Milena und die Briefe der Liebe - Stephanie Schuster - E-Book
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Milena und die Briefe der Liebe E-Book

Stephanie Schuster

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Beschreibung

Was nützt die Liebe in Gedanken? Prag, 1916: Die junge Milena ist selbstbewusst und abenteuerlustig. Am liebsten verbringt sie ihre Tage in Kaffeehäusern, den Treffpunkten der Bohème. Dort begegnet sie dem geheimnisvollen Schriftsteller Franz Kafka. Sofort ist klar, dass die beiden mehr verbindet als nur die Literatur. Da verbannt sie ihr Vater aus ihrer Heimat. Sie heiratet den Literaturkritiker Ernst Pollak und lebt mit ihm in Wien, doch die Ehe scheitert und Milena verarmt. In ihrer Not schreibt sie Franz Kafka, schlägt ihm vor, seine Texte ins Tschechische zu übersetzen. Schon bald entspinnt sich eine Liebe, die ihresgleichen sucht … Die Geschichte einer emanzipierten Frau und Journalistin, die allen Widrigkeiten ihrer Zeit trotzte. Von der Autorin des Bestsellers „Die Wunderfrauen“

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Über das Buch

Was nützt die Liebe in Gedanken?

Prag, 1916: Die junge Milena ist selbstbewusst und abenteuerlustig. Am liebsten verbringt sie ihre Tage in Kaffeehäusern, den Treffpunkten der Bohème. Dort begegnet sie dem geheimnisvollen Schriftsteller Franz Kafka. Sofort ist klar, dass die beiden mehr verbindet als nur die Literatur. Da verbannt sie ihr Vater aus ihrer Heimat. Sie heiratet den Literaturkritiker Ernst Pollak und lebt mit ihm in Wien, doch die Ehe scheitert und Milena verarmt. In ihrer Not schreibt sie Franz Kafka, schlägt ihm vor, seine Texte ins Tschechische zu übersetzen. Schon bald entspinnt sich eine Liebe, die ihresgleichen sucht …

Die Geschichte einer emanzipierten Frau und Journalistin, die allen Widrigkeiten ihrer Zeit trotzte.

Von der Autorin des Bestsellers »Die Wunderfrauen«

Über Stephanie Schuster

Stephanie Schuster, geboren 1967, studierte Grafikdesign und illustrierte viele Jahre die Bücher anderer Autoren, bevor sie selbst zu schreiben begann. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin, Malerin und Illustratorin. Sie lebt mit ihrer Familie am Starnberger See in Bayern.

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Stephanie Schuster

Milena und die Briefe der Liebe

Kafka ist ihr Leben, das Schreiben ihre Leidenschaft

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Zweiter Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Dritter Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Nachwort

Danksagung

Literaturhinweise

Impressum

Für Thomas, mein geliebtes Meer

»… und ich liebe Dich also, Du Begriffsstutzige, so wie das Meer einen winzigen Kieselstein auf seinem Grunde lieb hat, genauso überschwemmt Dich mein Liebhaben.«

