MERKUR  5/2023 -  - E-Book

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Beschreibung

Susan Neiman widerspricht in ihrem Porträt des Charismatikers Jacob Taubes, das auf eigenem Erleben beruht, manch negativer Einschätzung seines Biografen Jerry Z. Muller. Wie weit die heute so sichtbaren Bruchlinien innerhalb der Linkspartei zurückreichen, kann Thomas Holzhauser in seinen Überlegungen zum "linkskonservativen Populismus" anschaulich machen. Viele Funde hat Thomas Etzemüller bei seinen Lektüren des und zum Kursbuch(s) der Deutschen Bahn gemacht.   Der Abgesang gehört zum Pop, stellt Jens-Christian Rabe in seiner ersten Pop-Kolumne fest. Anhand neuerer Erinnerungsbücher von Edgar Reitz, Margarethe von Trotta sowie Erika und Ulrich Gregor versucht Ekkehard Knörer nachzuvollziehen, wie Papas Nachkriegskino zum Neuen Deutschen Film werden konnte.    Über Generativität, also die Bedeutung von Geburt und Gebären, ist in der Geschichte der Philosophie, wie Tatjana Noemi Tömmel zeigt, bislang viel zu wenig nachgedacht worden. Volker Hage erinnert sich an den Sommer, in dem John F. Kennedy Deutschland besuchte. Eine Art Collage der (vor allem bösen) Dinge, die über Joe Biden gesagt worden sind, hat Wolfgang Fach unter der Überschrift "Kritik und Krawall" zusammengestellt. Richard Schuberth erklärt, warum das prominente Denkmal des prominenten Wiener Bürgermeisters Karl Lueger abgeräumt werden sollte. In David Gugerlis Schlusskolumne geht es um Entschlüsselung, Alan Turing und Computergeschichte.

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Seitenzahl: 193

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 888, Mai 2023, 77. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar. · Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 30. März 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.volltext.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12172-8

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Susan Neiman: Tiefe Eindrücke

Zu Jerry Z. Mullers Jacob-Taubes-Biografie

Thorsten Holzhauser: Linkskonservativer Populismus

Thomas Etzemüller: Das Kursbuch der Deutschen Bundesbahn

Lebenstaktung in der schwerfälligen Moderne

KRITIK

Jens-Christian Rabe: Popkolumne

Abgesänge

Ekkehard Knörer: Wie der (west)deutsche Film jung wurde

MARGINALIEN

Tatjana Noemi Tömmel: Generativität Über ein Desiderat in der Philosophie

Volker Hage: Mein Sommer mit Kennedy

Wolfgang Fach: Kritik und Krawall

Richard Schuberth: Warum Lueger fallen muss

David Gugerli: Geheime Spuren

Vorschau

SusanNeiman, geb. 1955, Philosophin und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. 2020 erschien Von den Deutschen lernen: Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. 2023 erscheint in mehreren Sprachen Links ist nicht Woke. – Der Text ist im Original im April 2023 in der New York Review of Books erschienen.

ThorstenHolzhauser, geb. 1985, Historiker. 2019 erschien Die »Nachfolgepartei«. Die Integration derPDSin das politische System der Bundesrepublik Deutschland 1990–2005 und 2022 Demokratie, Nation, Belastung. Kollaboration undNS-Belastung als Nachkriegsdiskurs in Frankreich, Österreich und Westdeutschland. [email protected]

ThomasEtzemüller, geb. 1966, Professor für Europäische Kulturgeschichte der Moderne an der Universität Oldenburg. 2021 erschien Henning von Rittersdorf – Das deutsche Schicksal. Erinnerungen eines Rasseanthropologen. Eine Doku-Fiktion; 2022 Landschaft und Nation: Rhein – Darlarna – England. https://uol.de/thomas-etzemueller/

Jens-ChristianRabe, geb. 1977, Autor und Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. [email protected]

TatjanaNoemi Tömmel, geb. 1980, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin, Fachgebiet für Ethik und Technikphilosophie. 2013 erschien Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt.

