Mias geheimnisvolles Jahr - Barbara M. Siefken - E-Book

Mias geheimnisvolles Jahr E-Book

Barbara M. Siefken

4,8

Beschreibung

Tante Gerti stirbt - und Mia-Marias superreiche Eltern erben ihr kleines Häuschen mitten im Sauerland. Aber nur, wenn sie ein ganzes Jahr als ganz normale Angestellte leben, natürlich ohne Köchin, Hausmädchen und Chauffeur. Die Zehnjährige kann es nicht fassen - ihre Eltern begreifen diese verrückte Erbschaft als Abenteuer und lassen sich nicht davon abbringen. Aus Mia-Maria wird Mia. Sie muss ihre Freundinnen in der schicken Kölner Privatschule und ihr Pony Firlefanz zurück lassen. Im zerbeulten Kombi und in Second Hand-Klamotten startet ihr neues Leben als "die Neue"...

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Herrliche Kindheitserinnerungen:

Wir sitzen zusammen um den Tisch,

der Kamin prasselt, mein Schwesterherz und ich malen und trin

ken Kakao, unsere Mutter hat selbst ein Buch auf den Knien und

unser Vater liest uns stundenlang

die schönsten Kinderbücher vor!

ist für meine ganze wundervolle Familie geschrieben –

Und besonders: Für meine Töchter LiLo

Es ist so schön, dass wir uns haben!

Und ein dickes Dankeschön an John, der forderte:

„Sie muss reich sein, richtig reich!“

Inhalt:

Umziehen sollen wir!

… und immer wieder Tränen

Eine knarrende Tür ins neue Leben

Sightseeing in Krählich mit einem Wiedersehen

„Die Neue“

Baden in Selbstmitleid

Die erste Lüge

Wellnessbad

Das Rad

Papa und Tante Gerti

Mama bekommt einen Job!

Eine Hütte tief im Wald

Schulwege, geheimnisvolle Zettel und ein Englischaufsatz

Özlems Familiengeheimnis

Mia übt sich in Ablenkungsmanövern

Experten unter sich

Unter dem Apfelbaum

Hüttenputz

eMails für Mia

Pferdeäpfel

Harte Arbeit und kein Palast

So wohnt Olli?

Olli und der Grabstein

…doch aufgeben?

Mia führt ein Bewerbungsgespräch

Blaue Stunde in Krählich

Das Glück auf dem Rücken der Pferde

Gewitterstimmung

Ein aufregendes Telefongespräch

Ein Geheimnis platzt

Olli, das Mathegenie

eMails zum Zweiten

Reitlehrerin Mia

… noch mehr gute Nachrichten

… und noch mehr Überraschungen

Ollis Verwandlung

Unheimlicher Besuch

Fieberträume

Fröhlicher Besuch

Krisengipfel

Geheimnisse, die keine mehr sind – und Geheimnisse, die Geheimnisse bleiben

… neun Monate später

Umziehen sollen wir!

Mias Tagebuch:

„Ich fasse es nicht: Umziehen sollen wir! Nächste Woche schon! Wir sollen ein ganzes Jahr lang in einem winzigen alten Haus in einem kleinen Dorf leben. Mitten im Sauerland. Mama und Papa sind verrückt geworden!“

Mia-Maria machte eine Pause und holte tief Luft. Sie saß auf dem breiten, rosafarbenen Himmelbett in ihrem riesengroßen Zimmer. Die Seite zum Garten war komplett verglast. Draußen glitzerte das grünblaue Wasser des Pools, der so tief war, dass sie von dem Dreimeterbrett am Rand einen Köpper machen konnte. Dahinter begann der helle Kiesweg, der zum Tennisplatz ihrer Mutter führte.

An den Wänden hingen große Fotos von ihrem weißen Pony ,Firlefanz‘: galoppierend auf der Weide, mit Mia-Maria im Sattel bei einer Dressurprüfung und bei einem Springturnier.

