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Freyja Sandviks Leben ist perfekt, bis ein Unfall ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Sie verliert ihren Verlobten und ihre Eltern. Zurück bleibt lediglich sein Bruder und das Hotel ihrer Eltern. Neben all dem Schmerz versucht Freyja, sich diesem zu widmen und wird bald darauf mit einer nüchternen Wahrheit konfrontiert, als der ihr auf den ersten Blick unsympathische Adrian Da Silva auftaucht und ihr Leben gehörig auf den Kopf stellt. Plötzlich passieren gespenstische und gefährliche Dinge im Hotel, die sich keiner erklären kann.Steckt hinter der Fassade des Amerikaners ein wahrer Dämon, der Freyjas Leben ruinieren und das Geschäft übernehmen will?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Midnight Sun
-Ein Jahr zum Verlieben-
Ein Roman von
Jadelyn Aurora
Einen besonderen Dank an:
Meine Betaleserin
Martina
Meine Lektorin
Franziska Eifert
Meine besten Freunde
Ihr habt mich in der dunkelsten Zeit unterstützt, aufgebaut und mir geholfen, wieder das Licht im Leben zu sehen.
Inhaltsverzeichnis
Glossar
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Epilog
Kjæreste
Liebling
Mamma og Pappa
Mama und Papa
Andenes Helsesenter
Andenes Gesundheitszentrum
Helvete igjen!
Zum Teufel nochmal!
Hej
Hallo
Sankt Hans
Mittsommer (wird am Vorabend des 24. (wird am Vorabend des 24.Juni gefeiert, mit Lagerfeuer)
Lyn
Blitz
Andenes Kirke
Andenes Kirche
Boller
norwegische, süße Brötchen
Njörðr
Auch Njörd oder Niördr genannt. Nordischer Gott des Meeres und des Windes
Lagerrom
Lagerraum
Grovbrød
Vollkornbrot/dunkles Brot
Knekkebrød
Knäckebrot (eigentlich aus Schweden, aber in ganz Skandinavien sehr beliebt)
Macaroner
Macarons
Fruktkarameller
Fruchtkaramell
Konfektpose med hjerte
Süßwarenbeutel mit Herz
Trøffelkuler i pose
Trüffelkugeln im Beutel
Fordømme!
Verdammt!
God morgen
Guten Morgen
Morn
Guten Morgen
Jeg elsker deg
Ich liebe dich
Jeg elsker deg også
Ich liebe dich auch
Skytsengel
Schutzengel
Snø
Schnee
Pepperkakar
Lebkuchen
Kokosmakroner
Kokosmakronen
Kanel i Svingene
Zimtkringel
Julekjeks
Haferkekse / Weihnachtsplätzchen
Brune Pinner
Karamellkekse
God Jul
Frohe Weihnachten
Gløgg
Glühweinart
Risgrøt
Milchreis
Svineribbe
Gebratene Schweinerippen
Juleskinke
Weihnachtsschinken
Pinnekjøtt
gepökelte Lammrippen (Stockfleisch)
Lutefisk
Kabeljau
Medisterkaker
Fleischklößchen
Kålrotstappe
Schau, Nordlichter!
Midtre Hålogaland tingrett
Bezirksgericht Midtre Hålogaland. Andenes gehört zum Vesterålen-bezirk
bestemor
Großmutter / Oma
barnebarn
Enkel
Ha det bra!
Auf Wiedersehen! / Tschüss!
Das Rauschen des Meeres umhüllte mich wie ein schützender Kokon, während ich den Wellen zusah, wie sie auf die Klippen der Küste trafen. Dort zerteilten sie sich mit einem ohrenbetäubenden Klatschen in unzählige Tropfen, die in der Sonne einen Regenbogen bildeten.
Der Anblick der rauen Natur brachte meinen Körper zum Beben und ich ertappte mich dabei, wie gern ich an der Klippe stehen und mich von den feinen Tröpfchen benetzen lassen wollte. Aufgewachsen mit viel Outdooraktivitäten, war es leicht für mich, mit der Natur im Einklang zu sein und ihren unendlichen Geschichten zu lauschen.
Nur ein Gedanke hinderte mich an dem Vorhaben, alles stehen und liegen zu lassen: Ich musste meinen widerspenstigen Koffer zubekommen, noch bevor Erik ins Schlafzimmer kam.
Leicht gequält drehte ich mich um und seufzte. Der Anblick des Kleiderchaos auf dem Bett war unerträglich und die Unruhe in mir wuchs. Ich war ein ordnungsliebender Mensch und, seit unser Haus fertiggestellt war, achtete ich darauf, dass alles seinen Platz hatte.
Ich ließ meinen Blick durch das lichtdurchflutete Zimmer gleiten und schmunzelte beim Anblick der hellen Kommoden, auf denen Erinnerungsfotos und Pflanzen standen. Für alles, was grün war, besaß ich ein Faible und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich die Wände in dieser Farbe gestrichen.
Da mein Verlobter und ich uns für ein typisches Holzhaus entschieden hatten, stand jedoch außer Frage, die natürliche Farbe der Bäume zu verstecken. Die hellbraunen Wände passten zu den teils rustikalen, teils modernen Möbeln und sorgten so für eine Harmonie, in der wir uns beide wohlfühlten.
Mein Lieblingsplatz im Schlafzimmer war das urgemütliche Boxspringbett, von dessen Nutzen ich Erik erst hatte überzeugen müssen. Jetzt war er derjenige, der morgens nicht aus dem Bett kam und sich trotz Weckers und Decke Wegziehens zusammenrollte und wie ein kleines Kind weiterschlief. Der Anblick war so süß, dass ich mich ans Bettende setzte und ihn für einige Minuten beobachtete, ehe ich die radikale Weckmethode in Form eines nassen Waschlappens anwandte.
Die Rache - oder Retourkutsche, wie Erik sie nannte - bekam ich stets am Wochenende zu spüren, wenn ich länger schlafen wollte. Die Neckereien zwischen uns bestanden seit dem Tag, an dem wir uns das erste Mal begegnet waren.
Mein Blick schweifte zu einem der Fotos, auf dem Erik, sein jüngerer Bruder Sven und ich auf einer Kletterburg auf dem ortsansässigen Spielplatz turnten und über und über mit Dreck bedeckt waren. Ich schloss meine Augen und sah die Szene genau vor mir.
„Hey! Mach Platz!“, rief jemand energisch. „Oder hast du vor, hier zu übernachten?“
Ich drehte mich um und sah einen Jungen vor mir stehen, der seine Hände in die Hüften gestemmt hatte und alles andere als geduldig war. Unter einer Schicht aus Schmutz lugten hellblonde Haare hervor, die ihm wirr ins Gesicht hingen. „Redest du mit mir?“, fragte ich mit einem Mix aus Angst und Unschlüssigkeit. Die wackelnde Holzbrücke war mir nicht geheuer.
Er verdrehte die Augen. „Ja, mit wem denn sonst? Du bist die Einzige, die den Weg blockiert! Mach Platz, Sven und ich müssen den Abgrund überqueren, bevor uns die Wikinger angreifen! Von den lauernden Krokodilen wollen wir auch nicht gefressen werden.“
Ohne zu warten, packte er mich am Arm und zog mich zur Seite, ehe er mit seinem Bruder, der mehr schlecht als recht das Netz hinaufkletterte, an mir vorbeizog und: „Sie sind da! Lasst uns unser Dorf verteidigen!“, rief. Darauf folgte ein Schlachtruf, der mich zusammenzucken ließ.
Plötzlich kamen von der anderen Seite drei Jungen in unserem Alter, die mich mit ihren Blicken fixierten. Ihr Anführer – ein hagerer Bengel mit schiefstehenden Zähnen –, lachte. „Seht mal. Die haben eine holde Maid! Schnappt sie euch und nehmt sie gefangen!“
Meinte er damit mich? Ich sah mich um und erkannte, dass ich als einziges Mädchen auf der Kletterburg herumturnte, während die anderen lieber im Sandkasten spielten oder schaukelten.
„Sie gehört uns!“, rief Erik und stellte sich mit Sven verteidigend vor mich. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und er warf mir einen Blick darüber zu. „Was ist?“, zischte er.
Meine Güte, war er frech!
„Ich kann für mich selbst kämpfen“, behauptete ich und krempelte meine sandigen Ärmel nach oben.
„Ein Mädchen, das kämpfen kann, hm? Wie heißt du?“, fragte er mit einschätzendem Blick, ehe er Sven zunickte.
„Freyja, und du?“
„Erik, und das ist Sven“, sagte er und stieß ein erneutes Kampfgeheul aus. „Lasst uns für unser Dorf kämpfen!“
Ruckartig erwachte ich aus meiner Erinnerung und sah blinzelnd zu meinem Verlobten.
Mit verschränkten Armen und einer Mischung aus verzweifeltem und amüsiertem Grinsen, sah Erik auf das Chaos. „Du bist immer noch nicht fertig?“, seufzte er und ging auf den Koffer zu. Wortlos drehte er ihn um und das bereits Gepackte purzelte aufs Bett.
