Mia Raloris - Alexander Wolfsland - E-Book

Mia Raloris E-Book

Alexander Wolfsland

0,0

Beschreibung

Elfen und Oger Mia wollte nie eine Heldin sein. Freunde finden, normal sein - das würde ihr reichen. Doch als Waise aus einer Wohngruppe hatte sie immer mit Vorurteilen zu kämpfen. Als ein seltsames Amulett sie in eine fremde Welt voller Magie entführt, hat Mia plötzlich ganz andere Sorgen: Sie weiß nicht, wie sie wieder nach Hause kommt. Einziger Lichtblick ist die junge Elfe Farryn, die Mia auf eine Mission der Elfenkönigin mitnimmt: Wilde Oger verbreiten Angst und Schrecken. Was stört das empfindliche Gleichgewicht zwischen den Bewohnern dieser fremden Welt? Bei ihren Nachforschungen kommen immer mehr beunruhigende Details ans Licht. Doch als das wahre Ausmaß der drohenden Katastrophe klar wird, ist es fast zu spät. Mia muss schnell entscheiden, was ihr wichtiger ist: nach Hause zurückzukehren oder das Leben ihrer neuen Freunde zu retten. Ein Roman über große Zusammenhänge, Umweltschutz, Verantwortung und die Möglichkeiten jedes Einzelnen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Schule

Bahnhof

Schloss Elfenwald

Thamas

Ped-Tham

Elfenwald

Hügelland von Winddorf

Nordwald

Ogerklamm

Echad-Oróka

Wohnhöhle

Wasserstelle

Echad-Oróka

Handelsstraße

Hainhafen

Fährderot

Zunfthaus

Kellergewölbe

Herberge Schwarzer Eber

Gasthaus zum Goldenen Ritter

Rathaus

Abschied

Epilog

Personen

Elfen

Baerinda Hyra – Hohe Elfe, sie vertritt das Gleichgewicht der Natur

Farryn Peryarus – Jungelfe, beste Freundin von Respen

Raloris und spätere Begleiterin von Mia Müller

Finnea Norfir – Hohe Elfe, sie vertritt die Magie und die

Veränderung der Dinge

Kilyn Wysaralei – Hohe Elfe, sie vertritt die Heilung und den

Erhalt der Dinge

Respen Raloris – Hohe Elfe, erste Beraterin und Diplomatin

Siphanien Vaphyra – Tar der Elfen und Königin über Schloss

Elfenwald

Menschen

Lina Schulz – Betreuerin in Mias Wohngruppe

Maja Kaltenborn – Betreuerin in Mias Wohngruppe

Meister Eckard – Schmied aus Fährderot, immer gut gelaunt

Meister Engelhart – Bürgermeister von Fährderot, immer auf

seinen Vorteil bedacht

Meister Werner – Sattler und Vorsitzender der

Schmiedezunft von Fährderot

Mia Müller – Schülerin

Tanja Michael – Mias Klassenlehrerin

Oger

Droruk – Clanführer der Oger von Ogerklamm, vernünftig – zumindest für einen Oger

Narag – Oger von Ogerklamm, nicht vernünftig – wie alle Oger

Ein Wörterbuch mit elfischen Begriffen findest Du im Anhang.

Westkontinent

Eins

SCHULE

„Wach auf!“, rief Lina.

Mia wälzte sich im Bett umher und drehte ihr Gesicht zur Wand.

„Wach auf, Mia!“, rief Lina jetzt schon deutlich lauter. „Du hast zur ersten Stunde Schule. Du wirst doch nicht am letzten Schultag noch zu spät kommen wollen.“

„Ja, ich komme“, antwortete Mia in der Hoffnung, dass die Betreuerin ihrer Wohngruppe nicht merken würde, dass sie weiter im Bett liegen blieb. Und wirklich: Sie hatte noch fast zehn Minuten Ruhe, bevor Lina wütend in ihr Kinderzimmer stürmte. Mia fühlte sich heute nicht besonders gut. Das war in letzter Zeit häufiger so. Zum Glück waren morgen Ferien.