Eine unauffällige Tür führte in ihr eigenes Badezimmer. Daneben ging es in die Kleiderkammer, die das Hausmädchen Toni jeden Morgen leise schimpfend aufräumte, nachdem Mia-Maria beim Anziehen alles durcheinander geschmissen hatte.

Sie schrieb ungläubig weiter:

„Und das alles, weil eine Tante Gerti gestorben ist! Dabei kenne ich die nicht mal. Heute Mittag kam ein dicker gelber Brief von einem Anwalt. Diese Tante Gerti hat ein Testament hinterlassen. Da steht drin, wer nach ihrem Tod ihre Bilder, Möbel, ihren Schmuck und so weiter bekommt – und eben auch, wer ihr Haus erbt. Und das soll jetzt Papa bekommen! Was braucht der überhaupt noch ein Haus? Wir haben doch die Villa hier in Köln! Und eine Finca auf Mallorca!“

Mia-Maria konnte es wirklich nicht glauben. Ihr Vater war nach einem Anruf ihrer Mutter früher als sonst nach Hause gekommen, hatte den Brief in der hohen Eingangshalle aufgerissen und ihn mit großen Augen gelesen. Kurz war er wie erstarrt gewesen, aber dann hatte er begeistert ausgerufen: „Tante Gerti hat mir ihr Hexenhäuschen vermacht!“, und ihre Mutter im Kreis herum gewirbelt. Die hatte dabei vor Überraschung wie ein Ferkel gequiekt. Mia-Maria hatte daneben gestanden und ihn mit ihren großen grünen Augen angestarrt. Ihr Vater war doch sonst nicht so ausgelassen!

Dann war er in die Küche gerast, hatte dabei die dicke Köchin Rosa beinahe umgerannt und war mit Champagner und Limo wieder aufgetaucht. Auf dem Weg hatte er noch drei Kristallgläser aus einer Vitrine heraus gerissen. Dass dabei zwei weitere Gläser auf dem Boden zersplittert waren, hatte er gar nicht bemerkt! Während er die Gläser gefüllt und dabei fürchterlich gekleckert hatte, hatte er ausgerufen: „Auf Tante Gerti!“ und dann einen großen Schluck getrunken.

Und dann hatte er eine kleine Ansprache gehalten: „Liebe Familie, uns erwartet ein großes Abenteuer: Wir ziehen nach Krählich ins Sauerland! Aber nicht als Familie von Steigener… Wir brauchen neue Namen. Denn ein ganzes Jahr lang niemand darf wissen, dass wir reich sind!” Mia-Maria hatte natürlich gar nichts mehr verstanden. Sauerland, Abenteuer, Namen ändern?

Sie schrieb weiter in ihr Tagebuch:

„Tante Gertis Haus gehört uns nur, wenn wir dort ein Jahr lang zu Dritt wohnen, also ohne Hausmädchen, Köchin, Chauffeur und Gärtner. Selber aufräumen, putzen, kochen, waschen, Rasen mähen und so sollen wir, so steht es im Testament. Ein Jahr ohne Luxus würde uns gut tun, hat diese alte Hexe auch hinein geschrieben!”

Mia-Maria schüttelte bei dem Gedanken energisch ihre langen braunen Haare. Sie schrieb weiter: „Papa meint, das Häuschen sei ja sooo romantisch! Alt und klein und direkt am Wald gelegen. Rundherum nur Bäume und ein paar andere kleine Häuser. Klingt doch fürchterlich!” Vor Wut drückte sie beim Schreiben so fest, dass die Seite einen Riss bekam. Sie achtete nicht darauf, ihr Stift eilte weiter über das Papier: „Ein altes klappriges Auto dürfen wir mitnehmen, herzlichen Dank. Papa muss sich einen normalen Job suchen, in dem er nicht der Chef ist. Und Mama muss auch Geld verdienen, meint Papa, sonst reicht es bestimmt nicht. Was soll sie denn machen, Mama kann doch nur Tennis spielen – und vielleicht noch Blumen in einer Vase anrichten. Wir werden verhungern!“

Sie sah sich kurz in ihrem schönen Zimmer um und schrieb dann mit leidender Miene weiter: „Ich will nicht in ein olles Haus ziehen, ich will nicht selber aufräumen, ich will auch nicht zu Fuß in eine schmuddelige Schule laufen, auf der sicher nur schreckliche Kinder sind – und ich will erst recht nicht ein ganzes Jahr ohne ,Firlefanz‘ leben!”

