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Migration E-Book

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Beschreibung

Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass die Bildung von Sozialsystemen die Migration ihrer Spezies zur Voraussetzung hat. Bewegung allgemein ist der fundamentale Zustand in Natur und Gesellschaft. Dieser Charakter zeigt sich in verschiedenen Epochen jedoch in unterschiedlicher Intensität. Konnten sich unsere Vorfahren noch in einer eher "statischen" Situation einrichten, in der wesentliche Lebensanschauungen und Verhaltensweisen von Generation zu Generation weitergegeben wurden, sind die Menschen gegenwärtig einem wachsenden Anpassungsdruck ausgesetzt. Diese Dynamik, die den ganzen Erdball ergriffen hat, wird als immanente Eigenschaft unserer Epoche zur "Signatur der Moderne" (Hans Jonas). Ihre Wirkungen rufen heutzutage einerseits euphorische Schöpfungsphantasien, andererseits aber auch Ängste hervor. Die Evangelische Forschungsakademie widmete sich auf ihrer Tagung Anfang Januar 2019 in interdisziplinärer Weise einigen dynamischen Aspekten in Natur, Technik und Gesellschaft unter dem eingrenzenden Generalthema "Ausbreitung und Abgrenzung", die immer im Zusammenhang gesehen werden müssen. Bewusst wurde dabei auch der geschichtliche Horizont in den Blick genommen, der die Nachhaltigkeit dynamischer Prozesse hervortreten lässt. Eine Auswahl der Tagungsbeiträge ist in diesem Band dokumentiert. [Migration. Dynamic Processes in Nature and Society] The world around us is full of movement of both material and immaterial objects, from the dissolution of cube sugar in morning coffee to the incorporation of new species into our fauna and flora and the introduction of new words into our language. The consequences of such "migrations" and the phenomena associated with them are particularly lasting when they take place in our society. The January 2019 conference of the Protestant Research Academy was dedicated to the interdisciplinary discourse on the spread and demarcation in nature and technology, economy and society as well as in language under the conditions of advancing globalization. This volume summarizes the contributions of this conference and offers a wealth of information on an omnipresent phenomenon.

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Erkenntnis und Glaube

Schriften der Evangelischen Forschungsakademie NF

Band 50

Migration

Dynamische Prozesse in Natur und Gesellschaft

Herausgegeben von Christian Ammer und Jörg Kärger

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Christian Ammer, Halle/Saale

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-06253-9

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Christian Ammer | Jörg Kärger

Vorwort und einführende Betrachtungen

Rudolf Stichweh

Migration und die Strukturbildung menschlicher Sozialsysteme

Andreas Lindemann

»Gehet hin in alle Welt …«Migration und Mission im frühesten Christentum

Hans Ulrich Schmid

Sprachgeschichte und Sprachausbreitung

Oliver Holtemöller

Krise der Globalisierung

Martin Schnittler

Mechanismen und Limitationen der Ausbreitung von Sporenpflanzen

Jörg Kärger

Moleküldiffusion in Nanoporen: ein Modellbeispiel für Ausbreitungsphänomene mit vielen Facetten

Julia Hahn

Auf dem Weg zur globalen Technikfolgenabschätzung – Implikationen, Herausforderungen und Grenzen

Verzeichnis der Autoren

Personenregister

Ausgewählte Tagungsbände der Evangelischen Forschungsakademie

Weitere Bücher

Endnoten

Christian Ammer | Jörg Kärger

Vorwort und einführende Betrachtungen

»Alles fließt«!  – Oder deutlicher: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn andere Wasser strömen nach.« An diese, dem griechisch-ionischen Philosophen Heraklit aus Ephesos (ca. 540–480 v.Chr.) zugeschriebene Erkenntnis von der permanenten Bewegung und dem Wechsel der Dinge knüpft Goethe in seinem berühmten Gedicht Dauer im Wechsel (1806) an:

Gleich mit jedem Regengusse / Ändert sich dein holdes Tal,Ach, und in demselben Flusse / Schwimmst du nicht zum zweitenmal.1