Lina war sauer, daher zog sie Mia die Decke mit einem Ruck weg: „Steh jetzt auf, die anderen sind schon fast mit dem Frühstück fertig und du trödelst wieder rum.“

Missmutig stand Mia auf und schlurfte im Schlafanzug zum Frühstückstisch im Aufenthaltsraum der Wohngruppe.

Der Tisch war schön gedeckt, in seiner Mitte eine Vase mit herrlich strahlenden Tulpen und den ersten Narzissen des Frühlings. Aber darauf achtete Mia nicht. Keiner mochte sie, auch wenn Lina und Maja, die beiden Hauptbetreuerinnen, immer wieder das Gegenteil betonten. Was sollten sie auch sonst sagen, das war ja ihr Job. Mia hatte keinen besonderen Grund, sich zu beeilen, und tat es daher auch nicht. Hoffentlich spricht mich niemand an, dachte sie sich noch. Ihr mürrisches Gesicht bewirkte auch genau das. Keiner wollte von Mia angepflaumt werden und so ließen sie alle in Ruhe frühstücken.

„Zieh dich an und putz deine Zähne!“, drängelte Lina kurze Zeit später, „sonst kommst du wieder zu spät.“

Ja, das würde sie gerne. Genaugenommen war es Mia egal, ob sie pünktlich kam oder nicht. Schule war ihr egal und machte schon seit Jahren keinen Spaß mehr. Seit dieser Sache mit Mama. Die anderen Mitschüler spielten nicht mit ihr und die Lehrer mochten sie auch nicht, da war sich Mia sicher.

Einmal hatte ein Kind aus ihrer Klasse seinen neuen Füller verloren und dann überall erzählt, dass sie ihn gestohlen hätte. Danach wollte keiner mehr mit ihr spielen. Den Füller hatte sie nicht genommen. Diesmal nicht.

Mia überlegte, was sie heute alles brauchte. Mist, Sport, dachte sie, als sie auf den Stundenplan sah. Der Ranzen war noch nicht gepackt und sie schob schnell ein paar der Bücher und Hefte hinein, die auf dem Stundenplan an der Wand unter „Freitag“ standen. Wirklich wichtig war es ihr nicht, alle Bücher zu erwischen. Obwohl sie immer alle Bücher mit in die Schule bringen sollten, brauchten sie sie in Wirklichkeit nur sehr selten im Unterricht. Der Ranzen war sowieso immer viel zu schwer. Waren die Erwachsenen alle dumm?

Ihre Schulhefte brauchte sie auch nicht, weil sie nur selten die Hausaufgaben machte. Eigentlich nur, wenn Lina oder Maja sie dazu zwangen. Und mitschreiben konnte sie auch auf Zetteln.

Mia hatte schnell gemerkt, dass sie das Thema „Hausaufgaben“ in der Wohngruppe einfach umgehen konnte, indem sie im Hausaufgabenheft immer nur Sätze wie „Arbeitsblatt fertig machen“ oder „Text lesen“ schrieb, anstatt der echten Hausaufgaben. In den ersten beiden Schuljahren hatte die Klassenlehrerin der Schule noch in der Wohngruppe angerufen und das Thema „Hausaufgaben“ besprochen. Inzwischen hatten es die Lehrer allesamt längst aufgegeben anzurufen, auch an der weiterführenden Schule. Und wenn sowieso keine Hausaufgaben drinstanden, wozu dann die ganzen Hefte mitschleppen? Mia entschied, dass der Collegeblock mit den karierten Blättern heute auch ausreichen würde, es war sowieso der letzte Schultag. So hatte sie schon viele Probleme gelöst: einfach lügen und nichts tun, um das Problem zu umgehen.

Seit Josephine nicht mehr da war, hatten Lina und Maja auch keine Zeit mehr, mit ihr zu reden oder sich mit ihr zu beschäftigen. In der Wohngruppe wohnten neun Kinder und Teenager im Alter von elf bis fünfzehn Jahren und es gab immer viel zu tun. Josephine, die sie immer nur Josi genannt hatten, war ein Jahr lang in der Wohngruppe als freiwillige Helferin gewesen und war dann wieder verschwunden. Ganz plötzlich und ohne Verabschiedung. Genau wie Mama. Aber daran dachte Mia nicht häufig, sonst wurde sie dabei nur traurig.

