MERKUR 4/2024, Jg.78 -  - E-Book

MERKUR 4/2024, Jg.78 E-Book

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Beschreibung

Ist es ein schwerwiegendes Problem, dass der Bundestag "das ganze Volk", das er vertreten soll, in mancher Hinsicht nur sehr verzerrt repräsentiert? Armin Schäfer sucht Antworten auf diese Frage und schildert Versuche, das Problem zu beheben. Gerne werden eine restaurative Architektur und modernistisches Bauen als polare Gegensätze gesehen. Owen Hatherley stellt allerdings fest, dass sie sich im Mangel an Ortsbezug durchaus ähneln. Die deutsche Israelsolidarität lässt sich, wie Hubert Leber zeigt, auch als Geschichte der Waffenhilfe erzählen. Über die eigene Autofiktion, aber auch die von Kolleginnen und Kollegen, denkt der Schriftsteller Paul Brodowsky nach.    Paola Lopez erklärt in ihrer ersten KI-Kolumne, auf wie vielen Ebenen Bias bei den Daten der Künstlichen Intelligenz existiert. In seiner Erwiderung auf Eva Geulens Kritik an seinem Buch Deutland wird Erhard Schüttpelz sehr grundsätzlich in Sachen Hermeneutik und Philologie. Karl Heinz Goetze berichtet von seinem Besuch auf Anselm Kiefers Künstlergelände im französischen Barjac.   Wie sehr in den Reaktionen auf den Israel-Palästina-Konflikt Projektionen im Spiel sind, versucht Albrecht Koschorke zu verstehen. David Wagner nimmt auf seinen Spaziergängen Robert Walser als Vorbild stets mit. Über Säulen als Denkmäler denkt Wolfgang Fach nach. Bei Susanne Neuffer geht es auf sehr engem Raum um Sex und Weltuntergang.

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Seitenzahl: 191

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 899, April 2024, 78. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 29. Februar 2024 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12304-3

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Armin Schäfer: Vertreter des ganzen Volkes?

Über Repräsentation und Repräsentativität

Owen Hatherley: Der neue Architekturstreit

Hubert Leber: Waffenhilfe und Erinnerungskultur

Triebfedern deutscher Israel-Politik vor und nach dem 7. Oktober 2023

Paul Brodowsky: »Erbärmliche Selbstentblößung« als Mittel politischer Literatur

Über Form, Ethos und Potentiale von Autofiktion

KRITIK

Paola Lopez: KI-Kolumne

Diversität in Daten?

Erhard Schüttpelz: Diesseits von Deutland

Replik auf Eva Geulen und Thomas Steinfeld

Karl Heinz Götze: Bau und Trümmer

Anselm Kiefer im Sommer 2023

MARGINALIEN

Albrecht Koschorke: Der Gaza-Moment

David Wagner: 27 Schritte durchs Spazieren

Wolfgang Fach: Eine monumentale Misere?. Über den Krieg im Denkmal

Susanne Neuffer: Das leibliche Wohl

Vorschau

ArminSchäfer, geb. 1975, Professor für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2021 erschien Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus (zus. m. Michael Zürn)[email protected]

OwenHatherley, geb. 1981, britischer Schriftsteller und Journalist. 2022 erschien Modern Buildings in Britain. A Gazetteer. – Der Beitrag erschien unter dem Titel The new architecture wars am 22. Januar 2024 in Aeon.

HubertLeber, geb. 1973, Lektor bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

PaulBrodowsky, geb. 1981, Schriftsteller und Professor für Dramentechnik an der Universität der Künste Berlin. 2023 erschien Vä[email protected]

PaolaLopez, geb. 1988, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Mathematik und Informatik der Universität Bremen.

ErhardSchüttpelz, geb. 1961, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Siegen. 2023 erschien Deutland.

Karl HeinzGötze, geb. 1947, Prof. em. für deutsche Literatur, Landeskunde und Ideengeschichte an der Universität Aix-Marseille. 2017 erschien Was aus der Heimat wurde, während ich lange weg war. khgoetze.com

AlbrechtKoschorke, geb. 1958, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. 2016 erschien Adolf Hitlers »Mein Kampf«. Zur Poetik des [email protected]

DavidWagner, geb. 1971, Schriftsteller. 2021 erschien Verlaufen in Berlin. Im September 2024 erscheint der Roman Verkin. – Der Beitrag wird als Nachwort zu der Robert-Walser-Anthologie »Spazieren muss ich unbedingt« (hrsg. v Reto Sorg) erscheinen.