Aber genau das würde sie, wenn es nach ihren Eltern ginge: „Papa ist wild entschlossen, das Jahr durchzuziehen! Am vergangenen Sonntag schaffte er es mal wieder nicht zum Reitturnier, um ,Firlefanz‘ und mir beim Springreiten zuzusehen, weil er für die Firma in London sein musste. Und nun möchte er innerhalb von acht Tagen alles so organisieren, dass er für ein ganzes Jahr weg bleiben kann? Zwölf Monate unter fremdem Namen leben? In einem alten Haus? Und dann ausgerechnet in diesem Kaff Krählich? Warum will er da nur unbedingt hin? Das macht er doch sowieso nicht. Oder?“

Oder doch. Am Abend saßen die drei um den langen Tisch im Esszimmer herum. Simon, der Butler, trug das Abendessen auf und ihr Vater schmiedete aufgeregt Pläne: „In Tante Gertis Testament steht, wir dürfen ein paar hundert Euro als Startkapital mitnehmen, danach müssen wir das Geld für Essen, Benzin, Klamotten und so verdienen.” Er überlegte schmunzelnd: „Als was werde ich dann wohl arbeiten?” Mia-Maria sagte sarkastisch: „Vielleicht nehmen sie dich als Hausmeister im örtlichen Fußballverein. Und Mama kann ja Blumengestecke basteln und auf dem Markt verkaufen! Oder eine Modeberatung in diesem Kuhdorf einführen!” Sie stampfte mit dem Fuß auf: „Ich verstehe Euch nicht! Wir sind nun mal reich, warum soll ich denn plötzlich ein ganzes Jahr lang als armes Mädchen leben?” Mia-Maria wusste, sie klang richtig hochnäsig. Aber sie konnte einfach nicht anders!

Ihre Eltern guckten sie fassungslos an. „Es reicht”, sagte ihr Vater bestimmt: „Ich glaube, Tante Gerti hat ganz recht, es wird uns gut tun, mal ohne all das hier auszukommen.” Er machte mit der Hand eine weite Bewegung, die wohl das große Wohnzimmer mit den hohen Decken und dem breiten Kamin einschließen sollte. Leise sagte er: „Und dir anscheinend besonders…” Ihre Mutter blickte sie flehend an: „Stell dir vor, wie spannend das wird: eine neue Schule, neue Freunde, ein ganz neues Leben! Und wir haben Papa zwölf Monate für uns. Er wird Weihnachten nicht wegen eines Schneesturms in Kanada fest sitzen. Oder dich an deinem Geburtstag aus Australien anrufen und dabei laut gähnen, weil für ihn Nacht ist.“ „Aber ich will…”, setzte Mia beleidigt an. Ihr Vater unterbrach sie mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck: „Wir ziehen nach Krählich. Basta.”

Mia-Maria schnaubte vor Wut, traute sich aber nichts mehr zu sagen.

… und immer wieder Tränen

Sieben Tage später sangen Mia-Marias Klassenkameraden ein Abschiedslied für sie und ihr liefen die Tränen über die Wangen. Am Abend vorher hatte sie sich schon von ,Firlefanz‘ verabschieden müssen. Ein ganzes Jahr lang sollte er von der Reitlehrerin geritten werden. Ob er sie dann überhaupt wiedererkannte? Mia-Maria seufzte tief. Franzi hielt ihre Hand ganz fest und Nele strahlte sie von vorne an – die beiden dachten ja auch, Mia-Maria würde für ein ganzes Jahr nach Amerika gehen. Mia erschrak: „Werden sie mich überhaupt noch mögen, wenn sie erfahren, dass ich sie einfach angelogen habe?”