FRANZ KAFKA AN MILENA JESENSKÁ

Prolog

Wien, 1920

Milenas Herz klopfte im Takt ihrer Schritte. Sie rannte, musste sich beeilen. Endlich war es so weit, das Warten hatte ein Ende. Gleich würde sie die lang ersehnte Antwort erhalten und erfahren, ob Franz Kafka, mit dem sie sich seit einiger Zeit die innigsten Briefe schrieb, sie auch in der Wirklichkeit kennenlernen wollte. Seit fünf Monaten umgarnten sie sich, liebkosten sich auf dem Papier. Anfangs schrieben sie sich rein geschäftlich, in sachlichem Ton und warteten noch die Antwort des anderen ab. Doch dann, als Milena auf einen seiner Briefe nicht gleich reagierte, drängte er sie. Entweder sollte sie Stillschweigen oder ein paar Zeilen schicken. Aus einer Laune heraus fing sie an, mehr von sich zu erzählen, so wie es ihr gerade in den Sinn kam, und das gefiel ihm offenbar. Auch er schrieb, was ihn beschäftigte. Dann begann das Gespenstern, wie er es nannte. Kaum war der eine Brief unterwegs, folgte schon der nächste hinterher, als wäre längst noch nicht alles gesagt, als könnte man nicht weiteratmen, ohne dies oder jenes zu ergänzen und es dem Gegenüber mitzuteilen. Das öffnete weitere Türen in Milenas Gedächtnis und drang bis in ihr Innerstes vor. Bald schrieben sie sich schneller, als sie mit dem Lesen hinterherkamen, vertrauten sich Geheimnisse an, die keiner von beiden je laut aussprechen würde. Vieles davon formte sich erst bei der Niederschrift zu Gedanken. Obwohl er in seinen Antworten ihr Leben sezierte, als wäre er ein Gerichtsarzt, sprach auch Fürsorge aus seinen Zeilen, sogar echte Anteilnahme. Milena war es nicht gewohnt, dass jemand sich um sie scherte. Bisher, in den dreiundzwanzig Jahren ihres Lebens, hatte sie alles mit sich selbst ausmachen müssen. Aber auf einmal gab es jemanden, der ihr auf diese besondere Weise half, den harten Alltag zu bestehen und das, was sie Schlimmes erlebt hatte, zu verarbeiten. Und auch wenn sie sich erst einmal vor ihrer Korrespondenz flüchtig begegnet waren, so fühlte es sich jetzt so an, als wäre er bereits immer an ihrer Seite gewesen. Was war er für ein Mensch, der solch eine Unruhe in ihr stiftete? Hatte sie sich wirklich in ihn verliebt? Allein durch die Briefe würde sie das nie herausfinden. Sie wollte ihm endlich ins Gesicht sehen, ihm gegenüberstehen, seine Stimme hören und ihn berühren. Außerdem war sie neugierig, ob er das auch verkörperte, was er versprach. Vertrauen, Trost und Hoffnung auf ein besseres, vielleicht gemeinsames Leben. Darum hatte sie ihn zum wiederholten Male um ein Treffen gebeten und hoffte heute auf die Antwort.

Sie nahm eine Abkürzung durch einen Hinterhof, kletterte über eine halb abgebrochene Mauer und unter einem Teppich durch, der auf einer Stange hing. Hielt kurz inne, um zu husten, hoffte, dass es nur der Staub sei und keine Verschlimmerung ihrer Bronchitis, die, seit sie in Wien lebte, in ihr steckte. Sie wartete einen Augenblick, bis sie wieder zu Atem kam. Dabei sah sie sich fortwährend um, ob ihr jemand folgte. Dass ihr einer aus ihrem Bezirk, der sie kannte, zufällig über den Weg lief, ließ sich nicht vermeiden, schlimmer wäre es, wenn jemandem aufgefallen war, dass sie täglich diese Strecke nahm. Da vorn, das war doch ihr Nachbar? Der Schuhmacher Hirsch, der seine Werkstatt im Keller des Eckhauses hatte und durch eine schmale Kellerluke nur einen Streifen oberhalb des Straßenpflasters sehen konnte. Damit flanierte tagtäglich bei seiner Arbeit mögliche Kundschaft an ihm vorbei. Milena schuldete ihm noch das Geld für das letzte Besohlen ihres einzigen Paares, die Schnürstiefel, die sie das ganze Jahr trug. Er war so nett gewesen und hatte das Aufdoppeln sofort erledigt, sonst hätte sie solange barfuß laufen müssen wie die Gassenjungen.

Herr Hirsch trat nun aus der Bäckerei und ging direkt auf sie zu. Geschwind stellte sie sich in einen offenen Hausflur und wartete, bis er vorüber war.

»Wen suchen’s denn, Fräulein?« Eine Frau mit einem ondulierten Pudel im Arm drängte sich an ihr vorbei. Milena wollte sich durch ihren tschechischen Akzent nicht verraten, nickte ihr wie zu einem Gruß zu, schlüpfte wieder hinaus und lief weiter.

