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Beschreibung

Migration, Mehrsprachigkeit und Inklusion sind heftig diskutierte Schlagworte im aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurs und haben den Impuls zur gleichnamigen Tagung vom 5. bis 7. November 2015 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz geliefert. Elf Beiträger und Beiträgerinnen diskutieren im vorliegenden Sammelband die pädagogisch-didaktischen Implikationen dieser Themen sowie deren Herausforderungen für Gesellschaft, Bildungssystem und Lehrkräfte. Im Kontrast zur intensiven politischen Beschäftigung mit den Themen Inklusion und Migration ist das Forschungsinteresse aus fachdidaktischer und auch fremdsprachendidaktischer Perspektive dringend zu intensivieren – in der Romanistik wie auch in anderen Philologien. Die Fremdsprachendidaktik sollte alltagspraktische Standards und Kriterien aufzeigen, damit erfahrene Lehrkräfte ebenso wie junge und zukünftige Lehrkräfte auf die im Fremdsprachenunterricht neu auftretenden Herausforderungen in mehrsprachigen Klassenzimmern vorbereitet werden. Hier setzt der Sammelband mit seinen Beiträgen in einem interdisziplinären Dialog an: Im ersten Teil des Bandes wird die Thematik vor allem aus bildungspolitischer, rechtlicher und hochschuldidaktischer Perspektive beleuchtet, im zweiten Teil werden verschiedene Beispiele einer guten Unterrichtspraxis aufgezeigt und Möglichkeiten dargestellt, wie Lehren und Lernen im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit und bei Beachtung kultureller Vielfalt sowie der Anforderungen der Inklusion ideal zu verstehen sind.

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Seitenzahl: 260

Veröffentlichungsjahr: 2017

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Bedeutung des Inklusionskonzepts für die Schule in der Einwanderungsgesellschaft

Mehrsprachigkeit und Migration: Probleme und Herausforderungen für das Bildungssystem im Fremdsprachenunterricht

Inklusion und Mehrsprachigkeit – Beispiele aus dem Französischunterricht an einer Integrierten Gesamtschule

Learning and teaching of foreign language pronunciation in multilingual settings: A questionnaire study with teachers of English, French, Italian and Spanish

Die Migrationssprache Türkisch im Französischunterricht: Ein Praxisbericht

Heterogenität als Lernimpuls

Von bunten Wänden und blumenwerfenden Demonstranten – Die Design-basierte Entwicklung und Erprobung einer Unterrichtssequenz zu Street Art im inklusiven Englischunterricht der Sekundarstufe I

Körperliche und geistige Beeinträchtigung im Film. Exemplarische Analyse von Bildungsmedien für den muttersprachlichen Deutsch- und fremdsprachlichen Französischunterricht

Autoren und Autorinnen

Reihe

Impressum

Vorwort

 

 

Das Thema ‚Inklusion in Deutschland‘ ist aktueller denn je, denn Anfang 2015 hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Be­hinderungen den ersten Staatenbericht Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behin­dertenrechts­konvention geprüft. Am 17. April 2015 legte er seinen Abschlussbericht vor. Darin benennen Experten zahlreiche Probleme bei der Umsetzung von Inklusion in Deutschland. Die Bundesrepublik muss in den kommen­den Jahren in vielen ge­sell­schaftlichen Bereichen große Anstrengungen unternehmen, um diese ver­trags­­staatlichen Pflichten zu erfüllen.

Im Bildungs- und Schulsystem ist Deutschland noch weit davon entfernt, Inklu­sion flächendeckend und übergreifend umzusetzen. Die Realisierung einer inklu­siven Schulent­wicklung gestaltet sich bis heute aus unterschiedlichen Gründen schwierig: Einerseits schaffen es die in der Inklusion erfolgreichen Schulen nicht, den not­wen­digen Bedarf aufzufangen; andererseits gelingt es ihnen auch nur in be­dingtem Maße, ihr Wissen und ihre Praxiserfahrungen über Inklusion weiterzu­geben. Zugleich zeigt sich im Schulalltag, wenn man genau hin­sieht, an vielen Stellen die Notwendigkeit, Barrieren abzubauen bzw. Trennungen aufzuheben:

« La cata » nous enfermerait bien dans un centre. Les paralysés avec les paralysés, les aveugles avec les aveugles… Mais si les aveugles restaient entre eux, qui leur raconterait comment c‘est, un coucher de soleil ? Oh bien sûr, ils pourraient le lire dans un livre exprès pour eux, mais je suis sûre que ça doit être plus beau d‘entendre quelqu‘un raconter ce qui se passe au moment où tu sens sur ton visage la chaleur du soleil qui s‘en va. Tu crois pas? C‘est beau ce qu‘elle disait, Sarah. (Claire Clément. 1998. Mameilleurecopine, extrait)1

Eine Verbesserung der generellen Lernsituation bzw. ein Eingehen auf spezi­fis­che Lernbedürfnisse der einzelnen Schüler und Schülerinnen, eine Rücksicht­nahme und gegenseitige Ergänzung und Unterstützung käme nämlich allen zugute: Es geht bei inklusiver Bildung nicht nur um völ­kerrechtlich eingegangene Verpflichtungen, sondern um ein gemeinsames Interesse und den dauerhaften Einsatz für eine Weiterentwick­lung unserer Wissensgesellschaft, die es sich nicht leisten kann, viele Lerner „zurückzulassen“. Die nachfolgende Wandmalerei im sar­dischen Orgosolo unterstreicht einen Kerngedanken des vorliegenden Sammel­­bandes:

Abb. 1: Wandmalerei in Orgosolo (Sardegna), Foto: Thiele privat. [Wenn man die Kinder mit den schwierigsten Herausforderungen verliert, ist die Schule keine Schule mehr. Sie ist ein Krankenhaus, das Gesunde umsorgt und Kranke abweist.]

