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Beschreibung

In nüchternen Worten erklärt der Soziologe Sighard Neckel, warum der zur Abwendung der Klimakatastrophe notwendige radikale gesamtgesellschafliche Wandel kaum stattfinden wird. Über den Wandel der Lesegesellschaft und die Frage, ob wir uns in einer "Lesekrise" befinden, schreibt Carolin Amlinger. Wie viel menschliche Arbeit in den neuen Produkten "Künstlicher Intelligenz" steckt, führt Josh Dzieza, der mit vielen dieser Arbeiterinnen und Arbeiter gesprochen hat, sehr deutlich vor Augen. Bei allem Respekt spart Christian Neumeier nicht mit Kritik an Gertrude Lübbe-Wolffs Verteidigung der direkten Demokratie in ihrem Buch Demophobie. Claus Leggewie zeichnet ein Porträt des in der Bundesrepublik – nicht zuletzt als Geschäftsführer der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung – allzu einflussreichen Rechten Armin Mohler. Der Schriftsteller Joshua Cohen will den traditionsreichen Schocken-Verlag übernehmen – Kai Sina informiert über die Hintergründe. Mit dem Flugblatt-Nichtverfasser und Politiker Hubert Aiwanger setzt sich Willi Winkler auseinander. Claudia Keller berichtet von einer Reise nach Israel, wo sie Vögel beobachtet hat. In David Gugerlis Kolumne geht es um Verluste in der Technikgeschichte.

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Seitenzahl: 182

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 894, November 2023, 77. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 2. Oktober 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12178-0

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Sighard Neckel: Das Dilemma der sozial-ökologischen Gleichzeitigkeit

Carolin Amlinger: Lesekrisen

Ungleichheiten der Lesegesellschaft und die lesende Klasse

Josh Dzieza: KI ist harte Arbeit

KRITIK

Christian Neumeier: Demolalie

Krise und Kritik der repräsentativen Demokratie

Claus Leggewie: Das gibt einmal eine Explosion!

Armin Mohler redivivus

MARGINALIEN

Kai Sina: Die Kadenz widerrufen. Gegenwart und Vergangenheit des Schocken Verlags

Willi Winkler: Aiwanger. Eine Schulgeschichte

Claudia Keller: Zielart auf 11 Uhr, zwischen Blättern versteckt

David Gugerli: Verlustfrei

Vorschau

SighardNeckel, geb. 1956, Professor für Soziologie an der Universität Hamburg. 2022 erschien Kapitalismus und Nachhaltigkeit (Hrsg. zus. m. Philipp Degens u. Sarah Lenz). [email protected]

CarolinAmlinger, geb. 1984, PostDoc-Assistenz am Institut für Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Basel. 2021 erschien Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. [email protected]

JoshDzieza, Redakteur für Investigatives bei The Verge, Autor. – Der Beitrag erschien am 20. Juni 2023 im New York Magazine unter dem Titel AI Is a Lot of Work.

ChristianNeumeier, geb. 1988, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Habilitand. 2022 erschien Kompetenzen. Zur Entstehung des deutschen öffentlichen Rechts. [email protected]

ClausLeggewie, geb. 1950, Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen. 2021 erschien Planetar denken. Ein Einstieg (zus. m. Frederic Hanusch u. Erik Meyer).

KaiSina, geb. 1981, Lichtenberg-Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Münster. 2022 ist TransAtlantik. Hans Magnus Enzensberger, Gaston Salvatore und ihre Zeitschrift für das westliche Deutschland erschienen. [email protected]

WilliWinkler, geb. 1957, Journalist und Übersetzer, fester Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung. 2019 erschien Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde; 2022 Herbstlicht. Eine Wanderung nach Italien.