Und diese Erkenntnis erfährt gegenwärtig einen beispiellosen Bedeutungszuwachs. Seit jeher sind die Menschen sowohl in den individuellen biologischen Lebenslauf zwischen Geburt und Tod als auch in den rhythmisch wechselnden Tagesablauf von Ruhe und- Anspannung eingebunden. Wenn auch mit dem stetigen Wechsel ihrer Lebensumstände vertraut, so sehen sie sich heute doch einem weitaus stärkeren und dazu stetig wachsenden Anpassungsdruck durch äußere Veränderungen ausgesetzt. Hans Jonas hat schon Ende der 1970er Jahre darauf hingewiesen, dass sich die Menschen in den entwickelten Ländern bis zur Neuzeit in einer eher »statischen« Situation vorfanden, in der sie

»sicher sein [konnten], daß Sitte, Gefühle und Anschauungen, Herrschaftsverhältnisse, Wirtschaftsformen und Naturquellen, Kriegs- und Friedenstechnik in der nächsten Generation nicht viel anders sein würden als in der ihren. Wir wissen, wenn nichts sonst, daß das Meiste anders sein wird.«2

Und er schlussfolgert daraus, dass Dynamik die »Signatur der Moderne« ist; »sie ist nicht Akzidenz sondern immanente Eigenschaft der Epoche und bis auf weiteres unser Schicksal.«3

 – das trifft sowohl auf den träge dahinfließenden Fluss als auch auf hinabstürzende Gebirgsbäche und Wasserfälle zu. Seit dem 15. Jahrhundert (Jh.) entfaltete sich in mehreren Schüben (Renaissance, Reformation, Aufklärung, Französische Revolution u.a.) die von Jonas benannte Dynamik zunächst auf geistigen und kulturellen Gebieten. Die Erfindung des Buchdrucks und der beweglichen Lettern ermöglichte dabei eine immense Beschleunigung in der Ausbreitung von neuen Ideen. Seit Beginn des 19. Jh.s werden naturwissenschaftliche Entdeckungen im Verein mit technischen Erfindungen immer mehr zum bestimmenden Faktor in der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Diese Einflussnahme vollzog sich im 19. Jh. zunächst in einigen – vom heutigen Standpunkt aus gesehen eher langsamen – Schritten (Dampfmaschine, Eisenbahn, Biochemie, Fotografie, Telegrafie und Telefon, Automobil etc.). Aus der ersten Hälfte des 20. Jh.s ragen Entwicklungen im Gesundheits- und Impfwesen, der Luftfahrt und Kommunikation (Radio, Fernsehen) hervor, aber auch die Kriegstechnik erfährt mit dem Aufkommen von Massenvernichtungswaffen einen unheilvollen Schub. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s beschleunigen sich dank des Einsatzes von Computern und technischen Innovationen die Entdeckungen auf allen wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldern. Schließlich werden in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jh.s leistungsstarke Minicomputer als Smartphones mit einer Vielzahl von Softwareangeboten (Apps) zum Massenartikel und beeinflussen das Verhalten von Milliarden Menschen. Darüber hinaus steuern Digitalisierung und Datenverarbeitung immer mehr Prozesse in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Medizin, Landwirtschaft u.a. und üben so einen maßgeblichen Einfluss auf die Lebensabläufe der Menschen aus. Ihre Auswirkungen auf die Autonomie des Menschen durch Datensammlung und -speicherung (Data Mining), Künstliche Intelligenz (Maschinelles Lernen), Möglichkeiten der Selbstoptimierung persönlicher Fähigkeiten (Human Enhancement, Transhumanismus4), alle Spielarten der Gentechnologie (insbesondere das Genetic Design) und auch Entwicklungen in der Robotik (Mensch/Maschine) sind nicht absehbar.5

Aber gleichzeitig mehren sich die Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer verantwortungsbewussten Einflussnahme auf technologische Entwicklungen, insbesondere zur Verhinderung eines ungebremsten Ressourcenabbaus, der Vermüllung der Welt und – vor allem – einer Klimakatastrophe und damit der Vernichtung der Grundlage unserer Existenz. Immer mehr Menschen interpretieren unsere Situation als Eintritt in den permanenten Krisenmodus und warnen – von wachsenden Ängsten begleitet – vor einem »reißenden Strom«, der alles mit sich reißt.6

Dieser globale Horizont setzt aber Kräfte frei, die zwangsläufig zu Spannungen und Konflikten führen. Es verstärken sich wirtschaftliche Ungleichheiten und Potenziale werden aufgebaut, die zu einem Ausgleich drängen. Die Natur führt uns das in Form des Blitzes anschaulich vor Augen. Die gesellschaftlichen Reaktionen sind zwar subtiler, äußern sich aber dennoch oft mit Vehemenz in ethnischen Rivalitäten oder gar kriegerischen Auseinandersetzungen. Zudem scheinen manche Naturkatastrophen heutzutage durch menschliche, den Klimawandel hervorrufende Verhaltensweisen geradezu provoziert zu sein.