Eine über­grei­fende Quali­täts­­entwicklung, eine Beteiligung aller Verant­wort­lichen und Gleich­be­rechtigung müssen zentrale Pfeiler im deutschen Bildungs­system werden. Dabei würde eine konsequent gelebte Inklu­sion eher Möglich­keiten bieten, auf neue gesellschaftliche Herausforderungen einzugehen. Und zwar dann, wenn inklusive Bildung nicht – wie häufig – ausschließlich im Kontext ‚Be­hinderung‘ verortet wird, sondern, wie es das Konzept eigentlich vorsieht, jedes Individuum ernsthaft berücksichtigt. Dazu gehören viele Aspekte, so etwa soziale Benachteiligungen oder kulturelle Verschiedenheit, und damit eben auch der Migrations­hintergrund von Kindern und Jugendlichen und die daraus resul­tierende Mehrsprachigkeit, die im Rahmen von Inklusion berück­sichtigt wer­den müssen und einen Schwerpunkt des vorliegenden Bandes bilden.

Während mutige Schritte hin zu einer gemeinsamen Beschulung aller Kinder noch immer selten sind, kommen derzeit neue Herausforderungen auf das deut­sche Bildungs- und Schulsystem zu. Es sollen viele vor den kriegerischen Hand­lungen in Syrien, Irak, Afghanistan usw. nach Deutschland geflüchtete Kinder und Jugendliche beschult werden. Aber auch zahlreiche andere Gruppen mit ei­nem mehrsprachigen Hintergrund mit ganz unterschiedlichen, individuellen Lern­voraussetzungen werden bisher nur bedingt im aktuellen Schulsystem berück­sichtigt. Eine verstärkte Betrachtung von Migration, Mehrsprachig­keit und Inklu­sion aus der fachdidaktischer Perspektive ist notwendig, da der Fremdsprachen­unterricht einen Raum von der selbstverständlichen Akzeptanz kultureller Viel­falt und Heterogenität darstellen kann.

Im vorliegenden Sammelband werden daher die pädagogisch-didaktischen The­men­bereiche ‚Migration‘, ‚Mehrsprachigkeit‘ und ‚Inklusion‘ – und jeweils ihre Herausforderungen für Gesellschaft, Bildungssystem und Lehrkräfte – mit­einander verknüpft diskutiert. Im Kontrast zur intensiven politischen Beschäf­ti­gung mit den Themen ‚Inklu­sion‘ und ‚Migration‘ ist das Forschungsinteresse aus fachdidaktischer und auch fremdsprachen­didak­tischer Perspek­tive dringend zu inten­sivieren – in der Romanistik wie auch in anderen Philologien. Die Fremd­sprachen­didaktik sollte alltagspraktische Stan­­dards und Kriterien aufzeigen, da­mit erfahrene, junge bzw. zukünftige Lehr­kräfte auf die im Fremd­sprachen­unter­richt auftretenden Herausforderungen in Bezug auf mehrsprachige Klassen­zimmer vor­be­reitet werden. Hier setzt der Sammelband mit seinen Bei­trägen an.

Nach einer Beschäftigung mit der Thematik vor allem aus bildungspolitischer und rechtlicher Perspektive im ersten Teil werden im zweiten Teil des Bandes verschiedene Gute-Praxis-Beispiele aufgezeigt. So wird dargestellt, wie Ler­nen und Lehren im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit bzw. bei Be­ach­tung der kulturellen Vielfalt inklusiv zu verstehen sind. Dem einführenden Bei­trag zur „Bedeutung des Inklusionskonzepts für die Schule in der Einwan­de­rungs­gesell­schaft“ von Ilka Hoffmann, Mitglied des Expertenkreises Inklusive Bil­dung der Deutschen UNESCO-Kommission, der ein Plädoyer für die Unter­stützung und Pfle­ge der Mehrsprachigkeit und der Plurikulturalität liefert, folgen zwei Beiträge, in denen die bildungspolitischen und gesell­schaft­lichen Rahmen­be­dingungen diskutiert werden: „Mehrsprachigkeit und Migration: Probleme und Herausforderungen für das Bildungssystem im Fremdsprachen­unterricht“ von Benjamin Meisnitzer & Bénédict Wocker sowie „Auf dem Weg zu einer Kultur inklusiver Bildung mit Blick auf die Lehrkräfteausbildung des Französischen und Spanischen“ von Claudia Schlaak. Von Ben­jamin Meisnitzer und Bénédict Wocker werden Herausforderungen für das Bildungs­system durch die multi­linguale Gesellschaft aufgezeigt und u.a. ver­schie­dene bil­dungspolitische Doku­mente analysiert. Claudia Schlaak betrachtet die Aus­bil­dungs­situation aktueller und zukünftiger Lehrkräfte.