Als sie in die Bennogasse einbog, blickte sie auf die große Uhr des Postgebäudes. Nur noch eine Minute hatten die Schalter geöffnet. Sie eilte über die Straße. Ein Lastwagen bremste kurz vor ihr. Der Fahrer schimpfte mit geballter Faust. Milena wandte sich zur Seite und wich dem nächsten Fahrzeug, einem Automobil, aus. Beim Anblick des weinroten Steyrs zuckte sie zusammen. Das war doch Ginas Wagen? Schnell rannte sie auf die andere Straßenseite. Hoffentlich hatte sie sie nicht bemerkt. Und wenn doch? Erst dann fiel ihr auf, wie sehr sie übertrieb. Jeder hatte gelegentlich ein Telegramm aufzugeben, Briefmarken zu kaufen oder eine Überweisung zu tätigen, und manchmal sogar noch im letzten Moment. Daraus würde ihr selbst Gina keinen Strick drehen. Trotzdem wollte sie gerade nicht mit ihr zusammentreffen und in ein Gespräch verwickelt werden, was sie bloß unnötig aufhielt und am Ende noch verriet. Ausgerechnet heute. Auch wenn sie unter den Säulen vorm Posteingang nicht zur Uhr sehen konnte, so glaubte sie den großen Zeiger über sich zu spüren. Wie eine Lanze rückte er unaufhaltsam vor und stach zu. Ein lautes Surren erklang, die Mechanik der Uhr setzte ein, gefolgt von einem Bimmeln der Kirchenglocken ringsum. Es schlug zur vollen Stunde. Ein Herr trat aus der Tür, setzte seine gelupfte Melone wieder auf und nahm den Spazierstock vom Arm. Die Tür fiel ins Schloss. Milena sprang vor und wollte sie wieder aufdrücken. Es ging nicht mehr. Sie war schon verriegelt. Hinter den Glasscheiben bewegten sich die Vorhänge. Milena klopfte erst, hämmerte dann gegen die Fenster und die Tür. Man musste sie einfach noch kurz einlassen. Das kostete nichts, höchstens Sekunden. Sie brauchte die Briefe. Doch niemand erbarmte sich. Erschöpft setzte sie sich auf eine der Stufen an der Straßenecke und schlang die Arme um den Leib. Wie sollte sie es bloß bis Montagfrüh aushalten, ohne eine neue Zeile von ihm?

»Habe die Ehre, Frau Kramer.« Sie wandte sich um. Der Postbeamte, der sie von ihren täglichen Besuchen kannte, bückte sich zu ihr. »Ich hätte da was für Sie«, sagte er und überreichte ihr den heiß ersehnten Brief.

Erster Teil

Prag, 1916 - 1917

»Es fällt mir ein, daß ich mich an Ihr Gesicht eigentlich in keiner bestimmten Einzelheit erinnern kann. Nur wie Sie dann zwischen den Kaffeehaustischen weggiengen, Ihre Gestalt, Ihr Kleid, das sehe ich noch.«

FRANZ KAFKA AN MILENA JESENSKÁ

1. Kapitel

ENZIAN

Milena konnte ihre Aufregung kaum verbergen. Seit Wochen freute sie sich auf diesen Abend. Obwohl sie eine Platzkarte besaß, glaubte sie bis zuletzt, dass etwas dazwischenkäme, die Aufführung angesichts des Krieges abgesagt wurde, die Hauptdarsteller erkrankten oder dergleichen. Wie durch ein Wunder saß sie dann tatsächlich rechtzeitig, sogar ein wenig zu früh, in der zweiten Reihe des Ständetheaters. Die barocken, goldverzierten Logen, die sich bis unter die Decke zogen, füllten sich langsam mit behandschuhten Damen und ihren Begleitern, älteren zylindertragenden Herren der obersten Prager Gesellschaft, die nicht eingezogen worden waren. Milena hätte ihren Vater um einen Logenplatz bitten können, schließlich war die Karte sein Geschenk zu ihrem zwanzigsten Geburtstag gewesen. Doch sie bevorzugte das Parkett, wollte so dicht wie möglich an der Bühne sein und die Schauspieler aus nächster Nähe sehen, um das, was sie im Stück durchlebten, hautnah mitzuerleben, sich dabei in Lachen und Tränen aufzulösen. Darum war es ihr sogar lieber, allein, ohne ihre Freundinnen, hier zu sein, sie wollte jedes Wort einsaugen und nicht durch Gespräche über den neuesten Klatsch und Tratsch abgelenkt werden. Noch ein Jahr, dann war sie großjährig, konnte tun, was sie wollte. Sie grinste in sich hinein, als sie daran dachte. Als ob sie nicht schon jetzt tat, wozu sie Lust hatte, und zusammen mit Jarmila und Staša, als stadtbekannte »Minervistinnen« ständig etwas Neues ausheckte. Auch noch im Studium haftete ihnen der Ruf der rebellischen Mädchen an. Kam ihnen etwas davon zu Ohren, schürten sie es fleißig weiter, halfen mit, die Legenden auszuschmücken, die das »Minerva«, das erste Mädchengymnasium der österreichisch-ungarischen Monarchie umrankte. Geschichten von Frauenliebe, Anleitungen, um aufzubegehren, bis hin zur weiblichen Machtübernahme. Frauen in Führungspositionen, welch Absurdität! Wer von diesen »freien Weibern« wollte dann noch Kinder gebären und sich dem Haushalt widmen, ereiferten sich die Männer, die um ihre Positionen bangten. Sollten sie das am Ende selbst übernehmen, reichte es nicht, dass sie bereits ihr Leben an der Front riskierten? Wozu musste eine Frau Altgriechisch lernen? Wären nicht Sockenstricken und ein Kochkurs hilfreicher? Besonders die gleichaltrigen Jungen reagierten mit Spott und riefen ihnen »Achtung, da kommt eine nervige Minerva« in den Gassen hinterher. Auch wenn kaum etwas von den Gerüchten stimmte und Milenas Schulzeit oft von Leid, Drill und Strenge geprägt war, so war sie doch stolz, zu den Auserwählten gehört zu haben, und nun als eine der ersten Frauen zur Universität zugelassen worden zu sein. Trotzdem dauerte es noch ein Weilchen, bis sie großjährig wurde. Aber die Zeit bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag würde sie sich zusammen mit ihren Freundinnen schon versüßen und gelegentlich aufbegehren.