Eine wesentliche Folge dynamischer Prozesse ist die weltweite Migration. Der Migrationsbericht der Vereinten Nationen für 2018 unterstreicht diesen Sachverhalt mit folgenden Zahlen:

»Schätzungen zufolge gibt es weltweit 244 Millionen internationale Migranten (oder 3,3% der Weltbevölkerung). Während die überwiegende Mehrheit der Menschen auf der Welt weiterhin in dem Land lebt, in dem sie geboren wurden, wandern immer mehr Menschen in andere Länder aus, insbesondere in Länder ihrer Region. Viele andere wandern in einkommensstarke Länder ab, die weiter entfernt sind. Arbeit ist der Hauptgrund, warum Menschen international migrieren. Wanderarbeitnehmer stellen eine große Mehrheit der internationalen Migranten der Welt dar, wobei die meisten in einkommensstarken Ländern leben und viele im Dienstleistungssektor tätig sind. Die weltweite Vertreibung ist mit über 40 Millionen Binnenvertriebenen und mehr als 22 Millionen Flüchtlingen auf einem Rekordniveau.«7

Diese Zahlen sind vor dem Hintergrund der wachsenden Weltbevölkerung zu interpretieren. Danach blieb zwar der relative Anteil der Migranten von 3 %8 an der gesamten Weltbevölkerung seit 1960 nahezu konstant, was aber natürlich ein Anwachsen der absoluten Zahl der Migranten impliziert. Künftig ist jedoch mit einem beachtenswerten Anwachsen von Klimaflüchtlingen zu rechnen. Überdies breiten sich Migranten- und Flüchtlingsströme wie erwähnt in eher lokalen Regionen aus. Eine Nivellierung über die Weltbevölkerung blendet die Dynamik des lokalen Geschehens aus. Auch ein Gewitter ist global gesehen ein sehr lokales Ereignis, kann aber dort von erheblicher Wirkung sein.

Dennoch hat es den dynamischen Einfluss auf Natur und Gesellschaft selbstverständlich schon immer gegeben. Er war zumeist sogar ein Motor der Entwicklung. Völkerwanderungen und Eroberungskriege fanden schon vor der Neuzeit statt, aber sie sind nicht mit der »sich selbst fortzeugenden Dynamik unseres Zeitalters gleichzusetzen. Äußerer Zwang viel mehr als innerer Drang war das Treibende, und nach geschehener Wanderung und Eroberung drängte alles so bald wie möglich auf Beharrung hin.«9

Auf ihren Tagungen in den vergangenen beiden Jahrzehnten wandte sich die Evangelische Forschungsakademie ganz unterschiedlichen Aspekten dieser Dynamik zu:

• So ging 1998 Rupert Neudeck der Frage nach: Asyl – ein Menschenrecht?

• Heinz Wismann diskutierte 1999 Modelle einer Verantwortungsethik zur Gestaltung von Zukunft.10

• Klaus Vogel analysierte 2004 die Begriffe Heimat – Vaterland – Nation – Staat vor dem Hintergrund alter und neuer Wanderbewegungen und zieht Konsequenzen für politische Entscheidungen, die zwangsläufig komplex sein müssen und deren Wirkung auf Dritte zu berücksichtigen sind:

»Für den Staat bedeutet das, daß er die Zuwanderung nicht einfach als Naturereignis geschehen lassen darf, sondern hier wie überall seiner Aufgabe nachkommen muß, für den inneren Frieden zu sorgen.«11

• Diese Komplexität nahm Udo Ebert 2015 in seinem Referat Interkulturelle Rechtskonflikte in Deutschland12 auf, also unmittelbar vor der großen Flüchtlingswelle im Sommer/Herbst desselben Jahres. Da inzwischen die Bevölkerung in Deutschland zu 20% einen Migrationshintergrund aufweist und für einen großen Teil davon die Herkunftskultur prägend bleibt, führen interkulturelle Rechtskonflikte zu Auseinandersetzungen u.a. im Öffentlichen Recht, Strafrecht, Zivilrecht und Arbeitsrecht.