ClaudiaKeller, geb. 1984, Oberassistentin am Deutschen Seminar sowie Mitglied des UFSP »Global Change and Biodiversity« an der Universität Zürich. 2018 erschien Lebendiger Abglanz. Goethes Italien-Projekt als Kulturanalyse. [email protected]

DavidGugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-77-11-3

»Die öffentliche Diskussion über Sprachverarbeitungsprogramme wie ChatGPT dreht sich bislang größtenteils um die Arbeitsplätze, die in Zukunft wohl durch Automatisierung wegfallen«, stellt Josh Dzieza fest. Das gilt nicht nur für die USA, wo Dzieza Redakteur für investigative Recherchen des renommierten Tech-Portals The Verge ist. Auch hierzulande konzentrieren sich die einschlägigen Debatten meist auf die Frage, welche Jobs durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz als nächste obsolet werden könnten.

Angesichts der staunenswerten Fortschritte der Technologie und der ständigen Ausweitung ihrer Einsatzgebiete ist das ohne weiteres nachvollziehbar. Ein wichtiges Faktum wird dabei, wie Dzieza anmerkt, allerdings übersehen: »Hinter jedem noch so beeindruckenden KI-System stehen Menschen, die die Trainingsdaten für die KI annotieren.« Das klingt zunächst unspektakulär. Erfährt man allerdings, dass es sich um Millionen Menschen handelt, die für diese Aufgabe weltweit ständig im Einsatz sind, und dass es, weil die Nachfrage unaufhörlich wächst, bald sogar Milliarden werden könnten, wird deutlich, dass die Veränderungen, die KI für die Arbeitsmärkte auf globaler Ebene bedeutet, keineswegs nur eine Verlustseite haben, dass sie aber zugleich auch weitaus massiver sein dürften, als es in den öffentlichen Diskursen bislang anklingt.

Begleitet man Dzieza auf seiner (physischen und digitalen) Recherchereise zu den Menschen, die mit dem Annotieren ihren Lebensunterhalt verdienen, erfährt man nicht nur, wie ungeheuer groß die Bandbreite der Jobprofile auf diesem Feld mittlerweile ist. Man erhält auch einen Eindruck von der Marktmacht, auf die die wenigen Unternehmen zusteuern, die dieses Geschäft gerade unter sich aufteilen, ohne dass das bislang öffentlich in angemessener Weise zur Sprache käme.

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-11-5

Sighard Neckel

Das Dilemma der sozial-ökologischen Gleichzeitigkeit

Als der Weltklimarat (IPCC) am 20. März 2023 seinen letzten Synthesebericht zum Stand der Erderwärmung veröffentlichte, war einmal mehr der Schrecken in der Öffentlichkeit groß, zeigte der IPCC doch abermals auf, wie rasend schnell die Klimakrise voranschreitet, die unser aller Lebensgrundlagen bedroht und dabei die Ärmsten und die am wenigsten Verantwortlichen am härtesten trifft. Aber nicht allein die vielen schlechten Nachrichten zur Zerstörung des Erdsystems sorgten dafür, dass erneut die Zukunft des Planeten in dunkelsten Farben ausgemalt werden musste. Als mindestens ebenso deprimierend wurde öffentlich wahrgenommen, dass – wie der Newsletter Climate.Table zum Erscheinen des Berichts kommentierte – »wir eigentlich alles gleichzeitig machen müssen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen«.

Tatsächlich hatte der IPCC konstatiert, dass »schneller und weitreichender Wandel in allen Sektoren und Systemen notwendig [ist], um tiefgreifende und anhaltende Emissionsreduktionen zu erreichen und eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern«. Jede noch so geringe Zunahme der globalen Erwärmung werde die Risiken des Klimawandels drastisch erhöhen, Kaskaden vermutlich nicht beherrschbarer Ausnahmezustände auslösen, Anpassungsoptionen unwirksam machen und das Zeitfenster schließen, in dem eine Abwendung schwerster ökologischer Krisen und Katastrophen noch möglich sei. Zudem würden sich die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen nicht allein auf unsere Gegenwart und die nahe Zukunft auswirken, sondern »für Tausende von Jahren« den Zustand des Erdsystems bestimmen.