VolkerHage, geb. 1949, Literaturkritiker, Autor. 2022 erschien Was wir euch erzählen. Schriftstellerporträts 2 und 2018 der Roman Des Lebens fünfter Akt.

WolfgangFach, geb. 1944, Professor emeritus für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Leipzig. 2020 erschien Trump: Ein amerikanischer Traum?

RichardSchuberth, geb. 1968, Schriftsteller, Essayist. 2022 erschien Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung und 2021 Lord Byrons letzte Fahrt. www.richard-schuberth.com

DavidGugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-77-5-3

Was wird man seinem 2021 geborenen Enkel alles erklären müssen, wenn man ihm eine Vorstellung des Jahres 1963 vermitteln möchte? Diese Frage stellt sich Volker Hage, seinerseits geboren 1949. Im Sommer 1963 saß er am Esstisch der elterlichen Wohnung in Travemünde, das damals direkt an der deutsch-deutschen Grenze lag, und klebte Zeitungsausschnitte vom Deutschlandbesuch John F. Kennedys in sein Tagebuch. Beim Versuch, sich das Lebensgefühl jener Zeit wieder in Erinnerung zu rufen, wird ihm bewusst, wie massiv nicht nur die politischen Rahmenbedingungen sich von denen der Gegenwart unterscheiden. Auch technologisch war das Leben auf nahezu allen Ebenen auf entscheidende Weise anders gerahmt.

Wer die Erfahrungswelten der Nachkriegsjahrzehnte vergegenwärtigen will, ist deshalb zunehmend darauf angewiesen, sie unter Bezug auf das Moment des Noch-Nicht zu beschreiben: noch keine privaten Desktop-Computer, keine Mobiltelefone, kein Internet etc. Wie umfassend technologische Innovationen die alltägliche Lebenswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umgestaltet haben, macht Thomas Etzemüller am Beispiel des Bahnverkehrs eindrucksvoll sichtbar. Anhand alter Kursbücher rekonstruiert er den grandiosen Aufwand, mit dem der komplexe Betrieb unter den technologischen Bedingungen des analogen Zeitalters geplant, gesteuert und aufrechterhalten werden musste. Dabei geht es ihm weniger um eine Feier der technischen Leistungen dieser Zeit – Etzemüller spricht von der »schwerfälligen Moderne« – als vielmehr darum, die grundlegend »andere Taktung des Lebens« anschaulich werden zu lassen, die sich aus so schlichten Umständen ergab, dass beispielsweise die Türen jedes Waggons jedes Personenzugs allesamt von Hand geschlossen werden mussten.

CD /EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-5-5

Susan Neiman

Tiefe Eindrücke

Zu Jerry Z. Mullers Jacob-Taubes-Biografie

Charisma ist, ähnlich wie Pornografie, leicht zu erkennen, aber schwer zu definieren. Der (hier verkürzt zitierte) Definitionsversuch von Max Weber grenzt an eine Tautologie: »›Charisma‹ soll eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften begabt gewertet wird.« Die Sozialwissenschaft kam auch später nicht viel weiter – obwohl Karriere-Coaches und Berater von Managern immer noch versuchen, Charisma auf Aspekte herunterzubrechen, die man sich aneignen könnte. Charisma entzieht sich jeder Erklärung. Es ist eine Eigenschaft, die wir an anderen Menschen sofort bemerken, aber selten an uns selbst. Es ist weder eine Frage von Intelligenz (obwohl Gewitztheit sicherlich förderlich ist) noch von Kompetenz (die einem charismatischen Auftreten oft eher hinderlich ist). Charisma ist wesentlich erotisch, aber nicht unbedingt sexuell. Das Rätsel um Charisma veranlasste die frühen Griechen, es als eine Gabe der Götter zu betrachten: Charisma sei etwas, das man nicht kultivieren kann, sondern eher verliehen bekommt. Beschreibungen von Charisma greifen unweigerlich auf Lichtmetaphern zurück: Charismatische Menschen sind schillernde Persönlichkeiten, sie haben große Ausstrahlung – oder blenden uns. 

