Mika im echten Leben - Emiko Jean - E-Book

Mika im echten Leben E-Book

Emiko Jean

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Beschreibung

Her mit dem perfekten Leben! Mika Suzukis Leben ist eine ziemliche Katastrophe: Ihre letzte Beziehung ist implodiert, für ihre Eltern ist sie eine konstante Enttäuschung und vor Kurzem wurde sie auch noch gefeuert. Doch ein Anruf ändert plötzlich alles: Ihre 16-jährige Tochter Penny, die sie als junges Mädchen zur Adoption freigeben musste, meldet sich überraschend und möchte ihre leibliche Mutter kennenlernen. Doch Mikas Leben ist alles andere als präsentabel und so erfindet sie spontan einige neue Aspekte hinzu, malt ihren Alltag in den schillerndsten Farben, erfindet einen gutaussehenden Freund, eine stylische Wohnung. Doch als Penny ihren Besuch ankündigt, gerät Mika in Panik. Wo soll sie das wundervolle Leben, von dem sie erzählt hat, nur herbekommen …

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Seitenzahl: 515

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Emiko Jean

Mika im echten Leben

Roman

Deutsch von Charlotte Lungstrass-Kapfer

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Yumi und Kenzo,

die mich zu diesem Buch

inspiriert haben

 

 

 

Liebe Penny,

 

am Tag deiner Geburt hat es geregnet. Der Himmel draußen vor dem Fenster hatte die Farbe von flüssiger Asche, und auf der Entbindungsstation hing ein Schild mit der Aufschrift: GEBURTEN SIND UNSERE SPEZIALITÄT. Darauf habe ich mich konzentriert, als die Wehen kamen, als die Schwestern und Ärzte hektisch herumschrien. Du hast es fast geschafft, rief eine der Schwestern.

Ich habe gezittert, habe gepresst, wollte, dass es vorbei ist. Irgendwann habe ich geschrien. Ich drückte, die Ärztin zog, und dann warst du da. Du. Warst. Da. Wurdest hochgehoben, umspielt von strahlendem Licht.

Eine schreckliche Stille folgte, quälend lange Sekunden dehnten sich aus zu einer Ewigkeit. Als wolltest du selbst entscheiden, wie dein Eintritt in diese Welt ablaufen sollte. Und dann, endlich, ein so hohes und schrilles Brüllen, dass selbst die Ärztin einen Kommentar dazu abgab. Diese Kleine hat schon jetzt eine Menge zu sagen, meinte sie. Insgeheim war ich stolz darauf, wie wütend dein Gebrüll klang. Ich hielt das für ein gutes Omen. Dich würde man nicht so leicht zum Schweigen bringen.

Die Ärztin schnitt die Nabelschnur durch, und ich streckte mich dir entgegen. In diesem Moment vergaß ich, dass ich dich nicht behalten durfte. Man legte dich in meine Arme. Staunend sah ich mir deine winzigen Hände an, dein zobelbraunes Haar, deine geschwungenen Lippen. Dein Näschen, das an einen wilden Stier denken ließ, wenn sich die Nasenflügel blähten. Mein Körper hatte einen Zweck, und zwar dich. Innerhalb eines Atemzuges zerfiel ich in tausend Stücke und wurde wieder zusammengefügt.

Was dann kam, ist mir nur verschwommen in Erinnerung geblieben: eine Naht, frisches Bettzeug und eine Menge zu essen. Hana war da. War sie schon von Anfang an gewesen. Eine der Schwestern hatte uns angesehen, unsere erschreckend jungen Gesichter, gerade mal neunzehn Jahre alt, und hatte missbilligend mit der Zunge geschnalzt. Wenn Kinder Kinder kriegen, hatte sie gesagt. Die eigentliche Botschaft war leicht herauszuhören: dumme Mädchen, verantwortungslose Mädchen, solche Mädchen. Sie registrierte, dass Hana die Stationsküche wie ihren persönlichen Snackautomaten benutzte, dass sie Nierenschalen klaute und sich die Taschen mit Binden füllte. Doch sie bekam nicht mit, wie Hana mir beim Duschen half, als mir so schwindelig war, dass ich nicht alleine stehen konnte. Wie ich heulend dort im Badezimmer stand und immer wieder es tut mir leid flüsterte, während Hana meinen Körper einseifte, mir die Achseln wusch, sanft den Bereich zwischen meinen Beinen abtupfte. Und sie bekam auch nicht mit, dass sie all das mit einem Lächeln auf den Lippen tat, als wäre es keine große Sache.

Meine Haare waren noch nicht ganz trocken, als Mrs. Pearson von der Adoptionsagentur eintraf. Sie holte einige Unterlagen aus ihrer Tasche. Alles war bereits ausgefüllt. Ich musste nur noch unterschreiben. Draußen auf dem Flur klingelten Glöckchen, dann ertönte ein Lied mit dem Namen »Breath of Life«; das spielten sie jedes Mal, wenn ein Baby geboren wurde. Als ich nach dem Stift griff, packte Hana meine Hand. Bist du dir sicher?, fragte sie.

Ich konnte nur stumm nicken. Atmen. Ich blätterte zur richtigen Seite und kritzelte meinen Namen. Die leisen Geräusche, die du im Schlaf von dir gabst, blendete ich aus. Auch den Geruch von Desinfektionsmittel, der im Zimmer hing. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf den neonpinken Pfeilaufkleber, der die Stelle markierte, an der ich die letzte Unterschrift leisten musste. Darüber stand eine fett gedruckte Warnung: Nach Abtretung der Rechte wird die Originalgeburtsurkunde versiegelt, und es wird eine neue Geburtsurkunde erstellt. Auf der dann die Namen deiner Adoptiveltern stehen würden.

Ich unterschrieb und löschte mich damit aus deinem Leben. Fertig.

Dann hielt ich dich ein letztes Mal. Ich schlug die Decke zurück, in die du eingewickelt warst, und küsste jeden deiner Finger, deine Wangen, dein winziges Näschen. Schließlich legte ich meine Hand auf deine Brust. Ganz warm warst du, und ich spürte, wie sich tief in meinem Inneren etwas veränderte, als hättest du mir deinen Stempel aufgedrückt. Es tut mir leid, flüsterte ich. Leid um das, was ich wollte, aber nicht behalten konnte. Eine Minute drückte ich dich noch an meine Brust, dann ließ ich dich los. Ließ zu, dass Mrs. Pearson dich wegbrachte.

Ich konnte nicht hinsehen. Stattdessen ließ ich den Kopf hängen und beschwor den Moment herauf, als ich dich das erste Mal auf dem Ultraschall gesehen hatte: runder Bauch, kräftig mit dem Arm rudernd, die Nabelschnur schwerelos neben dir. Eine kleine Taucherin. Ich selbst kam mir in diesem Moment wie eines dieser Walkälber vor, die im flachen Wasser kreisen und immer wieder stranden. Ich wollte nicht, dass du vergeblich schwimmst. Du solltest das offene Meer erreichen, solltest tief hinabtauchen. Dein Leben sollte in einer kräftigen, geraden, makellosen Linie verlaufen.

Die Tür fiel zu. Noch heute höre ich das leise Klicken, das Geräusch, mit dem du mir entglitten bist. Als du fort warst, kam mir das Krankenzimmer unglaublich leer vor. Das Gefühl der Einsamkeit brachte mich fast um. Jemand anders würde nun deinen Schlaf bewachen. Jemand anders würde sanft deine Brust berühren, um sich zu vergewissern, dass du noch atmest. Ich verfiel in einen so heftigen Weinkrampf, dass Hana dachte, meine Dammnaht wäre gerissen.

Das war’s. All das ist noch immer lebendig in mir. Du lebst noch immer in mir. Die Hälfte meiner Atemzüge, ein Viertel eines jeden Herzschlages gehören dir. So ist das wohl, wenn man Kinder bekommt – sie holen sich einen Teil von dir.

An jenem Tag habe ich nicht über deine Zukunft nachgedacht. Ich dachte nicht an die Calvins, deine neuen Eltern, dachte nicht daran, wie weiß sie waren. Wer würde dir beibringen, was es hieß, als Asiat in Amerika zu leben? Ich dachte nicht darüber nach, was ich dir sagen sollte, wenn du zu mir kommen und mich fragen würdest: Warum? Wer bist du? Wer bin ich? Natürlich träumte ich davon, ein Teil deines Lebens zu sein, aber in der Art, wie man sich eine Sternschnuppe herbeiwünscht oder einen Lottogewinn. Ich habe nie geglaubt, dass der Traum Wirklichkeit werden könnte. Und ich hätte niemals geglaubt, dass wir irgendwann wieder in demselben Krankenhaus landen würden – du sechzehn, ich fünfunddreißig – oder dass du einmal in einem dieser Betten liegen würdest, während ich mich erneut bei dir entschuldige.

Es tut mir leid, Penny. Ich habe es verbockt. Ich habe dich verletzt.

Ich kann dir nicht versprechen, dass ich dich niemals wieder verletzen werde. In Wahrheit gibt es kaum etwas, das ich dir versprechen könnte. Und trotzdem: Das bisschen, was mein ist, gehört dir. Was auch immer geschehen mag. Ob du mir nun verzeihst oder nicht. Du sollst wissen, dass ich immer da sein werde. Wie alle Eltern werde ich da sein und darauf warten, dass mein Kind nach Hause kommt.