WolfgangFach, geb. 1944, Prof. em. für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Leipzig. 2020 erschien Trump: Ein amerikanischer Traum?

SusanneNeuffer, geb. 1951, Autorin. 2019 erschien Im Schuppen ein Mann; 2022 Sandstein. Zwei Novellen.https://www.susanne-neuffer.de

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-78-4-3

Die Achse der Welt hat sich gedreht. So lautet im Kern die Analyse von Albrecht Koschorke in seinem kurzen, dichten Essay Der Gaza-Moment. Er blickt dabei auf den Krieg, der um einen »kaum mehr als zehn Kilometer breiten Landstreifen in Nahost« geführt wird, aber mindestens so sehr auf den Rest der Welt, der sich in streitende, oft unversöhnliche Lager sortiert. Aus dem Narrativ der Teilung in einen Osten und einen Westen ist das der Konfrontation zwischen Norden und Süden geworden. Koschorke macht klar, dass zu dieser Verlagerung absurde Projektionen gehören: Israel wird als Kolonialstaat betrachtet und dem Norden zugeschoben, während man den fundamentalistischen Terror der Hamas wie den kriegerischen Imperialismus Russlands zum Befreiungskampf für den unterdrückten »globalen Süden« erklärt. In einem weiteren Beitrag zu dem Thema, das uns auch in den kommenden Heften beschäftigen wird, liefert Hubert Leber – mit dem Fokus auf der Waffenhilfe – historische Hintergründe zum deutsch-israelischen Verhältnis.

Mit ungeheurem Tempo drängen die Anwendungen Künstlicher Intelligenz in den Alltag von Arbeit und Freizeit. Was dabei und wie uns geschieht, bedarf der Reflexion, die angesichts der Veränderungen kaum hinterherkommt. In ihrer KI-Kolumne wird die Mathematikerin und Rechtsphilosophin Paola Lopez die Künstliche Intelligenz und ihre Implikationen aus kritischer Distanz in den Blick nehmen. In der ersten Folge geht es nicht nur darum, wie Diversität in das Bias der Daten zu bringen ist, sondern auch darum, warum das nicht so wünschenswert sein muss, wie es auf den ersten Blick scheint.

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-78-4-5

Armin Schäfer

Vertreter des ganzen Volkes?

Über Repräsentation und Repräsentativität

In seiner Rede als Alterspräsident des Bundestages am 26. Oktober 2021 erläuterte Wolfgang Schäuble sein Verständnis von Repräsentation. Jeder Versuch, den Bundestag zu einem Spiegelbild der Bevölkerung zu machen, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt. Natürlich gebe es mit Blick auf Alter, Geschlecht oder Beruf »eklatante Abweichungen« zwischen den Abgeordneten und der Bevölkerung, aber diese seien für die Demokratie unproblematisch, da Abgeordnete »Vertreter des ganzen Volkes« seien, wie er mit Verweis auf Artikel 38 des Grundgesetzes formulierte. Die Vorstellung, gesellschaftliche Gruppen könnten nur durch ihresgleichen vertreten werden, sei ein Irrglaube. Statistische Repräsentativität sei nicht der Kern von Repräsentation.1

Doch der Verweis auf die Grundgesetzformulierung »Vertreter des ganzen Volkes« wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. So ist unklar, ob die Formulierung auf ein theoretisches Konzept verweist, das diesen Anspruch als Wesen der Repräsentation begreift, oder ob damit eine normative Forderung erhoben wird, die sich an die einzelnen Abgeordneten richtet. Schließlich könnte der Hinweis auf Artikel 38 auch eine empirische Aussage sein, die mehr oder weniger stark zutreffen kann. Was bedeutet es aber für die Repräsentation, wenn empirische Muster dem theoretischen oder normativen Konzept widersprechen? So hat die politikwissenschaftliche Forschung der letzten Jahre gezeigt, dass es durchaus darauf ankommt, wer die Bürgerinnen und Bürger im Parlament vertritt. Abgeordnete, auch wenn sie sich selbst anders sehen, repräsentieren nicht das ganze Volk, sondern einen bestimmten Ausschnitt – die sozial besser gestellten Gruppen.