„Nicht!“, rief ich entsetzt. „Das waren die Dinge, die ich auf jeden Fall mitnehmen werde!“
Kopfschüttelnd betrachtete Erik meine Auswahl. „Und wo bringe ich meine Kleidung unter?“
Erwischt wurde ich rot um die Nase und sah beschämt auf den Stapel, der fein säuberlich auf dem Bett lag. „Daran habe ich nicht gedacht“, murmelte ich entschuldigend, seufzte und riss mich zusammen. Gemeinsam schafften wir es innerhalb einer halben Stunde, den Koffer mit unserer Kleidung zu bestücken.
„Haben meine Eltern schon angerufen?“, wollte ich wissen und setzte mich auf das Gepäckstück. Nur so konnten wir ihn schließen.
Erik hielt inne und musterte mich nachdenklich. „Ich habe das Gefühl, du bist in einer anderen Welt. Sie sind bereits unten und warten auf uns“, sagte er.
Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich auf und raste die Treppe nach unten, um meinen Eltern zur Begrüßung um den Hals zu fallen. „Verzeiht, Mamma og Pappa!“, keuchte ich. „Ich war in Gedanken und konnte mich nicht entscheiden.“
Lachend fuhr sich mein Vater über sein dunkelbraunes, wuscheliges Haar. „Das bist eindeutig du“, neckte er und warf meiner Mutter einen Blick zu. „Die Tagträumerei hat sie von dir“, behauptete er, woraufhin er von uns beiden einen empörten Knuff bekam.
Wir brachen in Gelächter aus, das nach einigen Sekunden abbrach, als Erik keuchend den Koffer nach unten schleppte. „Wir müssen bestimmt wegen Übergepäck zuzahlen“, sagte er atemlos und lehnte sich gespielt erschöpft auf ihm ab.
Ich trat an ihn heran und befühlte seine Muskeln am Oberarm, für die er täglich in unserem kleinen Fitnessraum trainierte. „Ach, komm schon, du bist ein kräftiges Bürschchen. Pappa hilft dir bestimmt, ihn zu verladen. Dann können wir endlich los.“
Aufgeregt, den Mittsommerurlaub gemeinsam mit meinen Eltern in Spanien zu verbringen, schnappte ich mir die Mappe auf der Kommode, in der Flugtickets sowie Reisepässe und Euroscheine lagen. Mit norwegischen Kronen kamen wir in dem EU-Land nicht weit.
„Sven weiß Bescheid?“, erkundigte ich mich und zählte eilig die Scheine durch. Das hatte ich zwar schon am Vorabend getan, doch ein weiteres Mal konnte nicht schaden.
Erik nickte. „Den Schlüssel habe ich ihm heute Morgen gegeben, er kommt vorbei und gießt die Blumen“, bestätigte er und hievte mit meinem Vater unseren Koffer in das Auto meiner Eltern.
Endlich konnte es losgehen! Der Flughafen Andøya war nicht weit von uns entfernt und meine Aufregung wuchs, als Pappa den Wagen startete. Erik und ich machten es uns auf der Rückbank gemütlich und los ging die Fahrt.
Laut und falsch singend fuhren wir die Hauptstraße entlang. Die entspannte Stimmung und die Vorfreude auf zwei Wochen Urlaub ließen meinen Körper kribbeln. Noch mehr, als ich das unendlich weite Meer vor mir sah. Der Wind trieb die Wellen vor sich her und brachte die Boote und Schiffe zum Schaukeln.
Plötzlich hörte ich meinen Vater brummen und knurren.
„Was ist los?“ Ein ungutes Gefühl keimte in mir auf, als er in der gleichen Geschwindigkeit weiterfuhr. Die nächste Abzweigung war zum Flughafen! Warum wurde er nicht langsamer?
„Die Bremsen funktionieren nicht!“, fluchte er und versuchte alles in seiner Macht Stehende, um den Wagen anzuhalten.
Entsetzt krallte ich mich in Eriks Hand, als wir in die Kurve schlitterten.
„Nein!“, schrie ich und versuchte, den Gurt zu lösen, als das Auto einen großen Stein rammte und zur Seite geworfen wurde.
Panisch schrien wir durcheinander, denn durch die Wucht überschlug sich der Wagen dreimal und schleuderte uns wie in einer Waschmaschine herum. Das grauenvolle Quietschen von Reifen, das Zerbersten der Scheiben und das Kratzen von Stahl und Plastik war lauter als jeder Donner.
Plötzlich gab es einen ordentlichen Knall, der den Wagen zum Stehen brachte. Er ließ die Stimmen meiner Geliebten versiegen und katapultierte mich in eine Dunkelheit.
Angenehme Wärme umfing meinen Körper und es kam mir vor, als wäre ich schwerelos. Gleichzeitig nahm ich einen belastenden Druck auf mir wahr, doch ich konnte nicht sagen, woher er kam. Um mich herum war es beängstigend still. Nicht das kleinste Geräusch war zu hören und zu meinem Erstaunen empfand ich keine Angst. Stattdessen füllte mich ein zufriedenes Gefühl bis in die Zehenspitzen aus.
Langsam öffnete ich meine Augen und blinzelte. Es war stockfinster und nicht einmal ein winziger Lichtpunkt half mir, mich zu orientieren.
Was war das? Wo war ich?
Als ich mich im Kreis drehte, wurde ich von den Bildern des Unfalls heimgesucht, aber ich war nicht panisch, sondern merkwürdig ruhig. Es war genauso unheimlich wie das leichte Ziehen an meinem Körper. Dabei war ich mir sicher, dass mich niemand berührte.
„Hallo?“, fragte ich und lauschte meinem Echo, das sich in der Finsternis unwirklich anhörte. „Kjæreste? Mamma og Pappa?“
Erneut wiederholten sich meine Worte wie eine Schallplatte, bis deren Klang verebbte. Der Sog an meinem Körper hingegen nahm zu und plötzlich gleißte ein Licht auf.
Eilig schirmte ich meine Augen ab, da es unangenehm in ihnen brannte. Dem Rauschen und Klappern zuhörend, versuchte ich, herauszufinden, woher das Licht kam. Erst nach einigen Sekunden gewöhnte ich mich an das gleißende Licht und bemerkte, wie sich vor mir eine Steintreppe bildete. Stein für Stein reihte sie sich aneinander und führte direkt zur Lichtquelle hinauf.
Behutsam erklomm ich eine Stufe nach der anderen. Mit jedem Schritt ließen meine Sorgen nach und ich wurde freier, doch dann ließ mich eine Stimme innehalten.
„Kjæreste. Bitte, du musst bleiben …“
Erik!
Ruckartig drehte ich mich um, doch hinter mir lauerte die Finsternis, als würde sie auf meinen Fall warten. „Wo bist du, Erik?“, rief ich verzweifelt. Spielte er mit mir?
„Freyja, Kjæreste, werde glücklich … Ich werde auf dich warten, gib nicht auf!“
Mein Atem beschleunigte sich und der Sog an mir ließ nach. „Erik? Wo bist du? Hör auf, dich zu verstecken!“
„Freyja, … du musst leben … für uns beide!“
Plötzlich brach die Treppe unter mir ein und ich stürzte in die Dunkelheit. Das Licht entfernte sich mit jedem Atemzug, bis ich wieder gänzlich von der Finsternis umgeben wurde.
„Erik!“
Ruckartig öffnete ich meine Augen und schnappte nach Atem. Über mir befand sich eine kahle, weiße Decke, die ich nicht kannte, zudem gab es piepende Geräusche, die mir Ohrensausen bescherten. Wo war ich nur?
Eine eisige Kälte umfasste mein Herz und zog es schmerzhaft zusammen. War alles nur ein Albtraum? Ich fühlte nichts, doch die Enge in der Brust erschwerte mir das Atmen.
„Freyja …“, erklang plötzlich eine Stimme.
Eilig drehte ich meinen Kopf in die Richtung und erkannte die hagere Figur von Eriks Bruder Sven. Er trug schwarze Kleidung, die mich an die belastende Dunkelheit erinnerte. „S-Sven?“, fragte ich rau. „Wo bin ich?“
„Du bist im Andenes Helsesenter“, antwortete er bedrückt mit dem Blick auf den Boden gerichtet.
Langsam richtete ich mich auf und sah mich um. Das Zimmer im Gesundheitszentrum war schlicht eingerichtet und ich ließ meinen Blick über die Geräte neben dem Bett schweifen. Sie waren der Übeltäter des grässlichen Piepens. „Wo sind die anderen?“, hakte ich vorsichtig nach.
Bitte sag, dass das alles nur ein Albtraum ist!
Sven fasste nach meiner Hand und ich erkannte, wie seine blauen Augen unter einem Schleier an Tränen blasser als normal wirkten. „Es tut mir leid, Freyja“, flüsterte er.
Eine eisige Kälte überzog meinen Körper und lähmte mich und meine Gedanken.
Nein, nein! Das ist nicht wahr! Sag, dass das nicht wahr ist!
Ich wollte Sven anschreien, dass er mich nicht anlügen sollte, doch seine Niedergeschlagenheit traf mich wie ein Schlag. Es war wahr. Der Unfall war bittere Realität.