• Solche Konflikte berühren auch normative Vorgaben für Rechtsprechung und Gesetzgebung in der Europäischen Union, worauf Enno Rudolph 2016 in seinem Beitrag Europas ›Vermächtnis‹ einging.

»In Europa erleben wir derzeit den gewaltigen Zusammenprall eines bis zur ›Post-Säkularität‹ entwickelten gesellschaftlichen Stadiums fortgeschrittener Säkularisierung im Westen einerseits, mit einem in teils passiver Abschottung teils militant praktizierter Intoleranz auftretenden ›prae-säkularen‹ religiösen Totalitarismus andererseits.«13

Wenn aber Europa »nicht nur die geographische Bezeichnung für einen Kontinent, sondern eine Idee« ist, die »auf einem Ensemble von Errungenschaften [beruht], das allmählich zum normativen Koordinatensystem der Selbstverständigung seiner Einwohner geworden ist«,14 so ist »die eigentliche Vision [von Europa] … die einer … von weltanschaulich motivierten Selbstzerstörungskräften totalitärer Religiösität definitiv befreiten Union.«15

• Unter dem Aspekt von moralischen Prinzipien setzte Konrad Ott auf der Pfingsttagung 2017 seine zuvor in einem Essay publizierte Auseinandersetzung von Zuwanderung und Moral vertiefend fort.16 Er sieht in der Migrationsethik als Teilgebiet der praktischen Philosophie sich zwei einander ausschließende Grundpositionen gegenüberstehen, nämlich einerseits der Kosmopolitismus, der globale Freizügigkeit als Ideal anstrebt17, und andererseits der Republikanismus, der für das Recht politischer Kollektive eintritt.

Alle diese Faktoren beeinflussen wesentlich die Dynamik, also das Wirken der Kräfte, die gegenwärtig neben anderen im Zuge der Migration nach Europa auf die Gesellschaft einwirken.

Die Evangelische Forschungsakademie widmete sich nun auf ihrer Tagung am 4. und 5. Januar 2019 einigen dynamischen Aspekten in Natur und Gesellschaft unter dem eingrenzenden Generalthema Ausbreitung und Abgrenzung. Beide Begriffe sind zwei Seiten ein und derselben Medaille und ihre Wichtung und Wertung in Bezug auf das Phänomen der »Migration« ist heute ein besonders heiß und kontrovers debattiertes Thema. Dem Charakter der Januartagungen der Evangelischen Forschungsakademie folgend war auch diese Tagung interdisziplinär ausgerichtet. Zusammen mit der Human-Migration wurden deshalb Ausbreitungsphänomene von ganz unterschiedlicher Natur in den Blick genommen. Eine Auswahl dieser Beiträge dokumentiert dieser Band.

Im ersten Kapitel betrachtet Rudolf Stichweh die Migration als ein fundamentales, strukturbildendes Element menschlicher Sozialsysteme, das die Menschwerdung von ihren allerersten Anfängen an bis in unsere Zeit begleitet und immer wieder aufs Neue geprägt und gestaltet hat. Strukturbildend sind hierbei gleichermaßen die Menschen selbst und ihre Kenntnisse und Fertigkeiten.

Der Ausbreitung des Christentums in den ersten beiden Jahrhunderten unmittelbar nach dem Wirken Jesu ist in zahlreichen Arbeiten unter verschiedenen Blickwinkeln nachgegangen worden. Doch Andreas Lindemann beschreibt diesen Sachverhalt in exegetischer Analyse unter dem doppelten Aspekt von aufgetragener Mission und der das Römische Reich charakterisierenden Migration bzw. Mobilität seiner Bevölkerung. Mission und Migration weisen beiderseits einen starken dynamischen Bezug auf. Dieser Prozess überdauerte den Zerfall des Römischen Reiches und ermöglichte schließlich die weltweite Ausbreitung des Christentums.

