MERKUR 5/2024, Jg.78 -  - E-Book

MERKUR 5/2024, Jg.78 E-Book

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Beschreibung

Das Jubiläumsheft 900 enthält einen mit fast 30 Seiten ungewöhnlich umfangreichen Text: Rainald Goetz' Aufzeichnungen aus seinem Arbeitsjournal des Jahres 2019, in dem es nicht nur, aber sehr viel um Michael Rutschky geht – dessen Tagebücher und auch das Verhältnis zum Merkur-Herausgeber Kurt Scheel, der die undankbare Aufgabe übernahm, die Rutschky-Tagebücher postum zu edieren, in denen sich manch schäbige Bemerkung über ihn findet.   Avner Ofrath ist weit davon entfernt, einseitig Position zu beziehen. Vielmehr geht es ihm darum, Kontexte herzustellen: zur Diskussion um die Frage der "Siedlergesellschaft", aber auch im historischen Vergleich zum Algerienkrieg. Und auch Jonas Rosenbrück insistiert (gegen Vereinfacher auf allen Seiten): "Doch, es ist kompliziert: Die Sicherheit jüdischer Menschen auf der ganzen Welt zu gewährleisten, ist kompliziert; ebenso kompliziert sind die Verknüpfungen von Schoah, Judenvertreibungen, Zionismus und Nakba." In einem Text in den Marginalien zeigt Manfred Sing, wie sehr der Antisemitismus im Islam – wiewohl heute sehr virulent – sich einer Politisierung der Religion, aber nicht deren historischen Traditionen verdankt.   Zwei weitere Essays sind dem 75. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes gewidmet. Und beide, Marcus Payks Verfassung in der Zeit und der von Friedrich Kießling und Christoph Safferling verfasste 1949 und wir, sind keinesfalls nur als Rückblick angelegt, sondern stellen die durchaus akute Frage nach der Bewährung des Grundgesetzes in den Krisen der Gegenwart und noch mehr der Zukunft.   In ihrer Geschichtskolumne analysiert Claudia Gatzka, wie Kritik in der Demokratie mit dem haltlosen "Diktatur"-Vorwurf die Demokratie selbst aufs Spiel zu setzen droht. Susanne Neuffer lässt in Der Pizzamann eine Frau aus einem Hotelzimmer ins Nachbarhaus blicken, in dem etwas geschieht, das sie sich unter Einsatz ihrer Fantasie zusammenzureimen versucht.

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Seitenzahl: 190

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 900, Mai 2024, 78. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 3. April 2024 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12305-0

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Avner Ofrath: Anatomie der Gewalt

Zum Israel /Palästina-Konflikt

Jonas Rosenbrück: An der Seite Israels

Marcus Payk: Verfassung in der Zeit

Zur Temporalität des Grundgesetzes

Friedrich Kießling; Christoph Safferling: 1949 und wir

Rück- und Ausblicke für eine verunsicherte Republik

Rainald Goetz: Moral Mazes 24

ArbeitsjournalFrühjahr und Herbst 2019

KRITIK

Claudia Gatzka: Geschichtskolumne

Demokratie als Diktatur denken, und umgekehrt

MARGINALIEN

Manfred Sing: Islam und Antisemitismus

Susanne Neuffer: Der Pizzamann

Vorschau

AvnerOfrath, geb. 1986, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaft der Freien Universität Berlin. 2023 erschien Colonial Algeria and the Politics of Citizenship.

JonasRosenbrück, geb. 1991, Assistant Professor of German am Amherst College. Im Oktober 2024 erscheint Common Scents: Poetry, Modernity, and a Revolution of the [email protected]

MarcusPayk, geb. 1973, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität /Universität der Bundeswehr Hamburg. 2018 erschien Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten [email protected]

FriedrichKießling, geb. 1970, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 2024 erschien Der Streitfall. Wie die Demokratie nach Deutschland kam und wie wir sie neu beleben müssen (zus. m. Christoph Safferling)[email protected]

ChristophSafferling, geb. 1971, Professor für Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 2021 erschien Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischenNS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre undRAF (zus. m. Friedrich Kießling). [email protected]

RainaldGoetz, geb. 1954, Schriftsteller. Am 20. Mai erscheinen bei Suhrkamp Lapidarium. Stücke und wrong. Textaktionen. Bei Moral Mazes 24 handelt es sich um den Vorabdruck eines Kapitels aus letzterem Band.