Nur noch ein Tag, dachte sie, während sie den schweren Ranzen und den Sportbeutel schulterte. Ab morgen waren endlich Ferien und sie durfte zu ihrer Oma fahren – darauf freute sie sich sehr.

Die Schule war nicht weit weg. Nur fünf Minuten zu Fuß, selbst wenn sie absichtlich trödelte. Es war schwer zu spät zu kommen, wenn Lina sie halbwegs rechtzeitig losschickte. Sie betrat mit dem Läuten der Schulglocke den Klassenraum. Vorne hing ein elektrisches Whiteboard. An der Wand hingen Poster mit Matheregeln, Beispielaufgaben und Sprichwörter. Es gab auch Regale voller Bücher und zwei Schränke, in denen die Klassenlehrerin Bastelmaterial verwahrte. Drei Reihen von Zweiertischen standen im Raum und einige Schüler saßen bereits an ihren Plätzen. Andere saßen auf dem Tischen oder in einem der beiden Gänge und unterhielten sich. Der Raum war hell und freundlich gestaltet, aber Mia fühlte sich nicht wohl, sie fühlte sich hier nie wohl. Frau Michael war noch nicht da und die anderen Schüler machten keine Anstalten, sich hinzusetzen, solange noch kein Lehrer im Raum war.

Niemand beachtete Mia, niemand begrüßte sie. Sie ging mit ihren Sachen zu ihrem Platz in der letzten Reihe, wo sie alleine an einem der Zweiertische saß. Immer, wenn sie an einer Gruppe Schüler vorbeikam, hörten diese sofort auf zu reden, damit Mia nicht hörte, was sie sagten. Einmal hatte sie Anna-Lena zu ihren Freundinnen sagen hören, dass ihre Eltern nicht wollten, dass sie etwas mit „der von der Wohngruppe“ zu tun hatte.

Nur noch ein Tag! Sie ließ den Ranzen auf den Boden fallen und setzte sich hin. Obwohl sie den Ranzen zum Einzug in die Wohngruppe bekommen hatte, hatte er schon viele Löcher. An den Löchern und Beschädigungen konnte sie sehen, wie lange sie schon dort wohnte. Das war ihr persönlicher Kalender.

„Guten Morgen!“, hörte Mia Frau Michael plötzlich sagen. Mia hatte gar nicht bemerkt, wie die Klassenlehrerin den Raum betreten hatte. Einige andere Mitschüler auch nicht und sie setzten sich jetzt schnell hin. Mia blickte aus dem Fenster über den Schulhof, der jetzt wie ausgestorben dalag. Manchmal hatte sie Kinder beobachtet, die zu spät kamen, aber heute waren wohl alle pünktlich.

Nur noch ein Tag!

„Wir haben letzte Woche über das Ferienprojekt zu Tropfsteinhöhlen gesprochen. Lasst uns das nochmal wiederholen, damit jeder weiß, was er in den Ferien zu tun hat. Ihr erinnert Euch, dass Tropfsteine entstehen, wenn die im Wasser gelösten Mineralien immer wieder auf dieselbe Stelle tropfen. Dabei bleibt immer ein wenig zurück. Daraus bilden sich dann nach langer Zeit die Tropfsteine. Wer weiß noch, welche Mineralien hauptsächlich aus dem Kalkstein gelöst werden und dann Tropfsteine bilden? Ja, Kerstin!“

Mia hörte nicht, was Kerstin über Calcit oder Dolomit sagte. Alles viel zu kompliziert und es war ihr auch nicht wichtig. Irgendwann später, als jemand vorne im Klassenzimmer hustete, hörte sie wieder einen Augenblick zu.

„Dieses Material nennt man auch Porengrundwasserleiter. Wie ein Schwamm lässt es das Wasser nur langsam durch und filtert dabei Verschmutzungen und Bakterien heraus. In unserer Tropfsteinhöhle ist das aber nicht so. Warum … Anna-Lena?“, fragte Frau Michel gerade.

„Wenn der Berg von innen verkarstet ist, kann das Wasser schnell durch ihn hindurchfließen und wird nicht mehr richtig gefiltert. Dann ist das Grundwasser verschmutzt“, antwortete Anna-Lena sofort.