Die Zeit anderthalb Jahrtausende danach nimmt Hans Ulrich Schmid in den Blick, wenn er »inschriftliche« Zeugnisse (Hausinschriften, Grabschriften, Epitaphe u. ä.) des 14. bis 17. Jh.s als Indikator der »Migration« lautlicher und grammatikalischer Besonderheiten in unserer Sprache untersucht. Das Kapitel beginnt mit einem Exkurs über das Werden unserer Sprache. Er reicht zurück zu ihren Wurzeln im Indogermanischen oder Indoeuropäischen in prähistorischer Zeit, das ungefähr 3000 bis 4000 v.Chr. gesprochen wurde.

Oliver Holtemöller nimmt den Leser in die Jetztzeit, in der die internationale Vernetzung und die Mobilität (»Migration«) von Menschen, Gütern und Kapital ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht hat. Zwar besitzt die internationale Integration in der Tat ein großes Potenzial für einen gesamtwirtschaftlich positiven Effekt, doch besteht das Problem darin, dass die aus dieser Vernetzung resultierenden Vorteile nicht automatisch der gesamten Bevölkerung zugutekommen. In der Regel gibt es sogar verlierende Bevölkerungsgruppen. Solchen negativen Verteilungseffekten müssen entsprechende Verbesserungen im Regelwerk internationaler wirtschaftlicher Aktivitäten entgegenwirken, auf dass die Globalisierung in der Tat dem Wohle der gesamten Menschheit dienen kann.

Gleichfalls im Hier und Heute sind die beiden folgenden Beiträge angesiedelt. Martin Schnittler berichtet über die »Mechanismen und Limitationen der Ausbreitung von Sporenpflanzen«, die sich im Verlauf der letzten 500 Millionen Jahre herausgebildet haben. Die Sporen selbst sind hochkomplexe makromolekulare Verbünde, wobei beeindruckende Ähnlichkeiten in ihrer Oberflächengestaltung (»Ornamentation«) bei ganz unterschiedlichen Pflanzengruppen auftreten. Auch hier hat uns erst der technische Fortschritt der letzten wenigen Jahre die Werkzeuge in die Hand gegeben, die uns einen tieferen Einblick in die Mechanismen der Ausbreitung erlauben. Hierzu zählt die Erkenntnis, dass die Zufallswege von Sporen (bei, zugegebenermaßen, sehr wenigen von ihnen) sogar den ganzen Erdball umspannen können.

Natürlich existieren Moleküle seit Jahrmilliarden, deren Ausbreitung in Nanoporen Jörg Kärger betrachtet. Ihre Beobachtung und damit die Aufzeichnung ihrer Zufallsbewegung (der »Diffusion«) wurde aber auch erst in allerjüngster Zeit möglich. Nanoporöse Materialien finden vielfache technische Verwendung bei einer umweltverträglichen Stoffveredlung durch Stofftrennung und Stoffwandlung. Zur Optimierung ihres Einsatzes ist die Kenntnis der Geschwindigkeit des Stofftransports von besonderem Interesse, da der Gewinn an Produktmolekülen nie schneller sein kann, als dies von der Molekülgeschwindigkeit erlaubt wird.

Innovationen, denen letztlich die hier geschilderten Erkenntnisse zur Ausbreitung von Molekülen und Sporen zu danken sind, stehen im Zentrum des abschließenden Kapitels, in dem Julia Hahn mit der Frage nach den Folgen technologischer Entwicklungen den Blick in die Zukunft richtet. Wenn auch der Weg zu einer globalen Technikfolgenabschätzung (TA) noch sehr weit ist, gilt auch hier eine Kernaussage, wie sie bereits aus den Beiträgen von Rudolf Stichweh über »Migration und die Strukturbildung menschlicher Systeme« und von Oliver Holtemöller zur »Krise der Globalisierung« abzuleiten war, dass nämlich die Aufgaben der Zukunft nur im internationalen Verbund zu lösen sind.