 

Mika

 

 

 

Sieben Monate zuvor …

Kapitel Eins

GEFEUERT. Mika blinzelte verwirrt. »Bitte, was?«, fragte sie Greg in seinem schuhkartongroßen Büro. Eigentlich war es gar kein Büro, sondern nur eine abgeteilte Ecke des Kopierraums der Anwaltskanzlei Kennedy, Smith & McDougal. Greg allerdings herrschte über sein winziges Reich, als wäre es ein Eckbüro in der dreißigsten Etage. Er hatte es sogar dekoriert: Auf dem Schreibtisch stand ein Bonsai, an der Wand hing ein billiges Samurai-Schwert. Schief. Greg war weiß und selbst ernannter Japanophiler. Mehr als einmal hatte er versucht, sich mit Mika auf Japanisch zu unterhalten, wogegen sie sich jedes Mal gesträubt hatte. Sie beherrschte die Sprache fließend, aber eben nicht bei ihm. Ja, genau, diese Art von Mensch war er.

Greg lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Das dürfte dich doch nicht überraschen«, sagte er, legte die Fingerspitzen aneinander und schob sie unter sein haarloses Kinn. »Bestimmt hast du die Gerüchte gehört.«

Mika nickte wie abwesend. Kürzlich hatte einer der Seniorpartner, einer der ganz wichtigen, zu einer anderen Kanzlei gewechselt. Die Gewinne waren im Keller. Sie hob die Hände. »Aber ich bekomme gerade mal zwanzig Dollar die Stunde.« Lächerlich wenig im Vergleich zu den Gehältern der anderen Angestellten. Glaubten die Mächtigen dort oben wirklich, sie könnten ihre finanzielle Schlagseite ausgleichen, indem sie eine Bürohilfe feuerten?

Greg winkte ab. »Schon klar. Aber du weißt doch, wie das läuft. Wer in der Hackordnung ganz unten steht …« Er verstummte.

»Bitte.« Sie hasste es, betteln zu müssen, vor allem bei Greg. »Ich brauche diesen Job.« Es gefiel ihr bei Kennedy, Smith & McDougal. Die Arbeit war leicht, die Bezahlung gut, es reichte für Miete und Nebenkosten, und am Ende blieb ihr noch genug übrig für Lebensmittel, vor allem aus der Weichkäseabteilung. Außerdem lag das Büro in der Nähe des Museums. In der Mittagspause machte sie oft einen Verdauungsspaziergang dorthin, versenkte sich in den Anblick der Monets oder schlenderte durch die Antiquitätensammlung. Eine Auszeit für ihre Seele. »Was ist mit Stephanie?« Sie war erst nach Mika eingestellt worden.

»Stephanie hat mehr Erfahrung als Rechtsanwaltsgehilfin. Bei der Entscheidung ging es vor allem darum, wer der Firma den größten Nutzen bringt. Hör mal, du findest doch bestimmt schnell etwas Neues. Unglücklicherweise kannst du dich nicht arbeitslos melden, weil du kein volles Jahr bei uns warst, aber ich werde dir eine super Empfehlung schreiben.« Greg erhob sich. Das Gespräch war beendet.

»Ich wäre auch mit einer Gehaltskürzung einverstanden«, platzte es aus ihr heraus. Mika starrte zu Boden. Irgendwo dort musste auch ihr Stolz verschwunden sein. Sie packte das einfach nicht. Tränen stiegen in ihre Augen. Fünfunddreißig und der nächste Job futsch. Wieder einmal.

Greg schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mika. Es hat keinen Sinn. Heute ist dein letzter Tag bei uns.«

*

Der unterschwellige Geruch von altem Popcorn, Seelentrostkerzen im Ausverkauf. Was hatte dieser Laden nur an sich, dass er Mika so anzog? Sie stand in der Dekoabteilung und musterte ein Kissen mit dem gestickten Schriftzug: MIT GELD KANN MAN SICH EIN HAUS KAUFEN, ABER KEIN HEIM. Hanas Lachen drang aus dem Telefon. »Nur damit ich das richtig verstehe: Er hat dich gefragt, während er dich gefeuert hat?«

»Direkt danach«, präzisierte Mika. Greg hatte sie zu ihrem Schreibtisch begleitet und zugesehen, als sie ihren Kram zusammenpackte, und dann hatte er sie gefragt, ob sie später vielleicht Lust hätte auf Kino oder ob sie am Wochenende das Kirschblütenfest an der Universität mit ihm besuchen wolle. Die Wut über diese Erniedrigung saß tief.

Wieder lachte Hana spöttisch.

Mikas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Bitte tu das nicht. Ich befinde mich gerade in einem Zustand höchster Verletzlichkeit.«

»Du bist bei Target«, konterte Hana.

Nachdenklich starrte Mika weiter auf das Kissen. Es war von einem Pärchen designt worden, das stinkreich geworden war, indem es neuen Häusern einen alten Look verpasste. Alles eine Frage der Holzbearbeitung. Dieses Kissen konnte sie für 29,99 Dollar erstehen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich an ein und demselben Tag gefeuert und sexuell belästigt werden könnte. Wieder was Neues.« Mika ließ das Kissen liegen und ging weiter zur Weinabteilung. In ihrem Geldbeutel herrschte ziemliche Ebbe, aber eine Fünf-Dollar-Flasche Wein war jetzt ein Muss.

Hana brummte mitfühlend. »Es könnte schlimmer sein. Weißt du noch, als du damals in dem Donutladen gefeuert wurdest, weil du eine Schachtel Müsliriegel im Kühlschrank gelagert und zwischen den Bestellungen davon gegessen hattest?«

»Das war noch im College.« Mika klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter. Nachdem sie den Wein ausgesucht hatte, war sie nun in der Lebensmittelabteilung und füllte ihren Korb mit Käsecrackern. Stilvoll bis ins Letzte.

»Oder dieser Nannyjob, bei dem du den Kindern Shining gezeigt hast?«

»Sie wollten was mit Geistern sehen«, verteidigte sie sich.

»Oder die Sache mit der nicht jugendfreien Predator-Fanfiction, die du für jeden sichtbar auf deinem Arbeitscomputer verfasst hast?«

Mika runzelte die Stirn. »So etwas ist nie passiert.« Hana lachte wieder. Mika kam es vor, als wäre sie gerade mit Karacho von einem Unglücksbaum gefallen, dabei gegen jeden einzelnen Ast geknallt und unten in einer Grube voller Schlangen und Bären gelandet. »Was soll ich jetzt machen?«

»Keine Ahnung. Aber du bist in bester Gesellschaft. Ich habe heute Morgen erfahren, dass Pearl Jam für ihre Sommertour Garrett engagiert haben.«

Hana arbeitete als Gehörlosendolmetscherin in der Musikindustrie, und Garrett – gerade erst aus christlichen Alt-Rock-Kreisen übergewechselt – drängte sich nun in ihr Revier. »Vermutlich werde ich jetzt eine Menge Earth-Wind-and-Fire-Gigs machen müssen. Der dämliche Garrett. Komm nach Hause, wir fressen und saufen unsere Gefühle gemeinsam unter den Tisch.«

»Klingt gut.« Mika legte auf und ließ das Telefon in ihre Handtasche gleiten. Eine Minute verging. Mika ging umher. Ihr Telefon klingelte. Vielleicht wieder Hana. Oder ihre Mutter; Hiromi hatte ihr bereits am Morgen auf die Mailbox gesprochen: Ich war gerade kurz in der Kirche und habe das neue Gemeindemitglied kennengelernt. Sein Name ist Hayato, und er arbeitet für Nike. Ich habe ihm deine Nummer gegeben.

Wieder klingelte das Telefon. Manchmal rief Hiromi zwei- oder dreimal hintereinander an. Richtig panisch machte einen das. Beim letzten Mal war Mika vollkommen atemlos drangegangen, die Autoschlüssel bereits in der Hand, um ins Krankenhaus zu fahren. Was ist los?

Nichts, hatte Hiromis Antwort gelautet. Warum klingst du denn so gehetzt? Ich wollte dir nur sagen, dass bei Fred Meyer gerade Hühnchen im Angebot ist …

Mit jedem Wort war Mika wütender geworden. Du kannst nicht so oft hintereinander anrufen. Ich dachte, es wäre etwas passiert, hatte sie gezischt.

Daraufhin hatte Hiromi empört geschnaubt. Bitte verzeih, dass ich nicht tot umgefallen bin.

Es klingelte immer weiter. Mika fischte das Handy aus der Handtasche und warf einen Blick auf das Display. Unterdrückte Rufnummer.

Neugierig nahm sie den Anruf an. »Hallo?«, fragte sie stirnrunzelnd. Verdammt, dachte sie einen Moment zu spät. Das konnte ja auch dieses neue Gemeindemitglied sein, dieser Hayato. Hastig ging sie im Kopf mögliche Ausreden durch. Mein Akku gibt gerade den Geist auf. Ich gebe gerade den Geist auf.

»Oh, wow! Sie sind drangegangen! Ich war mir nicht sicher, ob …«, antwortete eine extrem positiv klingende, junge Stimme. Das Folgende drang nur noch gedämpft zu Mika durch, als würde eine Hand auf das Mikrofon gehalten. »Sie ist drangegangen. Was soll ich jetzt machen?«, rief die Stimme jemandem im Hintergrund zu.

»Hallo?«, wiederholte Mika, diesmal etwas lauter.