ClaudiaGatzka, geb. 1985, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Freiburg. 2019 erschien Die Demokratie der Wähler. Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und der Bundesrepublik, 1944–1979; 2024 erscheint Demokratie und Diktatur. Geschichte und Gegenwart einer [email protected]

ManfredSing, geb. 1966, Islamwissenschaftler, assoziierter Forscher am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. 2022 erschien Arab Feminism and Islamic History. The Transnational Life and Work of Lebanese-Syrian Writer Widad Sakakini (1913–1991)[email protected]

SusanneNeuffer, geb. 1951, Autorin. 2019 erschien Im Schuppen ein Mann; 2022 Sandstein. Zwei Novellen.www.susanne-neuffer.de

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-78-5-3

»Noch nie in der Geschichte des Israel/Palästina-Konflikts«, stellt Avner Ofrath fest, »wurden Menschenleben so gleichgültig, so rücksichtslos behandelt wie in den letzten Monaten.« Umso bedrückender ist, wie selten die öffentlichen Debatten darüber der Komplexität und Widersprüchlichkeit der aktuellen Geschehnisse und ihrer Vorgeschichte gerecht werden. Ofrath zeigt das in seinem Essay unter anderem anhand der leichtfertigen Entkontextualisierung des Siedlerbegriffs, die es ermöglicht, »settler colonialism« effektvoll als Kampfbegriff zu verwenden. Das aber ist nicht nur sachlich unangemessen, es verstellt überdies einen wichtigen analytischen Zugang zum Verständnis der Genese des Palästina-Konflikts.

Auch bei Jonas Rosenbrück geht es um die fatale Logik diskursiver Verkürzungen. Die Vehemenz, »mit der weite Teile der deutschen Öffentlichkeit jeder Israelkritik wie auch der Sorge um das Wohl der Palästinenser begegnen«, beruht, wie er argumentiert, nicht zuletzt darauf, dass wichtige militärische, erinnerungskulturelle und politische Asymmetrien im Verhältnis zwischen Israel und Palästina hierzulande gern ausgeblendet werden.

Manfred Sing wiederum geht der nicht weniger simplifizierenden populären Fama nach, der zufolge die Gründe dafür, dass arabische Gesellschaften weltweit das höchste Ausmaß an israelbezogenem Antisemitismus aufweisen, im Islam selbst zu suchen seien. Sings trockenes Fazit: »Sie ist historisch falsch, theologisch unzulänglich und politisch verheerend.«

Außerdem bietet dieses Jubiläumsheft noch etwas ganz anderes: das Merkur-Comeback von Rainald Goetz nach fast vierzig Jahren. Dreißig Seiten aus seinem Arbeitsjournal des Jahres 2019, mit manchen Bezügen zur Zeitschrift. Aus diesem Grund ist das Heft auch etwas umfangreicher als gewohnt.

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-78-5-5

Avner Ofrath

Anatomie der Gewalt

Zum Israel /Palästina-Konflikt

Die beispiellose Brutalität, die in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 in Israel /Palästina entfesselt wurde und seither nicht abreißt, erfordert ein neues Vokabular und Verständnis der Wurzeln, der Dynamik und der Motive der Gewalt vor Ort, aber auch der globalen Reaktionen darauf. Noch nie in der einhundertjährigen Geschichte dieses zutiefst asymmetrischen Konflikts wurden Zivilisten auf beiden Seiten so explizit, massenhaft und grausam angegriffen; noch nie klafften in westlichen Universitäten, Medien und Kulturbetrieben Bilder, Vorstellungen und Grundannahmen rund um den Konflikt so schnell, so weit, so unüberwindbar auseinander; noch nie stellten die Folgen des Konflikts eine derart unmittelbare Gefahr für den Frieden ganzer Gemeinden in Europa und Nordamerika dar: Weltweit sind vor allem jüdische, aber auch muslimische Menschen, Gemeinden und Einrichtungen einer Welle des Hasses ausgesetzt.