Karoline Henriette Heyder leitet mit ihrem folgenden Aufsatz „In­klusion und Mehrsprachigkeit – Beispiele aus dem Französischunterricht an einer Integrierten Gesamtschule“ den praktischen Teil des Sammelbandes ein. In diesem Block werden verschiedene Unterrichtsansätze sowie Unterrichts­mate­ria­lien, Heraus­for­derungen hinsichtlich einer Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht und konkrete Ideen aus literatur- und sprachdidaktischer Perspektive vorgestellt. Karoline Henriette Heyder diskutiert Lehrer- und Schülereinstellungen und die Konsequenzen für die Unterrichtsorganisation und Materialkonzeption, zu der sie praktische Vorschläge und Übungen unterbreitet. Anschließend gehen Christoph Gabriel und Sylvia Thiele mit ihrer Studie „Learning and teaching of foreign language pronunciation in multilingual settings: A questionnaire study with teachers of English, French, Italian and Spanish“ auf den Nexus Aussprache und Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht ein. Sie stellen eine Befra­gung von Lehrkräften verschiedener Bundesländer zu deren Expertise und Um­gang mit Aussprachetraining unter besonderer Berücksichtigung von Mutter- bzw. Her­kunftssprachen, vorgelernten Fremdsprachen und zielsprachlichen Va­rie­täten vor. Im Anschluss daran betrachtet Ayşe Gürel in ihrem Beitrag „Die Mi­gra­tions­sprache Türkisch im Französischunterricht: Ein Pra­xis­bericht“ drei Unter­richts­szenarien und stellt konkrete Möglichkeiten zum Training der Inter­kompre­hen­sion sowie der französischen Aussprache unter Berücksichtigung der türkischen Sprache vor. Simona Bartoli-Kucher präsentiert daran anschließend mit einem literatur- und kulturdidaktischen Ansatz „Heterogenität als Lern­impuls“. Lite­ratur-, Bild- und Filmdidaktik bilden bisher in mehrsprachig­keits­di­dak­tischen For­schungen eher selten einen Schwerpunkt, ver­dienen aber hohe Aufmerksam­keit, wie zunächst die Analyse und Aufbereitung der Texte von Sumaya Abdel Quader und Igiaba Scego für den Italienisch­unterricht nahelegen. Schließlich werden in den Beiträgen von Larena Schäfer – „Von bunten Wänden und blumen­werfenden Demonstranten – Die Design-basierte Entwick­lung und Erprobung einer Unterrichtssequenz zu Street Art im inklusiven Englisch­unterricht der Se­kun­darstufe I“ – und von Jens F. Heiderich – „Körperliche und geistige Beein­trächtigung im Film. Exemplarische Analyse von Bildungsmedien für den mutter­sprachlichen Deutsch- und fremd­sprach­lichen Französisch­unter­richt“ – Ansätze aus dem Englisch-, Französisch bzw. Deutschunterricht heran­gezogen, in denen visual literacy eine wichtige Rolle spielt und die in diesem Forschungskontext ebenfalls Beachtung verdient: Im ersten Beitrag geht es um binnendifferenzierten Unterricht in einer Sequenz zu Street Art, hier im Zuschnitt auf eine Bremer Schule, im zweiten um die Analyse von Lehrerhandreichungen zu den Filmen Intouchables (Frankreich 2011) und Vincent will Meer (Deutsch­land 2010).

Abschließend möchten wir uns ausdrücklich bei allen Vortragenden und Gästen für den produktiven und konstruktiven Austausch im Rahmen der Mainzer Tagung „Migration, Mehrsprachigkeit und Inklusion“ vom 5. bis 7. November 2015 bedanken, die den Anstoß dieses Sammelbandes bildete. Ausgewählte Beiträger und Beiträgerinnen dieser Tagung sowie weitere Experten der Thematik können nun in diesem Sammelband präsentiert werden. Außerdem gilt der Dank der Johannes Gutenberg-Universität, die die Durchführung intensiv unterstützt hat, den wissen­schaftlichen Hilfskräften Özlem Kayran und Carmelina Raffele sowie Benjamin Hanke für die Unterstützung rund um die Technik und die Gäste­betreuung. Au­ßer­dem danken wir Valerie Lange vom Ibidem-Verlag für die gute Zusammen­arbeit im Rahmen der Herstellung des Bandes und den Mitheraus­gebern der Reihe RomSD, Michael Frings und Andre Klump.

 

 

Im März 2017 Claudia Schlaak & Sylvia Thiele

 

 

1 „Die Katastrophe“ würde uns gern in einem Zentrum einsperren. Gelähmte zusammen mit Gelähmten, Blinde unter Blinden… Aber wenn Blinde unter sich blieben, wer erzählte ihnen, wie das ist, so ein Sonnenuntergang? Oh, natürlich, sie könnten es in einem Buch extra für sie nachlesen, aber ich bin sicher, dass es schöner sein muss, zu hören, wenn jemand erzählt, was passiert, während du auf deinem Gesicht die Wärme der Sonne fühlst, die versinkt. Meinst du nicht? Es ist schön, was sie sagt, Sarah.

Die Bedeutung des Inklusionskonzepts für die Schule in der Einwanderungsgesellschaft

Ilka Hoffmann (Frankfurt a.M.)

 

 

1. Zur Geschichte des Inklusionskonzepts

Seit die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet (http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/?id=467, Zu­­­griff: 31.03.2017) hat, ist Inklusion in aller Munde. Gemeint ist damit die gleich­­­berechtigte Teilhabe an der Infra­struk­tur, den gesellschaftlichen Aktivitä­ten und den Bildungsmöglichkeiten des je­wei­ligen sozialen Umfelds, in dem die Menschen leben.

Durch die Fokussierung auf Menschen mit Behinderungen wird der histo­rische Hintergrund der Inklusionsbewegung oft vernachlässigt. Dieser ist aber wich­tig, um deren allgemeinen, nicht nur auf Menschen mit Behinderungen be­zo­genen Kontext richtig einordnen zu können.

Insbesondere muss die UN-Behindertenrechtskonvention im Zusammenhang mit zahlreichen anderen UN-Konventionen und Deklarationen zu den allge­mei­nen Menschenrechten gesehen werden. Zu nennen sind hier vor allem der Inter­nationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, das Inter­na­tionale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendis­krimi­nie­rung von 1969 und das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Dis­krimi­nie­rung der Frau von 1979.1 Von diesem historischen Hintergrund ist die UN-Be­hin­dertenrechts­konven­tion auch terminologisch geprägt. Dies gilt vor allem für den Begriff des Em­power­ments, der auch in zahlreichen anderen Kontexten so­zialer Unterdrückung und Marginalisierung eine zentrale Rolle spielt. Em­power­ment bedeutet, dass die marginalisierten Gruppen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte ein­zu­fordern und wahrzunehmen. Dies macht die Über­win­dung sozialer, kommunika­tiver und physischer Barrieren durch entsprechende Unter­stützungsmaßnahmen notwendig. Hieraus ergibt sich, dass Inklusion auch als regulatives Ideal für die Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund an der Mehrheitsgesellschaft geeignet ist.

