MERKUR 3/2024, Jg.78 -  - E-Book

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Beschreibung

Sehr überrascht gab sich die Bundesregierung vom Schuldenbremsen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – auch in dieser Reaktion zeigt sich für Sebastian Huhnholz die seit Jahren schon andauernde Schieflage der deutschen Fiskalpolitik. Über den Stand der real existierenden und die Möglichkeit einer postkolonialen Ägyptologie denkt Florian Ebeling nach. Richard Schuberth blickt auf Lord Byron und die Elgin Marbles, und zwar immer auch von der Gegenwart und ihren Fragen nach Restitution aus.   In seiner Rechtskolumne versucht sich Florian Meinel an einer Einordnung der Bauernproteste. Georg Simmerl hat eine Tagung zur documenta 15 besucht – sein Bericht widmet sich dabei naturgemäß Fragen, die aktuell zu sein nicht aufgehört haben.   Klaus Walter hat einen Chor von Stimmen zusammengestellt, der das Phänomen Taylor Swift zu erklären versucht. Die Zusammenhänge von Architekturfantasien und -realitäten mit dem Rechtspopulismus untersucht Jan-Werner Müller. Um die Nostalgie als Zeichen unserer Zeit geht es bei Valentin Groebner. In einer kurzen Erzählung von Sibylle Severus gibt es, vom Titel versprochen, ein Auto, aber auch, wovon der Titel nicht spricht: eine Kuh. In Susanne Neuffers abschließendem Text setzt sich ein Film zwischen Realität und Traum neu zusammen.

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Seitenzahl: 184

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 898, März 2024, 78. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 1. Februar 2024 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12303-6

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Sebastian Huhnholz: Austerität und Ausnahme

Die Politik der Staatsausgaben nach der Karlsruher Entscheidung

Florian Ebeling: Postkoloniale Altertumswissenschaft und Theorie als Alibi

Die Ägyptologie auf der Suche nach sich selbst

Richard Schuberth: Der Fluch der Minerva – Lord Byron und die Elgin Marbles

KRITIK

Florian Meinel: Rechtskolumne

Das Land der Daseinsvorsorge – eine Nachlese zu den Bauernprotesten

Georg Simmerl: Nach der Zäsur

Versuch eines vorausschauenden Rückblicks auf die documenta 15

MARGINALIEN

Klaus Walter: Star-Container Taylor Swift

Jan-Werner Müller: Rechtspopulismus als Bauherr

Valentin Groebner: Spätmoderne Nostalgie

Sibylle Severus: Das Auto ist eine Skulptur

Susanne Neuffer: Die Balkonszene oder Einen wichtigen Film sehen

Vorschau

SebastianHuhnholz, geb. 1980, Politikwissenschaftler. 2019 erschien Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks »Kritik und Krise«. [email protected]

FlorianEbeling, geb. 1966, Ägyptologe, Herausgeber von Aegyptiaca. Journal of the History of Reception of Ancient Egypt. 2017 erschien O Isis und Osiris. Ägyptens Mysterien und die Freimaurerei (zus. m. Christian E. Loeben). [email protected]

RichardSchuberth, geb. 1968, Schriftsteller, Essayist. 2023 erschien die Anthologie Rückkehr des Dschungels; im Herbst 2024 erscheint Lord Byron – der erste Byron’sche Antiheld. – Bei dem Beitrag handelt es sich um einen leicht gekürzten Vorabdruck aus diesem Buch. www.richard-schuberth.com

FlorianMeinel, geb. 1981, Professor am Institut für Grundlagen des Rechts der Universität Göttingen. 2019 erschien Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems. [email protected]

GeorgSimmerl, geb. 1985, Kulturwissenschaftler und freier Autor. 2024 wird Die Gründerkrise. Liberalismus und deutscher Nationalstaat, 1873–1879 erscheinen. [email protected]

KlausWalter, geb. 1955, Autor, Radiomacher. 2009 erschien Die Bundesrepublik Deutschland (zus. m. Thomas Meinecke u. Frank Witzel). [email protected]

Jan-WernerMüller, geb. 1970, lehrt Politische Theorie in Princeton. 2019 erschien Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus, 2021 Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit: Wie schafft man Demokratie?