Zu Ehren von Emilia Galotti hatte sie sich extra neu eingekleidet und trug ein pastellfarbenes kniekurzes Samtkleid mit einer großen Schleife an der Hüfte. Ihre Locken hielt eine enzianblaue Blüte, die sie an eine Haarspange gebunden hatte, aus der Stirn. Die langen Beine betonte sie mit übers Knie geknöpften Gamaschen. Das war der neueste Schrei der Prager Modewelt, laut Verkäufer erst vor Kurzem aus London eingetroffen. Zusammen mit Staša hatte sie sich die Gamaschen beim Damenausstatter Veselý gekauft, ihre Beste-Freundinnen-Kluft nannten sie die eleganten Beinwärmer seitdem. Jarmila, die zurzeit nur noch Augen für einen gewissen Josef hatte, blieb dabei außen vor. Leider machte sich auch Staša nichts aus Theater, schon gar nichts aus Trauerspielen. Als Ausgleich zu den Vorlesungen, wo sie lange genug stillsitzen und zuhören musste, ging sie lieber tanzen. Und auch Jarmila hatte es nicht so mit der Klassik. In etwas Tragisches zu versinken, war nichts für ihre Freundinnen. Im Gegensatz zu Milena. Ihr konnte es nicht dramatisch genug sein, und die Romantik durfte dabei auch nicht zu kurz kommen. Sie wollte schwärmen und laut aufseufzen, mit um ein Leben und die große Liebe flehen. Gespannt hoffte sie, dass es bald losging.

Auch die Parkettreihen füllten sich, neben Milena setzte sich ein Herr in einem schlichten Sakko, das aufgenähte Flicken an den Ellbogen hatte. Er grüßte sie auf Deutsch, was ungewöhnlich war. Normalerweise mieden die Deutschen das tschechische Theater. Als sie nicht reagierte, sagte er »Dobrý večer«, guten Abend auf Tschechisch. Sie nickte kurz, das Licht erlosch und der Vorhang hob sich.

Auf einem Tisch türmten sich Pergamentrollen, hinter denen der Prinz kaum zu erkennen war. »Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften!«, rief er mit rauer Stimme, die bei Milena eine Gänsehaut verursachte. »Traurige Geschäfte, und man beneidet uns noch.« Ihr Sitznachbar murmelte die deutsche Übertragung mit, er musste das Stück auswendig kennen. Ab und zu streifte seine Jacke ihren Arm. Doch bald vergaß sie alles um sich herum, tauchte voll und ganz in das Geschehen ein.

»Schlimmer als der Tod«, diese Aussage klang ihr noch in den Ohren, als sich der Vorhang endgültig senkte, der Schlussapplaus verebbte und die Bühne verwaist war. Konnte das, was Emilia Galotti widerfahren war, schrecklicher sein, als zu sterben? In der damaligen Zeit bestimmt, in der der Verlust der Jungfräulichkeit vor der Ehe einer Entwertung gleichkam. Als ob eine Frau kein Mensch war, mehr ein Gebrauchsgegenstand. Welch Ungerechtigkeit! Emilia war von ihrem Vater erdolcht worden. Sie hatte ihn sogar angefleht, es zu tun, nur um ihre Tugend zu retten. So weit konnte die eigene Verblendung gehen. Wut keimte in Milena auf, aber zugleich tropften ihr Tränen von der Nase. Sie schniefte. Wahrscheinlich hatte sie auch wieder diese roten Flecken auf der Stirn, wie immer, wenn sie sich in etwas hineinsteigerte. Besser, sie wartete, bis alle gegangen waren, Professor Jesenskýs eigensinnige Tochter sollte niemand so aufgelöst sehen. Das Publikum drängte zu den Saaltüren hinaus, bloß ihr Sitznachbar machte keine Anstalten, sich zu erheben.