 

 

2. Inklusion und Binnenintegration

Inklusion bedeutet, wie bereits oben erläutert, diskriminierungsfreie Teilhabe an der Ge­sell­schaft. Im Falle von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen er­gibt sich hieraus das Ziel der Beseitigung aller physischen und psychischen Barrie­ren, die einer solchen Teilhabe im Wege stehen. Konkret zielt dies darauf ab, dass alle öffentlichen Wege und Einrichtungen unabhängig von der körper­lichen Konstitution der Einzelnen für sie zugänglich sein müssen und dass diese Konstitution ihre Wahrnehmung durch andere nicht so stark bestimmen darf, dass andere Persönlichkeitsmerkmale dahinter zurücktreten.

Es versteht sich von selbst, dass es sich bei einer so verstandenen völligen Barrierefreiheit um ein Ideal handelt, das nicht von heute auf morgen ver­wirk­licht werden kann. Vielmehr ist es nur durch einen langwierigen, komplexen Be­wusstseinswandel in der Mehrheitsbevölkerung zu erreichen. Dieser entsteht nicht von selbst, sondern muss durch entsprechende PressureGroups unterstützt wer­den. Selbsthilfegruppen der Betroffenen werden daher in diesem Fall als selbstverständlicher Aspekt der Interessenvertretung, der Selbstvergewisserung und der gegenseitigen Bestärkung im gemeinschaftlichen Kampf um gesell­schaft­­liche Teilhabe angesehen.

Analog hierzu müssten auch von Migranten und Migrantinnen selbst getra­gene Einrich­tungen von der Mehrheitsbevölkerung grundsätzlich begrüßt wer­den. Statt­dessen sehen sich diese jedoch oft mit dem pauschalen Vorwurf kon­fron­tiert, der Ghettobildung Vorschub zu leisten und so die gesellschaftliche In­te­­gra­tion der Beteiligten zu erschweren. Während man in anderen Fällen durch­aus bereit ist, subkulturelle Elemente als Bereicherung der Mehrheitskultur an­zusehen, fordert man von Migranten und Migrantinnen die unmittelbare An­passung an diese.

Eine solche Herangehensweise an die Integrationsfrage widerspricht aller­dings eindeutig der Forschungslage zu der Thematik. So weist schon Elwert (1982) auf die lange Reihe von Studien hin, welche die vermittelnde Kraft der Binnenintegration – verstanden im Sinne einer Integration der Eingewanderten in eine von ihrer eigenen Kultur geprägte Subkultur innerhalb der fremden Kul­tur – belegen. Angefangen mit Friedrich von Bodelschwinghs Bericht zu seiner Arbeit mit deutschen Emigranten in Paris (1861) über Thomasʼ und Znanieckis umfangreiche Studien zu polnischen Einwanderern in Europa und den USA, Louis Wirths Untersuchungen zum Ghetto (1928) und Gordon Horobins Studie über Esten in England (1957) bis hin zu Thomas Kessners vergleichenden Un­ter­­suchungen zu den Einwandererkulturen in New York (1977) weisen die meis­ten einschlägigen Forschungsarbeiten zu der Thematik darauf hin, dass Binnen­integration die Eingliederung in die neue Gesellschaft erleichtert.

Zwar sind organisatorische Zusammenschlüsse von Migranten und Migran­tinnen von einzel­nen Forschern auch als dysfunktional für den Integrations­prozess beschrieben worden (vgl. u.a. Breton 1964; Esser 1986). Dies hat mit dazu beigetragen, dass Migrantenselbstorganisationen bis heute „weitgehend von politischen Entschei­dungs­prozessen ausgeschlossen“ sind und „ihre Leis­tungen […] nur schwach wahrgenommen“ werden (Huth 2003, 20). In der Summe hat jedoch auch die neuere Forschung Auffassungen, wonach Migran­ten­organisationen „grundsätz­lich als integrationshemmend“ anzusehen seien, „ei­ne klare Absage erteilt“ (Weiss 2014, 93). Stattdessen wird jeweils genau gefragt,

unter welchen Bedingungen Migrantenselbstorganisationen welche Funktionen und Wirkungen für welche soziale Gruppen und Sozialräume entfalten und wie ihre Poten­ziale für die Förderung der Teilhabe an gesellschaftlichen Lebensbereichen entwickelt werden können (Pries 2013, 93).

Die unterstützende Wirkung organisatorischer Zusammenschlüsse von Migran­ten und Migrantinnen sowie der Subkultur, in die sie eingebunden sind, bezieht sich dabei zum einen auf ganz konkrete Hilfen. Hierzu zählt etwa die Vermitt­lung von Kon­tak­ten, die bei der Arbeitssuche nützlich sein können. Zum ande­ren dient die Binnen­integration aber auch der Akkulturation, verstanden im Sinne des Erler­nens zentraler Aspekte einer fremden Kultur mit Hilfe von Angehörigen aus dem eigenen Kulturkreis, die schon länger im aufnehmenden Land leben (vgl. Mühlmann 1962). Ganz offensichtlich erleichtert gerade die Sicherheit, die durch das vertraute (sub-)kulturelle Umfeld vermittelt wird, die Aus­einander­setzung mit der fremden Kultur. Dies gilt umso mehr, wenn Mi­gran­ten und Migrantinnen trau­ma­tische Erfahrungen durchlitten haben, die kul­turelle Desorientierung also durch psychische Instabilität verstärkt wird.