Wenn eine Tagung und damit das aus ihr hervorgegangene Buch ein und dasselbe Thema in ganz unterschiedlichem Kontext betrachtet, stellt sich zwangsläufig die Frage nach möglichen Querverbindungen. Für den Erfolg der Suche nach solchen Querverbindungen liefert das Phänomen der Ausbreitung, wie es auch im Zentrum dieses Buches steht, selbst ein beeindruckendes Beispiel. Mit der Aufstellung seiner Gleichungen zur stofflichen Ausbreitung, den heute nach ihm benannten 1. und 2. Fick‘schen Gesetzen der Diffusion, ist nämlich Adolf Fick 1855 »einfach« dem wenige Jahrzehnte zuvor von Joseph Baptiste Fourier 1822 aufgestellten Gesetz der Ausbreitung von Wärme und Kälte gefolgt18.

Aber auch vor dieser Zeit waren Ausbreitungsprozesse bereits im Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen, so zum Beispiel bei Sir William Jones19, der 1783 an den Obersten Gerichtshof Indiens berufen wurde und im Vergleich der verschiedenen Sprachen Indiens und Europas zu der Erkenntnis kam, dass diese den gleichen Ursprung haben müssen20. Seit dieser Zeit ist die Untersuchung der »Sprach-Diffusion« ein attraktives Teilgebiet der Linguistik. Ende des 19. Jh.s wurde die Untersuchung der Bedingungen für die Ausbreitung von Innovationen auch zu einem Thema der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften21 und im 20. Jh. interpretierten der Genetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza und der Archäologe Albert Ammerman22 die Ausbreitung von Ackerbau und Viehzucht in Europa und damit den Übergang in die Jungsteinzeit als Diffusionsprozess. Mit entsprechenden Modellannahmen gelangen damit zum Beispiel Aussagen über die durchschnittliche Entfernung zwischen den Behausungen aufeinanderfolgender Generationen. Solche Abschätzungen basieren auf einer Beziehung, die Albert Einstein 1905 veröffentlichte, – übrigens neben den Arbeiten zum fotoelektrischen Effekt, für die er mit dem Nobelpreis geehrt wurde, und zur speziellen Relativitätstheorie, so dass dieses Jahr 1905 als Albert Einsteins »annus mirabilis« bezeichnet wird. Einsteins Diffusionsgleichung besagt, dass erst das Quadrat der Entfernung eines »Zufallswanderers« von seinem Startpunkt (und nicht die Entfernung selbst) mit der Zeit zunimmt.

Heute lässt sich kaum eine wissenschaftliche Disziplin finden, in der nicht von Diffusion die Rede ist. Es hängt dabei von der Natur des jeweiligen Fachs ab, ob die Untersuchung hauptsächlich der Vielfalt der Bedingungen und Wirkungen gewidmet ist, die mit dem Phänomen der Ausbreitung verbunden sind, wie etwa in den »Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten« unter dem Titel Diffusion des Humanismus23. Der Schwerpunkt kann aber ebenso im Bereich der mathematisch-theoretischen Beschreibung, Vorhersage und Verallgemeinerung liegen. Ein Klassiker in dieser Fachrichtung ist das Buch von Akira Okubo und Simon A. Levin über Diffusion and Ecological Problems, das innerhalb der Buch-Serie »Interdisciplinary Applied Mathematics« des Springer-Verlags erschienen ist24.

Angesichts einer solchen Omnipräsenz von Diffusions- und Ausbreitungsphänomenen verspricht die Suche nach Querverbindungen, das heißt, der Blick über die Grenzen des eigenen Gebiets hinaus, für jeden, der sich mit solchen Prozessen befasst, vielfältige Anregungen. Genau dies war das Anliegen einer Konferenz-Serie, die 2005 unter dem Titel »Diffusion Fundamentals« in Leipzig ihren Anfang nahm25. Weder Zeitpunkt noch Ort dieser Tagung waren zufällig gewählt, denn es jährte sich die Veröffentlichung der Fick´schen Gesetze zum 150. und von Einsteins Diffusionsgleichung zum 100. Mal. Beide Veröffentlichungen erschienen in Leipzig, einem Zentrum des Verlagswesens in dieser Zeit. Einige Beiträge zu dieser ersten Tagung findet man, begleitet mit der Einladung zu einem »Spaziergang durch Leipzig und die Grundlagen der Diffusion«, in Kärger 2014.