In einem Punkt waren sich alle, die Jacob Taubes persönlich kannten, einig: Charisma hatte er. Bei praktisch jeder anderen Aussage über ihn gingen die Meinungen auseinander. Der 1923 in Wien geborene und 1987 in Berlin gestorbene Philosoph und Rabbiner entstammte einer langen Reihe jüdischer Gelehrter. Für Charisma war er nachgerade berühmt, obwohl ich es bei der ersten Begegnung kaum bemerkte. Ich traf ihn 1983 in der Wohnung seiner Frau, der Philosophin Margherita von Brentano, mit der mich die gemeinsamen Interessen für Kant, die Aufklärung und die Kritische Theorie verbanden. Ich sah mich konfrontiert mit der süßen jüdischen Melancholie eines Mannes, den diverse psychische und körperliche Gebrechen weitaus älter aussehen ließen als seine 59 Jahre und der sehr viel harmloser schien als die Gerüchte, die über ihn im Umlauf waren. 

Es brauchte nur zehn Minuten seiner Nietzsche-Vorlesungen einige Monate später, da hatte ich es verstanden. Selten war ich so in Bann geschlagen. Es lag nicht an seiner Gelehrsamkeit oder rhetorischen Begabung, obwohl er in sechs Sprachen brillieren konnte. Taubes stellte Fragen, die sonst niemand zu stellen wagte. Diejenigen, die Nietzsche lasen, taten dies damals mit den Augen Walter Kaufmanns, der behauptet hatte, der arme Nietzsche sei verhunzt worden, seine Schriften habe seine Nazi-Schwester verfälscht, als er schon von Syphilis und Wahnsinn gezeichnet war. Taubes liebte Nietzsche sehr. Und doch brachte er es zustande, in einem Berliner Auditorium zu stehen, Himmler zu zitieren, die antisemitischsten Passagen aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft vorzulesen und dann zu fragen, worin wohl ihr Bezug zu den Gaskammern bestehe. Zwischendurch erzählte er die besten jüdischen Witze, die ich je gehört habe. Bot er Antworten auf die Fragen an, die er aufwarf? Nicht in einer Form, dass ich mich an sie erinnern könnte. Aber seine Ausführungen waren auf eine Weise tiefgründig, die den Gebrauch des Wortes »tiefgründig« oberflächlich wirken lässt, und mutig auf eine Weise, die die Verzagtheit des üblichen Denkens umso deutlicher sichtbar werden ließ.

Das alles ergab eine Sogwirkung, die jungen Studierenden der Philosophie den Kopf verdrehen konnte. Ich war zum Glück alt genug, Dankbarkeit dafür zu empfinden, dass Taubes nicht der erste charismatische Lehrer war, dem ich begegnete, so dass ich die Erfahrung voll ausschöpfen konnte, ohne von ihr überwältigt zu werden. Und da es im Berlin der 1980er Jahre nicht gerade von jüdischen Intellektuellen wimmelte, schätzte Taubes im Gegenzug die Gesellschaft von jemandem, der seine Witze und viele seiner Anspielungen verstand. Es befeuerte seine Vision von einer Renaissance des deutsch-jüdischen Lebens, an der er Zeit seines Lebens festhielt.

Ob im Vorlesungssaal oder in seinem Berliner Stammlokal, der Paris Bar, Taubes konnte über den Talmud ebenso gut reden wie über Nietzsche, über die Frankfurter Schule ebenso wie über die Evangelien, über die neueste französische Literaturtheorie ebenso wie über Kafka oder die Kabbala. Er konnte derart gut über alles reden, dass sich misstrauische Kollegen sogar einen fiktiven mittelalterlichen Philosophen ausdachten, um zu sehen, ob sich Taubes zu Aussagen darüber hinreißen ließ, wie der erfundene Denker damals die Kluft zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus überbrückt habe. In seiner soeben erschienenen Biografie Professor der Apokalypse gibt Jerry Z. Muller drei verschiedene Kollegenpaare als Quelle für diese Geschichte an, die oft als Beweis dafür herhalten muss, dass Taubes ein Hochstapler gewesen sei.1 Es steht außer Frage, dass er es mit der Wahrheit nicht immer genau nahm. Auch wenn das Wort »Scharlatan« gelegentlich treffend war, offenbart die Anekdote doch, mit wem man es hier zu tun hatte: Wie begabt muss jemand sein, um aus dem Stegreif Spekulationen darüber anstellen zu können, welche Positionen ein etwaiger mittelalterlicher Philosoph, der thomistisches mit scotischem Denken verband, vertreten haben würde?