Selbstverständlich darf die Subkultur dabei nicht einen geschlossenen Raum darstellen, also eine Parallelgesellschaft innerhalb der Mehrheitskultur bilden. Vielmehr muss es sich hier um ein atmendes System handeln, das im regen Austausch mit der aufnehmenden Kultur steht. Gerade der Generalverdacht der Ghettobildung, unter den Subkulturen und Selbsthilfeorganisationen oder kultu­relle Vereine von Migranten und Migrantinnen häufig gestellt werden, be­güns­tigt jedoch Ten­den­zen zu Abschottung und Segregation. Denn das Misstrauen der einhei­mischen Bevölkerung impliziert ja stets eine ablehnende Haltung gegenüber den Elementen der Einwandererkultur, wodurch den Betreffenden die Eingliederung in die Gesellschaft erschwert wird. Eben dies provoziert die selbst­radi­kalisierende Bezugnahme auf Elemente der Herkunftskultur, denen in der Heimat oft gar keine oder nicht dieselbe Bedeutung beigemessen wird.

 

 

3. Inklusion und Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext

Die Sprache nimmt bei der psychisch stabilisierenden und kulturell ver­mitteln­den Funktion der Subkultur eine Schlüsselrolle ein. Denn insofern die Sprache „das Haus des Seins“ (Heidegger 1946, 310) ist, werden Migranten und Migran­tinnen bei ihrer Übersiedlung in ein fremdes Land gleich doppelt heimatlos. Neben der kon­kreten verlieren sie auch die ideell-gedankliche Heimat, wie sie sich in der Spra­che manifestiert. Die Möglichkeit, sich auch im aufnehmenden Land in der Herkunftssprache ausdrücken und sich in dieser mit Mitgliedern der Herkunfts­kultur über die eigene Situation austauschen zu können, ist daher eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Integrations- bzw. Inklusions­pro­zess.

Im schulischen Kontext kommt der Pflege der Herkunftssprache eine noch größere Bedeutung zu, da sie hier auch eine zentrale Ermöglichungsbedingung für gelingendes Lernen darstellt. Kinder und Jugendliche, die sich lange genug im aufnehmenden Land aufhalten, werden irgendwann auch in der neuen Sprache lernen und den­ken können. Neuankömmlingen muss jedoch gerade vor dem Hintergrund der oft belastenden Migrationserfahrungen Zeit gelassen werden, in das neue sprach­­liche Umfeld hineinzufinden. Dafür ist die fortgesetzte Pflege der Her­kunfts­­sprache unerlässlich. Die Situation ähnelt dabei der von bilingual auf­wachsenden Kindern, bei denen der erfolgreiche Erwerb beider Sprachen stark davon abhängt, ob es den Eltern gelingt, diese personell und/oder vom Umfeld her klar voneinander abzugrenzen.

Analog dazu darf Migrantenkindern – wie es zuweilen von Seiten übereifriger Helfer, mitunter aber auch durch assimilationswillige Migranteneltern selbst ge­schieht – die Praxis der eigenen Sprache im häuslichen Umfeld oder unter ihres­gleichen keineswegs verwehrt werden. Im schulischen Bereich muss die Her­kunftssprache ebenso selbstverständlich gepflegt und gefördert werden, wie es auch Kindern und Jugendlichen der Mehrheitskultur ermöglicht wird. Und wie man diesen zur Ver­meidung von Interferenzen nicht zumutet, gleichzeitig mit dem Erlernen meh­rerer Fremdsprachen zu beginnen, sollten auch Neuan­kömm­linge für eine Übergangszeit neben dem Fremdsprachenunterricht vor allem in­ten­siven Unter­richt in der Zweitsprache erhalten. Idealerweise sollte der Über­gangs­­prozess zudem gleitend verlaufen, d.h. die Eingliederung in den regulären Unterrichts­betrieb sollte durch zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen – also etwa durch Be­ratungslehrkräfte, Tutorien und ergänzenden Förderunterricht – abgefedert wer­den.

Diesen Erfordernissen wird in Kanada – einem Land mit einer reichen Ein­wan­derungskultur – meines Erachtens eher Rechnung getragen als in Deutsch­land. Da Kanada wie Deutschland ein föderaler Staat ist, unterscheidet sich hier auch die Schulpolitik von Provinz zu Provinz. Besonders fortschritt­lich in Bezug auf eingewanderte Kinder und Jugendliche ist das Schulsystem in der anglo­pho­nen Provinz Alberta (vgl. hierzu und zu den folgenden Aus­führungen Schuett 2014). Dies manifestiert sich zunächst in der Schulstruktur: Alberta verfügt über integrative Ganztagsschulen, in denen es keine Abschu­lungen und kein Sitzen­blei­ben gibt. Somit werden alle Kinder und Jugendlichen altersgemäß unter­rich­tet. Die Schüler und Schülerinnen werden von multiprofessionellen Teams betreut. Neben den Klassen- und Fachlehrer und -leh­rerinnen gehören Lehr­kräf­te für Englisch als Zweit­sprache und für einzelne Herkunftssprachen, Schul­assis­tenten und -assistentinnen sowie Teachers for Special Needs Education die­sen Teams an. Hierbei ist zu beachten, dass Special Needs Education nicht mit der deutschen Sonder­pädagogik gleich­zusetzen ist. Vielmehr bezieht sich Spe­cial Needs Education auf jegliche Form zusätzlicher und individueller För­de­rung. Dies betrifft unter anderem Lese-Rechtschreib-Probleme, Behinderungen ebenso wie vorüber­gehende Lernpro­ble­me aufgrund von Lebenskrisen.

