren, sondern gemacht wurden,8 aber auch in Polen oder der Ukraine, existierten und existieren Binnenorientalismen, die den zivilisatorischen Grenzsaum nicht immer in östlicher Himmelsrichtung verorten. Im italienischen Diskurs um den Mezzogiorno wie auch in anderen binären Nord-Süd- oder Stadt-Land-Unterscheidungen werden meist Entwicklungsgefälle, aber auch kulturelle Stereotype grundlegender Andersartigkeit der Bewohner transportiert, die bis heute tiefe Spuren hinterlassen.9 Nicht der geografische Osten, sondern das Othering eines bestimmten, meist peripheren (Binnen)Raums und seiner Bewohner zum Zweck der Stabilisierung einer gewollten Normidentität macht Orientalismus aus. Doch es gibt einige Besonderheiten im aktuellen deutsch-deutschen Fall.

Imaginäre Geografien, die Produkt von Orientalismen sind, weisen nicht nur irgendwie strukturell zusammenhängende Großräume aus, sie verknüpfen diese Räume auch mit spezifischen Zeitlichkeiten. Der orientalisierte Raum kann entweder als gänzlich geschichtslos und damit als statisch imaginiert werden (»Afrika«) oder als in jüngeren Epochen degeneriert (»der Orient«, womit der arabisch-muslimische Raum an den altorientalischen Hochkulturen gemessen wird). Innereuropäische, aber auch globale Orientalismen der Gegenwart markieren den orientalisierten Raum meist als zurückgeblieben, in Traditionen oder Gewalthaftigkeit verhaftet, also in der Entwicklung zur »Moderne« hinterherhinkend (»der Süden«).

Der innerdeutsche Orientalismus hingegen ist eine an sich verzeitlichte Denkweise, im Grunde eine Antiquiertheit. Die Konstruktion des »Ostens« kommt einer Zeitreise in die jüngere Zeitgeschichte, in die Jugendzeit der eigenen Eltern gleich. Jeder Sprechakt, der »den Osten« entwirft, überzieht einen gegenwärtigen Raum mit der Patina der DDR und verweist dabei auf seine eigene Zugehörigkeit zum Vergangenen, zur »alten« Bundesrepublik. Der innerdeutsche Orientalismus ist eine Verweigerungshaltung, den betrachteten Raum wie auch den Raum, aus dem heraus betrachtet wird, mit der gesamtdeutschen Gegenwart zu synchronisieren; er ist eine spezifische Art, die Brille des Kalten Kriegs aufzusetzen und aufzubehalten. Nicht nur die Zeitschicht der untergegangenen DDR, sondern auch die der »alten« Bundesrepublik ragt wie ein Rathausturm in das Panorama des gegenwärtigen »Ostens« hinein.

Apropos Zeitreisen und Rathaustürme: Im ersten und dritten Teil von Back to the Future landen Marty McFly und Doc Brown in Vergangenheiten, denen sie nicht mehr leicht entkommen können. Der Treibstoff fehlt, um die Zeitmaschine, einen DeLorean, auf Speed zu bringen. Beide Filme handeln letztlich davon, ausgetüftelte Konstellationen in der bereisten Vergangenheit zu finden, um einen energetischen Effekt zu erzeugen, der dem einer brennstofftechnisch fortgeschrittenen Zukunft gleichkommt. Wieso aber lässt sich kein passender Treibstoff finden, um den DeLorean der Bundesrepublik zurück in die Zukunft zu schicken?

Die aufarbeitende Erzeugung des Ostens

Auf Revolutionen und politische Transitionen folgten in der Geschichte häufig neue Formen der Zeitrechnung oder gar neue Kalender. Mit diesen Mitteln versuchten die Revolutionäre, ihr neues Regime in der Alltagswelt der Menschen symbolisch zu verankern und eine klare Trennlinie zwischen alter Zeit und neuer Zeit zu ziehen. Damit waren auch neue Geschichten vonnöten. Sie akzentuierten weniger die unmittelbare Vergangenheit des Ancien Régime, von dem sich das neue Regime ja abgrenzen wollte, sondern wählten weiter zurückliegende Epochen, an die sie zum Zweck der Legitimation und Identitätsbildung anknüpfen wollten, oder konzentrierten sich auf eine Zeitgeschichte des Umbruchs selbst. Sinnstiftende Erzählungen für die Zukunft ergaben sich nicht allein aus der Erinnerung an die Repression im Ancien Régime, sondern gern aus dem Bezug auf Vorbilder der Antike.10

Nach der Revolution von 1989 lagen die Dinge anders. Der Beitritt der DDR zum bundesrepublikanischen Staat veränderte die Zeitordnung auf dem sich transformierenden Territorium ganz sicher, er veranlasste aber vor allem die westdeutschen Historiker, einerseits die Geschichte der Bundesrepublik neu und häufig überhaupt erstmals zu schreiben, andererseits in pädagogischer Absicht das Ancien Régime der SED bis auf die letzten Zellen zu sezieren. Die Manie der »Aufarbeitung«, gefüttert durch einen Geschichtsboom, der die nach Identität suchenden Teile der Bundesrepublik seit Ende der 1970er Jahre erfasst hatte, war eine Funktion genau dieser Identitätssuche.