Auch wenn Repräsentativität als Norm der Repräsentation vordergründig zurückgewiesen wird, ist die Idee spiegelbildlicher Repräsentation dem deutschen Parlamentarismus alles andere als fremd. So ist das Wahlrecht entlang von Wahlkreisen und Landeslisten organisiert, damit alle Regionen im Parlament vertreten sind. Wenn jede Person das ganze Volk vertreten kann, wirkt die institutionell verbriefte regionale Repräsentation unnötig, und das Wahlrecht ließe sich deutlich vereinfachen, indem unter anderem die Erststimme komplett abgeschafft würde. Gerade die Union beharrt jedoch auf dem Wert dieser spezifischen Art von Repräsentativität, weil angenommen wird, dass das Wer beeinflusst, was im Parlament entschieden wird. Warum aber sollte ein Parlament ohne (oder mit nur wenigen) Frauen oder eins ohne Arbeiterinnen und Arbeiter eher hinnehmbar sein als ein Parlament ohne bayerische Abgeordnete? Es ist nicht offensichtlich, warum beim Repräsentieren regionalen Merkmalen mehr Gewicht als anderen eingeräumt werden sollte.

Wenn also bestimmte Formen der spiegelbildlichen Repräsentation nicht nur fraglos akzeptiert, sondern sogar institutionell abgesichert werden, warum werden andere Merkmale der Abgeordneten von vornherein als unwichtig dafür erachtet, was im Parlament diskutiert und entschieden wird? Betrachtet man die Abgeordneten des Bundestages, so zeigen sich tatsächlich »eklatante Abweichungen« von der Bevölkerung. Frauen, unter Vierzigjährige oder Menschen mit Migrationshintergrund sind nach wie vor stark unterrepräsentiert, während ältere Männer überrepräsentiert sind. Auch Menschen ohne Hochschulabschluss sind weit unterhalb ihres Bevölkerungsanteils vertreten. Im Gegensatz dazu sind Unternehmerinnen, Beamte und Selbständige im Bundestag deutlich überrepräsentiert. Der Bundestag ist nicht länger ein Lehrerparlament, wohl aber ein Parlament der Akademikerinnen und Akademiker. Anchrit Wille und Mark Bovens sprechen deshalb von einer »Diplomiertendemokratie«,2 die Folgen für die Politikgestaltung hat.

Ist Kevin Kühnert ein Problem?

Fast alle Abgeordneten haben studiert, und auch in anderer Hinsicht werden sich die Lebensläufe immer ähnlicher. Eine große Gruppe im Parlament sind »Karrierepolitikerinnen« und »-politiker«. Damit sind diejenigen gemeint, die in ihrem gesamten Berufsleben vor ihrem ersten Einzug in den Deutschen Bundestag nicht mehr als fünf Jahre hauptberuflich außerhalb der Politik gearbeitet haben.3 Der typische Lebenslauf beginnt in der Jugendorganisation der Partei und wird während des Studiums durch die Arbeit für eine Abgeordnete fortgesetzt. Erste Ämter auf lokaler oder regionaler Ebene treten hinzu. Nach dem Studium findet nach einer kurzen Tätigkeit in Unternehmen oder der Verwaltung der Wechsel auf einen politischen Vollzeitjob statt, beispielsweise in den Parteizentralen, als Mitarbeiterin der Fraktion oder bei einer politischen Stiftung. Nach dieser Anlernphase erfolgt schließlich die Kandidatur für Landtag oder Bundestag. Wenn viele Abgeordnete solche überwiegend parteiinternen Karrieren aufweisen, stellt sich die Frage, wie gut sie »Vertreter des ganzen Volks« sein können oder wollen. Für Großbritannien zeigt eine Studie, dass sich Karrierepolitikerinnen und -politiker stärker opportunistisch als andere Abgeordnete verhalten, weil ihre Abhängigkeit von der Parteiführung besonders stark ist.4