An diese Aussagen schloss der IPCC einen umfangreichen Maßnahmenkatalog an, der so gut wie keinen Bereich in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auslässt und in all diesen Bereichen durchgreifende und in den meisten Fällen sofortige Schritte zur Eindämmung der globalen Erwärmung fordert. Hierzu gehören unter anderem die rasche Dekarbonisierung der Industrie, die Umstellung des Finanzsektors auf nachhaltige Investments, emissionsarme Energieversorgung, Mobilitätsysteme und Infrastrukturen, eine biodiverse Landwirtschaft und weltweiter Gewässerschutz, der ökologische Umbau von Städten, eine strikte Klima-Governance in allen politischen Institutionen, soziale Schutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen zur Steigerung von Resilienz sowie schließlich Konsumreduktionen und »Verhaltens- und Lebensstiländerungen«.

Ein unwahrscheinlicher Wandel

Was hier Regierungen, der Zivilgesellschaft und dem privaten Sektor abverlangt wird, geht über alles hinaus, was moderne Gesellschaften bisher an gesellschaftlichem Wandel erlebt haben, und dies in gleich mehrfacher Hinsicht: Veränderungen sollen nicht inkrementell, also allmählich in einzelnen Schritten vollzogen werden, sondern disruptiv, das heißt unmittelbar und als Abbruch bisheriger Entwicklungspfade; nicht als ein selbstläufiger und im Ganzen nicht planbarer Prozess, sondern beabsichtigt und gesteuert; nicht als Abfolge gesellschaftlichen Wandels in einzelnen Bereichen zu verschiedenen Zeiten, sondern als Gleichzeitigkeit notwendiger Transformationen in allen Gesellschaftsbereichen auf einmal.

Wie unwahrscheinlich ein solcher Gesellschaftswandel ist, zeigt ein Blick in die moderne Gesellschaftsgeschichte. Gesellschaftliche Veränderungen haben sich zumeist als eigendynamische Prozesse vollzogen, deren komplexe Folgen kaum jemand vorhersehen konnte und die vielfach unbeabsichtigt und bisweilen auch unerwünscht waren. Was zum Beispiel das World Wide Web bedeutet, hat zunächst kaum jemand erahnen können. Noch 2001 prophezeiten manche Zukunftsforscher ein baldiges Ende des Internetbooms.1 Gesellschaftliche Veränderungen verliefen zudem häufig schleichend, in langsamen Schritten und wurden oft erst bemerkt, wenn sie eigentlich schon längst eingetreten waren. So konstatiert die zeitgeschichtliche Forschung, dass der kulturelle Umbruch im Westen, der sich mit »1968« verbindet, bereits in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eingesetzt hatte.2 Für einen solchen schleichenden Wandel stellen Kriege und Revolutionen gewisse Ausnahmen dar, doch auch für sie gilt, dass ihre Folgen sich kaum je mit den Erwartungen deckten, die sich mit diesen einschneidenden Ereignissen verbanden. Schließlich blieben auch in Phasen beschleunigten Wandels viele Lebensbereiche stabil, während andere nach kurzer Zeit kaum wiederzuerkennen waren. Die Globalisierung der Märkte, die nach 1990 eingesetzt hat, dringt auch bis heute nicht überall in die letzten Ecken lokaler Lebenswelten vor.

Die »Große Transformation« hingegen, wie der geforderte Umbruch der gesamten Wirtschafts- und Lebensweise allgemein heißt,3 beabsichtigt auf breiter Front einen geplanten Wandel in kurzer Zeit, da inkrementelle Veränderungen zu langsam und zu ungewiss sind, als dass sie die Erderwärmung zumindest noch unter 2 Grad halten könnten. Überdies verlangt sie nach simultanen Umbrüchen quer durch alle Sektoren hindurch, da es praktisch keinen einzigen Gesellschaftsbereich gibt, der nicht in eigener Weise zur Klimakrise beitragen würde. Im Zeitalter des Anthropozäns sind die Ursachen der globalen Erwärmung so umfassend und vielschichtig mit menschlichen Aktivitäten verwoben, dass kaum eine Handlungssphäre vom schnellen Veränderungsdruck ausgenommen werden kann. Diesen simultanen Ursachen des Klimawandels entsprechen seine verhängnisvollen Folgen, die in den pessimistischsten Prognosen der Klimaforschung als »simultane Mega-Krisen« beschrieben werden. Durch die Verkettung gleich mehrerer Kipppunkte könnten sie ein »Climate Endgame«4 einleiten, mit katastrophalen Konsequenzen für das Erdsystem und die planetaren Lebensgrundlagen.