Sie ließ das ostdeutsche Territorium zum Museum dessen werden, was ein Gros der DDR-Bürger hatte hinter sich lassen wollen. Bis heute wird es erinnerungskulturell als ein Lehrpfad sozialistisch-kommunistischer Abschreckung gestaltet, und dank der zahlreichen DDR-Gedenkstätten und des archivarischen Interesses am SED-Staat und seinen Überwachungspraktiken finden viele Historikerinnen in Lohn und Brot. Reflektierte Vertreter der DDR-Historiografie monierten vor einigen Jahren die Funktionalisierung der DDR-Geschichte als Vorführobjekt der Totalitarismustheorie, insistierend, dass eine unvoreingenommene Haltung und eine Entprovinzialisierung und Verknüpfung von DDR und globalgeschichtlichen Fragen neue, teilweise irritierende Erkenntnisse eröffnen können.11 Doch inwiefern die derart avancierte Forschung erinnerungskulturelle Gewissheiten infrage stellen kann, bleibt abzuwarten.

Jede Geschichte »der DDR«, die keine andere systematische Problemstellung verfolgt als eben jene, »hinter die Mauer« zu blicken, perpetuiert die fundamentale Unterscheidung zwischen Ost und West. Nimmt man die basale geschichtstheoretische Annahme ernst, dass jede Geschichte eine gewisse Relevanz des Gegenstands für die Gegenwart beansprucht und auch selber herstellt, so muss man festhalten, dass die Repräsentation »der DDR« in der Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur »den Osten« diskursiv erzeugt und schlimmstenfalls eine Regionalidentität nahelegt oder selbst die Geschichten für eine solche Regionalidentität liefert.

Katja Hoyers »neue« Geschichte der DDR, die sich auch als Orientalismus-Kritik lesen lässt, weil sie unterstellt, die westdeutsch geprägte Erinnerungskultur zeichne ein verzerrtes Bild der Realität hinter der Mauer, ist auch in dieser Hinsicht aufschlussreich.12 Die Debatte um das Buch, der Hinweis auf die Vielfalt an differenzierten Forschungsergebnissen zur Alltagsgeschichte der DDR, die Hoyer ignoriert, sind fraglos wichtig.13 Doch zugleich muss auch zugestanden werden, dass das Buch Kunde gibt von einer seltsamen Aktualität der DDR, die geradezu paradox anmutet angesichts des Umstands, dass es sich um das einzige Regime in der deutschen Geschichte handelt, von dem sich die Nichtmachthabenden aus eigener Kraft emanzipiert haben.

Geschichten über den Osten können keine Geschichten wider den Osten sein, und deshalb dienen auch Bücher aus »ostdeutscher« Perspektive, wie sie Katja Hoyer für sich in Anspruch nimmt, nicht nur dem Zurechtrücken eines mutmaßlich durch westliche Zeichnungen »verfälschten« Bildes, sondern auch der postrevolutionären Konstruktion einer ostdeutschen Regionalidentität, die nicht auf tatsächlichen regionalen Eigenerfahrungen oder gar Mentalitäten beruht, sondern auf erfundenen Traditionen: auf den Geschichten, die man sich erzählt.

Orientalismus und Okzidentalismus in den Geschichten der Bundesrepublik

Die DDR-Geschichte konnte auch deshalb im Laufe der letzten dreißig Jahre – kontraintuitiv zum offiziellen Aufarbeitungsauftrag – zum Quell einer ostdeutschen Teilidentität werden, weil es trotz der Bemühungen einiger Historiker um eine »shared history«, wie sie in postkolonialen Kontexten große Anhängerschaft findet, letztlich nicht gelungen ist, die ostdeutsche Gesellschaft sinnvoll in die Narrative der bundesrepublikanischen Geschichte zu integrieren.14

Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte tendieren, ebenso wie Geschichtsdokumentationen im Fernsehen, zum kontrastiven, aber nicht zum generalisierenden Vergleich. Das muss man nicht polemisch vortragen, denn es ist schon aus dramaturgischen Gründen verständlich, lassen sich so doch zwei parallele Pfade von Staat und Gesellschaft verfolgen, zwei alternative Erzählungen davon stricken, wie es nach 1945 laufen konnte. Intellektuell ist es anregender, die unterschiedlichen Wirkungen politisch-ökonomischer Systeme auf eine Gesellschaft zu untersuchen, die bis 1945 eine war.