Gerade in den Führungspositionen der Parteien finden sich immer mehr Menschen, die kein Berufsleben außerhalb der Politik kennengelernt haben – oder zumindest nicht über einen längeren Zeitraum. Neben Kevin Kühnert lassen sich in der SPD auch Rolf Mützenich oder Lars Klingbeil zu dieser Gruppe zählen, bei den Grünen Ricarda Lang, Omid Nouripour und Annalena Baerbock, bei der FDP Marco Buschmann, Johannes Vogel und Christian Dürr. Auch in der Union sind die Karrierepolitiker stark vertreten: Andreas Scheuer, Dorothee Bär und Philipp Amthor sind nur drei Beispiele – und Wolfgang Schäuble zählte auch dazu. So viel sie sonst trennen mag, eint auch Sevim Dağdelen, Sahra Wagenknecht, Katja Kipping und Janine Wissler, dass sie das Berufsleben überwiegend parteiintern kennengelernt haben.

Die Dominanz von Karrierepolitikerinnen und -politikern ist dabei kein charakterliches, sondern ein politisches Problem. Jede einzelne der genannten Personen mag hochanständig sein und sich aus ganzem Herzen für die Bürgerinnen und Bürger einsetzen – doch der Ausschnitt der Bevölkerung, den sie abbilden, ist ein sehr schmaler. Wer nur in der Politik gearbeitet hat, kennt die Erfahrungen der sprichwörtlichen Dachdecker oder Altenpflegerinnen nur vom Hörensagen. Dies kann besonders dann zum Problem werden, wenn auf unvorhergesehene Ereignisse, wie etwa die Corona-Pandemie, schnell reagiert werden muss. Wer dann die Menschen und ihre Lebensumstände nicht kennt, wird manches falsch einschätzen und anderes schlicht übersehen.

Karrierepolitikerinnen und -politiker sind darauf spezialisiert, im innerparteilichen Wettbewerb zu bestehen. Sie wissen, wie man Netzwerke knüpft, Parteitage adressiert und Anträge formuliert. Sie haben es an die Spitze geschafft, weil sie auch in der Lage sind, parteiinterne Mehrheiten zu bilden. Aber sind das die Fähigkeiten, mit denen man die Bevölkerung gut vertreten kann? Natürlich ist Kevin Kühnert als Person kein Problem für die demokratische Repräsentation, aber zu viele Kevin Kühnerts sind es.

How I wish you were here

Die Abgeordneten spüren auch, dass bestimmte Gruppen im Parlament fehlen, und wünschen sich eine weniger exklusive Zusammensetzung des Bundestags. In einem von Claudia Landwehr geleiteten Forschungsprojekt wurden Abgeordnete in den Landtagen und im Bundestag zu ihren Demokratiekonzepten und Repräsentationsvorstellungen befragt.5 Geantwortet haben 532 Abgeordnete. Eine der Fragen war, wie wichtig es ist, dass die Zusammensetzung des Parlaments der Zusammensetzung der Bevölkerung entspricht. Für fünf Merkmale – Alter, Geschlecht, Beruf, Migrationsgeschichte und sexuelle Identität – wurde auf einer Skala von eins bis sieben erhoben, wie wichtig deskriptive Repräsentation ist. Mit Ausnahme der sexuellen Identität befürworten die Befragten stets mehrheitlich, dass die Zusammensetzung spiegelbildlich zur Bevölkerung sein sollte. Am größten ist die Zustimmung mit Blick auf das Geschlecht. Die Hälfte der Befragten wählte auf der Siebener-Skala die beiden höchsten Werte aus. Aber auch hinsichtlich der Berufe, des Alters und der Herkunft steht spiegelbildliche Repräsentation bei vielen der befragten Abgeordneten hoch im Kurs. Dabei zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede nach Parteizugehörigkeit. Von rechts nach links nimmt die Zustimmung zur deskriptiven Repräsentation zu, so dass die AfD stets am skeptischsten ist, während Grüne und Linke am stärksten zustimmen.