Treibhaus der Konflikte

Die Große Transformation befindet sich somit in einem Zirkel von Gleichzeitigkeiten: So gut wie alle tragenden gesellschaftlichen Systeme führen mit ihren Emissionen in der Summe einen Klimawandel herbei, der seinerseits die Gestalt untereinander verketteter simultaner Extremereignisse annehmen kann. Hierauf vermag eine Politik des Klimaschutzes nur so zu reagieren, dass sie versucht, all diese Systeme gleichzeitig zu verändern.

Nicht erst in seinem Synthesebericht vom März 2023 hat der IPCC diesen Zirkel beschrieben, von dem wir nicht wissen, ob er sich nicht vielleicht als ein Teufelskreis herausstellen wird. Auch seine vorherigen Sachstandsberichte haben gleichzeitige Umbrüche in allen Sektoren gefordert, weil nur solche der multiplen Ursachen der Klimakrise Herr werden könnten. Und auch andere Stimmen im Klimadiskurs argumentieren in einer vergleichbaren Weise. So hat in Deutschland etwa das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Klimaschutz davon gesprochen, dass im Interesse der »Schonung künftiger Freiheit« »in allen Lebensbereichen (Produktion, Dienstleistung, Infrastruktur, Verwaltung, Kultur und Konsum)« Entwicklungen eines entschlossenen Klimaschutzes einsetzen müssten, um den notwendigen Übergang zur Klimaneutralität noch rechtzeitig genug einzuleiten.5

Der Schlüssel zur Großen Transformation liegt dabei heute bei den Gesellschaften selbst, wie vom Weltklimarat bis zum Bundesverfassungsgericht zahlreiche Stellungnahmen zur Klimakrise lauten. Naturwissenschaftlich gäben der Klimawandel und seine Bekämpfung keine unlösbaren Rätsel mehr auf, auch wenn die Prognosen zu seinen Auswirkungen eine gewisse Bandbreite aufweisen. Technologisch wären genügend Verfahrensweisen vorhanden, um Energieversorgung, Produktionsstätten und Infrastrukturen zu dekarbonisieren. Finanziell lägen für Investitionen in Nachhaltigkeit weltweit immense Kapitalsummen bereit, wobei der Weltklimarat beklagt, dass ökologisch ausgerichtete Finanzströme bisher völlig unzureichend sind. Was aber vor allem fehle, sei der politische Wille, die vorhandenen Instrumente des Klimaschutzes auch wirksam einzusetzen, sowie die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, die Große Transformation tatsächlich in Angriff zu nehmen.

Diese Voraussetzungen wären gegeben, wenn in den Gesellschaften weitgehend Einigkeit über die Vorrangigkeit des Klimaschutzes und über eine nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweise herrschte. Davon kann aber nicht die Rede sein. Stattdessen stellen sich Klimaschutz und Nachhaltigkeit als hochumstrittene Themen dar – nicht allein in der politischen Sphäre zwischen Parteien, Wählerschaften, Institutionen, Interessensverbänden und der Klimabewegung, sondern auch in der Gesellschaft selbst, zwischen verschiedenen Sozialmilieus, unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, kulturellen Bedürfnissen und normativen Wertvorstellungen. Die ungeheure Bandbreite der Großen Transformation bringt augenscheinlich ebenso mannigfaltige Konflikte hervor, die buchstäblich bei jeder einzelnen Maßnahme in jedem nur denkbaren Lebensbereich für heftige Auseinandersetzungen sorgen. Da bei einem umfassenden ökologischen Umbau der Gesellschaft nun wirklich alles mit allem zusammenhängt, erzwingt er, mit vielen artikulationsstarken Interessen in der Gesellschaft zugleich in den Streit treten zu müssen und überall Widerstände zu provozieren.