Er reichte ihr sein Einstecktuch. »Ich versichere Ihnen, dass es frisch gewaschen ist«, sagte er auf Deutsch, als sie zögerte. »Meine Hauswirtin bestand darauf, wollte mich nicht ohne fortgehen lassen.« Milena nahm es, trocknete sich das Gesicht, den Hals. Dann wusste sie nicht, wohin mit dem Tuch, gab es ihm einfach zurück. Vielleicht würde er nun gehen, und sie konnte sich ungestört beruhigen. Er beugte sich vor, drehte sich zu ihr, legte seine Finger unter ihre und küsste ihre rechte Hand. »Gnädiges Fräulein, darf ich mich vorstellen? Pollak mein Name. Ernst Pollak, zu Ihren Diensten.«

Gegen ihren Willen lächelte sie.

Sie wandte sich ihm zu. »Milena Jesenská.« Sein schwarz-glänzendes Haar hatte er über der hohen Stirn streng zurückgekämmt. Er wirkte deutlich älter als sie, war wahrscheinlich kein Student mehr, eher ein Lehrer, ein Professor vielleicht wie ihr Vater. Seinen schweren Augenlidern nach schien er ebenfalls von der Darbietung berührt worden zu sein. Milena musste genau hinsehen, um seinen Blick zu erraten. Schon fing er sie aus kleinen Pupillen ein und schaute sie geradewegs an.

»Und, wie hat Ihnen das Stück gefallen?«, fragte sie, bemüht, korrektes Deutsch zu sprechen.

»Ich habe lieber Ihnen zugehört.«

»Mir? Außer meinem Namen habe ich doch noch gar nichts gesagt.«

»Ich habe trotzdem viel gehört.«

»Sie scherzen, Herr Pollak.«

»Keineswegs.«

Milena schwieg, versuchte sich einen Reim auf all das zu machen. Wie konnte er wissen, was in ihr vorging? Hatte er sie im Schein der Bühne schweigend beobachtet? In der Pause war sie schnell hinausgelaufen, um dann mit der Damenwelt vor nur zwei Wasserklosetts anzustehen, und als sie endlich an ihren Platz zurückkehrte, verdunkelte sich der Saal bereits wieder. In den letzten beiden Akten war sie vor Tränen halb zerflossen, hatte mit Emilia Galotti mitgefiebert, gehofft, dass es einen anderen Ausweg gäbe als diesen Schluss. Vermutlich war Milena auch in allen anderen Szenen körperlich mitgegangen, als stünde sie selbst im Rampenlicht und bangte um ihr Leben.

»Das ist ein Schusternagel in Ihrem Haar, stimmt’s?«, durchbrach Pollak ihr stummes Beisammensitzen im leeren Theater.

Blumenkenner war er auch, jetzt erhielt er ihre volle Aufmerksamkeit. Die Verehrer, die Milena bisher getroffen hatte, waren Jünglinge im Vergleich zu ihm gewesen. Sie lobten ihre Anmut, machten ihr Komplimente, brachten sogar gelegentlich Blumen mit, die sie aber nicht benennen konnten. Und in Wirklichkeit bemerkten sie nicht einmal, was Milena für Kleidung trug, waren mehr an dem darunter interessiert. Dass ein Mann etwas in ihrem Inneren hörte und sie zugleich äußerlich wahrnahm, sogar Enziangewächse voneinander unterscheiden konnte, war ihr neu. »Ich habe Sie ebenfalls reden hören«, sagte sie. »Sie scheinen das Stück genau zu kennen. Sind Sie Theaterkritiker?«

Er lachte. »Schön wäre es! Das ist in der Tat ein Beruf nach meinem Geschmack. Einer meiner Freunde, Max Brod, übt ihn aus. Er ist heute verhindert, musste zu einem Konzert, und hat mir die Karte geschenkt. Dabei dürfte man meinen, ich bekäme in diesem Theater Hausrabatt, ich wohne auf der Rückseite des Gebäudes.« Ein Türsteher näherte sich ihnen. »Wollen wir gehen, bevor sie uns hinauswerfen?« Pollak reichte ihr erneut die Hand und führte sie galant ins Freie.