Taubes hatte sowohl in religiösen als auch in weltlichen Belangen eine außergewöhnliche Bildung genossen. Sein Vater war ein Rabbiner, der das Glück hatte, Wien bereits 1936 in Richtung Zürich verlassen zu haben. Der engste Familienkreis blieb deshalb verschont, gleichwohl wurden viele Verwandte im Holocaust ermordet. Beide Eltern befolgten die Gesetze des orthodoxen Judentums, waren aber auch in weltlichen Belangen hochgebildet. Taubes promovierte im Alter von dreiundzwanzig Jahren und wurde ein Jahr darauf zum Rabbiner ordiniert. Da es in der Schweiz für einen staatenlosen jüdischen Intellektuellen keine berufliche Perspektive gab, ging er 1947 nach New York. Die Stadt blieb – abgesehen von ein paar Jahren in Jerusalem und Cambridge – sein Lebensmittelpunkt, bis er sich 1966 in Berlin niederließ. Er studierte am Jewish Theological Seminary, lehrte in Harvard und Princeton und erhielt 1956 eine feste Professur an der Columbia University.

Schon in jungen Jahren als Wunderkind gepriesen, noch dazu in zwei verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, hat Taubes immer wieder stolz verkündet, er kenne alles und jeden, die zu kennen sich lohne. In einer Zeit, in der Intellektuelle über Ländergrenzen hinweg weitaus weniger miteinander vernetzt waren als heute, diente dieses Wissen der gegenseitigen Befruchtung von Denktraditionen und machte ihn zu einem unschätzbaren Berater, Herausgeber von Buchreihen und Organisator von unzähligen Konferenzen und Salons. Trotzdem fragt Muller in seinem Buch: Was rechtfertigt eigentlich eine neunhundert Seiten starke Biografie über einen charismatischen Mann, der am Ende nicht mehr als tiefe Eindrücke hinterlassen hat? Nur vier schmale Bücher gibt es von Taubes, eines davon eine Dissertation, die anderen drei sind kurze Essays oder Vorträge, die nach seinem Tod transkribiert wurden. So interessant sie auch sein mögen, sind sie doch eher Fragmente als vollständige Werke.

Der unvergessliche Einfluss, den Taubes ausübte, hatte mit seiner Person zu tun. Wenn sich ein charismatischer, vielsprachiger Mann in den Jahren 1947 bis 1987 zwischen Zürich, New York, Cambridge, Berlin, Paris und Jerusalem bewegte, konnte er fast der gesamten westlichen Intelligenzija über den Weg laufen. Theodor Adorno, Louis Althusser, Hannah Arendt, Daniel Bell, Hans Blumenberg, Pierre Bourdieu, Stanley Cavell, Paul Celan, Noam Chomsky, Emil Cioran, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Nathan Glazer, Jürgen Habermas, Eric Hobsbawm, Alexandre Kojève, Alexandre Koyré, Paul Ricœur, Gershom Scholem, Carl Schmitt, Susan Sontag und eine ganze Reihe weniger bekannter Persönlichkeiten kommen in Mullers Buch zu Wort. Sie waren Taubes’ ständiger Umgang. Mit den meisten unterhielt er lange Briefwechsel, mit einigen erbitterte Dispute, mit anderen Liebesaffären. Sein Biograf gibt zu, dass es sich bei Professor der Apokalypse ebenso sehr um das Porträt einer Epoche handelt wie um das eines Menschen.