So eine Streberin, denkt Mia nur und blickt wieder gelangweilt aus dem Fenster.

„Richtig. Das Oberflächenwasser dringt schnell in die Karsthöhle ein und nimmt dabei alle Verunreinigungen von oben ungefiltert mit ins Grundwasser. Ihr erinnert Euch an das Bild von der Riesending-Höhle in Oberbayern, das Euch so gefallen hat? Genau das passiert dort. Das Grundwasser wird dort nicht mehr gefiltert, auch wenn die Tropfsteine hübsch aussehen. Das bedeutet, der ganze Dünger aus der Landwirtschaft und die Gülle aus der Viehhaltung verschmutzen dort das Grundwasser, sodass die Menschen es nicht mehr trinken können. Was meint ihr, was man tun kann, um das Grundwasser sauber zu halten?“

Mias Gedanken drifteten gerade wieder weg und sie dachte daran, dass sie morgen zu Oma fahren würde – mit dem Zug. Allein. Wie immer.

Aber sie hatte dann immerhin ein Ziel und zum ersten Mal lächelte Mia an diesem Tag. Ein ganz klein wenig.

Zwei

BAHNHOF

Oma wohnte weit weg. Zumindest soweit Mia das wusste. Maja fuhr sie schon früh morgens zum Bahnhof. Es war noch fast eine halbe Stunde Zeit, aber Mia war genauso aufgeregt wie Maja. Mia wollte einmal pünktlich sein, sonst würde das nichts mit dem Besuch bei Oma. Maja schien es aus anderen Gründen eilig zu haben. Vielleicht weil sie auch eine Woche Ferien hatte, denn die meisten Kinder der Wohngruppe wurden in den Ferien zu Verwandten verfrachtet, die sonst nichts von den Kindern wissen wollten.

Die Bahnhofshalle des Hauptbahnhofs war gigantisch und Mia war jedes Mal beeindruckt, wenn Sie von den S-Bahngleisen unten nach oben in die große Halle kam. Zwanzig Gleise oder so gab es. An der Stirnseite waren unzählige Geschäfte, Schnellrestaurants und Zeitschriftenläden. Der Bahnhof war voller Menschen, die hektisch ihre Koffer schleppten oder sich auf dem Weg zu ihren Gleisen machten. Die Bahnsteige waren voller Fahrgäste, die auf ihren Zug warteten oder sich darauf vorbereiteten, einzusteigen. Ständig waren Lautsprecherdurchsagen über ankommende, abfahrende oder verspätete Züge zu hören. Mia fand, es waren einfach zu viele Leute hier. Dabei wusste sie nicht, dass der Bahnhof an einem Samstagmorgen im Vergleich zu unter der Woche recht leer war. An Werktagen waren im zweitgrößten Bahnhof Deutschlands fast eine halbe Million Menschen in über 300 Fernzügen und 300 S-Bahnen unterwegs. Dennoch kam es Mia an diesem Samstagmorgen voll vor.

„Und lass das Schild um deinen Hals!“, sagte Maja jetzt zum dritten Mal. Als ob es die Betreuerin stören würde, wenn sie weg wäre. Sobald Maja sie erfolgreich an einen Bahnmitarbeiter übergeben hätte, wäre es ihr sowieso egal, was mit ihr passierte.

„UAM“ stand da in großen roten Buchstaben. Das bedeutete so viel wie „unbeaufsichtigte Minderjährige“, hatte Maja erklärt. Auf der Rückseite standen die Adressen und Telefonnummern der Wohngruppe und ihrer Oma. Vier Stunden würde die Fahrt dauern. Mia hatte einen kleinen Koffer mit ihren wenigen Sachen und ihre Brotdose von der Schule dabei.

„Hier ist die Kleine“, sagte Maja gerade zu einem großen bärtigen Mann in einer blauen Uniform, der vor dem Zug stand, und drückte ihm den Fahrschein in die Hand. Bei dem Wort „Kleine“ verdrehte Mia genervt innerlich die Augen, ersparte sich aber die Mühe, ihre Betreuerin zu korrigieren.

„Moment, ich schaue mal nach. Ja, Mia Müller ist hier angemeldet“, antwortete der Schaffner.