Einen Vorgeschmack davon geben die zahlreichen Konflikte, die in Deutschland gegenwärtig ausgetragen werden, nachdem zumindest Teile der Ampel-Regierung den Klimaschutz endlich etwas forcieren. Energiekosten, Heizungsgesetz, CO2-Preise und Klimageld; Kohleausstieg, Windräder, Stromtrassen und Ausbau der Erneuerbaren; Tempolimit, E-Mobilität und städtischer Autoverkehr sind zu kontroversen Top-Themen geworden, begleitet von medial aufgeheizten Debatten um Fleischverzehr und vegane Ernährung, Flugreisen und Massentourismus, Konsumwahn und Öko-Bigotterie, um Verzicht und Verbote. Unzählig die Aufrufe, dass man Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beim ökologischen Umbau nicht »überfordern« dürfe und alle Bevölkerungsgruppen »mitnehmen« müsse.

Die Notwendigkeit, alles auf einmal ändern zu müssen, führt dazu, dass auf einmal über alles gestritten wird. Die Klage über die »Überforderung« mag dabei auch strategische Gründe haben, um sich dem ökologischen Veränderungsdruck besser entziehen zu können. Doch stellt sie nichtdestotrotz die Beschreibung einer realen Problemsituation dar, die man nicht von der Hand weisen kann. Wann sind moderne Gesellschaften je in einer vergleichbaren Situation gewesen, in der von den Regeln des Wirtschaftens über die technische Infrastruktur bis zum persönlichen Lebensstil alles auf einmal zur Disposition steht?

Transformationsforschungen

Gesellschaftliche Konstellationen, die mit den Herausforderungen der Großen Transformation auch nur annähernd vergleichbar wären, sind äußerst selten. Sucht man nach Beispielen in der jüngeren Zeitgeschichte und entsprechenden wissenschaftlichen Untersuchungen dazu, stößt man auf bestimmte Zweige der Politikwissenschaft in den 1970er Jahren, die sich nicht ohne Grund bereits »Transformationsforschung« nannten. Ihr Gegenstand waren die politischen Systemänderungen in Ländern wie Griechenland, Spanien, Argentinien und Portugal, die sich dort nach langen Jahren der Diktatur durch politische Umstürze eingestellt hatten. Der plötzliche Wandel betraf allerdings allein das politische System und die Einführung von Demokratie, während die Ökonomie und die gewohnten Muster der Lebensführung weitgehend unangetastet blieben.

Etwas anders stellte sich dies nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und beim Systemwechsel in den Ländern des »realen Sozialismus« dar, der eine zweite Welle von »Transformationsforschung« einleitete. Damals sahen sich die postsozialistischen Gesellschaften mit der Notwendigkeit konfrontiert, das politische und das Wirtschaftssystem in einem Schritt zu verändern, mit direkten und indirekten Konsequenzen auch für Muster der Lebensführung. Konkret bedeutete dies, in einem Zug den Kapitalismus und zugleich eine Demokratie zu etablieren, obwohl der Kapitalismus bisher nirgendwo auf demokratischem Weg eingeführt worden war und seine Entstehung einer späteren Demokratisierung stets vorausgegangen ist. In einem berühmt gewordenen Aufsatz hat Claus Offe seinerzeit diese Zwickmühle beschrieben: »Marktwirtschaft kommt nur unter vordemokratischen Bedingungen in Schwung. Um sie zu fördern, müssen demokratische Rechte zurückgedrängt werden. Erst eine entwickelte Marktwirtschaft erzeugt die sozialstrukturellen Bedingungen für stabile Demokratie und ermöglicht soziale Kompromissbildung. Aber: Die Einführung der Marktwirtschaft in postsozialistischen Gesellschaften ist ein ›politisches‹ Projekt, das nur auf der Basis starker demokratischer Legitimation Erfolgsaussichten hat. Und weder Demokratie noch Marktwirtschaft werden unter Umständen als wünschenswerte Perspektive von der Mehrheit der Bevölkerung gewollt. Wenn alle diese Sätze gleichzeitig wahr sind, dann haben wir es mit einer Pandorabüchse voller Paradoxien zu tun, vor denen jede ›Theorie‹ des Übergangs versagen muss.«6