Mullers Porträt des Menschen käme der Wahrheit näher, wäre ihm das Porträt der Zeit besser gelungen. Bei all seiner Gelehrsamkeit versäumt er es jedoch, die nötigen Hintergrundinformationen über das Nachkriegsdeutschland zu geben, in dem Taubes die letzten sechsundzwanzig Jahre seines Lebens verbrachte. Manches davon mag außerhalb der akademischen Welt trivial erscheinen: Deutsche Professoren überlassen einen Großteil ihrer Arbeit ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern, die mit amerikanischen assistant professors fast nichts gemeinsam haben, vom befristeten Arbeitsvertrag einmal abgesehen. Noch heute wird so mancher wissenschaftliche Text, der unter dem Namen eines Lehrstuhlinhabers erscheint, von dessen Mitarbeitern verfasst. In deutschen Seminaren stellen üblicherweise die Studierenden ihre Ausarbeitungen vor, die der anwesende Professor lediglich kommentiert. Weil Muller das unerwähnt lässt, zugleich aber akribisch dokumentiert, welcher Mitarbeiter welche Aufgabe übernahm, erweckt er den Eindruck, Taubes sei faul, verrückt oder skrupellos gewesen. Tatsächlich aber war er lediglich Teil eines Bildungssystems, das amerikanische Akademiker – durchaus zu Recht – als schockierend empfinden. Noch mehr fällt allerdings ins Gewicht, dass Muller auch ausblendet, wovon man in Deutschland damals nach wie vor lieber schwieg.

Wer Taubes persönlich oder zumindest aus Erzählungen kannte, hat Mullers Buch, an dem er immerhin zwanzig Jahre lang arbeitete, mit Spannung erwartet. Denn so viele Fragen waren offen geblieben. Gershom Scholem, der den hochgelobten Taubes eingeladen hatte, seine Studien bei ihm in Jerusalem fortzusetzen, bezeichnete ihn als von Dämonen besessen und schickte ihn zurück nach New York. Allerdings kursierten von dieser Geschichte vier unterschiedliche Versionen. Welche war die zutreffende? Und warum zog es einen Mann, der sich selbst als »Erzjude« bezeichnete, in die Gesellschaft von Nazi-Intellektuellen? War es Ausdruck seiner Freude an Widersprüchen, wenn er jegliches liberale Verständnis des Judentums verachtete, andererseits aber die meisten der 613 Gebote der Halacha brach? Flirtete er mit dem Christentum, oder mühte er sich an ihm ab? Selbst für diejenigen, die geneigt waren, ihm viel zu verzeihen, war klar, dass Taubes gelogen, betrogen und Herzen gebrochen hat. Charisma ist, ganz den griechischen Göttern entsprechend, die es ursprünglich zuteilten, keine moralische Kategorie. Jacob Taubes hinterließ eine Schneise der Verwüstung wie der Faszination, und oftmals beides zugleich. Mullers Buch trägt den Untertitel »Die vielen Leben des Jacob Taubes«. Man hatte gehofft, es würde die vielen unterschiedlichen Facetten zu einem Gesamtbild zusammenführen – oder zumindest einige der Fragen beantworten, die dieses Leben und diese Person aufwarfen.

Stattdessen liefert Muller, ein emeritierter Professor für Ideengeschichte, ein Kompendium von Antworten, die er aus umfangreichen Archivrecherchen und über hundert Interviews gewonnen hat. Er versucht nicht, sie zu gewichten. Die Entscheidung der Frage, ob Jacob Taubes ein intellektueller Scharlatan oder ein brillanter Denker war, überlässt er letztlich seinen Lesern. Das ist eine Strategie, die auf Objektivität abzielt, aber Muller hätte diesbezüglich etwas von den Pluralismus-Analysen von Taubes und Brentano lernen können – oder von dem, was ihr Freund Herbert Marcuse »repressive Toleranz« nannte. In Ermangelung eines eigenen Standpunkts, eines Leitmotivs oder eines roten Fadens bleibt am Ende nur eine Anekdotensammlung über einen komplizierten Mann. Kein Wunder, dass Leser, die auf Sensationen aus waren, die schlimmsten herausgegriffen und reißerische Schlüsse daraus gezogen haben. Wer auf offene Fenster zu Taubes’ Leben gehofft hatte, legt den schweren Band mit dem beklommenen Gefühl aus der Hand, durch ein Schlüsselloch gespäht zu haben.