Trotz heftiger Auseinandersetzungen ist zu entscheidenden Fragen in diesem Konflikt in den letzten Monaten irritierend, ja besorgniserregend wenig gesagt worden. Stattdessen sind Analytisches und Konkretes dem Hyperbolischen gewichen. Ein beispielhafter Moment dieser intellektuellen Landschaft Anfang Dezember: Zwei Wochen nachdem eine Reihe prominenter, teils umstrittener Historikerinnen und Historiker in einem offenen Brief in der New York Review of Books dazu aufgerufen hatte, Vergleiche zwischen dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und dem Holocaust zu unterlassen, erschien im New Yorker ein Artikel von Masha Gessen, in dem wiederum der belagerte Gazastreifen mit den durch die NS-Besatzung errichteten Ghettos verglichen und behauptet wird, das »Ghetto« von Gaza werde nun »liquidiert«; die Provokation ging auf, eine Preisverleihung in Deutschland wurde abgesagt, dann trat die Katharsis des Eklats ein.1 Bisweilen scheint es, als wäre man in manchen Kreisen bereit, über alles zu diskutieren – nur nicht darüber, was konkret in Israel /Palästina geschieht, über die eigentliche Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Landes.

Fast 30 000 Menschen – mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung des Gazastreifens – sind bis Ende Februar 2024 der israelischen Kriegsführung zum Opfer gefallen, davon schätzungsweise rund 70 Prozent Frauen und Kinder. Tausende mehr liegen noch unter Trümmern und in Krankenhäusern, in denen sie kaum noch versorgt und behandelt werden können. Hunderttausende könnten in den nächsten Monaten an Krankheiten sterben, nachdem israelische Luftangriffe zivile Infrastrukturen zerstört und einen Großteil des Gazastreifens buchstäblich unbewohnbar gemacht haben.2 Berichte über eine katastrophale Hungersnot häufen sich und lassen den Verdacht auf eine gezielte Strategie des israelischen Militärs entstehen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat zwar nicht angeordnet, dass Israel seine Offensive beenden muss, den Verdacht auf Genozid jedoch auch nicht zurückgewiesen und Israel aufgefordert, zu beweisen, dass es keinen Genozid verübe. In dem Moment, da ich dies schreibe, ist von einer Offensive in Rafah die Rede, wo 1,5 Millionen Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen eine notdürftige Zuflucht suchen. Wie Recherchen der israelischen Tageszeitung Haaretz zeigen, würde die neue, von Israel eingerichtete »sichere Zone« entlang der Küste von Rafah bedeuten, dass sich diese Menschen auf unbestimmte Zeit auf dem Gebiet eines mittelgroßen Flughafens aufhalten müssten.3 Auf israelischer Seite sind die Zahl der zivilen Opfer und das Ausmaß der Zerstörung deutlich kleiner, aber ebenso beispiellos in der Geschichte dieses Konflikts. Etwa tausend Zivilisten wurden durch die Hamas am 7. Oktober massakriert oder nach Gaza verschleppt, Hunderte mehr verletzt und gefoltert. Ganze Ortschaften entlang der israelischen Grenze zum Gazastreifen sind restlos zerstört worden, viele andere – auch im Norden Israels sowie im südlichen Libanon – sind kriegsbedingt evakuiert worden.

Noch nie in der Geschichte des Israel /Palästina-Konflikts wurden Menschenleben so gleichgültig, so rücksichtslos behandelt wie in den letzten Monaten. Dies spiegelt sich auch in einem veränderten Sprachgebrauch. Der israelische Militärjargon hat schon vor Jahren den Begriff »Unbeteiligte« etabliert (statt »Zivilisten«). Wie der IGH in seiner Entscheidung zur Klage Südafrikas gegen Israel festgestellt hat, bedienen sich seit dem 7. Oktober zahlreiche, auch prominente israelische Politikerinnen und Politiker einer Rhetorik des Genozids und behaupten, es gebe keine »Unschuldigen« in Gaza. Vertreter der Hamas beteuern ihrerseits, Angriffe wie den vom 7. Oktober wiederholen zu wollen.4 In vielen arabischsprachigen Medien ist seit Jahrzehnten selten von israelischen »Zivilisten« und meistens von »Siedlern« die Rede, selbst wenn es um Bewohner des international anerkannten israelischen Staatsgebiets geht. Seit dem 7. Oktober hat sich dieser absurd vereinfachte Begriff des »Siedlers« nun auch in Teilen des Westens etabliert und die Vorstellung salon- und universitätsfähig gemacht, alle Israelis – sowie proisraelische Jüdinnen und Juden weltweit – seien legitime Ziele des »Widerstands« der Hamas. »Siedler sind keine Zivilisten«, urteilte etwa die Yale-Professorin Zareena Grewal gleich am 7. Oktober.5 Es ist diese Missachtung, diese Auflösung der Kategorie der Zivilisten, also der Unschuldigen oder Unbeteiligten, im Denken und Handeln aller beteiligten Akteure, die wir verstehen müssen.