Für den Erfolg des mehrsprachigen und multikulturellen Ansatzes erscheinen insbesondere folgende Aspekte von Bedeutung:

 

- die Unterscheidung zwischen Basic Skills und AcademicSkills in der Zweit­­­­sprache. Diese Unterscheidung beruht auf der Erkenntnis, dass die Be­herrschung der Alltagskommunikation in der Zweitsprache nicht aus­reicht, um mit den Anforderungen von Fachsprachen zurechtzu­kommen. Des­­halb werden den Schülerinnen und Schülern parallel zum Fachunter­richt auch Kurse in den entsprechenden Fachsprachen angeboten.

 

- durchgängige Sprachbildung in allen Fächern: Fachwissen wird über Spra­che vermittelt. Deshalb werden sprachliche Aspekte bei der Ver­mitt­lung aller Fächer beachtet und die Fachsprachen zur Erweiterung der Sprach­kennt­­nisse genutzt. Sprachbildung erfolgt über die Schulstufen hinaus durch­­­­gängig und ist von individuellen Förderplänen begleitet.

 

- Einbeziehung der Herkunftssprachen: Über das Angebot gezielten Her­kunfts­­sprachenunterrichts hinaus werden auch so genannte First Language Buddies eingesetzt. Dies sind Schüler und Schülerinnen der gleichen Her­kunfts­spra­chen, die sich – entsprechend dem Konzept der Binnen­inte­gra­tion – gegen­seitig bei der Eingewöhnung und der Bewältigung von All­tagsproblemen unterstützen. Innerhalb dieser Gruppen kann auch die Her­kunftssprache gepflegt und erhalten werden. Dies ist umso wichtiger, als zwar viele, aber nicht alle Herkunftssprachen im Unterricht angeboten werden können.

 

- Einbeziehung der Eltern: Die Eltern werden aktiv in den Erziehungsauftrag der Schule miteinbezogen. Hierzu gehören zahlreiche Beratungs­möglich­keiten, die Übersetzung von Dokumenten in die Herkunftssprachen sowie die so genannten FamilyTreasures. Dies sind mehrsprachige Buch­projekte, in denen Schüler und Schülerinnen gemeinsam mit Eltern und Lehrkräften Geschichten in ihren Erstsprachen entwickeln, erzählen, illustrieren und ins Englische übersetzen. Die Geschichten kreisen meist um Gegenstände und Alltags­situationen, die in der jeweiligen Kultur von Bedeutung sind.

 

 

4. Der mehrsprachig-inklusive Unterricht in der schulischen Praxis

Wenn man einen mehrsprachig-inklusiven Unterricht ernst nimmt, muss Mehr­sprachigkeit stets auch Mehrkulturalität bedeuten. Denn insoweit die Sprache die Denk- und Deutungsmuster des Einzelnen prägt, ist sie stets auch kulturell präfiguriert. Im konkreten Schulalltag kann dies zunächst zu Orientierungs­pro­blemen vielfältiger Art führen. Diese können sich etwa auf die Umgangsformen der Schüler und Schülerinnen untereinander oder zwischen Lehrenden und Ler­nen­den beziehen, sich aber auch in Verständnisproblemen bei Aufgaben­stellungen und Aufgaben­formaten manifestieren. Vor allem aber macht der As­pekt der Mehrkulturalität deutlich, dass eventuelle Lernprobleme in einzelnen Fächern sich nicht allein oder nicht unbedingt auf einen unzureichenden Wort­schatz beziehen müssen. Vielmehr können die Probleme hier auch auf einem abweichenden kulturellen Hintergrundwissen oder anderen Lernstrategien be­ruhen. Inklusiver Unterricht bedeutet deshalb hier, dass auf die – sprachlich ver­mittelten – kulturellen Aus­gangs­bedingungen der Lernenden eingegangen wird. Dies kann nur dann sinn­voll umgesetzt werden, wenn die einzelnen Fach­be­reiche und Themen­gebiete gesondert betrachtet werden:

 

1. Sprachen: Da Sprachen stets auch einen kulturellen Vermittlungs­prozess im­­­pli­zieren, stehen Migrantenkinder an einer fremdsprachigen Schule vor einem doppelten Orientierungsproblem. Einerseits sind sie gerade in der fremden Um­ge­bung auf die erlernten sprachlich-kulturellen Orientierungsmuster ange­wie­sen. Andererseits erweisen diese sich oft als dysfunktional und müssen dann möglichst schnell durch die neuen Orientierungsformen ersetzt werden. Dies stellt hohe Anforderungen an die psychische Stabilität von Kindern und Ju­gend­lichen, die von die­sen angesichts häufiger traumatischer Erfahrungen vor oder während der Migra­tion oft nur schwer zu erreichen ist. In diesem Fall sollte Sprachenlernen intensiv als der Situation des Zweitsprachen­lerners angepasster kultureller Ver­mittlungsprozess betrieben werden. Dies be­deu­tet, dass die Kin­der und Jugendlichen mit herkunfts­sprachlichem Unterricht im Umfang des Deutsch­­­­unter­richts der anderen Kinder einen auf ihre Bedürfnisse zuge­schnittenen Deutschunterricht erhalten soll­ten. In beiden Fällen müsste das Spra­chenlernen zugleich der Situation der Mehr­­­kulturalität Rechnung tragen und des­­halb mit dem Erlernen der ent­sprech­enden interkulturellen Kompetenz und Sensibilität verbunden sein. Die für den weiteren beruflichen Lebensweg der Kin­der erforderlichen zusätzlichen Fremd­sprachenkenntnisse sollten erst dann vermittelt werden, wenn die sprach­lich-kulturelle Kompetenz in Mutter- und Zweit­sprache hinreichend ausgebildet und eine dementsprechende psychische Stabilität erreicht worden ist.