Häufig stellt das Buch die Frage: Warum hat Taubes so wenig zu Papier gebracht? Tatsächlich hat Taubes mehr geschrieben, als Muller suggeriert, wenn auch nicht in der Form von Wälzern, wie sie deutsche Philosophen für unabdingbar halten. Noch wichtiger: Die Frage verrät Unkenntnis in Bezug auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts, die sich ja gerade an der Frage abgearbeitet hat, ob es überhaupt möglich sei, Philosophie zu schreiben. Das trieb die Disziplin auf beiden Seiten des Atlantiks gleichermaßen um. Im Philosophieinstitut von Harvard lautete das Problem: Wie ist Philosophie nach Wittgenstein möglich? Die Frage, die Denker in Frankfurt und Berlin umtrieb, war hingegen: Wie ist Philosophie nach Auschwitz möglich? Stanley Cavell brachte es 1968 auf den Punkt, dass »in der Philosophie heute das Gespenst des Sokrates umgeht«, eine Anspielung auf einflussreiche angloamerikanische Philosophen, die wie Sokrates so gut wie keine Bücher herausbrachten. Selbst Wittgenstein veröffentlichte nur eine Dissertation, die er noch dazu später widerrief; ansonsten besteht sein Werk aus Notizen, die Studenten nach seinem Tod zusammenstellten. Die meisten davon sind unbeantwortete Fragen. Vielleicht, so Cavell, haben wir kein besseres Vorbild als die sprichwörtliche Stechmücke des Sokrates, die andere aus ihrer Selbstgefälligkeit herausreißt, ohne aber einen Ausweg aus den aufgeworfenen Dilemmata anzubieten. Richard Rorty ging noch weiter und erklärte, die Philosophie sei endgültig in einer Sackgasse angelangt.

In Amerika und England tobten solche Debatten in den philosophischen Fakultäten. In Deutschland wurden sie auch von Politikern diskutiert und füllten regelmäßig Zeitschriften und Radiosendungen. Philosophen wie Adorno und Horkheimer in Frankfurt und Brentano in Berlin waren der Meinung, die Philosophie müsse die Frage beantworten, um die die Historiker jener Zeit einen weiten Bogen machten: Wie war der Faschismus möglich? Was konnte man tun, um sicherzustellen, dass er sich nie wieder ereignete?

Diese Frage trieb auch Taubes um, aber er betrachtete sie von einer höheren Warte aus: Die zwei Weltkriege mochten die Krise des Denkens deutlich ans Licht gebracht haben, aber ihre Wurzeln reichten Jahrhunderte zurück. Viele, wie Rorty, sahen ihren Ursprung in dem Mann, den Moses Mendelssohn »der alles zermalmende Kant« genannt hatte. Immanuel Kant hatte mit seinen Kritiken argumentiert, dass viele klassische Fragen der Philosophie nicht zu beantworten sind. Da die Philosophie nicht mehr in der Lage sei, das Wesen Gottes oder der Freiheit zu ergründen, könne sie sich fortan nur noch damit beschäftigen, die Bedingungen von Erkenntnis zu analysieren. Ich habe an anderer Stelle gegen eine solche Deutung von Kants Werk argumentiert, aber niemand kann bezweifeln, dass seine Schriften zur Aufspaltung zwischen philosophischen und theologischen Fragen führten. Als Nietzsche Gott für tot erklärte, war die Trennung zwischen den beiden Bereichen längst so weit fortgeschritten, dass die meisten der im 20. Jahrhundert verfassten Darstellungen der Philosophiegeschichte die Fülle des religiösen Gärstoffs, der die Werke früherer Denker durchtränkt hatte, einfach außen vor ließen. Selbst diejenigen Ideenhistoriker, die nicht dem Positivismus anhingen, hielten sich vornehmlich an eine Auslegung von Quines »principle of charity«, wonach wir Ideen, die für uns keinen Sinn mehr ergeben, am besten taktvoll ignorieren sollten – so wie man auch bei den wunderlichen Schwärmereien einer alternden Großtante ein Auge zudrückt.