Doch gerät das vor 1945 Geteilte dabei ebenso in Vergessenheit wie das, was DDR und Bundesrepublik als zwei Nachbarstaaten verband, die im politischen Alltag massiv aufeinander bezogen waren. Eine reflektierte Geschichte des Politischen in der Bundesrepublik wird feststellen können, dass kaum ein Akt politischer Kommunikation in der »alten« Bundesrepublik ohne die DDR auskam. Die Allgegenwart der »Zone« äußerte sich nicht zuletzt im diskursiven Umgang mit Linken, denen es, so das geflügelte Wort, ja stets offenstand, »nach drüben« zu gehen.15 Die Bundesrepublik war die einzige westliche Demokratie, die nicht nur einen nationalen Systemgegner hatte, sondern auch eine antisystemische Exit-Option. Sie war eine im besten Sinn des Wortes konkurrierende Demokratie, die immer wieder mit inneren Stimmen zu »kämpfen« hatte, die an der DDR einiges bemerkenswert, wenn nicht gar lobenswert fanden, im Mindesten interessant.16

Der Modus des Konkurrierens, die Dekaden des offenbar doch nervenaufreibenden Systemkonflikts, der sich auch in die Forschungs- und Diskussionskultur an den Universitäten einschrieb, scheint gerade bei Historikern der alten Bundesrepublik tiefe Spuren hinterlassen zu haben. Anders jedenfalls ist der Triumphalismus der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung nach 1990 nicht zu erklären. Im Spiegel des gescheiterten kommunistischen Unrechtsstaats ließen sich nun, unter liberalkonservativen Auspizien, auch von eher sozialdemokratisch orientierten Historikern, Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik schreiben.

Charakteristisch wurde, anders als bei Heinrich August Winklers »langem Weg nach Westen«, der den vereinigten Nationalstaat zum Telos erhob, so dass die alte Bundesrepublik eben eine Abweichung von der westlichen Norm blieb, ein Narrativ der »Ankunft im Westen« (Axel Schildt), das die Erfolgsgeschichte in die Zeit vor 1990 verlegte. Es handelte sich um Bücher, die eine retrospektive Okzidentalisierung der Bonner Republik vornahmen, während sich die zeitgenössische politische Kommunikation im modernen Deutschland seit dem 19. Jahrhundert und auch noch in der Bundesrepublik niemals so eindeutig und unumstritten westlich verortet hatte.17

Die normative Verwestlichung der (alten) Bundesrepublik und ganz Deutschlands war, zumindest im historiografischen Diskurs, vielleicht kein Effekt der deutschen Einheit, wurde durch sie aber eminent verstärkt. Zugespitzt formuliert: Als die »Ossis« hinzukamen, begannen die »Wessis«, sich Geschichten ihrer Westlichkeit zu erzählen – sicherlich auch bestärkt durch okzidentalisierende Beobachtungen der Ostdeutschen selbst.

In diesen neuen Geschichten der alten Bundesrepublik nahmen westdeutsche Historiker, in letzter Konsequenz, den Demonstrantinnen und Demonstranten in der DDR das Heft des Handelns aus der Hand und verlegten die Ursachen für den Untergang der DDR an den Rhein der 1950er, 1960er, 1970er und 1980er Jahre. Interpretiert man die historiografische Lage der 1990er und 2000er Jahre als Sprechakt, dann deuteten westdeutsche Historiker die ostdeutsche Revolution von 1989 zu einem Effekt der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik um, die ja durchaus den meisten Ostdeutschen als strahlendes Werbebild der Marktwirtschaft vor Augen gestanden und auf Hunderttausende von ihnen Anziehungskraft ausgeübt hatte. Damit ließen sich die Ziele der Revolution zugleich entpolitisieren, ließ sich der Fall der Mauer auf eine östliche Konsumsehnsucht reduzieren, wie anhand der linksliberalen Qualitätspresse seit den enttäuschenden CDU-Wahlsiegen in den »neuen« Bundesländern nachzuvollziehen ist.18

Auf dem Markt der florierenden Selbstvergewisserungsgeschichten der Bundesrepublik seit 1990 musste sich auch Hans-Ulrich Wehlers letzter Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte positionieren. Er ist deshalb interessant, weil sein transparenter Umgang mit der nicht nur darstellerisch, sondern auch heuristisch zentralen Frage, ob die Geschichte der DDR nun Teil einer »deutschen Gesellschaftsgeschichte« war oder nicht, eine kleine Debatte auslöste, die verdeutlicht, wie die Geschichte der Ostdeutschen vor dem Hintergrund der herrschenden Diskurslage nicht nur aus der Geschichte der Bundesrepublik, sondern auch aus der deutschen Geschichte herausgeschrieben wurde.

Wehler selbst gab die Tonart vor, als er von der DDR als »Fußnote« deutscher Gesellschaftsgeschichte sprach, der er dann aber doch etwa ein Viertel seines fünften Bands zu Bundesrepublik und DDR widmete. Im Vorwort, gleichsam Schlusswort seines Opus magnum, erklärte er: »Die kurzlebige Existenz der DDR hat in jeder Hinsicht in eine Sackgasse geführt. Daher wird auch in diesem Band der DDR-Geschichte keine gleichwertige Behandlung mit der Bundesrepublik eingeräumt. Sie wird vielmehr als Kontrast und zum Vergleich herangezogen. Das impliziert keine Kritik an den Einwohnern der SBZ und DDR