Der Historiker Hillel Cohen hat überzeugend argumentiert, dass die Ausschreitungen im Sommer 1929 in zahlreichen Städten Palästinas – damals kraft eines Völkerbundmandats nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg unter britischer Herrschaft – als das »Jahr null« des Konflikts zu betrachten sind. Was in manchen historischen Darstellungen als eine palästinensische Rebellion gegen die Briten beschrieben wird, war in Wahrheit vielmehr ein Ausbruch von Gewalt an Zivilisten, dem ganze Gemeinden zum Opfer fielen. Was als ein Streit zwischen Juden und Muslimen um Gebetsordnungen an der Klagemauer beziehungsweise dem Ḥā'iṭ al-Burāq in Jerusalem begann, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu Ausschreitungen, die Zivilisten zuerst in Jerusalem und kurz darauf in etlichen anderen Städten betrafen. Insgesamt 133 Menschen der jüdischen Bevölkerung und 166 Menschen der muslimisch-christlich arabischen Bevölkerung kamen dabei ums Leben. Die Gewalt richtete sich nicht ausschließlich gegen neue zionistische Siedlungen, sondern vielfach gegen alteingesessene, nicht- oder sogar antizionistische jüdische Gemeinden in Städten wie Hebron im Süden oder Safed im Norden. Die Gemeinde von Hebron wurde dabei ausgelöscht (die israelischen Siedler im heutigen Hebron – einer der radikalsten Hochburgen der Siedlerbewegung – stammen nicht aus der alteingesessenen Gemeinde). Wie Cohen zeigt, hat die Gewalt von 1929 aus einem politischen Konflikt um zionistische Bestrebungen einen ethnisch-religiösen Konflikt gemacht.6

Damals wie heute ordneten zahlreiche Beobachter die Gewalt von 1929 als eine weitere Etappe in einer langen Geschichte von Verfolgungen und Pogromen ein, als einen Ausbruch jenes Judenhasses, der in den mittelalterlichen deutschen Landen, im späten Zarenreich oder in Palästina immer wieder seinen Ausdruck fand. In diesem Sinne ist die Gewalt von 1929, wie auch der Arabische Aufstand von 1936 bis 1939, in die israelische Geschichtsschreibung eingegangen, bezeichnet mit dem hebräischen Pendant für »Pogrom«: Pera’ot. Hier wird bereits das fehlende Verständnis für die grundlegend verschiedenen Hintergründe der Gewalt in Europa und der im Nahen Osten sichtbar, das sich auch jetzt wieder zeigt. Zweifelsohne lässt sich eine Übernahme von Denkfiguren des europäischen Antisemitismus durch Vertreter der palästinensischen oder panarabischen Bewegung feststellen: Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini, der während des Zweiten Weltkriegs sogar Unterstützung beim NS-Regime suchte, aber auch spätere Gruppierungen – nicht zuletzt die Hamas – haben die in Europa entstandene judenfeindliche Rhetorik und Vorstellungswelt für sich entdeckt (von weitverbreiteter Holocaustleugnung ganz zu schweigen). Dennoch darf dieser Umstand nicht über die konkreten Hintergründe der Gewalt im Israel /Palästina-Konflikt hinwegtäuschen. Hier handelt es sich nicht um eine von einer Mehrheitsgesellschaft verfolgte jüdische Minderheit, sondern um den Kampf zweier Nationalbewegungen um Land und Vorherrschaft, dessen konkreteste und ausdauerndste Manifestation ein israelisches System von Besatzung, Siedlungsausbau und stets voranschreitender Vertreibung und Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung ist.