ValentinGroebner, geb. 1962, Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern. Ende März 2024 erscheint Gefühlskino. Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung, aus dem dieser Beitrag hervorgegangen ist. [email protected]

SibylleSeverus, geb. 1937, Schriftstellerin. 2015 erschienen der Roman Nauenfahrt und die Erzählungen Die Große Kunst. [email protected]

SusanneNeuffer, geb. 1951, Autorin. 2019 erschien Im Schuppen ein Mann; 2022 Sandstein. Zwei Novellen. www.susanne-neuffer.de

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-78-3-3

Viele der öffentlichen Kontroversen unserer Gegenwart sind vor allem von der Schärfe des Tons und der Selbstgerechtigkeit geprägt, mit der man die eigenen Positionen verficht. Der Drang zu Vereindeutigung und Polarisierung oder auch die Umstandslosigkeit, mit der Gegenpositionen kategorisch für indiskutabel erklärt werden, verbindet oft genug als einziges die, die sonst gar nichts mehr eint.

Dabei erweisen sich, wie gleich mehrere Beiträge dieser Ausgabe belegen, in aller Regel gerade die Problemfelder, über die am unerbittlichsten gestritten wird, bei genauerer Betrachtung als besonders komplex und widersprüchlich. So zeigt Florian Meinel in seiner Rekonstruktion der besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen, denen die Landwirtschaft in der Bundesrepublik unterliegt, wie haltlos das von den zentralen Protagonisten der Bauernproteste wieder und wieder aufgerufene Narrativ ist, demzufolge es hier um einen Konflikt zwischen Stadt und Land und den damit vermeintlich einhergehenden Lebensstilen und Wertvorstellungen gehe.

Georg Simmerl hat die öffentlichen Diskussionsveranstaltungen zur Aufarbeitung der documenta 15 verfolgt, die im November in Kassel statt-fanden, und ist dabei auf »Polarisierungsmomente« gestoßen, die »ein-deutige Urteile und schnelle Verurteilungen« verlangen, tatsächlich aber zu Blickverengungen führen. Richard Schuberth wiederum unternimmt eine historische Spurensuche zurück bis ins Jahr 1801, als der Earl of Elgin bedeutende Teile des Parthenon-Giebels auf der Akropolis demontieren und nach London verschiffen ließ. Folgt man seiner Darstellung, erscheint die populäre Vorstellung, dass das allein als Akt von Barbarei und Unrecht zu bewerten sei, zumindest als nicht ganz so alternativlos wie bei den Restitutionsdebatten um die Elgin Marbles gern suggeriert wird.

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-78-3-5

Sebastian Huhnholz

Austerität und Ausnahme

Die Politik der Staatsausgaben nach der Karlsruher Entscheidung

Nach allgemeiner Wahrnehmung stürzte das Mitte November 2023 vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündete Urteil zum zweiten Nachtragshaushalt die amtierende Bundesregierung in eine veritable Krise. Karlsruhe hatte die bisherige Großzügigkeit des politischen Betriebs mit der verfassungsrechtlich verankerten »Schuldenbremse« »ausgebremst«.1