»Tut mir leid, meine Freundin Sophie ist auch hier. Zur moralischen Unterstützung, verstehen Sie? Spricht dort Mika Suzuki?«

»Ja.« Mika stellte ihren Einkaufskorb ab. »Wer ist da?«

»Hier spricht Penny. Penelope Calvin. Ich glaube, ich bin Ihre Tochter.«

*

Obwohl ihre Gliedmaßen vollkommen taub waren, schaffte Mika es irgendwie, das Telefon weiter festzuhalten. Auch noch, als das Blut in ihren Ohren rauschte, ihr Blick verschwamm, sich dann extrem verengte. Auch noch, als sie in der Zeit zurückversetzt wurde, zurück in dieses Krankenhaus, zurück zu der neugeborenen Penny. In grellen Blitzen zog jener Tag an ihr vorbei: Penny, warm und fest in ihrer Armbeuge; zarte Küsse auf die kleine Stirn; das flaumige Haar, das sie ihr sanft zurückgestrichen hatte, um das blau-rosa gestreifte Mützchen darüberzuziehen. So unerträglich wundervolle Momente.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Penny. »Ist dort die richtige Mika Suzuki? Ich habe einen dieser Suchdienste im Internet benutzt. Musste für das gratis Probe-Abo die Kreditkarte von meinem Dad angeben. Er wird mich umbringen, wenn er das herausfindet! Aber keine Sorge, ich kündige das, bevor sie die Karte belasten können.«

Dann schwieg sie. Offenbar wartete Penny darauf, dass Mika etwas sagte. Die schloss kurz die Augen. »Das ist echt clever«, murmelte sie, innerlich zitternd. Setzen. Sie musste sich dringend irgendwo hinsetzen. Kraftlos ließ sie sich auf einen Plastikstuhl fallen, umklammerte die Armlehne so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Wie war sie überhaupt in der Abteilung für Gartenmöbel gelandet?

»Ja, nicht wahr? Mein Dad sagt immer: ›Wenn du deine Kräfte doch nur für das Gute einsetzen würdest!‹« Penny sprach plötzlich eine Oktave tiefer, wohl um ihren Vater nachzuahmen. Beinahe hätte Mika gegrinst. Beinahe. »Dann spricht dort also die richtige Mika Suzuki?«, fragte Penny noch einmal. »In Oregon gibt es nicht so viele davon. Die beiden anderen Kandidatinnen waren älter. Ich meine, theoretisch könnten sie natürlich meine biologische Mutter sein. War da nicht diese Frau, die mit … fünfzig oder so noch Zwillinge gekriegt hat? Aber ich war mir eigentlich sicher, dass Sie das sein müssen. Sind Sie noch dran?«

Inzwischen war Mika der Schweiß ausgebrochen, das Handy drohte von ihrem Ohr abzurutschen. Mühsam atmete sie ein und aus. Ein und aus. »Ja, ich bin dran.«

»Und sind Sie Mika Suzuki? Haben Sie vor sechzehn Jahren ein Baby zur Adoption freigegeben?«

In Mikas Schläfen begann es dumpf zu pochen. »Ja, die bin ich. Und das habe ich«, antwortete sie mit trockener Kehle. Insgeheim hatte sie immer von diesem Moment geträumt. Von dem Tag, an dem sie die Stimme ihrer Tochter hören würde. Mit ihr sprechen würde. Manchmal nahm diese Fantasie beinahe wahnhafte Züge an. Ein paarmal in all den Jahren hatte sie geglaubt, Penny stünde vor ihr. Was absolut lächerlich war. Sie wusste ja, dass Penny im Mittleren Westen lebte. Doch dann hatte sie irgendwo ein dunkelhaariges kleines Mädchen mit Ponyfransen gesehen und plötzlich diese Gewissheit empfunden. Hatte ein unsichtbares Band gespürt. Das ist meine Tochter, hatte sie gedacht, nur um dann von Enttäuschung überwältigt zu werden, wenn sich das Mädchen umdrehte und die falsche Nase hatte oder grüne Augen anstelle von dunkelbraunen. Nicht Penny. Eine Täuschung.

Mika löste ihre Finger von dem Gartenstuhl und stand mit zittrigen Beinen auf. Ziellos lief sie durch die Gänge. Sie musste sich bewegen. Bewegung half ihr dabei, auf dem Boden zu bleiben, im Hier und Jetzt. Half ihr dabei, den emotionalen Sturm zu bändigen, der sich in ihr zusammenbraute.

»Das ist endgeil!«, quietschte Penny.

»Ich kann nicht glauben, dass du mich gefunden hast.« Mika war noch immer benommen. Gerade ging sie an einem Aufsteller vorbei, auf dem sich violette Flaschen mit Magnesiumtabletten türmten.

»Das war nicht schwer. Ihr Name ist so einzigartig und cool. Ich wünschte, ich hätte einen japanischen Namen«, seufzte Penny sehnsüchtig.

»Oh.« Mika wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie selbst hatte Pennys Namen ausgesucht. Das war ihr unglaublich wichtig gewesen, sie hatte sogar darauf bestanden, dass er in den Adoptionsvertrag aufgenommen wurde. Meine Tochter könnt ihr haben, aber ihren Namen kriegt ihr nicht. Wenngleich Mrs. Pearson ihr Bestes gegeben hatte, damit die Adoption nicht so geschäftsmäßig wirkte, waren gewisse Dinge nun einmal unabänderlich – Anwälte, Verhandlungen, rechtssichere Vereinbarungen, die gerne zugunsten der Adoptionsfamilie formuliert waren. Aber der Name … der Name gehörte Mika. Zuerst hatte sie an Holly gedacht, da Stechpalmen im Winter blühen. In Japan war es Tradition, einen Namen zu wählen, der die Hoffnungen widerspiegelt, die man für das Kind hegt. Das kanji zu Mikas eigenem Namen ließ sich mit »herrlicher Duft« übersetzen. Was viel darüber aussagte, welchen Stellenwert sie für ihre Mutter hatte: Sie war ein Accessoire. Etwas, das die Aufmerksamkeit anderer auf sich zieht. So etwas wollte sie nicht für ihr Kind. Deshalb hatte sich Mika am Ende für Penelope entschieden, aus Homers Odyssee. Ein Name, der ihrer Ansicht nach Stärke, Widerstandskraft und Ehrgeiz vermittelte. Und ein solches Leben wünschte sich Mika für ihre Tochter. Ein solcher Mensch konnte sie ihrer Meinung nach werden. Zu einer solchen Familie konnte sie gehören.

Außerdem hatte sie gehofft, dass sie es mit einem eher amerikanisch klingenden Namen leichter haben würde. Sie selbst hatte mehr als genug Erfahrung damit, dass ihr Name falsch ausgesprochen und geschrieben wurde. Unzählige Male schon hatte man sie »Mickey« genannt. Penny sollte sich integrieren können. Doch irgendwie war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, ihr all das zu erklären. Stattdessen sagte Mika: »Das mit deiner Mum tut mir sehr leid.« Als Mrs. Pearson ihr fünf Jahre zuvor mitgeteilt hatte, dass Caroline Calvin an einer Krebserkrankung litt und sterben würde, hatte Mika sie angefleht, einen Kontakt zu Penny herzustellen, hatte geschworen, sie spüre die Trauer ihrer Tochter wie ein brennendes Eisen auf der Haut.

Sie braucht mich, hatte Mika betont.

Ich werde es versuchen, hatte Mrs. Pearsons Antwort im Namen der Adoptionsagentur gelautet. Dann hatte Thomas Calvin die Bitte abgelehnt. Es tut mir leid, Mika, hatte Mrs. Pearson gesagt. Caroline hat nicht mehr viel Zeit. Krebs im Endstadium. Es kam alles ganz plötzlich. Er möchte, dass sie während dieser letzten Tage ganz für sich sind.

»Ja.« Penny klang bedrückt. »Das war eine harte Zeit. Wir haben gerade ihren fünften Todestag überstanden. Irgendwie kann ich gar nicht glauben, dass es schon so lange her ist.«

Wieder wurde es still in der Leitung. Mika ging weiter, Ziel unbekannt. Ihr ganzer Körper war in Aufruhr. Sie lief an dem Gang mit den Schwangerschaftstests vorbei. Vor knapp siebzehn Jahren hatte sie die Münzen in Hanas Auto zusammengesucht, um sich im Ein-Dollar-Shop einen Test kaufen zu können. Auf einer Supermarkttoilette hatte sie dann auf den Streifen gepinkelt. Sie hatte sich kaum abgewischt, als schon die beiden pinken Linien erschienen und ihre Welt nicht mehr die alte war.

Mika wurde bewusst, dass sie viel zu lange nichts mehr gesagt hatte. »Sie hat mir Briefe geschickt. Deine Mum. Und sie hat mir Fotos und Zeichnungen von dir geschickt. Sie hatte eine wirklich schöne Handschrift«, platzte es aus ihr heraus. Eigentlich wusste Mika so gut wie nichts über das Ehepaar, das Penny adoptiert hatte. Sie hatte aus Dutzenden von Familienprofilen gewählt, die man ihr vorgelegt hatte. Nach der Entscheidung hatte sie sich oft die Fotos von Pennys künftigen Eltern angesehen. Thomas, Urheberrechtsanwalt, abgebildet mit seinem College-Ruderteam. Sie hatte auf seine Hände gestarrt, die fest die Ruder gepackt hielten, auf die steile Falte zwischen seinen grünen Augen. Er ist stark, hatte sie damals gedacht. Er wird für Penny einstehen. Und Caroline, ebenfalls ein Foto aus Collegezeiten, in einem Pulli mit griechischen Buchstaben auf der Brust und einem offenen Lächeln im Gesicht. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie Penny auf genau diese Weise anlächeln würde, ihr so schöne Dinge sagen würde wie: Ich bin stolz auf dich. Ich bin so froh, dass ich dich habe. Für dich würde ich durchs Feuer gehen.

»Ja, sie hatte wirklich eine schöne Handschrift. Absolut makellos«, bekräftigte Penny liebevoll. Das überraschte Mika nicht. Caroline schien in jeder Hinsicht makellos gewesen zu sein. »Meine ist so schlampig. Ich habe mich immer gefragt, ob das genetisch bedingt ist.«

Wohl eher nicht, fand Mika. Aber sie sehnte sich nach einer Verbindung zu Penny, nach irgendetwas, das sie zusammenschweißte. »Meine Handschrift ist auch grauenhaft.«

»Wirklich?« In Pennys Stimme klang leise Hoffnung an.