Inklusion bedeutet deshalb in diesem Fall, dass alle Lernenden die nötigen Freiräume für den Erwerb der nötigen sprachlichen und kulturellen Kompe­ten­zen erhalten. Jedem muss es gleichermaßen ermöglicht werden, sich seiner ei­genen sprachlichen und kulturellen Wurzeln zu vergewissern und sich gleich­zeitig mit fremdkulturellen Wahrnehmungsmustern auseinanderzusetzen. Dazu könnte eine Möglichkeit sein, den in Deutschland üblichen festen Klassen­ver­band in mehre­re, locker miteinander verbundene Lerngruppen aufzuspalten. Die­se Verände­rung der Organisationsstruktur des schulischen Lernens würde es zugleich erleichtern, auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in anderen Bereichen einzugehen bzw. diese für interkulturelle Lernprozesse zu nutzen.

 

2. Gesellschaftswissenschaften: Auch in Fächern bzw. Fachbereichen wie Ge­­schichte, Geographie, Politik und Sozialkunde bringen Kinder und Ju­gend­liche aus unter­schied­­lichen Herkunftskulturen verschiedene Ausgangs­voraus­setzungen mit. An­­ders als im Bereich des konkreten Sprachenlernens lassen sich hier die diver­sen Vor­erfahrungen, Vorkenntnisse und Sichtweisen aber gut für einen gemein­samen, interkulturell ausgerichteten Unterricht nutzen. Unterrichts- und Sozialformen müssen facettenreich an die Heterogenität im Klassenzimmer angepasst werden; curriculare Vorgaben können, wann immer möglich, durch spezifische Elemente – im Fall Geschichte z.B. durch die Beschäftigung mit individuellen Migra­tionssituationen und ihren Gründen – ergänzt werden. Kin­der und Jugendliche unterschiedlicher Herkunftskulturen könnten diese Themen dann zunächst in Bezug auf ihren eigenen soziokulturellen Hintergrund bearbei­ten. In einem zweiten Schritt wür­de es dann zu einem Austausch über die ver­schiedenen Denkprozesse kommen. Methodisch umgesetzt werden könnte dies u.a. mit Hilfe der Portfolio-Arbeit, durch Gruppenpuzzle oder Posteraus­stellungen. Auf diese Weise können die Lernenden sich auch die Fachsprache sukzessive und dem jeweiligen Lernstand entsprechend aneignen. Ist das Curri­cu­lum spiralförmig aufgebaut, könnte es in späteren Arbeitsphasen auch zu Perspektivwechseln kommen, bei denen die Schüler und Schülerinnen die je­weils fremde Kultur aus ihrer eigenen Sicht betrachten würden.

 

3. Mathematik: Im Fach Mathematik ergibt sich die kulturelle Vielfalt da­durch, dass die Rechenverfahren für einzelne mathematische Probleme von Kul­tur zu Kultur variieren. Deshalb ist es wichtig, dass die Schüler und Schülerinnen hier nicht auf starre Rechenwege festgelegt werden. Die Offenheit für abweichende Lösungs­ansätze sollte stattdessen offensiv in den Unterricht eingebaut werden. Unter Umständen könnten auch deutsche Schüler und Schülerinnen davon pro­fi­tie­ren, indem der fremde Rechen­weg ihnen den Zugang zu dem jeweiligen ma­the­matischen Pro­blem er­leich­tert. Eine solche Vorgehensweise ist in den neue­ren, kom­petenz­orientierten Kernlehr­plä­nen teilweise bereits angelegt.

 

4. Biologie: Ähnlich wie in den Gesellschaftswissenschaften spielen auch im Biologieunterricht die unterschiedlichen kulturellen Vorerfahrungen der Ler­nen­den eine große Rolle. So bringen Kinder und Jugendliche aus anderen Kulturen nicht nur andere Kenntnisse über Tiere und Pflanzen mit. Auch deren sym­bo­lische Bedeu­tung weicht von der Sichtweise der deutschen Kinder und Ju­gend­lichen ab. Indem dies in den Unter­richt einbezogen wird, kann deutlich gemacht werden, dass die Natur nie wert­neutral, sondern stets in enger Be­ziehung zu unserem kulturellen Symbol­sys­tem be­trachtet wird. Soweit die Her­kunftskultur noch durch eine größere Nähe zur Na­tur gekennzeichnet ist, ergibt sich hieraus u.U. auch eine erhöhte Sensi­bilität für Themenbereiche wie etwa das Öko­sys­tem, die ebenfalls für den Unter­richt genutzt werden kann. Nicht zuletzt kann das Einbringen der unterschied­lichen Vorerfahrungen auch das Gespür für und das Wissen über die Arten­vielfalt stärken. Umgekehrt ergibt sich aus den unter­schiedlichen kulturellen Prä­gungen aber auch die Notwendigkeit einer beson­deren Sensibilität bei The­men wie Sexualkunde, wo Kinder und Ju­gendliche aus anderen Herkunftskulturen eventuell an ein anderes Niveau von Frei­zügigkeit gewöhnt sind.

 

5. Musik: Welche Musik als ‚harmonisch‘ oder als Höhepunkt der musik­ge­schicht­lichen Entwicklung empfunden wird, ist von Individuum zu Indivi­duum bzw. von Kultur zu Kultur höchst unterschiedlich. Ein interkultureller Musik­un­ter­richt sollte zum Ziel haben, verschiedene Musikstile zu berücksichtigen. Hier könnten unterschiedlichen Hör- und Empfindungsweisen für eine Einübung in inter­kul­tu­relles Hören und eine Erkenntnis kulturell abweichender Harmo­nie­begriffe ge­nutzt werden. Dies kann sowohl durch das gemeinsame Einüben von Musik­stücken bzw. -praktiken einzelner Herkunftskulturen als auch durch die Or­gani­sation von Festivals, in denen die Schüler und Schülerinnen aus den ein­zel­nen Her­kunftskulturen ihre jeweilige Musik vorstellen, umgesetzt werden.