Tränen schossen in meine Augen und ich schüttelte den Kopf. „Nein … Das ist nicht wahr“, sagte ich zitternd.
„Erik und deine Eltern haben den Unfall nicht überlebt, Freyja. Für sie kam jede Hilfe zu spät.“
Zu spät … zu spät … zu spät …
Wie ein Echo hallten die Worte in meinem Kopf nach. Sie rissen mir den Boden unter den Füßen weg und ich begann, hemmungslos zu weinen. „Warum lebe ich?“, rief ich aufgebracht. Warum hatte nur ich überlebt?
„Erik hat dich, so gut es ging, geschützt, Freyja“, erklärte Sven und streichelte über meinen Handrücken. Eine tröstende Geste, die mich allerdings noch mehr in Aufruhr versetzte.
„Nein!“, schrie ich verzweifelt und schlug die Hände vor mein Gesicht. Ich hatte alles verloren, was mir wichtig war! Meine Eltern, … meinen Verlobten … All unsere Träume hatten sich in Nichts aufgelöst und plötzlich herrschte in mir eine gähnende Leere.
Wie in meinem Traum wurde ich von der Dunkelheit gefangen genommen und ein unangenehmes Kribbeln durchzog meinen Körper, als sei er eingeschlafen. Aufgewühlt und unter Tränen, schlug ich solange auf die Decke ein, bis Sven meinem Ausbruch ein Ende setzte.
Er erhob sich und ließ sich neben mir auf dem Bett nieder. „Bitte beruhige dich, Freyja“, sagte er sanft und nahm mich in den Arm.
Seine Umarmung war tröstlich, brachte aber nicht das zurück, was ich am meisten brauchte: Meine Eltern und Erik. Wie sollte es jetzt weitergehen? Was sollte ich machen? Die Fragen der ungewissen Zukunft belasteten mich zusätzlich, doch im Moment war die Trauer um meine verlorenen Geliebten am präsentesten.
Was auch immer Sven versuchte, ich war nicht zu beruhigen. Letztlich sah er sich dazu gezwungen, jemanden zu holen. Neben meinem Bett drückte er einen Knopf.
„Ich verspreche dir, alles wird gut“, flüsterte er an meinem Haar.
„Gar nichts wird gut!“ Wie schaffte er es, nach außen hin so ruhig sein, nachdem er seinen Bruder verloren hatte? Hatte er kein Herz? Der Verlust seiner Eltern war schlimm genug gewesen und jetzt hatte er niemanden mehr!
Kurze Zeit später wurde die Tür geöffnet und eine junge Frau betrat mit einem Mann das Zimmer. Beide trugen weiße Kittel und schienen die Ruhe selbst zu sein.
„Frau Sandvik, bitte beruhigen Sie sich. Ich bin Doktor Iversen“, stellte er sich vor.
Alle hatten gut reden! Wie sollte ich mich, verdammt noch mal, beruhigen? Warum musste das Schicksal so übel mit mir spielen und mich am Leben lassen?
„Lasst mich in Ruhe!“, herrschte ich sie an und warf die Decke zur Seite. Erst jetzt bemerkte ich einen Verband um meinen Oberschenkel. Zudem steckte eine Kanüle in meinem Handrücken und von dort ging ein Schlauch zu einer Infusion. Wütend und unbeherrscht riss ich mir diese heraus und ignorierte den brennenden Schmerz. An die Bettkante gerutscht, wollte ich aufstehen, wurde jedoch am Handgelenk festgehalten.
„Freyja, er hat recht. Du musst dich beruhigen“, bat Sven eindringlich, aber seine Stimme war träge, wie ich sie kannte. Früher war ich mit seiner Art zu sprechen, nicht zurechtgekommen, und hatte ihn für mundfaul und uninteressiert gehalten, doch im Laufe der Zeit hatte ich ihn liebgewonnen. Sven war auf seine Art ein netter, aber zurückhaltender Kerl, der bisher keine Erfahrungen mit Frauen hatte. Einige glaubten, er wäre dem eigenen Geschlecht verfallen, doch ich nahm an, dass es an seinem Charakter und seiner Ausbildung als Seelsorger lag. Diese beanspruchte viel Zeit.
„Wie soll ich mich beruhigen? Ich habe alles verloren!“, brüllte ich.
„Nein, Freyja. Du bist nicht allein”, sagte Sven entschieden und ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie er den beiden zunickte. „Ich bin bei dir.“
„Ich will mich nicht beruhigen, sondern sterben!“, schniefte ich und vergrub erneut mein Gesicht hinter meinen Händen.
„Das hilft niemandem“, flüsterte Sven, meinen Rücken streichelnd. „Ich bin mir sicher, Erik hat dich beschützt, damit du weiterlebst.“
Schluchzend vergrub ich mich an seiner Brust und war froh, dass er da war. Sicher hatte Erik gewollt, dass ich ungeschoren davonkam, doch ich vermisste ihn und meine Eltern so sehr, dass mir das Herz im wahrsten Sinne des Wortes blutete.
Der Schmerz in meinem Inneren wurde so groß, dass ich die Beherrschung verlor und zu schreien anfing. Die ungerechte Welt sollte ihn hören! Der Ausbruch betäubte meinen Körper und meine Sinne, die erst klarer wurden, als Sven mich sachte von sich drückte und zurück ins Bett legte.
Das Gesicht vom Weinen und Toben rot, beruhigte ich mich langsam und starrte an die Decke. Mein Kopf dröhnte und erschwerte es, einen klaren Gedanken zu fassen. „Wann ist der Unfall passiert?“, fragte ich mit krächzender Stimme und sah zwischen Sven, Doktor Iversen und der Krankenschwester hin und her. Sie kontrollierten die neu gelegte Kanüle und die Geräte.
„Vor drei Tagen. Du warst bewusstlos und wir haben geglaubt, du wärst ins Koma gefallen“, erklärte Sven, der meine Hände in seine nahm und sie wärmte.
„Sie haben Prellungen, Schürfwunden und eine Fleischwunde an Ihrem Oberschenkel davongetragen, Frau Sandvik“, mischte sich der Arzt ein. „Nichts, was zurückbleibt. Ihr Schutzengel hat ganze Arbeit geleistet.“
Erst jetzt nahm ich mir die Zeit, sein sanftes Profil zu betrachten. Auf seiner Nase tanzte eine kleine Brille, die bei jeder Bewegung fast herunterfiel, aber, wie durch ein Wunder, blieb sie dort haften, als wäre sie mit Sekundenkleber befestigt worden. Seine ergrauten Haare waren zurückgekämmt und ähnelten Svens, die blond und stets nach hinten gegelt waren. Dadurch hielten einige ihn auf den ersten Blick für ein verwöhntes, reiches Muttersöhnchen, während mein Verlobter ein naturbezogener, wilder, rauer Bursche mit Muskeln gewesen war.
„Werte sind normal, Herzschlag liegt bei …“, informierte die Krankenschwester und nannte Zahlen, die mir nichts sagten. „Sie sind zu hoch, aber das kann am Stress liegen“, fügte sie hinzu.
Na und? Was juckten mich die Werte? Es war doch alles egal …
„Wie lange wird Freyja zur Genesung brauchen und wann kann sie entlassen werden?“, erkundigte sich Sven.
„In ein paar Tagen“, erwiderte Doktor Iversen und wandte sich an mich. „Wir würden Sie gern zur Beobachtung hierbehalten, vor allem, da Sie so aufgebracht sind.“
Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Kann ich nicht einfach nach Hause? Sie sagten selbst, ich bin nicht großartig verletzt.“
Den Kopf schüttelnd, hob er seinen Finger. „Sie stehen unter Schock und sollten unter Beobachtung bleiben. Wenn es Ihnen in ein paar Tagen besser geht, können Sie nach Hause“, antwortete er, wobei er väterlich klang.
Geschlagen nickte ich und starrte an die Decke, ohne der weiteren Unterhaltung von Sven und dem Arzt zuzuhören. Am Rande bekam ich mit, wie Doktor Iversen mitsamt der Krankenschwester das Zimmer verließ. Sobald Sven wieder meine Hand nahm, rannen mir die Tränen unaufhaltsam über die Wangen.
„Freyja ...“, flüsterte er hilflos.
Ruckartig und ohne auf die Verletzung am Oberschenkel zu achten, drehte ich mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht im Kissen. Im Schutz der Dunkelheit ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. Immer wieder fragte ich mich, was ich verbrochen hatte, so bestraft zu werden. Eine Antwort würde ich wohl nie erhalten ...
Das Weinen zehrte an meiner restlichen Kraftreserve, die sich langsam dem Ende neigte. Ich kämpfte mit dem Schmerz des Verlustes, bis mich eine unsagbare Müdigkeit in einen unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf zog.
In den nächsten Tagen fühlte ich mich leer, als wäre nur noch eine Hülle von mir übrig. Ein Körper, der ohne Lebenswillen im Bett lag und an die Decke starrte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um den Schmerz in mir zu besiegen. Sven war oft da, sprach mit mir, hielt meine Hand und versuchte, mich aufzumuntern, aber er konnte seine Arbeit als Seelsorger nicht vernachlässigen. Daher war ich dem Schmerz, der mich bis in den letzten Winkel ausfüllte, allein ausgeliefert.