Mika lief nun langsamer, versuchte sich zu beruhigen. »Ich stelle mir gerne vor, dass es meine ganz persönliche Schriftart ist. Ich würde sie ›Zu viel Kaffee und Donuts‹ nennen.«

Penny lachte. Es klang angenehm, voll und ernsthaft. Ihre Tochter. »Oder auch: ›Räum deinen Scheiß weg.‹«

Endlich blieb Mika stehen, mitten in der Putzmittelabteilung. Hier war niemand. Sie lehnte sich gegen ein Regal und atmete tief den Duft nach frischer Wäsche ein. Früher einmal hatte sie geglaubt, die Erinnerungen an Penny und das, was davor geschehen war, würden irgendwann verblassen, doch das Gegenteil war der Fall: Sie stachen nur umso schärfer aus den verschwommenen, weniger wichtigen Szenen ihrer Vergangenheit hervor. Der Collegeabschluss, ihr erster Job, zum Teil sogar die Schwangerschaft … all dem hatte der Zahn der Zeit die scharfen Kanten genommen. Aber Penny, das Baby, Mikas Baby, war unverändert geblieben, wie der Abdruck einer Hand auf Zement. Hätte sie damals doch nur gewusst, was sie heute wusste. Dass sie jeden Morgen beim Aufwachen an Penny denken würde. Daran, wie alt sie inzwischen war. Was sie wohl anhatte. Wem sie ein Lächeln schenkte. Dass die Liebe zu ihr sich in ihr verbeißen würde, mit Zähnen und Klauen, um sie nie wieder loszulassen.

»Ist alles in Ordnung?« Eine Mutter mit zwei Kindern war in den Gang eingebogen.

Sofort richtete Mika sich auf. »Ja, alles gut. Mir geht es gut.« Eines der Kinder hatte Schokolade im Gesicht, die es nun langsam rund um den Mund ableckte. Die Mutter wartete ab, bis Mika weiterging, erst dann setzte sie ihren Einkauf fort.

»Ist da jemand bei Ihnen?«, fragte Penny.

»Nein, ich bin gerade beim Einkaufen. Im Target«, erklärte Mika, ohne groß nachzudenken. Dafür hätte sie sich am liebsten eine verpasst. Richtig hart, mitten ins Gesicht. Was würde Penny jetzt von ihr denken? Eine erwachsene Frau geht an einem Mittwochnachmittag zu Target. Sicher würde sie sich wundern, dass Mika nicht bei der Arbeit war.

Penny fluchte leise. »Tut mir leid, ich hätte fragen sollen, ob es Ihnen gerade passt. Dann lasse ich Sie jetzt besser in Ruhe.«

Der Gedanke gefiel Mika überhaupt nicht. Dass das zarte Band zwischen ihnen schon im nächsten Moment zerschnitten sein sollte. Konnte Penny es auch spüren? Diese Glückseligkeit, diese Energie, die sie verband? »Nein, ist schon okay.«

»Ich muss sowieso aufhören. Mein Dad kommt bald nach Hause.«

Nein, sprich weiter. Ich würde dir auch zuhören, wenn du mir Krieg und Frieden vorliest. Plötzlich überkam sie der Drang zu weinen. »Ja, natürlich. Es war schön, mit dir zu sprechen.« Mika verließ den Laden. Der Himmel war wolkenverhangen – Frühling in Portland. Ein paar Krähen pickten im Müll auf dem Parkplatz herum. Als Mika blinzelte, sah sie vor ihrem inneren Auge ebenfalls Krähen. Krähen aus der Vergangenheit, die sich um eine weggeworfene Schachtel mit Wassermelonenresten stritten. Schnell verdrängte sie die Erinnerung. »Falls du jemals etwas brauchst … falls ich irgendetwas für dich tun kann …«

»Also, eigentlich …« Penny stieß hörbar den Atem aus. »Eigentlich würde ich gerne noch weiter mit Ihnen reden. Ich könnte wieder anrufen. Oder vielleicht skypen wir mal? Es wäre wirklich schön, wenn wir uns dabei ansehen könnten …«

»Oh.« Mika war so überwältigt, dass sie kaum Luft bekam. Sie konnte es nicht glauben. Penny wollte sie. Penny wollte sie. Plötzlich wurde Mika von einer derart brennenden Sehnsucht gepackt, dass sie glaubte, in Stücke gerissen zu werden. Aus diesem Gefühl heraus antwortete sie: »Ja, natürlich. Sehr gerne sogar.«

Kapitel Zwei

Halb betäubt fuhr Mika nach Hause. Sie wusste hinterher nicht mehr, wie sie den Schlüssel in die Zündung gesteckt hatte, wie sie den Wagen angelassen hatte, wie sie vom Parkplatz gefahren war. Ampeln, Blinker, abbiegen, Parken – alles weg. Nachdem sie angekommen war, schaltete sie den Motor ab und blieb im Wagen sitzen. Regen prasselte auf die Windschutzscheibe. »Penny«, flüsterte sie in die Stille hinein. Den Namen ihrer Tochter auszusprechen war wie ein Gebet, wie ein Geheimnis, wie der Schlag einer Glocke, die das Kind zum Essen nach Hause rief. »Penny, Penny, Penny«, sagte sie wieder und wieder. Als sie aus dem Auto stieg, hatte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausgebreitet.

Unkraut und dornige Büsche wucherten zwischen den Latten eines angeschlagenen Zauns hindurch, dessen weiße Farbe an vielen Stellen abblätterte. Der Fußweg zum Haus war kaum zu erkennen. Es war eher ein Cottage als ein richtiges Haus. Einer der Fensterläden hing schief, er wurde nur noch von einem Nagel gehalten. Wollte man ihr Zuhause beschreiben, war »Schandfleck« wohl noch der freundlichste Ausdruck. Mika schloss die Haustür auf, drückte und … nichts. Irgendetwas blockierte den Eingang. Ächzend stemmte sie sich gegen die Tür und schob die Kartons, die sich dahinter türmten, beiseite.

Das verpasste ihrer Freude einen kleinen Dämpfer. »Wow. Bist du heute Morgen aufgewacht und hast dir gedacht: ›Heute ist es so weit! Ich werde die nächste Stufe meines zwanghaften Sammeltriebs zünden und mich hier drin verbarrikadieren, bis man in zwanzig Jahren mein mumifiziertes Skelett findet‹?«, schnauzte sie Hana an.

Die saß auf der Couch, ein halb gegessenes Stück Kuchen im Schoß, und erwiderte, ohne den Blick vom Fernseher zu lösen: »Ist ja witzig. Genau das habe ich gedacht. Du kommst spät.« Hana schob sich Kuchen in den Mund. »Ich habe schon ohne dich angefangen. Und ich habe mir etwas überlegt: Wir sollten uns einen Hund anschaffen und ihm beibringen, dass ›Scheißhaufen‹ dasselbe bedeutet wie ›Garrett‹. Dann sagen wir nicht ›Geh und mach einen Scheißhaufen‹, sondern ›Geh und mach einen Garrett‹. Das nehmen wir dann auf Video auf, und ich schicke es ihm.« Jetzt erst blickte sie hoch. »Wo ist der Wein?«

»Kein Hund, keine Videonachrichten an Garrett. Und den Wein habe ich vergessen.« Mika schob sich zwischen ungeöffneten Paketen und toten Pflanzen hindurch und schob einen Stapel Zeitschriften von einem Sessel, um sich hinsetzen zu können. Eine Zeit lang hatte Hana ihre Sammelleidenschaft unter Kontrolle gehabt. Das Haus hatte sie zusammen mit ihrer Partnerin Nicole gekauft. Die beiden waren glücklich und richteten sich ein mit was immer sie auf Flohmärkten und bei Garagenverkäufen auftreiben konnten. Sogar einen Welpen schafften sie sich an. Dann hatte Nicole sie betrogen. Hana behielt das Haus, Nicole den Golden Retriever. Hana bot Mika, die sich gerade erst von Leif getrennt hatte und knapp bei Kasse war, an, bei ihr einzuziehen. Gemeinsam hatten sie ihre gebrochenen Herzen mit Wein und teurem Lieferessen betäubt und waren übereingekommen, dass Freundschaft sowieso viel besser sei als das, was sie mit ihren Ex-Partnern gehabt hatten. Weil sie einander besser verstanden. Mika machte es nichts aus, dass Hana das Onlineshopping offenbar für ihre patriotische Pflicht hielt. Und Hana störte sich nicht an Mikas lausiger Bilanz auf dem Arbeitsmarkt. Niemand war perfekt. Ihre Freundschaft basierte darauf, dass eine die Fehler der anderen akzeptierte.

Deshalb fand Mika auch nichts Beunruhigendes daran, dass Hana auf der Couch hockte, über einen Kollegen lästerte und sich … »Monster? Du siehst dir allen Ernstes Monster an? Einen Film über eine lesbische Serienmörderin?« Mika zog die Fernbedienung zwischen einigen leeren Getränkedosen hervor und schaltete den Fernseher aus.

»Hey!«, protestierte Hana.

»Hier gibt es eine Menge anzupacken.« Mit einer ausholenden Geste umschrieb Mika die Kuchen-Monster-Sammelsituation im Raum. »Außerdem habe ich keine Zeit dafür. Ich muss dir etwas erzählen.«

Sofort setzte Hana sich auf und stellte den Kuchenteller zur Seite. »Ich bin gespannt.« An ihrem bauchfreien Roller-Derby-T-Shirt klebte ein Stück Glasur.

»Penny hat mich angerufen.«

»Ha!« Hana stieß ein bellendes Lachen aus, verstummte aber, als sie Mikas Gesicht sah. »Heilige Scheiße, das war ernst gemeint.«

Mika konnte nur nicken. Ihr Magen machte Purzelbäume, wenn sie daran dachte. Sie duftet voll nach Baby, hatte Hana gesäuselt, als sie damals im Krankenhaus die kleine Penny im Arm hielt, und hatte ihre Wange an der des Kindes gerieben.