In der Tat war das Urteil ein Paukenschlag. Ein ähnliches Haushaltsproblem von Finanzverfassung wegen hatte die Bundesrepublik noch nie erlebt. Das liegt weniger daran, dass die grundgesetzgeschichtlich recht junge Kreditqualifizierung noch auslegungsbedürftig ist – Karlsruhe hat hierzu nun ein Grundsatzurteil mit einigermaßen viel Handlungs- und Interpretationsspielraum vorgelegt, durch das Regierung und Haushaltsgesetzgeber eigentlich verlässlicher und kreativer arbeiten könnten. Das notorische, ja geradezu paradigmatische Phänomen besteht vielmehr darin, dass die maßgeblichen Milieus der demokratischen Öffentlichkeit sich für die fiskaldemokratisch faszinierendsten Verfassungsfragen genauso wenig interessieren wie die im engeren Verständnis wirtschaftspolitischen Beratungs- und Expertenkreise der deutschen Bundesregierungen. Indigniert bemerkte ein wiederholt zu Rate gezogener Top-Ökonom im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, er müsse jetzt offenbar Verfassungsrecht »zur Kenntnis« nehmen.

Genau. Die Besonderheit der laufenden Haushalts- und Regierungskrise ist nicht das Geld an sich und auch nicht, dass es sich um Geld für politische Zwecke handelt. Durch Zahlen ist nicht erklärlich, was hier geschieht. Das im Bundesetat überraschend entstandene »Loch« von zunächst 60, kurz darauf immerhin noch 17 Milliarden Euro ist eine Rechengröße von einem Umfang, der weder angesichts der öffentlichen Jahresbudgets von fast einer Billion Euro für Bund, Länder und Kommunen in Deutschland schrecken müsste noch vor dem jüngeren Erfahrungshintergrund anscheinend omnipotenten Geldes unfassbar wäre. Immerhin befinden wir uns weit im zweiten Jahrzehnt nach einer Banken- und Finanzmarktkrise, seit der, durch die Covid-Pandemie verstärkt, Grenzen zwischen Fantasie und Mathematik sowie Unterscheidungen nach Gebern und Nehmern nach allen lebens- und erfahrungsweltlichen Maßstäben aufgehoben sind.

Das Problem ist eher, dass der Finanzpolitik die Orientierung über ordentliche Rechtsgrundlagen, insbesondere über die Gründe für das verfassungsdemokratisch zulässige Spektrum, abhanden gekommen ist und dass sich die Bundespolitik darum seit Jahren so sehr an den Schwund effektiver Kontrolle über gewaltige Ressourcen außergewöhnlicher Herkunft gewöhnt hat, dass selbst nach einer Phase erster, allemal verständlicher Panik und Sondierung viele der politisch in Reaktion auf das Karlsruher Urteil auf dem Tisch liegenden Haushaltssanierungsvorschläge in einem verfassungswidrigen Spektrum verbleiben. Längst finden sich gewichtige Kommentare, die die ernüchternden Berliner Anpassungspläne als vertane Chance evaluieren. In der bundespolitischen Disposition, der finanziellen Opferbereitschaft des Souveräns zu misstrauen und statt auf gesellschaftliche Solidarität auf Schulden zu setzen, zeigt sich eine demokratisch abgründige Skepsis von oben. Hinter dem Anschein bloß wirtschaftspolitischer Zweckmäßigkeit wird die Rechtfertigung von Politik gemieden und die budgetäre Folgenbewältigung in den Sachzwängen späterer Haushaltsjahre versteckt. Die eigentliche Misere besteht somit darin, dass man weiterhin nach Krisen sucht, um fiskalische Ausnahmezustände in Permanenz zu begründen.