Auf dem 6. Treffen 2015 in Dresden übernahm die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig die Schirmherrschaft über diese Serie. Damit eröffnete sich ein wichtiges Aufgabenfeld für eine ihrer Strukturbezogenen Kommissionen, die sich unter dem Thema Ausbreitung in Natur, Technik und Gesellschaft26 genau den Fragestellungen widmet, die im Zentrum der »Diffusion Fundamentals«-Konferenz-Serie stehen, und denen sich nun auch die Evangelische Forschungsakademie in ihrer Januartagung 2019 angenommen hat. Der Konferenzband der Dresdner Tagung vermittelt mit 20 Beiträgen einen Eindruck von der Vielfalt der »Ausbreitungsphänomene in Natur, Technik und Gesellschaft« und damit – als deren Folge – auch von der Vielfalt der Möglichkeiten ihrer Beschreibung. Dennoch werden innerhalb dieser Vielfalt auch immer wieder die Gemeinsamkeiten in den Aussagen zu ganz unterschiedlichen Gegebenheiten sichtbar.27

Ein waches Auge zum Auffinden solcher Gemeinsamkeiten wünschen wir auch dem Leser des vorliegenden Bandes. Dies ist bei den in diesem Buch vereinigten sieben Kapiteln und deren Bandbreite – zugegebenermaßen – eine ungleich schwierigere Aufgabe. Dennoch lässt sich als Gemeinsamkeit bei einer Vielzahl von Ausbreitungsvorgängen feststellen, dass sie mit Änderungen in sowohl den sich ausbreitenden Objekten als auch dem »Medium« einhergehen, in dem die Ausbreitung erfolgt. Beispiele für solche Veränderungen können beim Transfer von Innovationen beobachtet werden, die im Zuge ihrer Weitergabe selbst weiter perfektioniert werden und die natürlich, als wesentliche Triebkraft für ihre Weitergabe, zur Perfektionierung im Umfeld ihrer Anwendung führen. Weitaus gegenständlicher fassbar werden solche Veränderungen bei der Beobachtung molekularer Ausbreitungsprozesse in porösen Medien. Hier besitzt (nämlich bei der heterogenen Katalyse28) die gezielte Umwandlung der Moleküle zu höherwertigen Produkten eine große volkswirtschaftliche Bedeutung. Zugleich führen molekulare Ausbreitung und Umwandlung aber auch zu Änderungen im Gesamtsystem. Hierbei kann es einerseits durch Vergrößerung der Porenräume zu einer Beschleunigung der Vorgänge, andererseits durch Ablagerungen von Abfallprodukten zu einer Blockade des Porenraums und damit zu einer vollständigen »Deaktivierung« kommen.

Hauptanliegen der Forschung ist der Erkenntnisgewinn über die Mechanismen der Ausbreitung und über ihre Triebkräfte, Begleiterscheinungen und Folgen. Von besonderem Interesse sind hierbei Vorhersagen über künftige Entwicklungen auf der Grundlage der gegebenen »Anfangsbedingungen«. Die Präzision diesbezüglicher Aussagen erhöht sich mit der Anzahl der Objekte, die mit diesem Ziel betrachtet werden können, und der Vergleichbarkeit der Gegebenheiten, unter denen sich die Ausbreitung vollzieht. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung solcher Vorhaben wachsen mit der Komplexität der Systeme und sind im Bereich der Sozialwissenschaften damit viel größer als zum Beispiel in Physik und Chemie. Dennoch darf man nicht vergessen, dass angesichts einer sich ständig verbessernden Messtechnik auch unser Weltbild von der Dynamik der Atome und Moleküle als Gegenstand der Untersuchungen in Physik und Chemie immer wieder dramatischen Veränderungen unterliegt. Man kann daher erwarten, dass auch in vielen anderen Bereichen ein tieferes Eindringen in die Natur der betrachteten Systeme und die in ihnen ablaufenden Prozesse zu Fortschritten in deren Verständnis und Vorhersagbarkeit führen. Die täglichen Wettervorhersagen, die – bei noch recht bescheidenen Trefferwahrscheinlichkeiten vor wenigen Jahrzehnten – heute oft sogar auf die Stunde genau zutreffen, liefern hierfür ein beredtes Zeugnis.