Für Taubes lag die Erklärung für Faschismus und Holocaust in der Religion, was ihn bis zu den Evangelien zurückführte. Die Versuche der Nazis, den Antisemitismus in rassistischer Pseudowissenschaft zu begründen, hielt er für Firlefanz; viel wichtiger sei der Antijudaismus des frühen Christentums. Taubes war nicht der einzige Philosoph auf dem Kontinent, der die scharfe Trennung zwischen Religion, Philosophie und Politik problematisch fand. Manche, darunter Carl Schmitt, gingen sogar so weit zu behaupten, dass säkulares Denken und Politik lediglich ein neues rationalisiertes Gewand für alte theologische Ideen seien, die tiefer wurzelten als die Vernunft. Karl Löwith, Hans Jonas und Hans Blumenberg sahen das ambivalenter. Taubes’ Arbeit legt nahe, dass die theologischen Begriffe in seinem Denken die erste Stelle einnahmen.

Obwohl er disziplinäre Territorialansprüche so verachtete wie andere Grenzziehungen auch, äußerte er schon früh den Wunsch, Theologe zu werden. Hat Taubes eine eigene Theologie entwickelt? Mindestens zwei, müsste man eigentlich sagen, weshalb sich viele fragten, ob sich sein religiöses Interesse nur aus den Überresten seiner orthodoxen Erziehung speiste, mit der er nicht fertig wurde, oder ob sein Ringen um religiöse Fragen nur Schauspiel war. Manchmal mag es so ausgesehen haben. Er brachte es fertig, eine Brit Mila zu sprengen, weil ihm die Durchführung der Beschneidungszeremonie zu liberal erschien und der Bedeutung des Rituals innerhalb der halachischen Vorschriften nicht Genüge tat. Doch in derselben Stadt, im selben Monat, lud er Gäste zu einer Dinnerparty ein, bei der es als Hauptgang einen großen Hummer gab. (»Ich bin ein orthodoxer Sünder«, sagte er dann grinsend, denn Hummer gehört zu den Speisen, die nicht koscher zubereitet werden können.) Der damit zum Ausdruck gebrachte Antinomismus hat seine Wurzeln nicht nur in den Bräuchen der Anhänger des als Messias auftretenden Schabbtai Zwi aus dem 17. Jahrhundert, sondern auch beim Apostel Paulus, der argumentierte, nichtjüdische Christen bräuchten die jüdischen Gebote nicht zu befolgen, da es allein auf den Geist ankomme. Das war eine plausible philosophische Position, doch genauso gut konnte es sich um eine zynische Begründung des eigenen Lifestyles handeln. Bei Jacob Taubes war alles überdeterminiert.

Im Jahr 1945 notierte Hannah Arendt, das Problem des Bösen sei das Problem schlechthin des europäischen Nachkriegsdenkens. Sie sollte nicht Recht behalten. Abgesehen von einer Handvoll deutscher Philosophen – alle jüdisch, außer Brentano – scherte sich die Philosophie nicht groß um die Fragen, die das 20. Jahrhundert erneut aufgeworfen hatte. Nichtjüdische Philosophen, die sich während des »Dritten Reiches« duckmäuserisch an ihre Lehrstühle geklammert hatten, waren wohl kaum geneigt, solche Fragen zu diskutieren. John Rawls als typischer Vertreter der englischsprachigen Welt sagte mir einmal, das Problem des Holocaust »sei das moralische Problem des 20. Jahrhunderts«, erklärte aber, er verstehe es zu wenig, als dass er es angehen könne. »Wie du weißt, sind die Ereignisse von 1933 für mich zu verdammt ernst, um sie zu den Akten zu legen«, schrieb Taubes an einen Freund über seine Unentschlossenheit, nach Deutschland überzusiedeln. »Aber wo sind heutzutage die Menschen, die sich mit den Fragen, die diese Ereignisse an uns stellen, noch beschäftigen?« Muller