Nun mag es nicht überraschen, dass Abgeordnete von Mitte-links-Parteien der Auffassung sind, dass Parlamente auch mit Blick auf (Aus)Bildung und Berufe ein Abbild der Gesellschaft sein sollten. Unklar ist allerdings, wie sie diese mit der tatsächlichen Zusammensetzung der Parlamente und auch der der eigenen Fraktion versöhnen. Die detaillierte Datenerhebung von Lea Elsässer und Jonas Wenker zur Zusammensetzung des Bundestags zeigt, dass 83 Prozent der gegenwärtigen Abgeordneten ein Studium abgeschlossen haben. Zählt man diejenigen hinzu, die ein Studium begonnen, aber nicht abgeschlossen haben, weil sie zu früh Vollzeitpolitikerinnen und -politiker wurden, nähern wir uns der 90-Prozent-Marke. In allen Fraktionen sind mehr als drei von vier Abgeordneten Akademikerinnen und Akademiker. Spitzenreiterin ist die Unionsfraktion mit fast 90 Prozent, und das Schlusslicht bildet die Linke mit 78 Prozent. Ein Ausbildungsberuf scheint nicht die Qualifikation zu sein, die den Eintritt ins Parlament wahrscheinlich macht.

Alle im Bundestag vertretenen Parteien müssten, wenn wir die Antworten der Abgeordneten ernst nehmen, ihre Rekrutierungsverfahren grundlegend ändern, um ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Gerade die linken Parteien leiden unter Phantomschmerzen, weil in ihren Reihen die Arbeiterinnen und Arbeiter fehlen. Aber der Leidensdruck ist nicht groß genug, um an den Verfahren etwas zu ändern.

Politik der Anwesenheit

Repräsentieren bedeutet, so die berühmte Formulierung der Politiktheoretikerin Hanna Pitkin, im Interesse derjenigen zu handeln, die repräsentiert werden, und sich dabei responsiv gegenüber deren Anliegen zu verhalten.6 Für Pitkin war es dabei weniger wichtig, wer die Abgeordneten sind, solange sie die Vielfalt der Meinungen, Werte und Interessen widerspiegelten, die auch in der Bevölkerung vorhanden sind. Nicht soziale Deckungsgleichheit, sondern ideologische Übereinstimmung war für sie Voraussetzung gelingender Repräsentation. Doch die von ihr vertretene »Politik der Ideen« gerät seit einiger Zeit theoretisch wie empirisch unter Druck, da auch sie annimmt, die Spannweite der im Parlament vertretenen Meinungen sei unabhängig von dessen Zusammensetzung.7

Seit Mitte der 1980er Jahre diskutieren politische Theoretikerinnen wie Iris Young, Anne Phillipps oder Jane Mansbridge, ob nicht die Anwesenheit bestimmter Gruppen Voraussetzung für die Vielfalt der im Parlament vertretenen Ideen sei.8 In vielen westlichen Parlamenten lag die Anzahl weiblicher Abgeordneter zu dieser Zeit unter 10 Prozent. Doch wie sollten die Anliegen der Hälfte der Bevölkerung angemessen parlamentarisch vertreten werden, wenn nicht einmal genug Parlamentarierinnen vorhanden waren, um in alle Ausschüsse weibliche Mitglieder zu entsenden? Dabei gehen die Verfechterinnen von »Gruppenrepräsentation« keineswegs davon aus, Frauen hätten übereinstimmende Einstellungen oder das Geschlecht sei die einzige politisch relevante oder gar dominante Trennlinie. Natürlich würde weiterhin die Parteizugehörigkeit die eigene Position stärker prägen als das Geschlecht, aber die Wahrscheinlichkeit, Probleme anders wahrzunehmen, weibliche Perspektiven einzubringen und damit andere Entscheidungen zu treffen, stiege, wenn mehr Frauen im Parlament vertreten seien.

Die »Politik der Anwesenheit« zielt allerdings nicht auf ein Parlament, das exaktes Spiegelbild der Gesellschaft ist, wie es der Begriff »Repräsentativität« nahelegt. Nur jene Gruppen haben einen Anspruch auf Repräsentation, die benachteiligt werden und deren Interessen bislang nicht im Parlament vertreten sind. Zahlenmäßige Unterrepräsentation allein begründet keinen Anspruch, in höherer Anzahl repräsentiert werden zu müssen. Sollten rothaarige Männer über fünfzig numerisch unterrepräsentiert sein, müssten sie damit wohl leben. Nur anhaltende Benachteiligungen können begründen, warum eine Gruppe parlamentarisch repräsentiert werden sollte. Daher weiten die Verfechterinnen der Gruppenrepräsentation das Argument etwa auf Menschen mit Migrationsgeschichte, nicht aber auf Arbeiterinnen und Arbeiter aus. Zwar ist die Arbeiterklasse schon immer unterproportional in den Parlamenten vertreten gewesen, aber da der Links-rechts-Konflikt sich historisch am Verhältnis von Arbeit und Kapital festgemacht habe, seien ihre Interessen hinreichend im Parlament repräsentiert worden. Erst in jüngster Zeit ändert sich diese Auffassung.9