Dann blickte er von seiner Liste auf und sagte freundlich zu Mia: „Na dann, komm mal mit, Mia.“

Mia hob ihren kleinen Koffer die Treppe in den Zug hinauf und folgte dem Zugbegleiter wortlos, ohne sich noch einmal umzublicken.

„Tschüss!“, rief Maja noch und winkte ihrem Schützling nach.

„Hier ist mein Platz“, sagte der Schaffner und wies auf ein kleines Abteil, in dem eine Jacke über einem Stuhl hing.

„Und hier, direkt nebenan, haben wir deinen Platz. Schau mal, was ich für dich habe“. In seiner großen Hand hielt er ihr ein kleines Päckchen Buntstifte und ein Malbuch für Vierjährige hin.

„Danke“, sagte Mia laut, weil das Erwachsene immer hören wollten, und rollte mit den Augen, als der Schaffner wieder nach draußen ging.

Sie stopfte die Stifte in ihre Tasche und ließ das Malbuch achtlos auf dem Sitz neben ihr liegen, sie war schließlich kein Kindergartenkind mehr. Außerdem packte sie dieses ultrapeinliche UAM-Schild in ihre Tasche. Sie kramte dann nach dem kleinen Buch, das sie auf der Fahrt noch einmal lesen wollte. „Anne auf Green Gables“ stand in geschwungenen, roten Buchstaben auf dem zerfledderten Taschenbuch. Auf der Vorderseite war ein Bild von einem Mädchen vor einem Farmhaus zu sehen. Sie hatte es von ihrer Mutter bekommen, als diese noch normal sprechen konnte – bevor sie „krank“ geworden war, wie alle Erwachsenen immer sagten. Das Buch war das Einzige, was Mia aus ihrem alten Leben übriggeblieben war.

Sie hatte das Buch von Anfang an geliebt, obwohl sie damals noch gar nicht lesen konnte. Was hatten Mama und sie gelacht, als Mama jeden Abend aus dem Buch vorgelesen hatte. Genau genommen war das auch das einzige Buch, das Mia heute noch freiwillig las. Heute bedeutete es ihr so viel, weil Anne in dem Buch auch ein Waisenkind war. Und irgendwie hatte diese Anne ihr Leben in den Griff bekommen und alles zum Guten gewendet.

Mia stellte sich ihren Wecker in ihrem Mobiltelefon, damit sie das Aussteigen nicht vergaß. Denn wenn sie las, vergaß sie schnell alles um sich herum.

Sie hatte das Taschenbuch fast zur Hälfte gelesen, als der Wecker losging und sie schnell ihre Sachen zusammenpackte. Das war auch gut so, denn der Schaffner hatte im letzten Bahnhof gewechselt und dem Nachfolger nicht gesagt, an welchem Bahnhof Mia aussteigen sollte.

Aber sie war ja schlau, schnappte ihren kleinen Koffer und schob sich an den anderen Fahrgästen vorbei in Richtung Tür. Der Zug war noch gar nicht im Bahnhof, aber die Fahrgäste drängten sich schon im engen Gang vor den Türen. „Darf ich mal bitte durch?“ Die Erwachsenen machten ihr bereitwillig Platz. Sie dachten vermutlich, dass ihre Eltern schon weiter vorne in der Schlange stehen würden.

Mit lautem Quietschen bremste der Zug, als er endlich in den Bahnhof einfuhr. Mia war aufgeregt und schaute angestrengt durch das Fenster in der Tür. Sie freute sich, als sie Oma am Bahnsteig warten sah, während ihr Zug noch ein gutes Stück weiter in den Bahnhof einfuhr.

„Oma, Oma!“, rief Mia, als sie sich zwischen den vielen Menschen hindurch drängte, um ihre Oma wieder zu finden. Sie musste noch ein ganzes Stück zurückgehen, um zu der Stelle zu kommen, wo sie ihre Oma eben noch gesehen hatte.

„Da bist du ja, Kleines!“, rief die alte Frau, als sie Mia kommen sah. „Wie schön, dass du da bist“, sagte sie und umarmte das Mädchen – und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Mia ein echtes Lachen im Gesicht. Wie hatte sie sich auf diese Ferien gefreut.