Sie schluckte. „Aber Mama und Papa haben mich so sehr darum gebeten!”, entschuldigte sie sich vor sich selbst. Sie wusste immer noch nicht, warum ihr Vater unbedingt nach Krählich ziehen wollte – und dann zu diesen seltsamen Bedingungen! Aber irgendwie hatte er sie mit seiner Begeisterung überzeugt mitzumachen. Ihre Mutter hatte sie unter vier Augen darum gebeten: „Mia-Mäuschen, Dein Vater hat die ganzen Jahre so viel gearbeitet, dass er kaum Zeit zum Luftholen hatte – ich hatte schon Angst, dass er irgendwann einfach tot umfällt. So eine Chance bietet sich nur einmal im Leben… Bitte, Mia-Maria, mach mit! Es ist doch nur für dieses eine Jahr…”

Und da hatte sie nachgegeben. Aber immer noch war sie hin und hergerissen, ob sie das wirklich wollte. Vielleicht wurde es ja doch ganz spannend?

Das Lied war fertig und alle sprangen auf. Viele umarmten Mia-Maria und überschlugen sich mit guten Wünschen für die nächste Zeit. Auch Mrs. Scott, die Englischlehrerin, die natürlich ebenfalls keine Ahnung hatte, wünschte ihr freundlich „Have fun in America”.

Dann ging die Tür auf und Mia-Maria lief hinaus – hinaus in ihr neues Leben, in dem sie einfach Mia sein würde…

Sie heulte schon wieder, als sie aus der großen schwarzen Limousine sprang. Der Chauffeur Karl hatte ihr wie immer die Tür aufgehalten. Aber Mia sagte diesmal nicht einmal Danke. Es ging einfach nicht! Mühsam schluckte sie neue Tränen runter. Sie wollte ja mit – aber sie wollte auch hier bleiben!

Vor dem großen weißen Haus mit den dicken Säulen im Eingangsbereich standen ihre Eltern neben einem schmutzigen blauen Kombi mit einem dicken Blötsch in der rechten Seitentür und strahlten sie an. Mia blieb wie vom Donner gerührt stehen: „Damit fahren wir nach Krählich?”

Ein altes Auto, okay, aber so eine alte Kiste hatte sie dann doch nicht erwartet. Ihr Vater grinste schief: „Wenn schon, dann richtig, Mia-Mari-, Mia, meine ich! Niemand glaubt uns doch, dass wir dringend eine Arbeit brauchen, wenn wir mit Karls Schlachtross vorfahren, oder?”

Mia schaute ihn ungläubig an: „Du findest das auch noch lustig? Mir ist es peinlich! Was sollen denn die Leute denken, wenn wir so ein altes Auto fahren?”

Ihre Mutter sagte leise: „Einfach, dass wir eine ganz normale Familie sind. Und darauf freue ich mich so sehr.”

Sie lächelte: „Dann haben wir endlich richtig Zeit füreinander!”

Mia starrte sie an. Bis eben hatte sie irgendwie immer noch geglaubt, dass ihre Eltern einen Rückzieher machen würden. Aber alles war zur Abfahrt vorbereitet: Das Auto war bis obenhin voll gestopft mit Koffern und Kisten, nur die beiden Vordersitze und ein schmaler Sitz auf der Rückbank waren noch frei.

Ihre Mutter versuchte Mia zu umarmen. Sie sah viel jünger aus als sonst. Sie trug Jeans und – tatsächlich Turnschuhe! Mia konnte sich nicht erinnern, sie jemals ohne perfektes Make Up und hohe Absätze gesehen zu haben, außer auf dem Tennisplatz natürlich. Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich fast: „Ich freu mich so! Bist du auch so aufgeregt?”

Mia entwand sich ihren Armen und blaffte sie an: „Ich habe dicht gehalten und nicht mal Franzi von unseren verrückten Plänen erzählt, aber trotzdem bin ich immer noch wütend auf euch! Freuen muss ich mich wohl nicht auch noch!”

Wie sollte sie die Zeit ohne Mona und Franzi überstehen? Und ohne ,Firlefanz‘?