Der Versuch, Land durch Ansiedlung zu beanspruchen und zu verteidigen, ist entscheidend für die Dynamik der Gewalt an Zivilisten. »Wo die Pflugschar verläuft, wird die Grenze verlaufen«, lautete ein Motto der zionistischen Bewegung in den 1920er und 1930er Jahren. Gerade angesichts der britischen Teilungspläne, mit denen ab 1937 versucht wurde, einen Kompromiss zwischen der zionistischen und der palästinensischen Nationalbewegung zu finden, wurde das Schaffen von vollendeten Tatsachen durch die Gründung neuer Siedlungen zu einem zentralen Mittel der zionistischen Bewegung. So schreibt etwa der Historiker Benny Morris, ein prominenter Apologet des zionistischen beziehungsweise israelischen Handelns in den 1940er und 1950er Jahren: »Die Errichtung von Siedlungen war sowohl eine Frage der Ideologie als auch der Strategie […] Schließlich sollte das Siedlungsraster die Konturen und Grenzen des geplanten Staates bestimmen.«7 Viele der Kibbuzim, in denen die Hamas am 7. Oktober Zivilisten massakrierte, wurden in den 1940er und 1950er Jahren nach dieser Logik gegründet. Freilich war das Zusammenspiel aus ziviler Bevölkerung, Landwirtschaft und Grenzziehung keine alleinige Strategie der zionistischen Bewegung; die arabischen Armeen, die nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung in Palästina einmarschiert waren, zerstörten systematisch jüdische Siedlungen im Süden Palästinas und im Jordantal.

Die Grenzziehung und Bevölkerungsdichte der Region, die heute als Gazastreifen bekannt ist, ist Teil dieser Geschichte. Die Bevölkerung dieser Region verdreifachte sich während des Kriegs von 1948, als mehr als einhunderttausend Palästinenserinnen und Palästinenser aus Jaffa, Yibna, Madschdal, al-Ludd (Lod) und vielen anderen Ortschaften nach ihrer Vertreibung oder erzwungenen Flucht – die Kontroversen um die Ursachen und die Terminologie rund um die Nakba würden einen eigenen Artikel erfordern – dorthin kamen.8 Wie die israelische Journalistin und Autorin Amira Hass schreibt, ist der Gazastreifen seitdem ein Mikrokosmos der palästinensischen Gesellschaft und Geschichte: eine von der restlichen Welt durch Israel und Ägypten abgeschottete Region, in der 75 Prozent der Bevölkerung Nachfahren von Flüchtlingen des Kriegs von 1948 sind.9

Das Zusammenspiel aus Vertreibung, Siedlungsausbau und Grenzziehung bestimmt auch aktuelle Entwicklungen. Die massive Zerstörung durch die israelische Offensive im Norden des Gazastreifens bedeutet, dass die im Oktober und November durch Israel eingerichteten »humanitären Korridore« zwischen dem Norden und Süden des Gazastreifens auf absehbare Zeit Einbahnstraßen bleiben werden. Minister in der ultranationalistischen, teilweise offen rassistischen israelischen Regierung und Abgeordnete der Regierungsparteien rechtfertigen und feiern die enorme Zahl palästinensischer Opfer mit einer Rhetorik, die allen Bewohnerinnen und Bewohnern des Gazastreifens das Recht auf Schutz und Leben abspricht; manche träumen vom Transfer der Bevölkerung, andere sprechen von einer zweiten Nakba oder fordern, den Gazastreifen von der Erde zu tilgen.10 Radikale Siedler und ihre Vertreter sprechen vom Wiederaufbau israelischer Siedlungen in Gaza, zuletzt in einer Veranstaltung in Jerusalem, an der unter anderen der Minister für Innere Sicherheit und der Finanzminister teilnahmen und ein Banner mit der Aufschrift »Nur der Transfer [der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen] wird den Frieden bringen« zu sehen war.11 Auch diese Äußerungen und Bestrebungen haben eine lange Geschichte. Bereits nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg 1967 versuchte die israelische Regierung, Bewohnerinnen und Bewohner dazu zu veranlassen, den Gazastreifen in Richtung Westjordanland zu verlassen, um ihn zu annektieren. Der Versuch scheiterte zwar, zeigt aber, wie tief die Idee wurzelt, den Konflikt zu entscheiden, indem man die Zivilbevölkerung einschüchtert und in die Migration zwingt.