Nun ließ sich Hana in die Polster fallen. »Wow. Das ist heftig.«

»Was du nicht sagst.« Mika wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Moment piepte ihr Handy. Eine neue Nachricht. Vielleicht von Penny?

»Ist sie das?« Offenbar hatte Hana denselben Gedanken gehabt, denn sie lehnte sich gespannt vor.

Mika sah auf das Display. »Nein, die ist von Charlie.« Sie las die Nachricht. »Sie überlegt, ob sie Tuan« – das war Charlies Ehemann – »ein lebensgroßes Lego-Porträt kaufen soll.«

Hana verdrehte genervt die Augen. »Vergiss sie einfach. Wie hat Penny dich gefunden?« Hana nahm ein Holzkistchen vom Couchtisch und klappte es auf. Darin befand sich ein Beutel mit Gras und Zigarettenpapier. Geschickt machte sie sich daran, sich mit ihren langen Fingern einen Joint zu drehen.

Achselzuckend berichtete Mika: »Internet. Penny hat mir erklärt, dass man so heutzutage quasi jeden aufspüren kann.« Dennoch … wie hatte Penny das geschafft? Mika hatte sich damals für eine geschlossene Adoption entschieden: Ihre Identität blieb unter Verschluss, und im Gegenzug bekam sie einmal im Jahr Informationen über die Entwicklung ihres Kindes. Alles andere wäre zu schmerzhaft gewesen. Sie hatte sich bewusst für die Brosamen entschieden, da sie wusste, dass sie sich andernfalls überfressen hätte. Vermutlich spielte es keine Rolle, ob Thomas Calvin Mikas Namen verraten hatte oder ob Penny darauf gestoßen war, weil sie in den Unterlagen ihrer Eltern herumgeschnüffelt hatte. Entscheidend war nur das Hier und Jetzt. Dass Penny sie angerufen hatte. Dass Penny Mika kennenlernen wollte.

»Das stimmt natürlich.« Hana leckte das Blättchen an und versiegelte den Joint. Wenn jemand wusste, wie leicht es war, Menschen im Netz ausfindig zu machen, dann war es Mikas Freundin. Einige Jahre zuvor hatte sie im Netz ihre ehemalige Grundschullehrerin aufgespürt – die, die ihre Hautfarbe als »halb und halb« bezeichnet hatte, wie Kaffeesahne. Hana war teils Schwarz, ein Viertel Vietnamesin und ein Viertel weiß, mit ungarischen und irischen Wurzeln. Hana hatte sie so lange getrollt, bis sie sich aus allen sozialen Medien zurückgezogen hatte.

Nun zündete Hana ihren Joint an, nahm einen Zug und reichte ihn dann an Mika weiter. »Wie ist sie denn so?«

Nachdenklich rollte Mika den Joint zwischen den Fingern und blickte zur Decke hinauf. Ein langer Riss spaltete den Putz; er setzte sich über die Wand bis zum Boden fort. Bestimmt war etwas mit dem Fundament nicht in Ordnung. »Keine Ahnung, wir haben nur kurz geredet. Sie ist jung, voller Hoffnung, positiv eingestellt.« Eine Naturgewalt. »Sie hat die Kreditkarte von ihrem Dad benutzt, um sich für eine Gratisrunde bei diesem Suchdienst einzutragen.« Mit einem schiefen Grinsen schob sich Mika den Joint zwischen die Lippen. »Und sie will das Abo wieder kündigen, bevor er draufkommt.« Sie gab den Joint an Hana zurück.

»Erinnert mich irgendwie an uns.« Grinsend nahm Hana einen Zug. »Also«, fuhr sie fort, während sie den Rauch ausstieß, »was wollte sie von dir?«

Nervös kaute Mika auf ihrer Unterlippe. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Das Bett war nicht gemacht, die Decke bis zum Fußende heruntergeschoben. Wozu sich die Mühe machen, wenn sie ein paar Stunden später sowieso wieder schlafen ging? Auf dem Boden lag ihr Lieblingsshirt, das mit dem Gudetama vorne drauf – einer Comicfigur von den Machern von Hello Kitty. Was eigentlich nur wie ein gelber Klumpen aussah, sollte in Wirklichkeit ein faules Ei darstellen. Faul wie träge. »Sie will mich kennenlernen.« Langsam nahm ihr Gehirn wieder Fahrt auf und katalogisierte nun eifrig ihr Umfeld, ihr Leben, sie selbst. Was Mika sofort bereute.

Was konnte sie Penny schon bieten? Was hatte sie vorzuweisen? Ihr Liebesleben war am Boden. Ein paar Freunde hatte sie gehabt, aber nur eine ernsthafte Beziehung, die mit Leif. Und die hatte unrühmlich geendet. Beim Thema Arbeit sah es ähnlich dürftig aus. Eine Reihe unbefriedigender Jobs, alles Lückenfüller. Mika hatte sich selbst als Stein gesehen, der über einen trüben Teich hüpft. Zeit vergeht ohne Konsequenzen, ohne einen Gedanken, ohne Veränderung, einfach immer weiter und weiter weg vom Ufer. Aber der Stein erreicht niemals die andere Seite des Teiches. Irgendwann geht er unter. Wann bin ich untergegangen?, fragte sie sich. Plötzlich rutschte ihr das Herz in die Hose. »Ich habe ihr gesagt, dass wir gerne noch mal reden können, aber jetzt … ich weiß nicht.« Nicht gut genug – so fühlte sie sich wieder, genau wie damals im Krankenhaus.

»Erklär’s mir.« Hana drückte den Joint aus.

Mühsam riss sich Mika vom Anblick des Hauses los und starrte in ihren Schoß. Welche Risiken brachte es mit sich, wenn sie mit Penny in Verbindung blieb? »Vielleicht kann sie mich nicht ausstehen. Oder ich sie nicht«, überlegte sie laut. Obwohl sie es für ausgeschlossen hielt, dass sie Penny einmal nicht lieben könnte. Würde Penny jemanden umbringen, käme Mika mit einer Schaufel und würde ihr dabei helfen, die Leiche zu vergraben. Penny hätte bei ihr immer einen Stein im Brett. Glaube ihr. »Bestimmt hat sie eine Menge Fragen. Sie scheint … hartnäckig zu sein. Vielleicht will sie etwas über ihren biologischen Vater erfahren. Und sie wünscht sich, sie hätte einen japanischen Namen.«

Hana atmete einmal tief durch, dann rutschte sie zum Ende der Couch, um näher bei Mika zu sein. »Natürlich ist sie neugierig. Wir wollen doch alle wissen, woher wir kommen. Aber diese spezielle Information kann sie nun einmal erst bekommen, wenn du so weit bist.«

Mika hatte ein rechtsverbindliches Formular unterzeichnet, in dem sie versicherte, nichts über den biologischen Vater ihres Kindes zu wissen – nichts über sein Alter, seinen Aufenthaltsort oder das Muttermal auf seiner Brust, das die Form des Bundesstaates Maine hatte. »Und wenn sie wütend auf mich ist?«, fragte sie leise.

Wieder holte Hana tief Luft. »Darf ich dir einen ungebetenen Ratschlag geben?«

»Du hast dich noch nie davon abhalten lassen.«

»Als Nicole mich damals betrogen hat, hat Charlie sich mit mir hingesetzt und gesagt: ›Es erfordert Stärke zu gehen, und es erfordert Stärke zu bleiben.‹« Sie schnippte ein Ascheflöckchen von ihrem Knie. »Das hatte sie bestimmt von einem dieser Selbsthilfe-Gurus.«

Mika runzelte die Stirn. »Keine Ahnung, was du meinst.«

»Ich meine damit, dass es eine Menge Stärke gebraucht hätte, Penny zu behalten, dass es aber ebenso viel Stärke brauchte, sie aufzugeben. Und wenn Penny so clever ist, wie es den Anschein hat, wird sie sich nicht dafür interessieren, was du getan hast. Dann interessiert sie sich nur dafür, wer du bist.«

»Und wer bin ich?« Mikas Frage klang wie eine Herausforderung angesichts ihres wenig beeindruckenden Lebens. Arbeitslos aus Leidenschaft. Gras-Raucherin. Biologische Mutter.

Hana hob die Finger und zählte ab: »Erstens: Du bist loyal. Zweitens: Du bist mitfühlend. Drittens: Du hast ein großes Herz. Viertens: Du bist eine fantastische Künstlerin, die alles Mögliche über Kunst weiß, vor allem so uninteressanten Kram wie in welchen Höhlen Malereien von Höhlenmenschen-Pimmeln zu sehen sind. Fünftens –«

»Das reicht.« Mika hob abwehrend die Hände. »Ich bin emotional nicht wirklich auf so etwas vorbereitet.« Hana wusste, wie schlimm es werden konnte. Jedes Jahr kam irgendwann um die Zeit von Pennys Geburtstag ein Päckchen. Dann las Mika den Brief von Caroline oder Thomas, starrte auf die Fotos von Penny mit ihrer glücklichen Familie, strich mit dem Daumen über ihre Wachsmalbilder, um anschließend alles um sich herum auszubreiten wie eine erstickende Umarmung. An diesen Tagen verließ Mika ihr Bett nicht. Und Hana blieb bei ihr. Sie kroch zu ihr unter die Decke, schloss sie wortlos in ihre Arme, schuf einen Kokon der Trauer. Sie weinten zusammen – Mika um Penny, Hana um Mika.