Sie nuschelte, immer noch mit den Tränen kämpfend: „Ich hole meine Tasche und den Laptop.”

Ihre Mutter stoppte sie und sagte fest: „Mia, du weißt, der Laptop bleibt hier. Der gehört nicht zu den Dingen, die wir unbedingt brauchen. Ich habe nachgesehen, im nächsten größeren Ort gibt es ein Internetcafé, da kannst du dann mal hin radeln, wenn es sein muss.”

Ihr Vater setzte hinzu: „Wir haben im Haus sicher sowieso keinen Internetempfang.”

Mia starrte die beiden ungläubig an: „Ich dachte, Eure Rechner, Eure Tablets, Eure Handys und Eure ganzen Klamotten, nicht meine! Was soll das denn, was habe ich getan?”

Sie rannte in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett und weinte, bis keine Tränen mehr kamen.

Da hörte sie eine Hupe. Abfahrt! Plötzlich kribbelte alles in ihr. Aufregung. Abenteuerlust etwa? „Irgendetwas in mir will auch ausprobieren, wie es ist, dieses andere Leben, ganz ohne all den Luxus, ganz neu anfangen, mal eine ganz Andere sein… Und es ist doch eigentlich nur ein Spiel!”, fuhr Mia durch den Kopf. Sie stand schnell auf, schaute sich ein letztes Mal in ihrem schönen Zimmer um, zog den Reißverschluss der großen Reisetasche zu und hob sie entschlossen vom Boden auf.

Bis spät in der letzten Nacht hatte Mia sie ein und wieder aus und wieder eingeräumt. Denn diese eine Tasche, hatten ihre Eltern gesagt, dürfe sie füllen, ohne sagen zu müssen, was es war. Endlos hatte sie in den vergangenen Tagen Listen geschrieben, Dinge herausgekramt, hineingesteckt, wieder rausgeholt… Nur zwei Sachen waren ganz unten drin geblieben, ihr Tagebuch und, egal was Mama und Papa davon halten würden, ihren iPod, knallpink und mit einer durchsichtigen Hülle, auf der ihre Name eingraviert war. Ihr richtiger Name natürlich: Mia-Maria von Steigener. Nicht Mia Steiner, wie sie jetzt heißen würde. Auf den Namen war ihre Mutter gekommen und ließ sich nicht davon abbringen. Ihre Vornamen Mia, Sabine und Piet sollten sie behalten. Ihre Mutter hatte trotzdem solche Angst, als eine von Steigener erkannt zu werden, dass sie sich sogar ihre blonden langen Haare mit braunen Strähnen hatte färben lassen! Kürzer waren sie jetzt auch. Aber Sabine war vom ersten Moment an besessen gewesen von dem Gedanken, dieses eine Jahr in Krählich als „ganz normale Familie” zu verbringen.

Dabei hatte sie jetzt schon Angst, dass Mias Vater innerhalb von drei Tagen gelangweilt wäre und auch voller Sorge um seine Firma mit ihnen zurück nach Köln fahren würde –

„Und das wäre irgendwie auch doof”, dachte Mia. Ihr Ehrgeiz war geweckt, sie wollte das Jahr durchhalten! „Außerdem hat Papa mir versprochen, ganz bald in Ruhe zu erzählen, warum er so spontan begeistert von Tante Gertis Testament war und sich auf dieses Abenteuer, ein Jahr lang arm zu sein, eingelassen hat.”, tröstete sie sich. Woher er diese Tante, von der sie vorher noch nie gehört hatte, wohl kannte? Schnell lief sie die breite Treppe hinunter, durchquerte die Eingangshalle und stand kurz darauf vor der Haustür.

Mias Vater hatte, wie eigentlich immer, sein Handy am Ohr. Sie ließ ihre Tasche fallen und rannte auf ihn zu, riss ihm das Telefon aus der Hand und flitzte um das Haus herum in den Garten.

„Mia, was machst du?”, brüllte ihr Vater und versuchte sie einzuholen: „Warte!”