Es verweist auf eine hartnäckige Mentalität, wenn verschiedene Bundeskabinette und Bundesministerien nacheinander und fortwährend meinen, zweckgebundene Kreditoptionen und neuerdings sogar Sozialversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit nachträglich in frei verfügbare Etatposten des Primärsteuerfiskus umdeuten zu können, also einen vom Parlament ausnahmsweise genehmigten Notfallschuldenrahmen in willkürliche Verschiebungsmasse der Regierung umzudefinieren. Die von Karlsruhe beanstandete Tendenz, durch Nachtragshaushalte rückwirkend die Finanzrahmen bereits abgelaufener Haushaltsjahre zukunftsbelastend auszureizen, war ein besonders markanter, offenbar allerdings nur vorläufig letzter Ausdruck dieser Mentalität. Denn konnte selbst der anschließende, im November 2023 akute Handlungsdruck erneut durch einen korrektiven, freilich pragmatisch-moderaten Nachtragshaushalt nebst Entnahme von Rücklagen gemildert werden, lässt die Bereinigungsvorlage für den 2024er Haushalt wieder ganz den Willen zu fortgesetzter Verwirrung erkennen.2 Zu sehr wohl haben sich Bundespolitik und deutsche Öffentlichkeit im begonnenen Jahrhundert auf den Doppelstandard konditioniert, das pseudosakrale Askese-Mantra einer verfassungsgarantierten Verschuldungsschranke vor sich herzutragen und zugleich durch eine permanente Suche nach mehr oder minder kreativen Umgehungschancen sozusagen aufs finanzpolitische Gaspedal zu treten. Allein darum wird die ohnehin nun stark reformbedürftige Schuldenbremse alsbald entweder ganz fallen oder durch konstitutionalisierte Sondervermögen konterkariert.

»Gotcha!«

Angesichts bereits anderthalb Jahrzehnte währender Krisen westlicher Staatsfinanzen, Unmengen von Steuerskandalen, oben und unten extrem verdichteter sozialer Ungleichheit, unbezahlbarer ökopolitischer Transformationsherausforderungen und zuletzt einer sogar mit Abertausenden Traktoren auch auf den Straßen des Landes ausgetragenen Bundeshaushalts- und Regierungskrise wäre vielleicht anderes zu erwarten als fortgesetzte Schummelei und finanzpolitischer Selbstbetrug, zu wünschen allemal. Das setzte aber voraus, die Staatsfinanzen einer Demokratie als politische Angelegenheit zu begreifen und nicht durch eine allgemeinwirtschaftliche Brille zu sehen, Fiskus und Budget also nicht als Frage letztlich bloß technischer Art, als demokratisch gleichgültige und verfassungsrechtlich beliebige Beschaffungsmächte und -größen zu verstehen.

Daran, dass weder Legislative noch Judikative der Bundesrepublik über eine politische, geschweige denn demokratische Theorie des Fiskus verfügen, war Karlsruhe freilich nicht ganz unbeteiligt.3 In der bundesrepublikanischen Nachkriegstradition, demokratischen Forderungen mit wirtschaftsdynamischer Verteilung zu begegnen, hatte das höchste Gericht das finanzdemokratische Möglichkeitsspektrum gleichsam verdrängt4 und ist dabei selbst von der Politikwissenschaft nicht weiter gestört worden.5 Dass zudem ein mächtiger Verfassungsrechtler und -richter wie Paul Kirchhof seine Privatüberzeugung von steuerlicher Konfliktvermittlung über Jahrzehnte als Verfassungsnorm kultivieren konnte,6 hat der Entfremdung zwischen Rechts-, Finanz-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft weiter Vorschub geleistet. Die Grund-, Verfassungs-, Steuer- und Schuldenrechtslage dazu jedenfalls wird abseits juristischer Zirkel gewöhnlich ignoriert. Umso mehr können legitimationspolitisch und quellenrechtlich sensibel zu unterscheidende Einnahmeressourcen (Steuern, Schulden, Beiträge usw.) und Ausgabenzwecke (allgemeine Aufgabendeckung, Nothilfe, Investitionen, erworbene Leistungsansprüche usf.) mit einer Schludrigkeit und Gleich-Gültigkeit diskutiert werden, die zu politischem Missbrauch geradezu einladen.