»Sie sind nicht aus Prag, oder?«, fragte Milena kurz darauf, als sie im Mondlicht am Ufer der glitzernden Moldau entlangspazierten.

»Ich bin in Jitschin geboren, ein Städtchen, neunzig Kilometer weg von hier, vielleicht kennen Sie es?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ist vermutlich auch besser«, sagte er. »Es hat zwar einen alten Stadtkern, noch von Wallenstein erbaut. Doch gerade habe ich erfahren, dass dort ein Lager für Kriegsgefangene errichtet wird.«

»Was ist mit Ihnen, wurden Sie nicht einberufen?«

»Tut mir leid, Fräulein Milena, ich bin untauglich für lange Märsche. Seien Sie taktvoll und sehen Sie jetzt bitte nicht nach unten, auf meine Plattfüße. Aber wenn ich es recht bedenke, so ist mein Makel auf einmal sehr nützlich. Wer weiß, ob wir uns sonst jemals kennengelernt hätten.« Sie schlenderten zurück in die Prager Neustadt und blieben an einem Eckhaus stehen. »Haben Sie Lust auf einen Viertel oder darf’s noch ein Mokka sein, zu so später Stunde?«, fragte er. »Ich lade Sie ein. Vielleicht treffen wir auch noch den einen oder anderen Arconauten.«

»Argonauten? Ist das ein Seefahrerclub?«

Er grinste. »Nicht schlecht, das muss ich mir merken. Nein, wir sind die vom Arco mit einem C.« Dann zeigte er nach oben, auf die großen schwarzen Buchstaben, die die ganze Kaffeehausfassade umrundeten. Der Name Arco war Milena in der Dunkelheit nicht aufgefallen. »Sie sehen, bei unserer Tätigkeit bleiben wir im gemütlich Trockenen und segeln nur mithilfe von Worten durch die Weltgeschichte. Wir sind eine Gruppe von Literaten, die bei einem guten Kaffee oder auch etwas Stärkerem über Selbstgeschriebenes und Gelesenes spricht.«

»Sie reden gemeinsam über Bücher, und es sind auch Schriftsteller darunter?« Das stellte sich Milena herrlich vor. Sie liebte Bücher, versuchte sich sogar selbst im Schreiben und Übersetzen. Seit dem Musikstudium kam sie zwar noch weniger dazu als vorher in der Medizin, aber wer weiß, wohin diese Bekanntschaft sie brachte. Pollak ergriff noch mal ihre Hand, streifte im selben Atemzug ihre Lippen. Zart, doch wie selbstverständlich.

Dann war es da, das Gefühl, das sie bisher nur erahnt, zwar mehrmals erprobt, aber niemals auf diese Weise erfahren hatte. Es durchflutete Milena, gepaart mit Glück und Freude. All das Wunderbare löste Ernst Pollak aus, wenn sie ihn ansah oder sogar nur an ihn dachte. Abgesehen von Fräulein Honzáková, ihrer Lehrerin, mit der sie sich auch außerhalb der Schulstunden über Musik, Literatur und Kunst unterhalten konnte, hatte Milena noch nie einen Menschen wie ihn getroffen. Ernst hörte ihr zu, hörte nicht nur, er merkte sich sogar, was sie zuletzt erzählt hatte, was sie sich ersehnte, fragte nach oder griff einen ihrer letztes Mal geäußerten Gedanken wieder auf. Noch dazu wollte er alles über sie wissen, betrachtete sie dabei mit leicht schräg gelegtem Kopf und wachen Augen, die breiten Lippen zum Küssen bereit. Er berührte sie, aber er bedrängte sie nicht. Obwohl sie ihm, gleich an diesem ersten Abend, alles gegeben hätte, sich ihm ganz hingegeben hätte, mit Haut und Haar. Schneller, als sie denken konnte, war sie bereit für ihn, wollte ihn spüren, mit ihm Zärtlichkeiten austauschen. Dabei kümmerte sie sich nicht um Konventionen und Pflichten, um Ehre und Aufbewahren. Ihre Jungfräulichkeit hatte sie bereits mit sechzehn verloren. An Jiří Wörterbuch, wie Milena den zwei Jahre älteren Jungen damals genannt hatte, der pausenlos plapperte und sie mit seinem Wissen beeindrucken wollte. Und als es dann passierte, schwieg er endlich. Ohne ihn hätte sie die Matura nicht bestanden. Aus Liebe zu ihr versteckte er sich im Lichtschacht der Schule, kritzelte die Lösungen der schwierigsten Fragen auf kleine Zettel und fädelte sie ihr über einen Zwirn zu. Dass Ernst Pollak kein Tscheche, sondern ein deutscher Jude war, war ihr gleichgültig. Er machte sich ebenfalls nichts aus seiner Religion. Er verkörperte für sie Freiheit und Selbstbestimmung, ein Leben jenseits der bürgerlichen Moral. Ihr Vater durfte allerdings nichts davon erfahren, alle Deutschen, nicht nur Juden, waren ihm ein Dorn im Auge. Wen Milena liebte, wo und wann, das wollte sie selbst bestimmen. Trotzdem behielt sie die Beziehung zu Ernst Pollak vorerst lieber für sich.