Insbesondere im Zuge seiner Entstehung ruft der Kapitalismus schwere soziale Verwerfungen hervor, weshalb er kaum auf demokratischem Weg eingeführt werden kann: Wenn er dort, wo er bisher nicht existierte, von öffentlicher Zustimmung abhängig ist, entscheiden sich die meisten dagegen. Nach 1990 war die Etablierung kapitalistischer Märkte jedoch politisch gewollt. Die neue Wirtschaftsordnung bedurfte in den Ländern des Postsozialismus daher einer gewissen Legitimation, für deren Beschaffung Demokratie aber gerade hinderlich war. Diese komplexe Situation, in der sich verschiedene Ziele gegenseitig im Weg stehen, bezeichnete Offe als »Dilemma der Gleichzeitigkeit«. Wenn sich Kapitalismus und Demokratie nicht nacheinander entwickeln, sondern im Gleichschritt entstehen, behindern sie sich gegenseitig.

Wie hemmend dieses Dilemma der Gleichzeitigkeit für die weitere Entwicklung der postsozialistischen Länder war, zeigte sich in den nächsten Dekaden. In Russland entstand unter Putins Herrschaft ein mafiöser Beutekapitalismus mit imperialen Zügen. Andere osteuropäische Länder opferten dem Nationalismus die Grundsätze liberaler Demokratien und verbanden neoliberale Wirtschaftspolitik mit autokratischer Staatsführung.

Die Ungewissheiten der Großen Transformation

Im Vergleich dazu scheinen die Umbrüche, die im Zeitalter der Klimakrise eine Große Transformation notwendig machen, zunächst weniger fundamental zu sein. Der gleichzeitige Wandel in »allen Systemen und Sektoren der Gesellschaft«, den der Weltklimarat fordert, betrifft weder die Einführung einer vollständig neuen Wirtschaftsordnung (was in diesem Fall gleichbedeutend mit der Abschaffung des Kapitalismus wäre) noch geht es ihm darum, das politische System der Demokratie durch ein anderes zu ersetzen. Weder der Kapitalismus noch die Demokratie sollen durch andere Systeme ausgetauscht werden. Was aber nicht das Ziel eines beabsichtigten Wandels ist, kann durchaus seine unbeabsichtigte Nebenfolge sein – bei den einen unerwünscht, bei anderen nicht.

Ob der Kapitalismus einen Abschied von der bedingungslosen Wachstumsökonomie überhaupt überstehen kann und fähig zur Nachhaltigkeit ist, ist eine offene Frage.7 Teile der Klimabewegung wie die Vertreter von Degrowth oder des Ökosozialismus befürworten eine nachhaltige Wirtschaft jenseits des Kapitalismus, nehmen aber letztlich eine Minderheitsposition ein. Andere rechnen damit, dass der Kapitalismus unter der Last der Umweltzerstörung in eine finale Akkumulationskrise gelangt oder durch eine staatlich dirigierte ökologische »Kriegswirtschaft« ersetzt werden wird.8

Ebenso ungewiss ist das Schicksal der Demokratie. Die Große Transformation mit all ihrem Veränderungsdruck auf praktisch alle Gesellschaftsbereiche könnte eine neue Form von »Unregierbarkeit« hervorbringen, wie sie Ende der 1970er Jahre schon einmal von einer konservativ gestimmten Sozialstaatskritik diagnostiziert worden ist. Was damals als »Anspruchsinflation« gebrandmarkt wurde, könnte heute der Transformationsstress des ökologischen Umbruchs sein, der Demokratien an die Grenzen der Zustimmungsbereitschaft und ihrer Funktionsfähigkeit bringt. Auch in dieser Frage hört man Stimmen im Klimadiskurs, die anstelle eines denkbaren unbeabsichtigten Wandels lieber einen beabsichtigten hätten. Manche Wachstumskritiker sehen in der Demokratie geradezu die entscheidende Ursache der Klimakrise, da sie die Bürger nicht daran zu hindern vermag, ihre Wohlstandsansprüche immer weiter nach oben zu schrauben. Sie plädieren für eine Art ökologische Elitenherrschaft, welche die Bedürfnisse der Bürger bändigen soll. Dem korrespondieren zahlreiche Einschätzungen im politischen Raum, dass demokratische Politik aufgrund ihrer Abhängigkeit von Wahlen und ihrer Taktung in Legislaturperioden kaum in der Lage sei, eine ökologische Grundorientierung langfristig durchzuhalten und die gewaltigen Zeithorizonte des Klimawandels überhaupt zu erfassen.