»Kann man sich überhaupt auf so etwas vorbereiten? Das ist doch der Sinn und Zweck von Gefühlen. Je weniger man sich auf sie einstellen kann, desto intensiver sind sie. Das ist das Schöne daran.«

»Das ist einfach nur dämlich.« Mika ließ ihren Kopf an die Rückenlehne des Sessels fallen. Die Situation überforderte sie in jeder Hinsicht. Aber Hana war bei ihr. Hana war immer bei ihr gewesen. »Hab dich lieb, Schönheit«, sagte sie zu ihrer besten Freundin. Diese vier Worte waren zu ihrem Mantra geworden, seit sie sich auf ihrer »alternativen« Highschool das erste Mal begegnet waren. Es war die Art von Schule gewesen, auf die Kinder geschickt wurden, von denen man kaum etwas erwartete. Ein Blick hatte genügt, und Mika hatte in Hana eine verwandte Seele entdeckt. Sie waren beide die krummen Äste an ihren Familienstammbäumen.

»Hab dich auch lieb, Schönheit.«

Mika tastete nach ihrem Handy. Bevor sie sich verabschiedet hatten, hatte Penny ihr noch ihre Nummer gegeben. Nun schickte Mika eine Nachricht an diese Nummer. Freue mich schon auf unseren Videochat. Wann würde es dir passen?

So, geschafft. Sie legte das Telefon weg. Trommelte mit den Fingerspitzen auf ihrem Bein herum. Es wird gut werden. Wieder holte sie eine Erinnerung an damals ein: der Moment, als sie die kleine Penny zum allerersten Mal gesehen hatte, in den Arm der Ärztin geschmiegt. Ja, es würde gut werden. Wie konnte es auch anders sein? Penny und Mika, das war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Kapitel Drei

Eine Woche später ging Mika zum Gottesdienst. Mit ihren Eltern. Eingequetscht in der Kirchenbank, warf Mika einen verstohlenen Blick zu ihrer Mutter hinüber. Hiromi Suzuki blickte starr nach vorne. Ihre dunklen Augen fixierten die Kanzel. Klein und schmal war sie, mit zarten Gesichtszügen und einem Mund, der sich häufiger abfällig verzog, als dass er lächelte. Zu Hause hatte sie einen ganzen Schrank voller Trainingsanzüge, alle aus Velourssamt. Heute trug sie einen auberginefarbenen. Er passte zu ihrem dauergewellten, halblangen dunklen Haar, das in Locken ihren Kopf umkränzte, wie bei der Königin von England. Neben Hiromi saß Mikas Vater Shige und döste.

Die Predigt zog sich, es ging um Freundschaft oder so etwas. Mika holte ihr Telefon hervor und öffnete ihr Instagram-Profil. Es enthielt genau fünf Bilder: ihre Zehen im Sand, entstanden in Puerto Rico, kurz bevor das mit Leif in die Brüche gegangen war. Noch ein Foto von dieser Reise, diesmal Leif und sie, zurechtgemacht für den Abend. Hanas Garten kurz nach Mikas Einzug – sie hatten überall Lichterketten aufgehängt und sich mit dem guten Tequila Margaritas gemixt. Ein Foto von ihr als Brautjungfer auf Charlies Hochzeit und ein Foto von einem Rote-Beete-Salat mit Ziegenkäse. Das war alles. Penny hatte sie alle gelikt. Sie hatten sich für ein Gespräch am nächsten Tag verabredet, zu ihrem allerersten Skype-Meeting. Jetzt verließ Mika ihr Profil und tippte auf die Lupe – die Suchfunktion.

Sofort erschienen unzählige Posts auf ihrem Display, algorithmusgenerierte Inhalte, basierend auf ihren bisherigen Klicks und Suchanfragen. Viele von ihnen zeigten Frauen mit symmetrischen Gesichtern, die perfekt zu ihren beigebraunen Häusern passten. In einer Werbeanzeige wurde sie aufgefordert, den landesweiten Feiertag zu begehen, indem sie Gedenktoilettenpapier kaufte. Und dann war da diese eine Berühmtheit, die Hiromi vergötterte, weil sie keine Nanny hatte. Äußerst beeindruckend.

Mika tippte das Wort Adoption in die Suchzeile. Das Display füllte sich wieder, vor allem mit Beiträgen von Adoptivmüttern. Endlich ist er bei uns zu Hause. Mateo (wir nennen ihn Matty!) ist sechs Wochen alt und wurde noch nie von jemandem gehalten. Um das aufzuholen, trage ich ihn so viel wie möglich in der Ring Sling mit mir herum (kein gesponserter Beitrag). Mir tut der Rücken weh und ich bin hundemüde – Mateo wacht nachts alle zwei Stunden auf. Gibt es da draußen noch mehr Mamas, die sich heute etwas überfordert fühlen? Darunter standen Kommentare wie: Du schaffst das! Du machst das super! Probier doch mal dieses Smoothie-Rezept aus, das verschafft dir einen Energiekick. Mika spürte ein Ziehen im Bauch. Keiner schrieb: Es ist okay, aufzugeben. Du kannst dir ruhig eingestehen, dass du das nicht schaffst. Dass es zu viel für dich ist. Ständig wurde betont, was Frauen alles alleine schaffen konnten. Dass sie weitermachten, auch wenn sie erschöpft waren oder arm oder sich an ihrem letzten Strohhalm festklammerten. Noch einmal sah sie sich das Bild von der Frau mit ihrem frisch adoptierten Sohn an. Sie lächelte heldenhaft. Hatten Thomas und Caroline das etwa auch so gesehen? Dass sie Penny gerettet hatten?

Eine Hand schob sich von hinten an Mikas Arm heran und kniff sie in die weiche Haut an der Rückseite des Oberarms. »Aufpassen«, zischte ihre Mutter in demselben Tonfall, den sie immer angeschlagen hatte, wenn sie Mika zu Grundschulzeiten auf ihr Zimmer geschickt hatte.

»Aua.« Mit einem finsteren Blick zu ihrer Mutter rieb sich Mika den Arm. Und hier ist es immer noch besser, als wenn ich sie zu Hause besuche.

Bei dem Gedanken an das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, wuchs die Anspannung in Mika, und ihr Körper bereitete sich auf die Flucht vor. Dabei war das Haus an sich nicht sonderlich furchteinflößend, ein Bungalow aus den 1970ern mit seinem ursprünglichen Charme: kotzgrüner Flauschteppich, gelbe Kugellampen, Holzverkleidung an den Wänden. Von außen ähnelte es allen anderen Häusern in der Nachbarschaft, architektonisch vollkommen unspektakulär – sicher kein Fall für ein Lexikon der Kunstgeschichte. Doch im Inneren fanden sich all diese typisch japanischen Dinge: Schubladen voller Sojasoßenpäckchen und Plastikbesteck, ordentlich aufgereihte Hausschuhe an der Eingangstür, eine Wäscheleine im Garten, Pistazienschalenreste an den Stellen, wo ihr Vater gerne knabberte, während er NHK oder japanisches Baseball im Fernsehen schaute. Die Hanshin Tigers waren sein Lieblingsteam.

Trotz des Durcheinanders, trotz des Geruchs nach Weihrauch, trotz der altmodischen Einrichtung war dieses Haus durchdrungen von dem Streben nach Perfektion. Es steckte in dem verstaubten Kimono, den Mika nie wieder getragen hatte, nachdem sie traditionelles Tanzen aufgegeben hatte. Und in den leeren Bilderrahmen, in denen eigentlich Mikas Eliteuniversitätsdiplom und ihre Hochzeitsfotos stecken sollten. In den Töpfen und Pfannen, mit denen Mika nie das Kochen erlernt hatte.

Ungefähr im fünften Monat hatte man Mika angesehen, dass sie schwanger war. Nun hatte sie es nicht länger verstecken können, wollte es auch nicht. Sie putzte gerade mit Hiromi die limettengrüne Küche, als sie ihr ohne Vorwarnung die Wahrheit gestand. »Ich bin schwanger.« Mikas Vater saß nebenan vor dem Fernseher. Die Türen im Flur waren alle ordentlich geschlossen – hier bekam man nur das zu sehen, was Hiromi einem gestattete. Ihre Mutter, die gerade die Arbeitsflächen abwischte, hielt inne. Einen Augenblick lang verharrte sie vollkommen reglos. Offenbar war sie nicht in der Lage, diese neue Realität zu verarbeiten. »Hast du gehört? Ich sagte, ich bin schwanger.« Tief in Mikas Bauch regte sich Penny, es fühlte sich an wie ein sanfter Flügelschlag. Erste Kindsbewegungen, hatte man ihr in der öffentlichen Klinik auf dem Campus erklärt.

Hiromi blinzelte, dann richtete sie sich auf. »Wer ist der Vater?«, fragte sie kühl.

Im Haus roch es nach Sukiyaki – Rindfleisch, gekocht in Mirin, Sojasoße und Zucker. Diesen traditionellen Eintopf aßen sie immer, wenn es draußen kälter wurde. Für den Abend waren erste Schneefälle vorausgesagt. »Es ist ein Mädchen«, sagte Mika nur.

Hiromi wrang ihren Schwamm über der Spüle aus. »Mädchen sind schwierig.« Du bist schwierig, meinte sie damit. Im Fernsehen lachte jemand.

»Ich werde sie zur Adoption freigeben.« Ganz spontan kam das aus ihr heraus. Mika hatte sich bis dahin noch nicht entschieden. Sie war noch dabei, die Schwangerschaft zu verarbeiten, schwankte zwischen Unglauben und nackter Angst. Welche Reaktion hatte sie von ihrer Mutter erwartet? Zu spät wurde ihr klar, was sie mit dem Satz eigentlich bewirken wollte: dass Hiromi ihr sagte, sie solle das Kind behalten. Dass sie ihr helfen werde, diesen kleinen Zellhaufen großzuziehen. Aber Mika hätte es besser wissen müssen. Unterstützung durch Hiromi hatte immer einen hohen Preis, und Mika hatte nie herausgefunden, wie sie dafür aufkommen sollte. Und doch konnte sie nicht anders, immer wieder musste sie vor ihre Mutter treten, ihr ihre kaputten Sehnsüchte auf einem Silbertablett darreichen, in der Hoffnung auf mehr, auf etwas Besseres, auf eine Wandlung ihrer Mutter. Damit sie Mika heilen konnte. Das Wort Adoption war eigentlich als Herausforderung gedacht gewesen.