Man trifft hier auf die vieldiskutierte Eigenheit, dass ausgerechnet in einem schon früh als Wirtschaftsverwaltungsstaat charakterisierten Wohlfahrts-, Sozial-, Steuer- und Daseinsvorsorgestaat wie der Bundesrepublik Reden über Geld immer schon unwirklich war. Die Weimarer Tradition, dass sich nicht die Steuer- und Haushalts-, sondern die Lohnpolitik als demokratisches Hauptkampffeld dynamisch integrierter Verteilungskonflikte etablierte,7 setzte sich in den Trente Glorieuses der Bonner Wirtschaftswunderrepublik fast bruchlos fort.8 In der männlichen Vollerwerbsgesellschaft der Massendemokratie war nun allerdings »der Steuerzahler« das schillernde Zentralgestirn des Staatshaushalts.9 Staatsgeld stand dabei am Rand. Geld war Privatsache oder prozentmäßige Verhandlungsmasse produktionswirtschaftlich angeleiteter Auseinandersetzungen. Das erschwerte gehaltvolle und verfassungsrechtsnahe Diskurse über geordnete Verschuldung, denn so schien es, als seien öffentliche Kreditaufnahmen lediglich Vorgriffe auf spätere Steuereinnahmen, deren volkswirtschaftliches Sprudeln der Staat nicht durch übermäßige Einmischung riskieren dürfe.10

Die aus unseren Universitäten verdrängte sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung beißt sich daran immer wieder die Zähne aus. Die öffentliche Szene bleibt von oft parteinahen Experten der lehrbuchschönen Neoklassik dominiert: Angebot-Nachfrage, »invisible hand«, Konjunktur und Arbeitsmarkt, fertig. Einfachste Fiskalfragen (Was sind Steuern? Was ist Geld?) lassen sich öffentlich kaum darstellen, mit zählebigen Mythen (Kredite sind Schulden! Geld wird gedruckt!) hingegen werden ganze Parteiprogramme gefüllt und Wahlkämpfe bestritten. Fundamentale Felder der öffentlichen Finanzen – EU-Budget, Kommunalfinanzen, Länderfinanzausgleich, Parteien- und Stiftungsfinanzen, Pflegeversicherung, Zentralbanken etc. – finden im öffentlichen Diskurs nur schlagworthaft Platz. Ihre Bedeutung bleibt zumeist ebenso unverständlich wie der steuerliche Sinn der jüngst allseits verlachten Agrardieselsubvention für Landwirte.

Schon darum geht uneigentliches Sprechen immer. Es ersetzt das Politische der Öffentlichen Hand und der Politischen Ökonomie durch Phrasen und mythische Scheinwahrheiten: von »Bazooka« bis »Doppel-Wumms«, von »schwäbischer Hausfrau« bis »Steueroase«, von »Schwarzer Null« bis »Schuldenbremse«. Aber konkrete Vorstellungen zu geben – keine Chance. So dringlich das Thema Staatsfinanz auch ist, wird es hierzulande spröde normiert oder populistisch traktiert. Von Peter Sloterdijk bis Elfriede Jelinek gehört die öffentliche Hand irgendeinem Untoten. Dem einen fehlen Dankesschreiben des Finanzamts, die andere mutmaßt, die »Einkommenssteuer hat mehr Kriminelle geschaffen als jedes Gesetz. Gotcha!«11

Krise mit Ansage

Diese strukturlibertäre Vorstellungskultur stellt das höchstrichterliche Urteil vom November 2023 keinesfalls ab. Aber sie hilft zu verstehen, woher die anhaltende Verwirrung rührt. Man hatte sich seit den Nullerjahren daran gewöhnt, dass eine Regierung nach der nächsten die mittlerweile notorisch wiederkehrenden Krisen und innere politische Koalitionskonflikte mit Vorgriffen auf zukünftig fällige Ressourcen zu moderieren versucht statt durch das Geld womöglich widerspenstiger Bürgerinnen und Bürger. Der grundgesetzlich zulässige Rahmen war dabei immer weiter gedehnt worden – trotz Rekordsteuereinnahmen. Gleichzeitig bestärkten und bestätigten diese fetten Jahre die finanz- und finanzverfassungsrechtliche Ignoranz. Als hätte mittlerweile nicht eine akademische Politische Ökonomie sogar sehr populär die Unwirklichkeit der fiskalischen Gegenwart öffentlich kommentiert – Wolfgang Streeck, Mariana Mazzucato, Philip Manow, Thomas Piketty, um nur diese zu nennen –, hatte sich die Bundesrepublik in der finanzpolitischen Sackgasse der Konfliktvermeidung und Entscheidungsvertagung durch Pump eingerichtet. Auch darum vielleicht wollten die drei aktuellen Koalitionsparteien und das Spitzenpersonal ihrer maßgeblich beteiligten Bundesministerien – Kanzleramt, Finanz- und Wirtschaftsministerium – bis zum 15. November 2023 kein Problem erkennen.