Der Bahnhof der Stadt, wo Oma wohnte, war winzig klein. Er hatte keine Bahnhofshalle und bestand aus vier Gleisen, einer Unterführung und einer Anzeigetafel. Oma hatte ihr altes Auto direkt vor dem Eingang geparkt.

„Du darfst vorne sitzen“, sagte Oma, während sie den kleinen Koffer in den Kofferraum des Autos packte.

„Dann kannst du mir sagen, was auf der Straße ist, ich sehe nicht mehr so gut.“

Mia schaute zuerst entsetzt, musste dann aber laut lachen, als sie merkte, dass das wieder einer von Omas Scherzen war, die sie so liebte.

Die Sonne schien an diesem Nachmittag strahlend hell und sie fuhren über eine halbe Stunde, um bei dem alten Haus ihrer Großmutter anzukommen. Sie wohnte nicht in der Stadt, sondern etwas außerhalb, weil sie – wie sie immer sagte – die Magie der Sonne und des Waldes – in ihrem Leben brauchte.

Magie könnte ich in meinem Leben auch gebrauchen, dachte Mia, als sie an ihr Leben in der Wohngruppe dachte. Aber das war schon weit weg und sie wusste schon fast nicht mehr, warum das alles so schrecklich war. Jetzt war nur wichtig, dass sie bei Oma war, dem einzigen Menschen, dem sie wirklich noch vertraute.

Als Mia mit ihrem kleinen Koffer im Schlepptau in die winzige Stube kam, sah sie schon den Esstisch mit dem frischen, lecker aussehenden Obstkuchen gedeckt. Ihr Blick erfasste auch sofort die Schüssel Schlagsahne, die Oma aus dem Kühlschrank holte. Mia liebte Schlagsahne.

„Wasch Deine Hände, Schatz!“, forderte Oma sie auf und dem kam Mia schnell und gerne nach.

Bei Kaffee und Kuchen – für Mia bei heißer Schokolade und Kuchen und natürlich viel Schlagsahne – erzählte Oma von ihren aktuellen Abenteuern. Von dem Hirsch, der ganz in der Nähe wohnte. Von den Problemen der Stadt mit den Wildschweinen, die jetzt überall herumliefen und gegen die keiner etwas unternehmen konnte oder wollte. Und von ihrem Streit mit dem Elektrizitätswerk, weil Oma sich sicher war, dass die Rechnung viel zu hoch war, und sie sich weigerte, zu bezahlen.

Mia hörte gerne zu. Sie wollte nicht über ihr Leben in der Wohngruppe oder in der Schule erzählen. Das war weit weg – mindestens zwei Wochen lang.

Nach dem Kaffee machten sie einen kleinen Spaziergang über die Felder zum Wald. Es war ein sonniger Nachmittag im April, als Oma und Mia den Wald in der Nähe von Omas Dorf betraten. Der Frühling war in vollem Gange und man konnte die ersten grünen Blätter an den Bäumen sehen. Der Duft von frischem Moos und nasser Erde hing in der Luft. Sie gingen den schmalen Pfad entlang, der sich durch das Unterholz schlängelte. Hier und da sahen sie kleine Tiere, wie Eichhörnchen oder Meisen, die zwischen den Zweigen hin und her huschten. Der Gesang der Vögel erfüllte die Luft und Mia lächelte, als sie eine Lerche hoch oben am Himmel sah. Dank ihrer Oma kannte sie sich mit Vögeln aus!

Plötzlich roch es nach frischem Gras und Mia merkte, dass sie an einer Lichtung abgekommen waren. „Dort ist es“, zeigte Oma ihrer Enkelin, wo sie den Hirsch immer sah: „Wenn du ganz früh morgens kommst und ganz leise bist, kannst du ihn dort drüben auf der Lichtung sehen.“

„Wann gibt es morgen Frühstück?“, fragte Mia und diesmal musste Oma laut lachen. Mia und ihre Oma gingen wieder zurück und kamen bald am Waldrand an. Ein breiter Schotterweg führte von hier zurück zum Dorf. Oma setzte sich auf eine Bank und Mia nutzte die Zeit, um auf einen Baum zu klettern. Sie war sich sicher, dass sie letztes Jahr schon hier gewesen waren und sie es da noch nicht bis ganz nach oben auf den Baum geschafft hatte. Sie genoss den Ausblick auf Felder und Wald. Von ganz oben konnte sie in der Ferne sogar das Dach von Omas Haus sehen. Als Mia nach einiger Zeit heruntergeklettert kam, gingen sie nach Hause, denn es war schon fast wieder Zeit fürs Abendessen.