Hiromi drehte den Wasserhahn auf, um die letzten Essensreste aus dem Becken zu spülen. Das Wasser war so heiß, dass es ihre Haut rötete, und der aufsteigende Dampf befeuchtete ihre Kehle, als sie erwiderte: »Das ist vermutlich das Beste. Was weißt du schon darüber, wie man ein Kind großzieht?« Wieder ein Gebiet, auf dem sie ihre Mutter enttäuscht hatte. Hiromi hatte versucht, Mika beizubringen, wie man eine gute Hausfrau wurde, wie man kochte, eine gute Gastgeberin und Hauswirtschafterin war. Alles, um sie auf die Zeit vorzubereiten, wenn sie selbst einen Partner und ein Kind haben würde. Aber Hiromi hatte Mika nie etwas über Verhütung beigebracht, über Sex, über Liebe. Sie hatte ihr nie gesagt, was zu tun war, wenn man plötzlich schwanger wurde. Denn dieses Szenario war nicht erwünscht. Und man sprach nicht über Dinge, die nicht geschehen sollten.

Einen Moment lang stand Mika wie betäubt mitten in der Küche. Die Enttäuschung steckte wie ein pappiger Reisklumpen in ihrem Hals. »Das ist alles? Mehr hast du mir nicht zu sagen?«

Hiromis stechender Blick richtete sich auf Mika, huschte kurz zu ihrem Bauch hinunter. Genauso hatte sie Mika angesehen, als sie zu Highschool-Zeiten einmal mit Klamotten aus dem Secondhandladen nach Hause gekommen war. Mit dem, was damals angesagt war: zerrissene Jeans, Flanellhemd, bauchfreies Top. Was sollen die Damen in der Kirche denken?, hatte Hiromi mit Blick auf die nackte Körpermitte ihrer Tochter gefragt.

»Was soll ich denn sonst noch sagen? Ich werde es deinem Vater mitteilen.« Es. Mehr war Penny für Hiromi nicht, nur ein Es. Sie wandte sich von ihrer Tochter ab und ballte kurz die Fäuste. »Soll ich dir die Reste einpacken, damit du sie mit ins Wohnheim nehmen kannst?«

Schützend legte Mika eine Hand an ihren Bauch. »Nein. Nein, danke.«

Das nächste Mal sah sie ihre Eltern nach Pennys Geburt, nachdem sie Teile ihres ersten und zweiten Studienjahrs geschmissen hatte. Es wurde zu einem der Dinge, über die nicht gesprochen wurde, verborgen hinter einer der fest verschlossenen Türen in Hiromis Heim.

Mika lehnte sich in der Kirchenbank zurück. Draußen vor den Buntglasfenstern wehten eine Regenbogenflagge und das Symbol der Black Lives Matter-Bewegung im Wind. Hiromi und Shige tolerierten die progressive Haltung ihrer Kirche und kamen jeden Sonntag zum Gottesdienst. Dabei war Mika sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt an den Gott der Christen glaubten. In ihrem Haus standen überall Buddhastatuetten und Butsudan herum, kleine Altäre und Schreine. Hauptsächlich kamen sie wohl her, um ocha zu trinken und sich mit den anderen Gläubigen zu treffen, die zu neunundneunzig Prozent japanischer Herkunft waren. Und um potenzielle Partner für Mika auszuspähen.

»Wir suchen noch jemanden, der sich um unsere Social-Media-Kanäle kümmert«, verkündete Pastorin Barbara nun von der Kanzel aus. »Damit die aktuellen Neuigkeiten eingepflegt werden.« Pastorin Barbara war eine kräftige Frau mit sanfter Stimme; eine Weiße, die aber fließend Japanisch sprach. Sie hielt gerne beide Hände ihres Gegenübers, wenn sie mit einem sprach. Hinter ihr an der Wand hing ein speziell angefertigter Jesus mit asiatischen Gesichtszügen. Der Künstler verwendete nur Klaubholz und Plastik, das von den schwimmenden Müllbergen im Pazifischen Ozean stammte und nicht auf dem Gebiet der indigenen Bevölkerung gesammelt wurde.

Eigentlich wäre Mikas Mutter diejenige, die man wegen ihres nachhaltigen Lebensstils würdigen sollte. Diese Frau benutzte seit zwanzig Jahren ein und denselben ausgewaschenen Schmand-Becher als Frischebox für Lebensmittel. Außerdem war sie ein echter Profi in der Wiederverwertung von Geschenkpapier. Mikas Geburtstagsgeschenk war fünf Jahre in Folge mit demselben My Little Pony-Papier verpackt worden. Hiromis Eltern hatten den Zweiten Weltkrieg in Japan überlebt und waren in einer Zeit aufgewachsen, in der frisches Obst nicht mehr gewesen war als eine verblasste Erinnerung, ihr Leben war von Krieg und Hunger geprägt worden. Deshalb hatten sie Hiromi dazu erzogen, jeden Fetzen Papier aufzubewahren, hatten ihr beigebracht, wie man aus einfachem Gras ein Pfannengericht zubereitete oder durch Bomben geschwärzte Erde wieder fruchtbar machte.

»Außerdem brauchen wir noch Freiwillige für den Essensstand bei unserem alljährlichen Kirchenbasar«, fuhr Pastorin Barbara fort. »Aber vor allem fehlt es uns an Taiko-Spielern und Tänzerinnen für unsere Vorführung. Also, wer ein besonderes Talent hat, bekommt nun die Gelegenheit, es erstrahlen zu lassen!« Jedes Jahr im Frühling veranstaltete die Kirche einen Wohltätigkeitsbasar. Dann wurden auf dem Parkplatz Zelte errichtet, in großen Wannen wurde Teriyaki-Hühnchen eingelegt, Soba-Nudeln wurden in ausladenden Woks gebraten. Draußen gab es japanisches Streetfood, drinnen wurden auf langen Tischen handgemachte Häkeltopflappen, Kokeshi-Puppen oder Yosegi-Holzarbeiten angeboten. Am Abend gaben die Gemeindemitglieder musikalische Darbietungen und Tänze zum Besten.

Wieder zwickte ihre Mutter sie. »Das solltest du machen. Hilf beim Essen oder tanze bei der Vorführung mit.« Mit einem gezielten Ellbogenstoß beendete Hiromi Shiges Nickerchen. »Weißt du noch, wie Mika getanzt hat?« Bevor sie sich Hals über Kopf in Shige verliebt und ihn geheiratet hatte, war Mikas Mutter eine Maiko gewesen, eine angehende Geisha. Nach ihrem Umzug in die Staaten hatte sie eine Sensei ausfindig gemacht, die Mika unterrichtet hatte. Wenn Hiromi keine Maiko sein konnte, sollte Mika zumindest eine Tänzerin werden. Hiromi wollte ein Abbild von sich schaffen, Mika wollte nur ihre Freiheit.

Mikas Vater nickte benommen. »Ja, ja, natürlich.«

Stumm rutschte Mika bis an das äußerste Ende der Bank. Sie musste gar nichts sagen, der Widerwille zeichnete sich deutlich in ihren zusammengepressten Lippen ab. Mika würde erst an dem Tag wieder tanzen, an dem Hiromi eine Mikrowelle benutzte – also niemals.

»All die Unterrichtsstunden, welch eine Verschwendung.« Missbilligend schnalzte Hiromi mit der Zunge.

Schule, Haushaltspflichten, Tanzunterricht. Früher einmal war Mikas Leben ein kleines Streichholzmodell in der Hand ihrer Mutter gewesen.

Nach dem Ende des Gottesdienstes ging Mika zu dem Tisch mit den Erfrischungen. Dort lud sie sich Dorayaki, winzige Chiffon-Küchlein und Matcha-Kuchen auf ihren Teller, während sie gleichzeitig eine Teetasse in der Hand balancierte. Zwischen ihren Schläfen hatte sich ein dumpfes Pochen eingenistet. Offiziell war es eine Migräne, keinesfalls ein Kater von dem Tetrapakwein am Vorabend.

Mika stopfte sich etwas von dem Süßkartoffelkuchen in den Mund. »Und, was hast du in letzter Zeit so gemacht, Dad?«

Shige drehte sich zu ihr um. »Ich habe eine Dokumentation über das Postwesen der Vereinigten Staaten gesehen.«

»Ach, wirklich?« Mika heuchelte Interesse. Ihre Mom ließ derweil den Blick durch den Raum schweifen, grüßte mit einem knappen Nicken eine Freundin, nur um sich dann abzuwenden; offenbar hielt sie nach jemandem Ausschau.

Ihr Vater nippte an seinem Tee, serviert von Mikas Mutter. Nun keine Maiko mehr, war Hiromi eine sengyō shufu, eine professionelle Hausfrau. Das war ihr ikigai, ihr Lebensinhalt – zu unterhalten und zu versorgen. Mika konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater jemals eine Mahlzeit oder auch nur einen Snack selbst zubereitet hätte. »Hast du gewusst, dass man sogar Vögel per Post verschicken kann?« Shiges Lächeln war entwaffnend liebenswert. Während ihrer Kindheit war er stets freundlich zu Mika gewesen, hatte sich aber aus ihrer Erziehung vollkommen herausgehalten. Mika konnte das verstehen. Hiromi Suzuki war eine Macht, mit der Shige sich nicht anlegen wollte. Unglücklicherweise hatte Mika so immer allein den Gewitterstürmen ihrer Mutter trotzen müssen. Wenn sie in ihrem Ford Taurus Kombi durch die Gegend gefahren waren, hatte Mika oft die Scheibe angehaucht und »Hilfe, ich wurde entführt« auf das Fenster geschrieben, in der Hoffnung, dass sie jemand anhalten würde.