Eine Reihe von politikwissenschaftlichen Studien hat für unterschiedliche Länder – u.a. Argentinien, die USA oder Großbritannien – untersucht,10 ob Abgeordnete mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen sich in ihren politischen Einstellungen voneinander unterscheiden. Dabei zeigt sich, selbst unter Berücksichtigung der Parteimitgliedschaft, ein Effekt der Klassenzugehörigkeit: Abgeordnete aus nichtakademischen Berufen positionieren sich in der eigenen Fraktion eher links und setzen sich für andere Belange ein als Abgeordnete aus akademischen Berufen. Selbst wenn es im Abstimmungsverhalten aufgrund der Fraktionsdisziplin nicht sichtbar wird, folgen die Einstellungen der Abgeordneten einem sozialen Muster.11

Wen die Volksvertreter vertreten

»Aber wir haben doch den Mindestlohn eingeführt!« ist eine häufige Entgegnung auf den Befund, die Abgeordneten verträten primär die Interessen privilegierter Gruppen. Diese Replik verkennt jedoch das eigentliche Argument. Zunächst ist es gar nicht so einfach herauszufinden, ob die Entscheidungen des Bundestags eine Schieflage für oder gegen bestimmte Gruppen aufweisen. Eine enge Verbindung zwischen Merkmalen der einzelnen Abgeordneten und deren Abstimmungsverhalten lässt sich in parlamentarischen Demokratien allein deshalb nicht feststellen, weil in der Regel die Fraktionsdisziplin aufrechterhalten wird. Das heißt, alle Abgeordneten einer Fraktion stimmen gleich ab. Ob also einzelne Parlamentarierinnen oder Parlamentarier sich besonders für bestimmte Gruppen einsetzen, ist auf dieser Ebene nicht zu bestimmen.

Wenngleich häufig nicht unmittelbar untersucht werden kann, ob Abgeordnete mit unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen sich unterschiedlich verhalten, lässt sich doch prüfen, ob die Entscheidungen des Parlaments alle sozialen Klassen im gleichen Maß berücksichtigen. Um dies herauszufinden, muss für einen langen Zeitraum und für möglichst viele Sachfragen gemessen werden, ob politische Präferenzen und parlamentarische Entscheidungen miteinander zusammenhängen. Dabei kann anhand von Umfragen nicht nur der Grad der Zustimmung oder Ablehnung zu einer Reform insgesamt erfasst werden, sondern auch wie stark die Unterstützung unterschiedlicher Berufs-, Bildungs- oder Altersgruppen zu einer Reform ausfällt. Im zweiten Schritt kann auf dieser Grundlage geprüft werden, mit wessen Präferenzen die politischen Entscheidungen korrelieren. Für die USA hat der Princeton-Professor Martin Gilens auf diese Weise zeigen können, dass die Anliegen der Reichen mit höherer Wahrscheinlichkeit als die der Armen umgesetzt werden – insbesondere wenn beide Gruppen Unterschiedliches wollen.12

Gemeinsam mit Lea Elsässer und Svenja Hense habe ich eine vergleichbare Studie für Deutschland durchgeführt.13 Wir konnten zeigen, dass auch hier Entscheidungen des Bundestags stärker mit den Präferenzen ressourcenstarker als mit denen von ressourcenschwachen Gruppen übereinstimmen, insbesondere wenn nennenswerte Meinungsunterschiede bestehen. Ob Arbeiterinnen und Arbeiter eine vorgeschlagene Reform geschlossen ablehnen oder mit großer Mehrheit befürworten, so unser Ergebnis, hat keinen Einfluss auf deren Umsetzungswahrscheinlichkeit. Für höhere Angestellte oder Unternehmerinnen gilt jedoch: Je größer die Zustimmung, desto wahrscheinlicher die Umsetzung.14

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Mindestlohnrätsel auflösen. Die Einführung des Mindestlohns wurde in allen sozialen Gruppen mit deutlicher Mehrheit befürwortet. Diese Reform wurde nicht gegen den erbitterten Widerstand von höheren Einkommensbezieherinnen und -beziehern durchgesetzt, sondern war in der Gesellschaft insgesamt populär. Ganz anders sieht es aus, wenn wir die Wiedereinführung der Vermögenssteuer anschauen. Der Grad der Zustimmung korreliert mit dem Kontostand, und bisher hat sich keine Regierung getraut, diese unter den Bessergestellten unpopuläre Steuer in nennenswerter Höhe wieder einzuführen.