Dabei ist der Zusammenhang zwischen Ansiedlung, Landenteignung, und erzwungener Flucht beziehungsweise Vertreibung einerseits und Gewalt an Zivilisten andererseits keine Besonderheit des Israel /Palästina-Konflikts, sondern vielmehr ein Grundzug vieler Siedlergesellschaften und kolonialer Projekte. »Es wäre gut […] zwischen der Mitidja und Dellys eine solide Barriere aus befestigten Dörfern zu etablieren. Über diesen Weg drohte der Aufstand uns zu überwältigen. Es ist wichtig, dies von nun an zu verhindern«, empfahlen Mitglieder eines für Kolonisation zuständigen Ausschusses in Algerien 1871.12 Ein Aufstand in der Kabylei war gerade unterdrückt worden; die französischen Kolonialbehörden waren dabei, Ländereien von aufständischen Bevölkerungen zu enteignen und einen Plan für den Ausbau bestehender und die Errichtung neuer Siedlungen zu entwerfen. Der französische Gouverneur forderte »die Schaffung einer großen, homogenen französischen Bevölkerung in Algerien, die fähig wäre, alle Aufstandsversuche selbst abzuwehren«.13 Die Historikerin Raphaëlle Branche hat in einem beeindruckenden Buch gezeigt, wie diese verwobenen Schichten der Gewalt acht Jahrzehnte später noch nachwirkten, als während des Algerienkriegs in der Siedlung Palestro, errichtet nach dem Aufstand von 1871, eines der grausamsten Massaker an Zivilisten durch Mitglieder der FLN, der algerischen Nationalen Befreiungsfront, verübt wurde.14

Dass es angezeigt scheint, an dieser Stelle hinzuzufügen, dass eine Analyse keine Rechtfertigung bedeutet, zeigt die intellektuelle Sackgasse des gegenwärtigen Moments. Um beim algerischen Beispiel zu bleiben: 1901 überfiel eine Gruppe algerischer Männer die Siedlung Margueritte, tötete sechs ihrer Bewohner und zwang mehrere andere, die Shahada auszusprechen – jenen Satz, mit dem man sich zum Islam bekennt. Im französischen Parlament und in der Presse erinnerten einige Abgeordnete und Journalisten daran, dass zum Hintergrund des Angriffs auch die Tatsache gehörte, dass die Siedlung auf enteigneten Ländereien errichtet worden war.15 Auf die Hintergründe der Gewalt hinzuweisen, ist keine Relativierung der Schuld der Täter oder des Leids der Betroffenen, sondern der Suche nach einer anderen Zukunft geschuldet. Genau das verstanden israelische Verleger, die während der Zweiten Intifada (2000 bis 2005) mehrere Publikationen aus der Zeit des Algerienkriegs ins Hebräische übersetzten.16 Das wäre vermutlich weiterhin eine Selbstverständlichkeit geblieben, wenn sich nicht nach dem 7. Oktober ein wahrhaft erschütternder Abgrund aufgetan hätte, in dem die grausamste Gewalt an Zivilisten eben nicht nur analytisch erklärt, sondern als Ausdruck von Gerechtigkeit und Befreiungspolitik gefeiert wurde.

Über die Verharmlosung, sogar das Bejubeln der Massaker der Hamas unter sich als links oder progressiv bezeichnenden Kreisen ist bereits viel geschrieben worden. Hier soll deshalb der Fokus auf einen Begriff gelegt werden, der für die Rechtfertigung von Gewalt an Zivilisten maßgeblich ist: Siedlerkolonialismus (settler colonialism) – ein Begriff, der das Potential hätte, die historischen Komplexitäten von Fällen wie Israel /Palästina zu erfassen, der aber stattdessen immer gröber, sogar menschenverachtender verwendet wird.