Aufgeheitert durch seine gute Laune, erwiderte Mika das Lächeln des Vaters. Ihre Mutter war gerade abgelenkt, da Mrs. Ito mit den Fotos ihrer Japanreise prahlte. Hiromi und Mrs. Ito waren die besten Freundinnen und bis aufs Blut verfeindet. Sie hatten das Muttersein zu einem sportlichen Wettkampf gemacht. Nein, eher zu einem Krieg. Ihre bevorzugte Waffe war die Verurteilung von allem und jedem. Jedenfalls war der Moment günstig, die Aufmerksamkeit ihres Vaters war ihr sicher, während die ihrer Mutter auf andere Dinge gerichtet war. »Otōsan …«, begann Mika, »ich habe kürzlich einen kleinen Rückschlag erlitten.«

Shiges Gesicht legte sich in tiefe Falten. »Nicht schon wieder.«

Mika war noch nie der sparsame Typ gewesen. Sie lebte impulsiv, immer von Scheck zu Scheck, frei nach dem Motto »am Ende kann man nichts mitnehmen«. So zerrann ihr das Geld zwischen den Fingern. In wenigen Tagen würde ihre Lage wirklich bedenklich werden: Die Miete war fällig, ebenso die Nebenkosten. Plan A (so schnell wie möglich einen neuen Job finden) hatte nicht funktioniert. Plan B (aufhören zu essen) war nach vier Stunden gescheitert. Deshalb wurde es nun Zeit für Plan C – ihre Eltern um Geld bitten. Was ihr ziemlich zuwider war. Nervös befeuchtete Mika ihre Lippen und machte tapfer weiter: »Ich schreibe ja schon wie eine Irre Bewerbungen. Bestimmt habe ich schon bald etwas Neues. Ich brauche nur ein wenig Unterstützung, um für den Rest des Monats über die Runden zu kommen. Es tut mir leid.« Eine Universalentschuldigung, gültig für all ihre Defizite ebenso wie für die Tatsache, dass sie an einem öffentlichen Ort um Geld bat. Aber einen Besuch bei den Eltern zu Hause konnte sie einfach nicht ertragen.

»Was ist hier los?« Hiromi war mit Mrs. Ito fertig und fegte herbei.

Es dauerte einen Moment, bis Mikas Vater antwortete. Zunächst sah er sich verstohlen um, um sicherzugehen, dass ihnen niemand zuhörte. »Mi-chan hat mich um Geld gebeten«, sagte er dann fast unhörbar leise.

Hiromis Miene wurde eisig. Mika kannte diesen Ausdruck; alles lag in den Augen. Gut getarnte Enttäuschung, die Mika jedes Mal an die Nieren ging. Aber auch Furcht. Wer ist diese Kind-Frau, die ich großgezogen habe? So unwissend. Ohne eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit. Wie kann sie da eine Zukunft haben? Ich habe so vieles zu bereuen. Beschämt und gedemütigt starrte Mika auf ihren Teller.

»Wie viel brauchst du?«, fragte Shige.

Nervös rieb Mika mit dem Daumen über den Tellerrand. »Ein paar Tausend. Ich zahle es euch auch zurück.«

Hiromi winkte ab. »Ja, natürlich. Das sagst du jedes Mal.«

Mika schwieg. Sie hatte sich geschworen, ihre Eltern nie wieder um Geld zu bitten. Wie oft hatte sie sich dieses Versprechen nun schon gegeben und es dann gebrochen?

Nun hatte Hiromi jemanden entdeckt. »Stell deinen Teller weg«, befahl sie mit einem finsteren Blick auf den Süßigkeitenberg auf Mikas Teller. Mrs. Ito merkte häufig an, dass Mika über einen gesunden Appetit verfüge. »Dort drüben ist unser neues Gemeindemitglied.« Sie musterte Mikas Outfit – Hose und eine Bluse, an der ein Knopf fehlte. Die letzten sauberen Sachen, die sie noch im Schrank gehabt hatte. »So etwas ziehst du an?«

Mika runzelte die Stirn. »Ich möchte keine neue Bekanntschaft machen.« Nachdem die Sache mit Leif in die Brüche gegangen war, hatte Hiromi sie gefragt: Wie willst du überleben? »Und was das Darlehen angeht …«

»Still«, fuhr Hiromi ihr über den Mund. »Sonst merken die Leute, dass wir uneins sind. Du wirst jetzt diesen Menschen kennenlernen«, forderte sie mit einem Funkeln in den Augen, »und danach wird dein Vater dir einen Scheck ausstellen.« Mika hatte sich schon gefragt, was der Haken an der Sache sein würde.

Ein Date mit einem Mann, den ihre Mutter für geeignet hielt, war ungefähr so reizvoll wie eine Ganzkörperleibesvisitation. »Kaasan …«

»Hör auf deine Mutter. Zeig uns, dass du bereit bist, dich zu ändern«, forderte ihr Vater. Wenn er sich für eine Seite entscheiden musste, wählte Shige stets die seiner Ehefrau. »Du musst dein Leben ernster nehmen, und das schließt die Partnersuche mit ein.«

Mika schluckte schwer, dann stellte sie ihren Teller zur Seite. »Also schön.«

Mit dem Grinsen einer zufriedenen Katze schob Hiromi ihre Tochter auf das neue Gemeindemitglied zu, das sich gerade mit der Pastorin unterhielt. »Mika-san.« Pastorin Barbara ergriff Mikas Hände und schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich wollte Mika mit unserem neuen Mitglied bekanntmachen«, verkündete Hiromi süßlich. Dabei drückte sie Mikas Arm, als wäre die gerade ihrem größten Glück begegnet.

»Oh, natürlich!« Sofort ließ die Pastorin Mikas Hände los. »Das ist Hayato Nakaya. Er wurde kürzlich von Nike Japan in unser hübsches Städtchen versetzt.«

Hayato verbeugte sich. »Wie geht es Ihnen?« Er war schlank und ein ganzes Stück größer als Mika, was allerdings nicht viel hieß. An einem guten Tag kam sie gerade mal auf eins achtundfünfzig. Aber sein Lächeln war ganz nett.

»Frau Pastorin, ich muss dringend mit Ihnen über den Basar sprechen«, fuhr Hiromi ernst fort. »Esther Watanabe möchte, dass wir wieder ihr Tempurarezept verwenden. Doch ich habe mich gefragt, ob wir sie nicht vielleicht umstimmen könnten.«

»Aber sicher doch.« Pastorin Barbara nickte, und die beiden gingen davon, sodass Mika allein mit Hayato zurückblieb.

»Nun, das ist ja mal ziemlich peinlich«, stellte er in akzentfreiem Englisch fest.

»Sind Sie in Japan aufgewachsen?«, erkundigte sich Mika höflich.

»Nein, in Kalifornien. Los Angeles.« Er wippte auf den Fußsohlen vor und zurück. »Meine Mutter ist japanische Amerikanerin der ersten Generation. Und Sie?«

»Ich wurde in Daito geboren, in der Nähe von Osaka.« Dieses erste Zuhause in Japan hatte sie nur noch bruchstückhaft in Erinnerung. Das tiefgezogene Dach mit geschwungenen Ziegeln. Die Eingangsterrasse mit Plastik-Sichtschutz. Der schlammige Garten, der an eine Süßkartoffelplantage grenzte. Und die Tansu-Kommode, die von den Vorbesitzern geblieben war. Ihre Mutter hatte das Ding geliebt, doch ein Transport in die Staaten war zu teuer gewesen. »Wir sind umgezogen, als ich sechs war.«

Mika konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem sie in Amerika angekommen waren. Ihre kleine Familie, zerknittert und gereizt nach einem Fünfzehnstundenflug. Welcher Tag war heute? Welche Uhrzeit? In dem fensterlosen Flur der Zollabfertigung ließ sich das unmöglich sagen. Ventilatoren wälzten die Luft um, die vom Atem der Reisenden verbraucht war. Ein Mann in blauer Uniform, der hinter einer Plexiglasscheibe saß, prüfte ihre Pässe, während Shige ihm von der Arbeitsstelle berichtete, die er bald antreten würde, und dass die Firma sich nicht nur um sein Arbeitsvisum, sondern auch um eine Wohnung für sie gekümmert hatte. Hiromi starrte den Beamten reglos an, als blickte sie in die Mündung einer Pistole. Und Mika stahl sich davon. Sie konnte sich an ihre Schritte erinnern. Eins, zwei, drei. Sie lief mit Bedacht, wie auf einem Hochseil. Dann erreichte sie eine Wand und blickte hoch.

Dort hing ein Porträt von Louis Armstrong, in Öl gemalt.

Es war, als hätte sich ein Tor zum Himmel geöffnet, als erblickte sie eine andere Welt. Sie weiß noch, dass sie schlucken musste, um die Tränen zurückzuhalten. Dass etwas in ihr erwachte. Ein Wunder, hatte Mika gedacht, als ihre Augen die kräftigen Pinselstriche nachfuhren. Es ist ein Wunder. An jenem Tag brach ihre Welt zusammen und setzte sich neu zusammen. Straßen waren nun Linien, die es zu zeichnen galt. Bäume waren Farbkleckse, die gefüllt werden mussten. Die Sonne war Licht, das sich unterschiedlich einsetzen ließ. Endlose Möglichkeiten. Genau wie ihre Liebe zu Penny war Mikas Liebe zur Malerei instinktiv, vorsprachlich. Mika hörte auf, als Mensch zu existieren, sie wurde zu einem Pinselstrich, einer Farbflasche, einer leeren Leinwand.