Es bleibt dabei: Die Vertreter des ganzen Volkes weichen in ihren Einstellungen von Teilen der Bevölkerung stark ab, ihre Entscheidungen spiegeln die politischen Präferenzen der Bessergestellten wider. Das untere Drittel der Gesellschaft ist nicht nur numerisch, sondern auch substantiell unterrepräsentiert – und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern wie Spanien, den Niederlanden, Schweden oder Norwegen.15 Selbst in den egalitärsten Demokratien der Welt ist die Chance, politische Entscheidungen zu beeinflussen, sozial ungleich verteilt.

Treuhänder oder Abgesandte?

Artikel 38 des Grundgesetzes beinhaltet drei Aussagen: Die Abgeordneten vertreten erstens das ganze Volk, sie sind zweitens nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und folgen drittens nur ihrem Gewissen. In diesem Dreiklang wird die Unabhängigkeit der Abgeordneten hervorgehoben. Sie sollen frei darin sein, wie sie entscheiden, und gerade dadurch die Bevölkerung vertreten. In der klassischen Unterscheidung zwischen Treuhändern auf der einen und Abgesandten auf der anderen Seite bevorzugt das Grundgesetz das erste Modell. Die Abgeordneten unterliegen keinem imperativen Mandat und müssen sich nicht vor Abstimmungen rückversichern, wie sie abstimmen sollen. Die Bürgerinnen und Bürger erteilen den Repräsentantinnen und Repräsentanten keine spezifischen Aufträge, sondern eine Vollmacht, in ihrem Interesse zu handeln. Dies bedeutet allerdings auch, dass es den Abgeordneten explizit erlaubt ist, in ihren Entscheidungen von der Mehrheitsmeinung ihrer Wählerinnen und Wähler abzuweichen.

So sehen das auch die Abgeordneten selbst. In einer Teilbefragung der Deutschen Wahlstudie wurden für den Bundestag Kandidierende gefragt, wie Abgeordnete abstimmen sollten, wenn die eigene Meinung nicht mit der der eigenen Wählerinnen und Wähler oder mit der der eigenen Partei übereinstimmt. In beiden Fällen antwortete eine überwältigende Mehrheit der Befragten, dass Abgeordnete in diesen Konfliktfällen der eigenen Meinung folgen sollten. Nun könnte hier schlicht die Grundgesetzformulierung als Echo in den Antworten zu hören sein, aber in einer anonymen Befragung ließe sich auch eine andere Antwort geben. Obwohl wir wissen, dass Abgeordnete fast nie gegen die Fraktionsdisziplin verstoßen und Zuwiderhandeln sanktioniert wird, halten sie daran fest, einzig dem eigenen Gewissen verpflichtet zu sein und frei zu entscheiden.

Ganz anders sieht das Repräsentationsverständnis der Bürgerinnen und Bürger aus. Im Demokratiemodul des European Social Survey wurde gefragt, ob die Regierung ihre Pläne ändern sollte, wenn die große Mehrheit der Bevölkerung anderer Meinung sei, was das Beste für das Land ist.16 In den meisten Ländern, auch in Deutschland, wünscht sich eine übergroße Mehrheit der Befragten in diesem Fall eine Politikänderung. Im Anschluss um die Einschätzung gebeten, ob die Regierung in einem solchen Fall die Pläne tatsächlich ändern würde, überwiegen negative Urteile. Menschen wünschen sich Abgesandte, die dem Mehrheitswillen der Bevölkerung folgen, bekommen aber Treuhänderinnen und Treuhänder, die die eigene Autonomie hochhalten, selbst wenn die Einstellungen im Konflikt mit denen der eigenen Wählerinnen und Wähler oder der Bevölkerungsmehrheit stehen.