Bis dahin richtete Mia sich noch in dem kleinen Zimmer im oberen Stockwerk ein, das Oma diesmal für sie hergerichtet hatte. Neben dem Bett stand ein kleiner Hocker, der Nachttisch fungierte. An der Stirnseite des Zimmers konnte Mia durch ein kleines Fenster nahen Wald sehen. Früher hatte sie immer auf der ausziehbaren Couch in der Stube geschlafen, jetzt hatte sie zum ersten Mal ein Zimmer für sich alleine.

„Du kannst den linken Schrank benutzen!“, rief Oma aus der Stube, als Mia gerade ihre Sachen aus dem Koffer holte.

Schnell hatte Mia all ihre Sachen verstaut und wollte schon wieder in die Stube zurück, um ihrer Oma beim Tisch decken zu helfen, denn ein schön gedeckter Tisch war Oma immer wichtig und darum half Mia gerne. Aber dann blieb der Blick des Mädchens neugierig an dem anderen Schrank hängen, der sich in einer dunklen Ecke hinter der offenen Zimmertür verbarg. Das dunkle Holz mit seinen Schnitzereien hob sich auffällig vom sonst hell eingerichteten Zimmer ab und schien nicht so ganz zu passen. Unter dem goldfarbenen Knauf steckte ein sonderbar geformter, goldglänzender Schlüssel. Mia bemerkte ein leichtes Kribbeln in ihren Händen und ehe sie es sich versah, stand sie auch schon vor dem Schrank und hatte mit der einen Hand den Türknauf umfasst, während sie mit der anderen den Schlüssel im Schloss umdrehte. Ein leises Klicken ertönte und Mia hielt für einen kurzen Moment die Luft an. Vorsichtig zog sie an der Schranktür, die sich langsam öffnete, begleitet von einem fast ohrenbetäubenden Quietschen, sodass sie die Tür erschreckt wieder losließ. Mia überkam das ungute Gefühl, nicht mehr allein im Raum zu sein und sie drehte sich um. Doch da war niemand. Wie aus der Ferne hörte sie das Klappern von Geschirr, dass sie daran erinnerte, dass sie eigentlich gerade etwas anderes tun sollte. Gleich. Vorher musste sie noch schnell herausfinden, was es mit diesem Schrank auf sich hatte. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Oder besser gesagt, irgendetwas stimmte nicht mit dem, was er in seinem Innern verbarg. Als Mia die Tür ganz geöffnet hatte, streifte ein leises Flüstern ihr Ohr. Auf ihren Armen stellten sich die Haare auf und ihre Haut begann zu prickeln. Hatte sie das wirklich gerade gehört oder sich nur eingebildet?

So ein Quatsch, das ist doch nur ein Schrank, dachte sie. Und tatsächlich: In den Regalen sah Mia zuerst nichts weiter als stapelweise unterschiedlicher Kleidungsstücke, alles alte und lange nicht getragene Sachen ihrer Oma, wie es schien. Im obersten Fach lagen alte Fotos, Briefe, ein Tagebuch und einige seltsame Gegenstände. Mia war fasziniert. Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich für das Tagebuch entschied, um es genauer zu untersuchen.

Als sie das Buch aufschlug, bemerkte sie, dass die Handschrift mit fremdartigen Schriftzeichen in einer fremden Sprache geschrieben war. Mia hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen, aber das Tagebuch sah sehr alt aus. Sie blätterte weiter und fand einige Illustrationen von seltsamen Kreaturen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war offensichtlich, dass das Tagebuch etwas sehr Wertvolles war.

Mia beschloss, das Tagebuch wieder in den Schrank zu legen. Sie hatte das Gefühl, dass Oma es nicht mochte, wenn sie sich in ihren Sachen herumwühlte.