Angesichts dieser bemerkenswerten Fortschritte wird jedoch der Ruf nach einer angemessenen Ethik für wissenschaftliche Forschungen und technologische Entwicklungen unter Wahrung der Menschenwürde immer lauter und dringlicher. Diese Aufgabe ist vor dem Hintergrund unterschiedlicher geistiger Strömungen und Menschenbilder global zu lösen, was sie umso schwieriger macht. Ein Abwarten oder »Weiter-so« scheint aus Verantwortung gegenüber den nachwachsenden Generationen nicht mehr möglich zu sein. Wir sind einem ungeahnten dynamischen Prozess ausgesetzt, bei dem die »Bewahrung der Schöpfung« aber unerlässlich bleibt.

Zu Beginn der Neuzeit hat der italienische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) in seiner Schrift De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) das Schöpfertum des Menschen in der ihm von Gott verliehenen Freiheit gepriesen.

»Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.«29

Aber noch viel älter ist die Benediktinische Regel ora et labora (bete und arbeite). Martin Luther hat dafür die Zuordnung von vita passiva für den Daseinsvollzug des empfangenden Lebens und vita activa für den Daseinsbezug des tätigen Lebens ersetzt.30 »Ihre sachgemäße Zuordnung«, die die Prävalenz der vita passiva beachtet, »ist ausschlaggebend für das Gelingen des Menschseins.«31

Literatur

Ammerman, Albert / Cavalli-Sforza, Luigi Luca (1984): The Neolithic Transition and the Genetics of Populations in Europe, Princeton.

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Fick, Adolf (1855): Über Diffusion, Poggendorffs Annalen der Physik und Chemie, Leipzig 94, 59-81.

Fourier, Joseph Baptiste (1822): Théorie Analytique de la Chaleur, Firmin Didot, Paris.

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Philibert, Jean (2014): Anderthalb Jahrhunderte Diffusion: Fick, Einstein und was davor und hinterher passiert ist/One and a half century of diffusion: Fick, Einstein, before and beyond (zweisprachig), in: Jörg Kärger (Hg): Leipzig, Einstein, Diffusion, 3. Aufl., 41–82, Leipzig, 41-82.

Pico della Mirandola, Giovanni (1990): Über die Würde des Menschen, Lateinisch-Deutsch, Hamburg.

Rogers, Everett M. (1962): Diffusion of Innovations, New York.

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Vogel, Klaus (2006): Heimat – Vaterland – Nation – Staat: Vor dem Hintergrund alter und neuer Wanderbewegungen, in: Hans-Jürgen Schmidt (Hg.): Heimat und Fremde, Erkenntnis und Glaube 36, Leipzig, 67-86.Vogl, Gero (2007): Wandern ohne Ziel, Berlin.

Vogl, Gero (2011): Wege des Zufalls, Heidelberg.

Wismann, Heinz (1999): Modelle einer Verantwortungsethik zur Gestaltung von Zukunft, in: Christian Ammer / Herbert Karpinski (Hg.): Die Zukunft lieben. Herausforderung zum verantwortlichen Handeln, Erkenntnis und Glaube 33, Leipzig, 44-52.

Rudolf Stichweh

Migration und die Strukturbildung menschlicher Sozialsysteme

1Die Besiedlung der Erde durch den Homo Sapiens als Migrationsvorgang

Wenn wir uns die Geschichte der menschlichen Sozialsysteme auf der Erde in den letzten einhunderttausend Jahren vergegenwärtigen, tritt der fundamentale Charakter von Migration für die Entstehung der Welt, in der wir heute leben, eindrucksvoll hervor. Sobald man die zeitliche Perspektive lang genug wählt, gilt die einfache Annahme, dass niemand auf der Erde dort lebt, wo bereits die Vorfahren seiner Gruppe lebten. 100% der Weltbevölkerung weisen einen Migrationshintergrund auf. Niemand kann den Ort, an dem er lebt, allein auf der Basis von Tradition als den fraglos und exklusiv seiner Gruppe zugehörigen Ort reklamieren.

Unter den verschiedenen Spezies und Subspezies, die die Stammesgeschichte des Menschen hervorgebracht hat, hat nur der Homo Sapiens bis in unsere Tage überlebt. Er hat sich in gewissem Umfang mit den anderen menschlichen Spezies oder Subspezies, die zeitweise neben ihm existiert haben (Homo Neanderthalensis, Homo Denisova, Homo Floresiensis