Aber ihr Vater kam gar nicht so schnell hinterher. Er sah nur noch, wie Mia das Mobiltelefon in hohem Bogen in die Luft warf und es dann im Pool versank. „Wie kannst du nur, das war ein sehr wichtiges Gesprä…”, begann er laut schimpfend, aber Mia lachte wie befreit und rief: „Ganz oder gar nicht! Hast du doch eben gesagt! Los geht es, in einem Jahr kannst du es ja aus dem Wasser holen.”

Sie schlenderte betont lässig an ihrem sprachlosen Vater vorbei und quetschte sich mit ihrer Tasche auf den Sitzplatz auf der Rückbank. Kaum waren sie losgefahren, schlief sie vor Erschöpfung ein.

Eine knarrende Tür ins neue Leben

Mia wachte erst drei Stunden später auf, als der Motor verstummte. Sie blinzelte. Die Sonne stand schon tief und schien ihr ins Gesicht, deshalb sah sie etwas verschwommen ein kleines, windschiefes Häuschen, das zu einer alten Hexe zu passen schien. Vor den braunen Mauern mit Fachwerkbalken lagerte etwas unordentlich Holz. Ein niedriger brauner Holzzaun war um das Grundstück am Ende der Straße herum gezogen. Direkt links und hinter dem Haus begann der Wald. Auf der rechten Seite lag ein verwilderter Garten und daran schloss sich ein Grundstück mit einem ebenso alten Haus an, das aber etwas besser in Schuss zu sein schien.

Mia sprang aus dem Auto und rannte hinter ihren Eltern her, die gerade die Haustür aufschlossen.

„Wir sind ja im Nirgendwo!” brüllte sie entsetzt.

Ihre Mutter zuckte müde mit den Schultern, ihr Vater stieß wortlos die Pforte auf – und Mias Erwartung wurde nicht enttäuscht: Sie knarrte. Langsam, als müssten sie sich plötzlich in das neue Leben zwingen, traten die Drei ins Haus. Sie standen in einem kleinen, muffigen Flur. Zwei Türen mit blinden Glasfenstern und eine Holztreppe gingen von hier ab. „Schrecklich”, sagte ihre Mutter und biss sich dann auf die Zunge. „Na ja, ich war ja über dreißig Jahre nicht hier… habe das etwas anders in Erinnerung”, murmelte ihr Vater entschuldigend: „Außerdem ist das Haus seit Tante Gertis Tod vor vier Wochen unbewohnt und sicher ungelüftet.”

Die Garderobe war leer, bis auf einen knallblauen Regenschirm, der so gar nicht hierher zu passen schien. Ihre Eltern sagten kein Wort. Mia öffnete die Tür links von ihr und betrat ein kleines Wohnzimmer. Ein Schaukelstuhl stand vor einem Kaminofen, daneben stand ein braunes, abgesessenes Sofa, ein niedriger Tisch mit braunen und grünen Fliesen belegt, an den Wänden hingen ein paar Geweihe – aber auch hier passte etwas gar nicht hinein: Eine sehr große gerahmte Fotografie eines Elefanten, ganz offensichtlich in Afrika fotografiert, mit dunkelblauem und orangerotem Himmel, die über dem quadratischen Esstisch mit vier Stühlen hing. Mia starrte dem Elefanten in die Augen. Dann sah sie eine weitere Tür. Sie führte zu einem kleinen Raum, in dem auf der einen Seite gerade Platz für war für einen alten schmutzigen Herd, ein paar Schränke und einen weißen, schiefstehenden Kühlschrank war. Eine Spüle und eine kurze Arbeitsplatte standen auf der anderen Seite. „Ist das ärmlich!”, rief Mia überheblich ihren Eltern zu. Aber am Ende der Zeile stand ein blau glänzender Lackschrank, der vollkommen fremd wirkte.

„In ein modernes Appartement in der Großstadt passt der vielleicht, aber nicht in dieses Hexenhaus!”, dachte Mia. Trotzdem musste sie lächeln, sie konnte gar nicht anders, so deplatziert sah das aus.