Dass die fetten Jahre auch wieder enden würden, war zu erwarten. Insofern war die jüngste Haushaltsmisere zugleich Krise ohne Alternative wie Krise mit Ansage. Der spätere Prozessbevollmächtigte der in Karlsruhe klagenden Bundestagsabgeordneten, der Heidelberger Finanz- und Steuerjurist Hanno Kube, hatte schon während eines Hochs der Corona-Phase im Jahr 2021 vor dem immer exzessiveren Gebrauch von Notlageargumenten zur Begründung irregulärer Schuldenaufnahmen gewarnt. Die ständige Begründung »und weitere Nutzung der Notlagenklausel mit – noch so förderungswürdigen – Investitionsvorhaben, die eindeutig pandemieunabhängig sind und teilweise schon vor Beginn der Pandemie im Raum standen (Klimaschutz, Gestaltung des digitalen Wandels etc.)«, sei verfassungsrechtlich unhaltbar, so Kube.

Er hatte damit ein temporalpolitisch doppeltes Denkmuster identifiziert, das sich noch bis in allerjüngste Reformversuche fortschreibt: Unverbrauchte Kreditaufnahmespielräume aus einmalig und konkret legitimierten Katastrophenbewältigungsetats abstrakt begründet zu parken für ganz anders geartete Zwecke und dabei zugleich die Zukunft zu einer ständigen »Notlage«, faktisch also zum unbestimmt außergewöhnlichen Normalfall zu erklären. Unter dem Vorwand wünschenswerter Unglücksvorsorge den Kernhaushalt des Bundes mit irregulären Krediten aufpumpen zu wollen, lässt ja nicht nur haushaltspolitische Verantwortung und Gestaltung vermissen, sondern öffnet auch eigentümliche Ermessensspielräume jenseits parlamentarischer Kontrolle und haushaltswirtschaftlicher Vernunft. Welche Politikziele dabei verfolgt werden würden und warum diese vor anderen dringlichen Aufgaben priorisiert werden sollten, schien der Mitbestimmung des Wahlvolks und der Aufsicht des Bundestages potentiell entzogen.12

Das Karlsruher Urteil ist solchen Einsichten weitreichend gefolgt. Es blieb dabei durchaus reserviert. Typischerweise geben Finanzverfassung und parlamentarisch zentriertes Haushaltsrecht nicht vor, von wem genommen werden kann oder gar wie viel genommen werden soll, sondern nur, wann wie durch wen genommen werden darf. Hier bleibt also alles beim Alten. Karlsruhe schreibt sich nicht einmal quantitative Prüfungsvorbehalte nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu, obwohl die Suche nach geeigneten Referenz- und Relationswerten – ab welcher Summe im Verhältnis zu welchen Einnahmen dürfen Kosten als außergewöhnliche Belastungen betrachtet werden, um die Schuldenbremse auszuhebeln? – erwartbarerweise die politische Fantasie sprießen lässt. Karlsruhe hielt sich hier bedeckt. Die Auslegung, welche Finanzierungsanforderungen wie erheblich und außergewöhnlich oder wie belanglos, stetig oder nebensächlich sind, obliegt weiterhin einzig und allein dem Parlament. Ihm gegenüber ist die Regierung rechenschaftspflichtig.