Körperlich verheilten die Verletzungen, doch von der Seele konnte keine Rede sein. Erst recht nicht, als Sven eines Abends den Termin für die Beerdigung verkündete und ich einen neuen Nervenzusammenbruch bekam, der nur mit Medikamenten ruhiggestellt werden konnte.
Zitternd wie ein Ast im Sturm, lag ich im Bett und wusste nicht, ob ich fähig war, der Bestattung meiner drei Liebsten beizuwohnen. Gleichzeitig wusste ich, dass es meine Pflicht war, ihnen die letzte Ehre zu erweisen, und ich begann, mich vor dem Tag zu fürchten.
„Du bist nicht allein, Freyja“, sagte Sven und strich mir liebevoll über meine vom Weinen heiße Wange. „Ich bin bei dir. Gemeinsam schaffen wir es, versprochen.“
Ich reagierte nicht auf die Worte, die in den letzten Tagen oft gefallen waren. Wie konnte Sven scheinbar so locker mit dem Verlust umgehen, während ich im Dreieck sprang und keinen klaren Gedanken fassen konnte? Lag es an seiner Ausbildung, die ihm Ruhe in solchen Situationen lehrte? Er als Seelsorger musste sich einfühlen können, das tat er auch, und doch fühlte es sich nicht so an. Generell beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht beschreiben konnte, und ich war mir sicher, dass es mit dem tragischen Tod meiner Liebsten zusammenhing.
Eines Abends hatte ich von Svens träger Stimme genug. „Helvete igjen!“, fauchte ich und drehte mich erbost um. „Bitte geh für heute. Ich brauche meine Ruhe.“
Im Augenwinkel sah ich, wie ihn meine Worte verletzten, und sofort setzte mein schlechtes Gewissen ein. Ruckartig drehte ich mich um und hielt sein Handgelenk fest. „Es tut mir leid, Sven“, flüsterte ich beschämt. So schwer es mir fiel, ich durfte mich nicht nur auf mich selbst konzentrieren, immerhin hatte er ebenfalls einen Teil seines Lebens verloren. „Ich habe es nicht so gemeint. Ich bin nur … ganz außer mir“, versuchte ich mein Verhalten zu erklären. Ein Blick in Svens Augen genügte, um zu wissen, dass er besänftigt war.
Zärtlich strich er mir über die Haare und schüttelte den Kopf. „Nein, Freyja, es tut mir leid, dass ich mich dir aufdränge. Ich möchte nicht, dass du in der schweren Zeit allein bist, und kann nachvollziehen, wie du dich fühlst“, erwiderte er. Er ließ sich wieder auf dem Bett nieder und malte Zeichen auf meinen Handrücken. „Ich vermisse Erik und wünschte, er wäre hier. Leider können wir die Zeit nicht zurückdrehen, aber wir können versuchen, mit den schönen Erinnerungen weiterzuleben. Meinst du nicht, dass wir uns darauf fokussieren sollten?“
Den Blick senkend, grübelte ich.
Erik hätte bestimmt gewollt, dass ich für ihn weiterlebe und all den Spaß erlebe, den wir vorhatten.
Nur … wie sollte ich dem nachkommen? Meine Lebenslust war versiegt, stattdessen fühlte ich einen Sog, der mich auf die andere Seite holen wollte.
Mit einem Mal begann mein Herz zu rasen. Dieser Traum mit der Treppe … war er ein Symbol gewesen? Hatte ich eine Nahtoderfahrung erlebt oder bildete ich es mir ein? Dunkel erinnerte ich mich an Artikel in Zeitungen, in denen Menschen von ihren Erfahrungen damit berichteten und aussagten, dass sie neben einem friedlichen Gefühl in sich ein weißes Licht sahen.
„Deine Eltern würden sich auch im Himmel freuen, wenn du euer Hotel übernimmst, oder?“, fragte Sven und ich nickte seufzend.
Nicht umsonst hatte ich ein Finanzmanagementstudium in Oslo absolviert, während Erik IT und Development belegt hatte. Seine Leidenschaft für Computer und Technik hatte es ermöglicht, in unseren jungen Jahren ein Eigenheim zu bauen, da er sein selbst erstelltes Programm für einen Batzen Geld verkauft hatte. Seit seiner Jugend hatte er daran getüftelt und sobald es fertig war, hatte er es zahlreichen Firmen präsentiert. So war eine finanzielle Hilfe meiner Eltern nicht notwendig gewesen.
Unsere Studiengänge hatten wir so gewählt, dass wir später das Familienhotel übernehmen konnten. Das stand schon seit meiner Kindheit fest, doch, dass der Tag so schnell kommen würde, hatte niemand von uns erwartet.
Plötzlich vernahm ich ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust. War ich dem Ganzen überhaupt gewachsen und konnte meine Eltern stolz machen?
„Freyja?“, fragte Sven besorgt.
„I-Ich … kann es nicht“, stotterte ich mit bebender Stimme und war einem erneuten Zusammenbruch nahe. Wie sollte ich das alles bewerkstelligen?
„Doch, Idun ist auch noch da, vergiss das nicht, Freyja“, sagte Sven entschieden, fast schon scharf.
Verblüfft blinzelte ich Eriks Bruder an. So bestimmend kannte ich ihn gar nicht. War das eine neue Seite von ihm, die mir bisher verborgen geblieben war?
Idun war eine feste Angestellte im Hotel und die beste Freundin meiner Mutter, deren Tochter Suvinna nur sieben Jahre jünger war als Erik und ich. Nach der Scheidung genoss Idun ihr Leben als alleinerziehende Mutter in vollen Zügen. Sobald sich die Gelegenheit anbot, unternahm sie mit ihrem Kind zahlreiche Ausflüge.
Ich kann sie doch nicht allein lassen, oder?
„Meinst du?“, fragte ich leise. Iduns Erfahrungen im Hotel könnten mir helfen, mich zurechtzufinden, aber war es genug, um das Hotel weiterhin am Leben zu halten? Ich hatte Angst, die Lebensarbeit meiner Eltern zu ruinieren, und fühlte mich hoffnungslos damit überfordert. Wäre Erik hier, … mit ihm konnte ich alles schaffen! Mit Sven vermochte ich es nicht sagen, da er mit der Geschäftswelt nichts am Hut hatte, sondern lieber Leuten half, die trauerten.
„Natürlich. Vertrau mir, sie weiß, was zu tun ist“, versicherte er, als es plötzlich klopfte. „Herein!“
Nicht davon begeistert, dass Sven mich nicht einmal fragte, ob ich jemanden sehen wollte, krallte ich meine Hände in die Decke. Es gefiel mir nicht, dass er mir alle Entscheidungen aus der Hand nahm, oder war ich zu übersensibel?
Iduns blonder Haarschopf kam zum Vorschein, ehe sich der Rest ihres Körpers ins Zimmer bewegte. „Hej, Freyja“, grüßte sie mit belegter Stimme, blieb aber abwartend im Raum stehen. Trotz der Entfernung sah ich, wie ihre blassblauen Augen vom Weinen gerötet waren.
„Hej, Idun“, erwiderte ich leise und sammelte meine nicht vorhandenen Kräfte zusammen, um aufzustehen und auf sie zuzugehen. Auf halbem Weg kam sie mir entgegen und wir fielen uns in die Arme. Ihr belebend erfrischendes Parfüm nach Blumen stieg mir in die Nase und sorgte dafür, dass sich Tränen in meinen Augen bildeten.
Eine Welle an Wärme durchflutete meinen Körper und ich schmiegte mich an die beste Freundin meiner Mutter. Merkwürdigerweise verspürte ich nicht dasselbe, wenn Sven mich umarmte. Ich konnte das unerklärliche Gefühl bei ihm nicht abschütteln, aber ich nahm an, dass es daran lag, dass er Eriks Bruder und ich deshalb ihm gegenüber eher verhalten war.
Idun hielt mich fest an ihre Brust gedrückt und streichelte meinen Hinterkopf. Dankbar, dass sie mir Zeit gab, schloss ich die Augen und war froh, dass sie da war. Sie gab mir ein vertrautes, heimeliges Gefühl, als wäre sie meine Mutter.
Nach einiger Zeit schob sie mich sanft von sich und strich mir die Tränen von den Wangen. „Es tut mir leid, Freyja“, flüsterte sie und ich nickte. „Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Bis dahin manage ich das Hotel allein“, versicherte sie mir, was mir eine tonnenschwere Last von den Schultern nahm.
Mein ursprünglicher Plan war gewesen, Erik zu heiraten und mit ihm die Welt zu bereisen, ehe wir in das Hotelgeschäft einstiegen. Auch meinen Eltern war es wichtig, dass wir in jungen Jahren unseren Horizont erweiterten. Und jetzt war alles anders. Obwohl ich nicht sofort einsteigen musste, wollte ich so bald wie möglich anfangen.