2. Kapitel

AMARYLLIS

Wie hatte Milena bisher ohne ihn leben, wie atmen, essen, schlafen können? Wie hatte sie überhaupt jemals geglaubt zu wissen, was Liebe ist? Ernst nahm sich Zeit, erwartete nichts von ihr, auch als sie sich bald regelmäßig trafen. Er ging nie weiter. Als er sie zu sich einlud, in seine Einzimmerwohnung am Nationaltheater, zeigte er ihr tatsächlich nur die Bücher wie angekündigt, ohne Hintergedanken. Darunter viele Manuskripte und Briefe, die er von bekannten und angehenden Schriftstellern aus ganz Europa erhielt.

»Ich unterstütze Autoren und bin so ein Teil des Wunders.« Er zeigte auf die Stapel aus Büchern und Papieren vor dem Regal.

»Welches Wunder?« Sie wich ihm nicht von der Seite, begann, ihm langsam das Hemd aus der Hose zu ziehen, und knöpfte es auf.

Er ließ es geschehen, als wäre sie seine Mutter, die ihn zur Nacht auskleidete. »Das Wunder, dass man aus Buchstaben Geschichten erschaffen kann. Man fühlt mit den Figuren mit, stärker oft als mit den Schicksalen der engsten Verwandten. Manchmal taucht man auch so tief in eine Geschichte ein, dass man die Wirklichkeit um sich herum vergisst. Schriftsteller sind für mich die Zauberer der Zeit.« Seine kleinen Augen weiteten sich. Manchen Autoren schickte er Geld, aber hauptsächlich war er ihr Mentor. Er hörte zu, gab Anregungen oder Anstöße, in andere Richtungen zu denken, wenn sie sich festgeschrieben hatten und nicht weiterwussten. »Dabei fällt für mich jede Menge ab«, erklärte er ihr mit großer Geste. »All die Zeichen und Hinweise sammle ich für die magische Formel. Eines Tages werde ich sie aufschreiben und ein Buch darüber verfassen. Ein Buch über das Buchschreiben. Darin werde ich erklären, wie ein Roman oder eine Erzählung entsteht. Ich werde das Geheimnis lüften, wie man Ideen findet, Einfälle sortiert und welche Sprache man für welche Art von Geschichte am besten verwenden soll. Das wird die Sensation. Zum ersten Mal wird man erfahren, wodurch sich die Gedanken eines Fremden im eigenen Kopf zu einer Geschichte fügen.«

Der Plan gefiel Milena. Bisher hatte sie sich noch nicht überlegt, warum und wozu sie etwas aufschrieb, wenn sie schrieb. Es machte ihr Spaß, und es passierte einfach, war mal gut oder schlecht und meistens las sie es nie wieder. Aber oft umkringelte sie Einfälle darin, die auch beim Wiederlesen noch Bestand hatten. So freute sie sich über die Ansammlung an Heften und Notizbüchern in ihrem Regal, die ständig weiterwuchs. Wozu sie das Schreiben eines Tages bringen würde, wusste sie noch nicht, auch wenn es schon jetzt ein Ventil für sie war, um ihre Gedanken und Erlebnisse zu sortieren. Ernst brannte für die Literatur und sie liebte ihn dafür. Sie wollte ihn umarmen, ihn mit Küssen bedecken, ihn nackt sehen, berühren und überall spüren.