 

6. Sport: Auch der Sportunterricht hat mehr mit kulturellen Unterschieden zu tun, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Hier bedarf es einer beson­de­ren Sensibilität gegenüber interkultureller Unterschiede. Darüber hinaus bietet der Sportunterricht aber viele Möglichkeiten, Fairness und Achtsamkeit gegen­über einander zu entwickeln und von- und miteinander mit allen Sinnen zu ler­nen.Eine erfolgreiche Mann­schaft zeichnet sich gerade dadurch aus, dass das Kollektiv erst durch die Entfaltung der einzel­nen Individualitäten und ihr Zu­sammenwirken entsteht. Damit handelt es sich hier um einen ähnlichen Prozess wie in einem funktionierenden, demo­kra­tisch verfassten Gemeinwesen, in dem Gemeinschaft ebenfalls daraus erwächst, dass die sich frei entfaltenden Indi­vi­duen sich als solche begegnen und mit­einan­der agieren. So lassen sich im Sport­unterricht quasi nebenbei grundlegende Umgangsformen einer demokratischen Gesellschaft einüben.

 

 

5. Ausblick

Für eine Berücksichtigung der Bedürfnisse von eingewanderten Kindern und Jugendlichen im deut­schen Unterrichtssystem gibt es zwei wesentliche Ansatz­punkte. Der erste be­trifft den herkunftssprachlichen Unterricht im engeren Sinne, der sowohl als eigen­ständiges Fach etabliert als auch in seiner Ver­mitt­lungs­funktion für das Erlernen der deutschen Sprache besser berücksichtigt und mit dem Fachunterricht ver­netzt werden muss. Hierfür sind strukturelle Verän­de­rungen erforderlich, für die das kanadische Modell als Vorbild dienen kann.

Der zweite Ansatzpunkt betrifft den herkunftssprachlichen Unterricht im wei­te­­ren Sinne, also seine kulturelle Vermittlungsfunktion, wie sie aus dem engen Zu­sammenhang von Sprache und kulturellen Deutungsmustern resultiert. Um die Verständnisprobleme, aber auch die bereichernden Elemente, die sich hier­aus ergeben, in die Unterrichtsplanung einzubeziehen, sind nicht in jedem Fall zwingend strukturelle Veränderungen vonnöten. Oftmals hilft hier auch schlicht eine gewisse didaktische Kreativität weiter.

Nur wenn die Herkunftssprachen von Migrantenkindern sowohl im engeren Sinne des reinen Spracherwerbs als auch im weiteren, interkulturellen Sinn be­rücksichtigt werden, ist ein mehrsprachig-inklusiver Unterricht möglich.

 

 

Literaturhinweise

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1 Die Konventionen sind zu finden unter http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/file admin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICCPR/iccpr_de.pdf, http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-

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Mehrsprachigkeit und Migration: Probleme und Herausforderungen für das Bildungssystem im Fremdsprachenunterricht

Benjamin Meisnitzer & Bénédict Wocker (Mainz)

 

 

1. Migration und multilinguale Gesellschaft in Deutschland

Seit mehreren Jahrzehnten bietet Deutschland seinen Bürgerinnen und Bürgern wirtschaftliche und politische Sicherheit. Es war und ist weiterhin aus diesem Grund ein attraktives Ziel im Rahmen von Arbeitsmigration, um eine mögliche Ver­­besserung der privaten wirtschaftlichen Situation zu erreichen oder für Men­schen auf der Flucht im Fall von religiöser, politischer oder ideologischer Ver­folgung größere Sicherheit zu erfahren. Dies er­klärt auch einen Wech­­­sel der Her­kunftsländer der Migranten und Migrantinnen in der Bundes­republik im Laufe der letzten Jahre, wie folgende Graphik vom Bun­des­amt für Sta­tistik zeigt:

Abb. 1: Herkunftsländer und Entwicklung der Einwandererzahlen in Deutschland1

Wird die gesamte Bevölkerung Deutschlands in ihrer Zusammen­set­zung be­trach­tet, so sind die Türkei, Polen und Italien die wichtigsten Herkunftsländer der Men­schen mit Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bun­des­amt 2015, 10). Die Herkunftsländer variierten in der Geschichte der Bundes­re­pu­blik manchmal kurz­fristig, bedingt durch historische Ereignisse wie den Bür­ger­krieg in Syrien seit 2011:

Abb. 2: Herkunftsländer von Asylsuchenden im Januar 20152

Die Abbildungen 1 und 2 zeigen die Vielfalt der Herkunftsländer der Mi­gran­­­ten und Migrantinnen in Deutschland. Diese Heterogenität der Herkunfts­länder und der entsprechenden Sprachen stellt eine Kernheraus­for­de­rung für die Lehrenden dar, denn Kompetenzen hinsichtlich aller Idiome in ihrer Vielfalt sind von einer einzelnen Lehrkraft nicht zu erwarten. So haben die Lehren­den Klassen­räume mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kul­turkreisen vor sich, was gerade in den letzten Jahren einen stär­keren Fokus auf die Vermittlung in­ter­­kul­tu­reller Kompetenzen erforderte. Die Klassenräume sind zu pluril­ingualen Or­ten gewor­den. Die Schüler und Schülerinnen sind oftmals bi­lingu­al, es domi­niert jedoch in Deutschland der kon­seku­tive Bilinguismus mit eindeutiger Do­mi­­nanz einer Sprache und ein­ge­schränktem Bilinguismus (Bialy­stok 2001, 226). Bei Letzte­rem kommt auf die Lernenden ein Problem zu, wenn sie nicht Deutsch, sondern die Herkunftsspra­che als dominante Sprache sprechen, da der Unterricht immer für Deutsch als L1 konzipiert und Sprache somit eng an den schulischen Erfolg gekoppelt ist, wie Geiger-Jaillet (2014, 203) festhält.

Der kulturelle und sprachliche melting pot