„Danke“, erwiderte ich und zog sie zum Bett, auf dem sie sich neben mir niederließ. „Wie geht es euch?“
„Den Umständen entsprechend. Wir versuchen, das Beste daraus zu machen“, erklärte Idun diplomatisch. Für ihre direkte Art war sie berüchtigt und für Außenstehende einschüchternd. Um den heißen Brei redete sie nie herum, daher hinterfragte ich ihre Worte auch nicht.
„K-Kann ich etwas für euch tun?“, wollte ich wissen.
Seufzend wiegte Idun ihren Kopf hin und her. „Uns versprechen, dass du dich erst einmal erholst und uns sagst, wenn du nicht mehr kannst. Niemand erwartet, dass du alles von heute auf morgen übernehmen kannst und sollst. Das ist ein langjähriger Prozess und wir werden an deiner Seite stehen, Freyja“, versicherte sie. „Wir wissen und verstehen, wie dich der Verlust trifft, aber glaube mir, du bist nicht allein.“
Einen Moment war ich versucht, ihr, genau wie Sven, zu widersprechen, doch stattdessen senkte ich beschämt den Blick. Ich hatte Menschen, die mich auffingen und in der dunklen Zeit bei mir waren. Sollte ich ihnen nicht dankbar sein? „Ja, ich werde es versuchen.“ Mehr als das konnte ich nicht. Ich wollte kein Versprechen geben, das ich nicht halten konnte.
„Wie geht es dir überhaupt?“, erkundigte sich Idun.
„Ich … weiß es nicht“, gestand ich kleinlaut. Mein Befinden in Worte zu fassen, war unmöglich. Körperliche Schmerzen hatte ich dank der Medikamente kaum, dafür litt meine Seele.
Glücklicherweise drängte mich Idun zu keiner weiteren Antwort, sondern versicherte, am nächsten Tag wiederzukommen. Ihre Tochter wollte mich ebenfalls besuchen, hatte aber bis zum Abend Schule. „Sie macht sich Sorgen um dich“, meinte Idun.
„Das ist nicht nötig“, wisperte ich niedergeschlagen. Ich war nicht der Typ, der Aufmerksamkeit brauchte und wollte, um glücklich zu sein. Dennoch war mir klar, dass es in Suvinnas Natur lag, sich um andere zu sorgen. In der Hinsicht waren wir gleich.
Aufmunternd klopfte Idun auf meine Schulter und stand auf. „Ich muss zurück ins Hotel. Zu lange will ich nicht wegbleiben. Wir sehen uns morgen wieder, Freyja. Sven, pass auf sie auf“, wies sie Eriks Bruder an.
Dieser nickte mit seiner zurückhaltenden Art und erhob sich, um Idun die Tür aufzuhalten. „Danke für dein Kommen. Das hat Freyja gutgetan“, sagte er.
Fassungslos zog ich die Augenbrauen nach oben und spürte einen Stich im Herzen. Wie kam Sven dazu, solch eine Behauptung aufzustellen? Er kannte mich zwar, doch er konnte nicht in meinen Kopf sehen!
Sicher, ihr Besuch hatte mir gutgetan, aber ich war exakt hier! In diesem Raum! Wieso sprach Sven, als wäre ich nicht anwesend und wüsste genau, wie es mir ging? Sein Verhalten gefiel mir nicht, obwohl er es gut meinte.
Stell dich nicht so an. Er will dir nur helfen.
Innerlich seufzte ich und stellte mich ans Fenster, sobald Idun den Raum verließ. Das Meeresrauschen drang an meine Ohren und ich beobachtete die Wellen. Sie trugen Schaumkronen, ehe sie am Strand aufschlugen und sich zurückzogen, um sich neu zu bilden. Möwen kreisten kreischend über dem Hafen und versuchten, etwaige Fischabfälle zu ergattern oder — wie es vorkommen konnte —, vom Kutter zu stehlen. Der blaue Himmel wurde von einigen Schleierwolken in kuriosen Formen verziert, die vom Wind zerstückelt und neu geformt wurden. Er war ein fester Bestandteil meines Lebens und nicht wegzudenken. Ich liebte es, den wechselnden Figuren zuzusehen. Der Anblick der Natur beruhigte mich auch heute.
„Freyja? Willst du etwas essen?“, fragte Sven, nahe hinter mir stehend.
Ruckartig drehte ich mich um und starrte in seine Augen. Durch die ganze Grübelei hatte ich ihn nicht bemerkt und jetzt war er mir so nah, dass uns nur wenige Zentimeter voneinander trennten. Ich legte die Hand an seine Brust und schob ihn ein Stück von mir. „Danke, nein. Ich bin nicht hungrig.“
„Nicht einmal eine Kleinigkeit?“
In seiner Stimme hörte ich ein winziges Betteln, ein Flehen und … einen Befehl?
Trotz allem konnte ich mich nicht dazu durchringen. Ich war Herrscher über mich selbst und würde mir nicht vorschreiben lassen, wann ich etwas essen sollte! Wenn ich keinen Hunger hatte, war das so, da konnte Sven noch so schmeicheln oder befehlen.
„Na gut“, seufzte er und sah auf seine Armbanduhr. „Ich muss noch etwas erledigen und für eine Prüfung lernen. Möchtest du, dass ich …“
„Nein“, unterbrach ich ihn genervt, weil ich wusste, was er sagen wollte. „Ich möchte heute Abend allein sein“, brachte ich beherrscht vor. Krampfhaft hielt ich meine Tränen zurück. Jeden Tag war Sven bei mir, fast schon aufdringlich und darauf bedacht, mich nicht allein zu lassen. Im Moment nervte er mich und ich brauchte Zeit zum Grübeln!
Geknickt senkte Sven den Kopf und erneut beschlich mich Mitleid.
„Lern ruhig für deine Prüfung, ich komme zurecht“, versuchte ich etwas sanfter zu versichern, meine Stimme verriet jedoch meine Unsicherheit.
„Ruf an, wenn etwas ist“, murmelte Sven und umarmte mich leicht.
Ich erwiderte die Geste, die stets einen bitteren, unerklärlichen Beigeschmack hatte, und gab Sven einen Kuss auf die Wange. „Morgen geht es mir sicher besser.“
Oder auch nicht.
Sven nickte und verließ seufzend das Krankenzimmer. Minutenlang starrte ich auf die Tür und kam zu keiner Antwort auf meine Frage, wie das Ganze weitergehen würde.
Nach einigen Tagen war Doktor Iversen der Meinung, dass ich entlassen werden konnte. Mein Gang war etwas steif, und langsam, aber sicher drangen die körperlichen Schmerzen, die sich zum Glück in Grenzen hielten, zu mir durch. In Zeitlupe lief ich mit den Entlassungspapieren den Flur entlang und konnte mich nicht überwinden, das Gebäude zu verlassen und mich der grausamen und einsamen Realität zu stellen.
Auf der anderen Seite wartete Sven, um mich nach Hause zu bringen. Da ich nicht gedrängt werden wollte, hatte ich ihn gebeten, nicht hereinzukommen. Jetzt stand ich wie ein Feigling auf dem Absatz der Treppe und überlegte ernsthaft, ob mich ein Fall zu Erik und meinen Eltern bringen würde. Die Chance war jedoch gering, wenn ich die Stufen zählte.
Erst, als ich Svens sorgfältig zurückgegelte Haare vor der Tür sah, setzte ich mich wieder in Bewegung. Alles in mir schrie danach, nicht hinauszugehen, doch letztlich setzte ich einen Fuß nach draußen.
Sofort erfasste eine sanfte Windbrise mein Haar und spielte neckisch damit, gleichzeitig drang die salzige Luft tief in meine Lungen und erfrischte mich. Seit Mai herrschte rund um die Uhr Tageslicht und erst Ende Juli würden die Tage Schritt für Schritt kürzer werden. Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab, um das Meer, mit seinem ausnahmsweise ruhigen Wellengang, besser zu sehen. Im Sonnenlicht glitzerte das Wasser wie unendlich viele Diamanten.
Mit geschlossenen Augen kämpfte ich gegen die Tränen an.
Sankt Hans … Es hätte unser Sankt Hans werden sollen …
Der letzte Mittsommer vor unserer Heirat. Und jetzt? Nichts war von den Träumen übriggeblieben.
„Hej, Freyja“, grüßte Sven und nahm mich vorsichtig in den Arm.
Widerstandslos ließ ich die Begrüßung über mich ergehen, fasste mir ein Herz und umarmte ihn. Sven, aber auch Idun und ihre Tochter waren für mich da. Daran sollte ich festhalten, das wusste ich, auch wenn sich alles im Moment ausweglos anfühlte.
„Komm, ich habe eingekauft“, flüsterte Sven und strich mir zärtlich die Haarsträhne hinter das Ohr. Er führte mich zu seinem Auto und hielt mir charmant die Tür auf, doch ich zögerte. Ich hatte Angst, mich in den Wagen zu setzen. Die schrecklichen Bilder vor meinen Augen lähmten mich.