Genau deswegen allerdings passt eine Regierung, die für die redliche Beschaffung öffentlicher Mittel gar nicht verantwortlich, weil zwar praktisch zur spontanen Ausgabenbewilligung befähigt ist, aber mittelfristig selbst nicht politisch in die Verantwortung genommen werden kann, in kein demokratisches und parlamentarisches Schema. Wo zweckbestimmte Kreditermächtigungen der Vergangenheit für formal ungenehmigte Zukunftspläne umfrisiert werden sollten, hätte die Koalition mit gewissermaßen noch ungedeckten Schecks, und ohne den demokratisch legitimierten Haushaltsgesetzgeber zu fragen, auch zukünftig Regierende auf die womöglich sehr langfristige Übernahme kostspieliger Vorlieben der gegenwärtigen Regierung verpflichten können. Die parlamentarismusgeschichtlich so fundamentale Ursprungs- und Leitkompetenz des Haushaltsrechts, die demokratische »Königsdisziplin« also, wird einkassiert, wenn eine Regierung unverbrauchte Kreditermächtigungsreserven der Vergangenheit für letztlich beliebige Notfallszenarien vorhält.

Kritik der Krise

So besehen ist nicht einfach die gegenwärtige programmatische Koalitionskonstellation Schuld: gegen Kürzungen (Kanzler-SPD), gegen Klimawandel (Habeck-Grüne), gegen Steuererhöhungen (Lindner-FDP). Sicher: Alle sollten und wollten alles bekommen. Und zweifellos bestehen erhebliche Unwägbarkeiten fort: volkswirtschaftliche Performanz; russische Konsolidierung der wirtschaftlichen und militärischen Kriegsführungskapazitäten; voraussichtlicher Rückgang des US-amerikanischen Nato- und Ukraine-Engagements; Wiederwahlrisiko Donald Trumps. Und nicht zuletzt schließt sich in diesem Jahr ein Gelegenheitsfenster, die Finanzverfassung noch ohne AfD, Rest-Linke und Wagenknecht-Gruppe mit bequemen Supermajoritäten zugunsten der etablierten Parteien zu reformieren. Das ist alles nicht beneidenswert. Eben darum aber trifft hier kein Parteiprogramm die Schuld und ist die Verantwortung für die Querelen auch nicht bei einem neuen Regierungsstil zu suchen.

Treten wir diesen Schritt zurück, wird ersichtlich, warum das Gros der schnell publiken Reflexe den Wesenskern des Grundsatzurteils verfehlt und damit den oben beschriebenen Weg der Ignoranz fortsetzt. Seit Jahren schnüren Weltlage und Zeitgeist den deutschen Regierungen Angebotspakete, die sich als außergewöhnliche Herausforderungen darstellen und theatralisch mit dem Narrativ der Alternativlosigkeit belegen lassen.13 Ob Finanzmarkt-Crash und Bankenzerfall, ob Klima und Migration, ob Pandemie oder Ukraine-Krieg: Die Schockevidenz unabweisbar gebotener Nothilfe immerhin fragt nicht nach Ge- und Verbot, sondern setzt auf das eigendynamische Mitwirken der Ereignishaftigkeit. Das Jenseits-aller-Routinen-Spiel lässt sich einhellig spielen, solange Geld fließen darf: Was für den Bürger das Einblenden von Spendenkontonummern bei Katastrophenmeldungen ist, funktioniert in der Politik mittlerweile ähnlich beim Sondervermögen, einer Anomalie im Haushaltsrecht zwar, deren tatsächliche Zahl zuletzt aber immer ungehinderter wachsen konnte.14