Im Zeichen der Klimakrise könnten sich der Kapitalismus, der Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen und die Demokratie in die Quere kommen, und das eine könnte dem anderen geopfert werden. Das Dilemma der Gleichzeitigkeit kehrte nunmehr als Unvereinbarkeit gleich dreier Faktoren wieder, die sich nicht miteinander in Einklang bringen lassen. Zwar strebt die Große Transformation keinen Austausch der Systeme an, aber einen raschen Wandel in jedem einzelnen und dies in einer Bandbreite, von der die Transformationsforschung zum Postsozialismus noch nichts wusste. Wenn innerhalb eines Jahrzehnts die Wirtschaft auf Nachhaltigkeit verpflichtet werden soll, die politischen Institutionen auf Klimaschutz, die Infrastruktur emissionsfrei werden muss, die Lebensführung ressourcenschonend und suffizient, dann treten disruptive Veränderungen in einer Vielzahl, Tiefe und Kurzfristigkeit auf den Plan, die sich nicht störungsfrei akkordieren lassen. Zu Politik und Ökonomie gesellt sich noch Technik und Kultur – ein solches Programm von Umbrüchen stand bisher nirgendwo auf der Agenda.

Noch elementarer stellen sich die Umbrüche der Großen Transformation dar, wenn man bedenkt, dass all die geforderten raschen Veränderungen unser grundlegendes Verhältnis zur Natur betreffen. Bisher nahmen alle modernen Gesellschaftssysteme Natur als Rohstoff für sich in Dienst. Ihre Ausbeutung und Verwertung sollte den materiellen Fortschritt garantieren. Noch die moderne Vorstellung von Freiheit verdankt sich der Vorstellung, dass sie sich in der unbeschränkten Verfügung von Überfluss realisiert, den die Verwertung natürlicher Ressourcen bereitstellen soll.9 Nicht nur die technische, auch die mentale Infrastruktur wird sich ändern müssen, soll die Große Transformation gelingen. Der Wandel von kulturellen Selbstverständnissen und normativen Wertorientierungen aber braucht seine Zeit und ist noch weniger planbar als alle anderen Veränderungen im Klimajahrzehnt, da er weitgehend eigensinnig verläuft. Dadurch könnte ein »cultural lag« entstehen, der immer wieder hemmend auf die Große Transformation einwirken kann.

Die Vormacht des Stückwerks

Bereits heute zeigt sich das ökologische Dilemma der Gleichzeitigkeit in nicht wenigen Episoden der aktuellen Klimapolitik. Als der »Expertenrat für Klimafragen« kürzlich das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung als unzureichend kritisierte, stellte er fest, dass die Klimaschutzmaßnahmen wie die »Bruchstücke eines Puzzles« wirkten, da »ein schlüssiges Gesamtkonzept« fehle.10 Das Dilemma der Gleichzeitigkeit im Klimajahrzehnt vermag zu erklären, warum ein solches »Gesamtkonzept« wohl jede Regierung vor schier unlösbare Probleme stellen würde und unablässig heftige Kontroversen hervortreiben muss. So kam jüngst auch eine soziologische Inspektion der zahllosen Streitereien in der Ampel-Koalition zu der Einschätzung, dass die Regierungskonflikte nicht weiter verwunderlich seien. Zu den zwei typischen Integrationsproblemen moderner Gesellschaften – der System- und der Sozialintegration – käme in Zeiten des Klimawandels mit der »ökologischen Integration« ein drittes hinzu, was im Dreierbündnis an der politischen Macht sein spannungsreiches Pendant finde.11