„Freyja“, sagte Sven sanft. Er nahm meine Hand und küsste einen Fingerknöchel nach dem anderen. „Alles ist gut. Es wird nichts passieren. Der Weg ist nicht weit.“
Das stimmte. Unser Traumhaus war nicht weit entfernt und lag an der Küste in der Nähe des Andenes Stadions mit einem absolut traumhaften Blick aufs westliche Meer. Die Fahrt würde nur wenige Minuten dauern …
Ich riss mich zusammen, ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder und schnallte mich an. In der Zwischenzeit kam Sven auf die andere Seite und startete den Motor. Wie eine Schnecke fuhr er die Straßen entlang, was er sich nur aufgrund des wenigen Verkehrs um diese Uhrzeit leisten konnte.
Dankbar nahm ich es zur Kenntnis und versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren, aber die Erinnerungen an den Unfall kämpften sich in den Vordergrund. Ich hörte uns schreien, spürte, wie sich das Auto meiner Eltern überschlug, doch bevor ich gänzlich einen Nervenzusammenbruch bekam, hielt Sven sein Fahrzeug an.
„Wir sind da.“
Seine Verkündung ließ mich blinzeln und durch einen verschleierten Blick erkannte ich unser Haus. Die Blumen auf der Terrasse und in den Blumenkästen erfreuten sich des Lebens, was ich Sven zu verdanken hatte.
Krampfhaft hielt ich meine Dokumente fest und starrte minutenlang auf das Gebäude. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken, was wäre, wenn …? Zu einer Antwort kam ich nicht, denn Sven legte die Hand auf meinen Oberschenkel und sprach mich an.
„Brauchst du noch etwas Zeit? Dann gehe ich schon vor und verstaue die Lebensmittel“, schlug er vor.
Dankbar nickte ich und blieb sitzen, doch als er den Kofferraum öffnete, entschied ich mich anders und war binnen Sekunden bei ihm. Entschlossen nahm ich ihm eine Tüte ab und ging zur Haustür. Mit zitternden Fingern steckte ich den Schlüssel ins Loch, schloss ich sie auf und schluckte schwer, als mich die gähnende Leere wie eine Wucht traf. Nicht einmal die Geräusche der Natur schafften es, diese zu durchbrechen.
Mein Blick glitt durch das Haus und eine unangenehme Kälte rann meinen Rücken hinunter. Erneut brannten Tränen in meinen Augen, die ich jetzt nicht mehr zurückhielt. Schniefend stellte ich die Einkaufstüte ab und warf mich weinend auf das urgemütliche Sofa mit den unzähligen Kissen, die alle nach Erik rochen. Ich vergrub mein Gesicht an einem und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Wütend trommelte ich auf die Sitzfläche ein.
„Warum? Warum nur?!“, schrie ich von der Trauer überwältigt.
Irgendwann nahm ich eine Hand wahr, die sich sanft auf meinen Kopf legte.
„Beruhige dich, Freyja“, flüsterte Sven und bat mich, ihn anzusehen. Zuerst wollte ich nicht, ließ mich dann doch überreden und bemerkte, dass er auf dem Boden kniete, um mit mir auf Augenhöhe zu sein. Besorgt musterte er mich und seufzte. „Ich verstehe dich und du kannst immer zu mir kommen, wenn du jemanden zum Reden brauchst“, versprach er leise.
Zum ersten Mal nach dem Unfall ließ ich seine Nähe zu. Sven richtete sich auf, setzte sich neben mich und breitete seine Arme aus. Wie eine Hilfesuchende krallte ich mich an seine Brust und schniefte. Er war nicht Erik, doch sein Dasein war Balsam auf meiner Seele. Während ich mich an ihn kuschelte, ließ er mich weinen und streichelte meinen Kopf.
Als mein Körper an der Grenze zur Austrocknung war, hob ich den schniefend den Blick. „Bleibst du bei mir?“, wisperte ich voller Hoffnung. So sehr ich Sven die letzten Tage von mir gedrängt hatte und allein sein wollte, so sehr brauchte ich ihn jetzt.
„Natürlich. Ich richte das Gästezimmer gleich ein“, flüsterte er mit einem Kuss auf meine Stirn, bewegte sich jedoch nicht.
Erleichtert schmiegte ich mich wieder an ihn, verharrte einige Minuten und löste mich schließlich. „Ich gehe ins Bad“, verkündete ich heiser. Mein Hals brannte durch das Schreien wie ein Feuer. Das wollte ich mit einer Erfrischung wegbekommen und gleichzeitig meinen nach Flüssigkeit lechzenden Körper beruhigen.
„In Ordnung. Wenn etwas ist, sag Bescheid“, sagte Sven und wartete, bis ich aufstand. Sobald ich auf Beinen aus Wackelpudding stand, erhob er sich und lächelte mir leicht zu.
Froh darüber, in meinem Zustand nicht das Gästezimmer vorbereiten zu müssen, sah ich ihm nach, wie er die Treppe nach oben verschwand. Ein Glück, dass sich Sven hier nach einigen Übernachtungen genug auskannte und auf meine Hilfe verzichten konnte.
Mit schlurfenden Schritten ging ich zur Toilette und starrte in den Spiegel über dem Waschbecken. Bisher hatte ich vermieden, mich anzusehen, doch jetzt traf mich mein jämmerlicher Zustand wie ein Schlag in die Magengrube.
Meine Haut war aschfahl und gräulich, was mich mit den geröteten Augen wie ein Alien aussehen ließ. Das leuchtende Strahlen um die eisblaue Iris war erloschen. Wirr hingen meine sonst sorgfältig gepflegten Haare ins Gesicht und erinnerten mich nicht im Geringsten an die braune Pracht, auf die Erik stolz war. Im Gegensatz zu seinem typisch skandinavischen Blond hatten sich bei mir die Gene meiner Mutter durchgesetzt.
„Hätte Erik gewollt, dass ich mich gehen lasse?“, fragte ich mein Spiegelbild. Für einen kurzen Augenblick blitzte sein spitzbübisches Gesicht vor mir auf und seine warme, ab und zu spöttische Stimme hallte in meinen Ohren. Ich krallte meine Hände so fest in das Waschbecken, dass sich meine Fingerknöchel weiß unter der Haut abzeichneten.
„Ganz bestimmt nicht“, sagte sie, ehe sie verblasste und in meinem Kopf lediglich als Echo blieb.
„Reiß dich zusammen, Freyja“, murmelte ich und atmete tief ein und aus. Es bedurfte einiger Anläufe, bis ich mich soweit unter Kontrolle hatte, mir selbst in die Augen zu sehen. „Er hat nicht umsonst sein Leben gegeben. Mach was draus. Leb für ihn weiter“, feuerte ich mich an. Nie und nimmer hätte Erik gewollt, dass ich mich gehen lasse, wusste er doch, dass ich ihn nie vergessen würde.
Erneut holte ich Luft, verließ, ohne etwas getan zu haben, die Toilette und ging in die Küche, um mir ein großes Glas Wasser einzuverleiben. Währenddessen besah ich Svens Einkauf, der aus Gemüse, Früchten, Lachs sowie Brot, Käse und Wurst bestand.
Rasch trank ich aus und stellte das Glas auf die Anrichte. Mit entschlossenen Schritten ging ich nach oben und warf einen Blick ins Gästezimmer. Sven war dabei, das Bett herzurichten, sah aber auf, als ich eintrat.
„Kann ich dir helfen?“, wollte er wissen.
„Nein. Ich gehe duschen. Danach sollten wir etwas zum Essen machen“, meinte ich und ärgerte mich über das leichte Zittern in meiner Stimme. Ich wollte und musste stark sein und bleiben. „Danke, dass du da bist.“
Sven lächelte zögernd. „Gern. Soll ich schon anfangen, Gemüse zu schneiden?“
„Ja, die Karotten in dünne Streifen und die Kartoffeln kannst du auch aufsetzen“, bat ich und ließ ihn allein. Mein Weg führte schnurstracks ins Badezimmer, das modern mit dunklen und hellblauen Fliesen ausgelegt war. Die Eckbadewanne mit einem fantastischen Blick aufs Meer löste einen Stich in meiner Brust aus. Wie oft hatten wir uns am Wochenende ein entspannendes Bad am Morgen gegönnt … oder am späten Abend.
Alles, was ich sah, erinnerte mich an Erik. Ich nahm sein Lieblingshandtuch mit einem Walmotiv und vergrub mein Gesicht darin. Trotz des Waschens roch es nach ihm und prompt stiegen mir erneut Tränen in die Augen.
So schwer es mir fiel, ich riss mich zusammen und zog mich aus. Die Kleidung auf einen Haufen geworfen, begab ich mich unter die ebenerdige Dusche und stellte den Duschkopf auf einen Regenschauer ein. Ein wahrer Genuss, wenn man sich vergnügen oder entspannen wollte.
Aus unzähligen kleinen Düsen rieselten sanfte, aber kühle Wassertropfen auf meine Haut und perlten an mir ab, wobei sie eine Gänsehaut bei mir auslösten. Nur wenige Sekunden später wurde das Wasser wärmer und erinnerte mich an unsere Reise in den Regenwald. Bei der Führung waren wir in einen Schauer geraten, der uns beiden so gut gefallen hatte, dass wir uns ein Stück Urlaub in Form einer Regendusche nach Hause geholt hatten.