Es verwundert darum nicht, dass viele Reaktionen auf das Karlsruher Urteil diesen Trend fortsetzen wollen. Die angestammte Lösung bleibt ja allenthalben auf der Hand: Es fehlt Geld, also muss Geld her. Insofern aber war es doch eher die Art dieser Krisenbehauptung, mit der übergangen wurde, was geschehen war. Denn da die Regierung keine Einigung mit der klageführenden Opposition anstreben und auch nicht zu kreativen Not- und Ausnahmelösungen greifen wollte – Aufrufe, das Spendenkonto der Bundesrepublik zu füllen, Staatsschatzverpfändungen oder -verkäufe, Aussetzen von Steuervergünstigungen und -verschonungen, Aufschub von Sonderzahlungen im Öffentlichen Dienst des Bundes, gestückelte Übertragung von Investitionspflichten auf die verschuldungsflexibleren Kommunen (die Gemeinden sind nicht an die Schuldenbremse gebunden, sondern dürfen sich in Höhe ihrer Investitionen verschulden) usw. –, lag nach Maßgabe eingeschliffener Routinen nur ein Zeitproblem vor. Angesichts eines verfassungsrechtlich verschlungenen und in den Ausstrahlungswirkungen auf weitere Schatten- und Sonderhaushalte unabwägbaren Urteils hatte Karlsruhe den Weg versperrt, sehr kurzfristig zum einfachsten Mittel zu greifen und einige Milliarden mehr an Schulden in einen weiteren Nachtragshaushalt zu integrieren, sei es als Sonderhaushalt, sei es als interministeriale Verbindlichkeitsumschichtung oder anderes. So entstand das Risiko, einen unzureichend bedachten Nachtragshaushaltsentwurf eilig in den parlamentarischen Prozess zu geben, der sich schon unterhalb der fälligen Lesungen als verfassungswidrig entpuppt.

Alternativ zu den abhanden gekommenen Kreditreserven und ohne politischen Mut griff folgerichtig der spiegelbildliche Routinereflex: Sparen. Statt also das Urteil auf seine politischen Ursachen hin zu befragen, wurden die finanzwirtschaftlichen Folgen fixiert und sorgten für verlässliche Proteste. So übertönten die öffentlichen Stimmen die allgemein perplexe Stimmung und erstickten, was die Gunst der Stunde an politischen Chancen bereithielt. Zwar wusste man trotzdem nicht, woher das Geld sonst kommen sollte, aber man wusste, dass übliche Verdächtige allerlei erwartbare Vorschläge in der Schublade hatten, die umgehend von anderen üblichen Verdächtigen zurückgewiesen werden würden, und so konnte sich die Bundesregierung bis zum Jahresende hangeln. Man spielte auf Zeit, um sich selbst zu vergewissern, ob überhaupt Krise sein solle – und wenn ja, warum und in welchem Ausmaß.

Die einfachste Metaperspektive auf das, was hier vorging, lässt sich also durch den Wechsel der Beobachtungsdimension einnehmen: Zeit ist Geld. Das Karlsruher Urteil stürzte die Bundespolitik aus deren Sicht nicht in ein grundsätzliches Dilemma, sondern in eines von nur kurzer Dauer. Weil seine Verkündung auf den Jahresausklang fiel, waren viele haushaltswirtschaftlich gewohnte Übergangslösungen schließlich nicht prinzipiell, sondern nur punktuell, am Ende des Jahres 2023, verfassungswidrig. Der im Urteil inhaltlich keineswegs angelegte Handlungsdruck entstand also nicht durch politische Tonalität oder grundgesetzliche Textualität, sondern durch Temporalität. Im konventionellen Denkmodus erforderlich gewesen wäre: Am Ende des ausgehenden Haushaltsjahrs 2023 einen Nachtragshaushalt zu formulieren, der einerseits rückwirkend eine gar nicht vorhandene Notlage konstruiert (um die Schuldenbremse auszuhebeln), und diese Notlage andererseits so zu begründen, dass ein koalitionärer Konsensentwurf noch vor den Feiertagen dem Parlament als verfassungskonforme Gesetzesvorlage präsentiert werden konnte (um verschiedenen Varianten naheliegender Koalitionsaufkündigungen mit unabsehbaren Folgen für Regierungswechsel, Vertrauensfrage, Neuwahlen usw. zuvorzukommen).