Dass es sich bei dem zionistischen Unterfangen um ein Siedlungsprojekt handelt, wird allein schon anhand des Vokabulars klar. Für den Erwerb von Ländereien Anfang des 20. Jahrhunderts war etwa die Palestine Jewish Colonization Association zuständig; ein Motto des zionistischen Mainstreams forderte die »Eroberung« der Arbeit wie des Landes; die frühesten neugegründeten Siedlungen um 1900 wurden als ebensolche bezeichnet (Moschavot) – die Liste ließe sich fortsetzen. Freilich stammte dieses Vokabular aus einer Zeit, in der »Kolonien« alles Mögliche bedeuten konnten – von Eroberungsgebieten in Asien und Afrika bis hin zu einer Gruppe städtemüder deutscher Künstlerinnen und Künstler in Worpswede. Doch die Essenz bleibt. Ziel der zionistischen Bewegung war es, in Palästina beziehungsweise Eretz Israel eine neue Gesellschaft und Gesellschaftsordnung aufzubauen, mit wenig Rücksicht auf die und noch weniger Kenntnis von der lokalen Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie. Die in Israel wie in Deutschland gängige Vorstellung, der Zionismus hätte aus einer »kargen Wüste« ein blühendes Land geschaffen, ist Produkt und Ausdruck hartnäckiger Ignoranz. Auch hier sind Vergleiche mit Algerien denkbar: von der Vorstellung, ein vormals blühendes Land nach Jahrhunderten des Verfalls unter islamischer Herrschaft wieder aufblühen zu lassen, bis hin zur Obsession mit Wäldern und Bewaldung.17

Was jedoch im Fall der zionistischen Bewegung beziehungsweise Israels genauso wie in Algerien oder Südafrika gerade für die heutige politische Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart des Ortes entscheidend ist, aber vom aktuell vertretenen Verständnis des Siedlerkolonialismus geradezu ignoriert wird, ist die starke Ambivalenz von Siedlern als historischen Akteuren: die Ausgrenzung und Verfolgung, die sie zur Auswanderung zwang, und ihre marginale Position innerhalb kolonialer Hierarchien. Im zionistischen beziehungsweise israelischen Fall ist die gegenwärtige Entkontextualisierung des Siedlerbegriffs besonders auffallend, handelt es sich hier doch um die Anderen Europas schlechthin, um eine Gruppe, die schon lange vor dem Holocaust Pogromen ausgesetzt war – und um Gemeinden, die mit dem Aufkommen des Nationalismus in der arabischen Welt in den 1940er und 1950er Jahren auch dort kaum noch Aussicht auf ein Bleiben hatten. Auch in anderen Fällen das gleiche Bild: verarmte Landarbeiter aus Frankreich, Spanien und Italien im Fall Algeriens, deutsche Kleinbauern in den preußischen Ostgebieten, Buren in Südafrika, Kriminalisierte und Ausgegrenzte in Australien, religiös Abtrünnige und Verfolgte aus England in Nordamerika. In all diesen Fällen stammte zumindest ein beachtlicher Teil der Siedler aus den ausgegrenzten Schichten der kolonisierenden Gesellschaften.

Die historisch unprivilegierte Ausgangsposition von Siedlergesellschaften entbindet sie selbstverständlich nicht von der politischen Verantwortung, sich mit der für solche Kontexte eigentümlichen Anatomie der Gewalt zu befassen oder sich der Missachtung von Gesetzen und Institutionen zu stellen, die mit dem prägenden Pioniermythos einhergehen.18 Zugleich darf man aber die Ambivalenz von Siedlergesellschaften nicht aus den Augen verlieren. Siedler können nicht für die Verbrechen europäischer Gesellschaften verantwortlich gemacht oder dämonisiert werden. Genau in diesem Sinne haben mehrere Historikerinnen und Historiker seit den frühen 1990er Jahren geforscht und argumentiert. Caroline Elkins und Susan Pedersen haben in einem programmatischen Text beispielsweise die Fragilität vieler Siedlergesellschaften analysiert und ihre Abhängigkeit sowohl von den Kolonialmächten als auch von lokalen Bevölkerungen betont.19

Doch anstatt diese Ambivalenzen wahrzunehmen, wird momentan ein Begriff des Siedlerkolonialismus forciert, der diese Form der europäischen Expansion als die Krönung der Gewalt und das repressivste aller Systeme darstellt und letztendlich die entfesselte Gewalt rechtfertigt, die die Hamas am 7. Oktober 2023 unter anderem an Hochbetagten, Frauen und Kindern verübte und an den Geiseln weiterhin verübt. Wie menschenverachtend dieser Siedlerbegriff ist, zeigte ein Instagram-Post der erfolgreichen Künstlerin Emily