Durch die nächste Tür kam sie wieder in den Flur, in dem ihre Eltern sich gerade küssten. Sie fuhr zurück: „Stör ich Euch?”, fragte sie ärgerlich.

Mann, wie sie das hasste! Ihre Eltern schienen überwältigt, hier in diesem neuen, fremden Leben zu sein und sagten beide immer noch nichts.

„Hat euch der Mut verlassen?“, fragte Mia und sagte etwas gehässig: „Ihr wolltet doch unbedingt hierher!” „Jaaa”, sagte ihre Mutter gedehnt: „Das Jahr kann beginnen, schön hier, eigentlich…”

Sie hatte es sich sicher auch anders vorgestellt. Sie versuchte trotzdem, ihre Tochter aufmunternd anzulächeln. Dann öffnete Mia eine kleine Tür, die sie noch unter der Treppe entdeckte.

„Ihhh!” riefen die Drei wie aus einem Munde, als der Geruch heraus strömte.

Hier waren eine kleine stinkende Toilette und ein stahlblaues Waschbecken mit schicker Edelstahlarmatur untergebracht.

Wieder absolut unpassend, aber trotz des muffigen Geruchs jubelte Mia: „In jedem Zimmer ist etwas Blaues zu entdecken! Ich renne nach oben!” Für den Moment hatte sie vollkommen vergessen, dass sie ja eigentlich gar nicht hier sein wollte.

Oben stand sie wieder in einem kleinen Flur. Hier hingen afrikanische Masken an den Wänden. Sie öffnete die erste Tür und stand in Tante Gertis Schlafzimmer, da war sie sich sicher. Alles war grau und braun und roch ungelüftet, das Zimmer wirkte durch die tiefe Dachschräge mit den braunen Brettern als Decke sehr gedrückt.

„Absolut fürchterlich“, dachte Mia, und war etwas enttäuscht, als sie nirgendwo etwas Blaues, Ungewöhnliches fand. Auf dem Boden lagen alte Teppiche, die Vorhänge waren sicher vierzig Jahre alt und lange nicht gewaschen. Das breite Bett bestand eigentlich aus zwei zusammen geschobenen Einzelbetten, hatte aber ein reich verziertes Betthaupt.

„So, hier können es sich Mama und Papa gemütlich machen, ich fahr zurück!”, sagte sich Mia entschlossen und verließ rückwärts den Raum.

„Hier bleibe ich nicht!”, rief sie laut und drohend die Treppe hinunter. Doch dann siegte ihre Neugierde und sie öffnete noch die zweite Tür. Sie schnappte überrascht nach Luft: Ein weißes Eisenbett mit vielen Verzierungen stand unter der Dachschräge, eine dicke wollweiße Überdecke lag oben auf. Der Raum wirkte hell und sehr gemütlich, die Wände waren mit zartblauen und hellgrauen Ornamenten verziert, dazu standen auf dem weißen Nachttischchen orangefarbene dicke Kerzen. Ein Lacktischchen mit einem großen dreigeteilten Spiegel und orientalischen Zeichen stand links von der Tür.

„Wie hübsch ist dieses Zimmer!”, dachte Mia staunend. Die rechte Wand war von einem blauen Bücherregal bedeckt, das vollkommen mit Büchern gefüllt war. An den Wänden hingen Tierfotografien – Tiger und Löwen in freier Wildbahn geknipst, eine Herde Giraffen, dann eine Frau von etwa fünfzig Jahren mit einem Affenbaby im Arm. Sofort wusste Mia, dass die Frau auf dem Bild Tante Gerti war und dass sie sich nebenan vertan hatte: Das Zimmer mit dem Doppelbett war sicher nicht das Schlafzimmer ihrer Tante gewesen. Sondern dieser Traum in blau-weiß…

„Diese Frau hat die weite Welt gesehen und mit ins Hexenhäuschen genommen”, fuhr es ihr in den Kopf. Sie betrachtete das Bild. Graublonde mittellange, etwas unordentliche Haare, fleckige Tropenkleidung, und ein freundliches Lächeln für das Affenkind.

„Vielleicht bleibe ich doch”, überlegte Mia.