Genussvoll wusch ich mir ein Stück der Trauer von der Seele und verharrte, mit geschlossenen Augen an die Fliesen gelehnt. Ich spürte, wie jeder Tropfen auf meinem Haaransatz landete und seufzte.
Es wäre so schön, wenn …
Ruckartig öffnete ich die Augen. „Kein Wenn!“, sagte ich energisch. Beherzt griff ich nach dem Shampoo, seifte meine Haare gründlich ein und gab ein paar Tropfen meines Lieblingsduschgels auf einen Schwamm und schrubbte mich von oben bis unten ab, bis meine Haut die Farbe eines Krebses annahm. Früher hatte sich Erik stets darüber lustig gemacht, wie burschikos ich mit Düften war. Nicht wie andere Frauen mochte ich die süßen Gerüche nach Pfirsich oder Sonstigem, sondern bevorzugte herbe.
„Du bist eine absolut untypische Frau. Hättest du keine Brüste, eine Vagina und eine Stimme wie ein Engel, würde ich dich für einen männlichen Teufel persönlich halten“, hatte Erik bei meinem trockenen Humor und den Freizeitaktivitäten gespielt geklagt. Er selbst war ein Outside-Typ, der Action brauchte. Herumsitzen und Däumchen drehen lag uns beiden nicht.
Bei der Erinnerung musste ich schmunzeln. Wie recht er mit der Aussage hatte …
Im Gegensatz zu den meisten Frauen, die gern ins Kino oder in die Diskothek gingen, sich mit Freunden trafen und Alkohol zum Feiern brauchten, war ich lieber in der Natur. Dort verbrachte ich meine Zeit mit Schwimmen, Wandern, Fahrradfahren sowie Holzhacken, Jagen und Fischen. Ich brauchte die körperliche Bewegung!
Wieder in der Gegenwart angekommen, spülte ich seufzend den Schaum ab und stellte die Dusche aus. Anschließend wickelte ich mich in ein weiches Frotteehandtuch und benutzte einen Abzieher für das Wasser. Den Rest würde die Fußbodenheizung erledigen, trotzdem öffnete ich das Fenster und ließ die frische Luft hinein. Dank des Mückengitters kamen keine ungebetenen Gäste herein und fraßen einen bei lebendigem Leibe auf. Eine Gefahr, mit der man in den nördlichen Regionen häufig konfrontiert wurde.
Tief atmete ich die Luft ein und trocknete mich ab, ehe ich in eine bequeme Schlabberhose schlüpfte, die zu einem alten Jogginganzug gehörte. Seine besten Jahre hatte er lange hinter sich, aber es fiel mir nicht leicht, sich von ihm zu trennen.
Sobald ich mein Haar gekämmt hatte, betrachtete ich mich halbwegs zufrieden im Spiegel. Sekunden später rollte die nächste Trauerwelle an, die mich fest die Lippen aufeinanderpressen ließ. Nie wieder ...
„Nicht daran denken!“, tadelte ich mein Spiegelbild. Entschlossen verließ ich das Bad und sah kurz ins Gästezimmer.
Ordentlich hatte Sven das Bett vorbereitet und – um ihm die Nacht gemütlicher zu machen – holte ich ein paar zusätzliche Kissen aus dem Zimmer, das für ein Kind vorgesehen war. Minutenlang blieb ich darin stehen und sah mich, mich langsam im Kreis drehend, um. Noch war es wie ein weiteres Gästezimmer eingerichtet, doch wir hatten beschlossen, sobald Nachwuchs im Anmarsch war, es umzuräumen.
Aus war der Traum … Kein gemeinsames Kind mit Erik. Die Tatsache presste erneute Tränen heraus, die ich mir trotzig wegwischte.
Wenigstens ist das Haus abgezahlt … Darum muss ich mir keine Sorgen machen.
Seufzend schnappte ich mir die Kissen und kehrte in Svens Zimmer zurück. Sobald ich sie auf dem Bett abgelegt hatte, ging ich hinunter in die Küche. Wie gebeten, köchelten die Kartoffeln vor sich hin, während Sven die Karotten in dünne Streifen schnitt.
„Ich schneide Paprika und Zwiebeln“, verkündete ich und leckte mir hungrig über die Lippen. Lachs, Kartoffeln und Wokgemüse war nicht nur extrem lecker, sondern auch gesund und schnell zubereitet. „Kannst du nachher den Brokkoli in mundgerechte Stücke zerkleinern?“
Sven nickte und wir verrichteten schweigend unsere Tätigkeit, bis er die Stille unterbrach. „Möchtest du wirklich, dass ich über Nacht bei dir bleibe?“
Überrascht sah ich auf.
Hörte ich etwa Unsicherheit aus seiner Stimme heraus? Er hatte doch zugestimmt, aber wenn ich bedachte, wie launisch ich die letzten Tage war und wie oft ich mich umentschied, war seine Frage nachvollziehbar.
„Ja. Tut mir leid, dass ich dich von mir geschoben habe.“
Eriks Bruder lächelte leicht und legte mir einen Arm um die Schulter. „Gemeinsam schaffen wir es, versprochen“, sagte er zärtlich. „Möchtest du morgen mitkommen, die Grabsteine auszusuchen? Es gibt noch einiges, was erledigt werden muss, aber ich wollte damit warten. So kannst du entscheiden, ob du dabei anwesend sein möchtest.“
Wie lieb von ihm, so an mich zu denken.
Zaghaft erwiderte ich das Lächeln, verbarg mühsam meine wahren Gefühle hinter einer undurchdringbaren Fassade aus Stein und Eisen, die ich langsam um mich herum aufbaute. Ich wollte stark sein und nicht meinen Emotionen die Kontrolle über mein Leben überlassen, sodass jeder Mitleid mit mir empfand. Das hätte Erik nicht gewollt. „Gern. Ich brate den Fisch und das Gemüse. Deckst du den Tisch?“
Als ich am Herd stand und das Essen fertigstellte, erledigte Sven meine Bitte. Bald darauf saßen wir am Tisch und, während er fast schon wie ein wildes Tier über die Mahlzeit herfiel, stocherte ich lustlos darin herum und rollte das Gemüse von einer Seite auf die andere. Obwohl mein Magen knurrte und das Essen verlockend roch, brachte ich kaum einen Bissen herunter.
Erst Svens bittender Blick zwang mich letztlich dazu, meine Portion in mich hineinzuwürgen. Ich ging davon aus, dass sich das rächen würde, aber zu meiner Verblüffung wurde mir nicht übel.
Genauso schweigend wie die Zubereitung, erledigten wir das bisschen Abwasch. Obwohl eine Spülmaschine eingebaut war, wollte ich mich mit etwas beschäftigen und ablenken. Das funktionierte, bis alles sauber war und ich mich auf das Sofa mit Eriks Lieblingskissen zurückzog. Es fest an mich drückend, starrte ich vor mich hin und wartete darauf, endlich ins Bett gehen zu können. Dabei war es erst Mittag!
Seufzend stand ich auf. „Ich gehe am Strand spazieren“, sagte ich zu Sven, der sich mit seinen Unterlagen für eine Prüfung auf dem gemütlichen Schaukelstuhl niedergelassen hatte, der einst meiner Großmutter gehörte.
„Pass bitte auf dich auf, ja?“, bat er.
Froh, dass er nicht anbot, mitzukommen, nickte ich. „Werde ich.“
Ich wollte mir den Wind um die Nase wehen lassen, mich in den Sand setzen und nachdenken. Insektenspray benötigte ich bei der Brise nicht, weshalb ich ohne Schuhe das Haus verließ und den Garten durchkreuzte. Ein Vorteil, so nah am Strand zu wohnen.
Einen Moment lang sah ich auf das unendlich weite Meer und setzte mich langsam in Bewegung. Der Sand knirschte zwischen meinen Zehen und streichelte mich mit seiner weichen Oberfläche, dass es fast schon kitzelte. Etwas vom Haus entfernt setzte ich mich hin und malte Kreise und andere Formen, ehe ich mich zusammenkauerte und mit dem Finger ein Herz nachzeichnete. Darin unsere Initialen F und E …
„Ich liebe dich, Erik. Für immer“, flüsterte ich heiser. Meine aufsteigenden Tränen nahm der Wind mit sich und pustete mir stattdessen die salzige Meeresluft ins Gesicht. „Ich werde stark für uns sein, versprochen.“
Stundenlang saß ich im warmen Sand und beobachtete die Gezeiten, wie sich Ebbe und Flut ablösten. Ein Zusammenspiel der Natur, das mich seit der Kindheit faszinierte und manchmal sogar ein merkwürdiges Gefühl auslöste. Einige Wolken schoben sich vor die Sonne und es wurde merklich kühler, aber ich wollte noch nicht zurück. Die Ruhe der Natur half mir, meine Gedanken zu ordnen, auch wenn ich die meiste Zeit über weinte. Ein paar Menschen schlenderten den Strand entlang, hielten Händchen oder spielten mit ihren Kindern. Ein Stich der Wehmut und Sehnsucht breitete sich in meiner Brust aus und ich seufzte. Es hätte alles anders kommen sollen …
Ein älteres Paar kam die Düne hinunterspaziert und ließ seinen Golden Retriever frei. Sofort kam er angerannt und schnupperte an mir und das erste Mal seit dem Unfall schmunzelte ich. „Na, Lyn, hast du Synni und Leiv so lange genervt, bis sie nachgegeben haben?“, gluckste ich, als Lyn meine Hand anstupste und meine Tränen mit der Zunge beseitigte. Lachend hielt ich ihn davon ab und quietschte leise. Die sensiblen Tiere witterten die Stimmung der Menschen und Lyn war ein Hund, vor dem man sich nicht verstellen konnte. Sobald man traurig war, wich er einem nicht mehr von der Seite. So wie in meinem Fall, als Synni und Leiv uns erreichten.
„Hallo Freyja“, grüßten sie und ich bemerkte, dass sie mit Sicherheit etwas erfahren hatten. Sie ließen sich neben mir nieder und schwiegen so lange, bis Lyn sich beruhigte und sich erneut auf sein geliebtes Spielzeug konzentrierte, das er im Übereifer auf dem Weg zu mir verloren hatte. Ballspielen und im Wasser planschen waren für ihn das größte Glück, weshalb ich seinen quietschbunten Ball immer wieder ins Meer warf. Mit einem freudigen Bellen sprang Lyn hinterher und brachte ihn zurück. Bei uns angekommen, schüttelte er sich und Millionen feiner Wassertropfen gepaart mit Sand benetzten uns.
„Es tut uns leid, was geschehen ist, Freyja“, sagte Synni mitleidig und legte mir die Hand auf meinen Arm.
Niedergeschlagen senkte ich den Blick und nickte. „Mir auch“, brachte ich flüsternd hervor, bevor meine Stimme versagte.
Das Ehepaar, das sich vor einigen Jahren in Andenes niedergelassen hatte, um seine Pensionierung zu genießen, legte die Arme um mich. Sanft wurde ich an sie gedrückt und in stiller Trauer blieben wir minutenlang sitzen. Dann versprachen sie, dass ich jederzeit zu ihnen kommen konnte, sollte mir alles über den Kopf wachsen. In unserer kleinen Kommune, in der gerade mal um die 4500 Einwohner lebten, war es normal, dass sich die meisten auf irgendeinem Weg kannten. Brauchte man Hilfe, gab es genug Leute, die für einen da waren.
„Danke“, schniefte ich und lachte leicht, da Lyn energisch darum bettelte, dem Ball hinterherzuspringen. Immer wieder stupste der Golden Retriever ihn an, bis er mitsamt dem Sand auf meinem Schoß landete. „Du hast gewonnen, Lyn“, sagte ich, wischte mir die Tränen aus den Augen und warf sein Lieblingsspielzeug zurück ins Meer. Sofort setzte sich Lyn in Bewegung und raste mit einem Bellen hinterher. „Er wird sich nie ändern“, meinte ich selig lächelnd. Hunde waren wie eine Therapie und ich wurde traurig. Erik und ich hatten uns ebenso einen zulegen wollen.
Ich kann auch ohne ihn einen Hund kaufen.
Vielleicht würde ich das zur gegebenen Zeit tun, wenn ich mich mit mir selbst auseinandergesetzt hatte.
Jetzt aber stand ich auf und klopfte mir den Sand von der Hose. „Ich gehe noch ein wenig spazieren. Wir sehen uns. Danke für alles“, verabschiedete ich mich mit einer innigen Umarmung, ehe ich davontrottete. Seltsamerweise wurde meine Trauer durch Leivs und Synnis Worten in einen sanften Kokon gewickelt und ich konnte das Wetter und die Aussicht genießen. Erst, als sich die Sonne gen Westen wandte, kehrte ich langsam um. Bereits Stunden hielt ich mich am Strand auf, und ich wollte nicht, dass sich Sven unnötig Sorgen machte.
Sobald ich unser Haus erreichte, ließ ich mich auf der Terrasse nieder und befreite meine Füße vom Sand. Die Balkontür ging auf und Sven sah hinaus.
„Alles in Ordnung? Du warst lange weg“, bemerkte er besorgt.
„Ich habe Leiv und Synni am Strand getroffen. Du weißt doch, dass Lyn verrückt nach Ballspielen ist“, erwiderte ich. „Ich komme gleich hinein“, versprach ich.
Sven lächelte und hielt mir ein Glas selbstgepressten Apfelsafts aus dem Vorjahr hin. Ich liebte es, selbstgemachte Säfte zu trinken. Sie waren leicht herzustellen und wenn sie in Behälter abgefüllt wurden, auch lange im Gefrierfach haltbar. Mir war völlig entgangen, dass Sven einen herausgeholt hatte.
„Danke“, meinte ich und trank in großen Schlucken das Glas leer. „Das tat gut. Meine Kehle war schon ganz trocken.“ Zufrieden rieb ich meine Füße ein letztes Mal aneinander und stand auf. Es war Zeit, eine Kleinigkeit zu essen und danach würde ich – völlig untypisch für mich – ins Bett gehen. Ich wusste nicht weshalb, doch am Strand hatte ich neue Energie bekommen, die bei der Heimkehr im Nichts verpufft war.
Sven schien mich zu verstehen, denn er nickte, und bot an, mir etwas zuzubereiten, während ich mich bettfertig machte.
„Bitte auch einen Tee mit Rum“, bat ich seufzend. Ich hoffte, dass der Alkohol mir zu einem ruhigen Schlaf verhalf. Ein Schuss davon im Tee wärmte und würde die plötzlich eisige Kälte in mir vertreiben. Gerade im Winter tranken wir gern Tee mit ein bisschen Rum.
„Das ist ein Getränk für Seefahrer“, war Eriks Meinung dazu. Da wir oft mit dem Boot fischen waren, stimmte es sogar.
„Bereite ich dir zu“, versprach Sven und ich ging nach oben, um mich umzuziehen.
Wenig später lag ich eingemummelt im Bett und schluchzte leise. Alles roch nach Erik und so vertraut, dass ich nicht wusste, wie ich mein Leben ohne ihn weiterführen sollte.
Zuerst musste ich mich auf die Übernahme des Hotels konzentrieren. Aber was geschah, wenn ich es durch mein Unwissen in den Ruin trieb? Dann war ihr Lebenswerk für immer verloren und ich wollte doch, dass sie selbst im Himmel stolz auf mich waren! Zwar war ich durch mein abgeschlossenes Studium vorbereitet, aber ich zweifelte daran, ob ich eine gute Führung war.
„Werde ich es allein schaffen?“, murmelte ich vor mich hin. Idun war auch noch da, genau wie die Angestellten. Gemeinsam sollten wir es doch wohl hinbekommen, das Hotel zu erhalten, oder?
Das ganze Grübeln machte mich müde und letztlich gab ich mich dieser hin.
Erholsam war der Schlaf nicht, denn ich wachte alle paar Minuten auf. Mit jedem Mal fühlte ich mich miserabler, bis ich genug davon hatte. Ich erhob mich und ging auf den Balkon.
Die angenehme Wärme trocknete meine Tränen und ich lehnte mich gegen die Brüstung. Tief atmete ich ein und nahm die Umgebung wahr. Die Sonne in Richtung Norden schickte ihre goldenen Strahlen über das Land. Ein paar Wolken zogen vorbei und tauchten den Abendhimmel in ein Farbenspiel aus Rot, Orange und Violett.
Fasziniert beobachtete ich, wie sie sich durch den Wind neu formatierten und sog scharf die Luft ein, als wie aus dem Nichts ein winziges Stück eines Regenbogens sichtbar wurde. War das ein Hoffnungsschimmer? Würde er mir helfen, die Beerdigung zu überstehen und mich auf die Zukunft zu konzentrieren?
Plötzlich durchzuckte mich eine Vorfreude, die mir neue Kraft verlieh. „Ich werde es schaffen“, flüsterte ich und sah mit einem befreiten Gefühl in den Himmel. Erik und meine Eltern wachten über uns und ich vertraute darauf, dass sie mir zur gegebenen Zeit halfen. Es konnte doch nur noch besser werden, oder etwa nicht?
Einen passenden Grabstein für das gemeinsame Grab auszusuchen, war eine große Herausforderung. Zuerst baten wir die Behörden um ein Familiengrab, in dem Erik neben meinen Eltern seine Ruhe fand. Ohne Sven war ich hoffnungslos mit der Trauer überfordert, aber er ließ seine Kontakte als Seelsorger spielen. Am Ende einigten wir uns auf einen, der uns beiden zusagte. Dieser würde jedoch erst in ein paar Wochen geliefert werden. Das war kein Problem, da die Setzung eines Grabsteins dauerte.
Stundenlang saßen wir über Entwürfe für Inschriften, da ich die richtigen Worte finden wollte. Leicht war es nicht, da ich ihnen so viel zu sagen hatte, doch letztlich fanden wir etwas, das uns beiden gefiel.