»Und wodurch geschieht das?« Sie strengte sich an mit der deutschen Sprache. »Also, ich meine, dass aus fremden Gedanken eine Geschichte im Kopf entsteht?« Gleichzeitig streifte sie ihr Kleid über die Schultern, ließ es zu Boden fallen und stieg darüber. Nun stand sie im Unterkleid vor ihm.

Ernst sah sie an und sah mehr durch sie hindurch, dann zuckte er mit den Schultern. »Das muss ich noch herausfinden, insgeheim weiß ich es, aber ich kann es noch nicht greifen oder besser gesagt niederschreiben. Nur so viel weiß ich schon mit Sicherheit: Es braucht einen Auslöser, ein Ereignis, das den Charakter der Figur beeinflusst.«

»Charakter.« Milena sprach das Wort nach, nahm seine Hand, legte sie sich ins Gesicht, schob sie dann weiter den Hals hinab bis in ihren Ausschnitt.

Seine Augen zuckten kurz, aber er ließ seine Hand dort liegen, als hätte er einen Platz zum Ausruhen gefunden, und sprach weiter. »Alles, was dann an Handlung geschieht, kann durch Überarbeitung geschliffen werden, wie Kieselsteine in einem Bachbett.«

»Kieselsteine?« Sie lenkte seine Finger weiter. Endlich umkreisten sie ihre Brustwarzen. Milena drängte sich dichter an ihn, wollte, dass er weitermachte und nicht mehr aufhörte. Doch er fing wieder zu sprechen an, und wenn er sprach, unterbrach er sein Streicheln. »Manches wird dennoch, auch wenn es gedruckt ist, eine nichtssagende Buchstabensammlung sein, egal, wie viele Wortdoppelungen man austauscht oder wie viele Metaphern man einfügt. Andere Romane und Gedichte werden unvergesslich bleiben, sich im Herzen der Leser, gleich welcher Nation oder Religion sie angehören, einnisten und wie eine persönliche Erfahrung und Teil ihres Lebens werden.«

Das war schön gesagt, sie stimmte ihm zu. »Ich finde, so ähnlich ist es mit traurigen Erinnerungen. Die wälzt man auch immer und immer wieder im Gedächtnis herum, bis sie sich einpassen und einigermaßen erträglich sind. Angenehme Erlebnisse bauscht man auf, bis sie alles überstrahlen und man so zum Helden seines eigenen Lebens wird.«

»Oh, das ist gut, das muss ich mir notieren.« Er holte einen Zettel und suchte einen Stift. »Willst du etwa auch schreiben?«

»Vielleicht.« Sie lenkte ihn zum Bett, kleidete ihn und sich weiter aus. Es raschelte, als sie ihn ins Kissen drückte.

»Vorsicht, ich weiß nicht, ob es davon schon eine Kopie gibt.« Ernst rettete ein paar Blätter mit Schreibmaschinenzeilen. Er musste darauf geschlafen haben.

»Ist das von dir?«

»Nein, schön wäre es.« Er setzte sich auf, glättete die Bögen über seinem nackten Oberschenkel, als wäre er eine Kante, und legte sie in eine blau marmorierte Mappe, die mit F.K. beschriftet war. »Die Geschichte hat mir Max Brod gegeben, sie stammt von seinem Kollegen, der bei einer Versicherung arbeitet.«

»Ein Versicherungsfall?«

Ernst lachte. »Eher nicht. Es ist ganz eigenwillig geschrieben, ich kann es noch nicht einordnen. Dieser Franz Kafka schreibt in seiner Freizeit, hat sogar schon etwas in einem deutschen Verlag veröffentlicht, sagt Max. Er klang so begeistert von ihm, sprach von neuartiger Erzählkunst, dass ich äußerst skeptisch zu lesen anfing. Und dann konnte ich nicht mehr aufhören, obwohl ich eigentlich nichts mit den Figuren und dem Inhalt zu tun haben will. Es ist schaurig und auch abstoßend. Doch zugleich klebte ich an den Zeilen und konnte nicht weg. Mich würde interessieren, was Kafka zu der Geschichte inspiriert hat. Ich werde ihn fragen, wenn ich ihn kennenlerne. Max will ihn demnächst mitbringen.« Er schlug noch mal die Mappe auf und zog das erste Blatt heraus.

»Mitbringen, wohin?«

»Die Verwandlung«, Milena las die deutsche Überschrift.

»Ins Arco. Aber du hast recht, möglicherweise sollte man sich gegen solche Geschichten wirklich versichern. Oder eine Warnung an den Leser auf die Titelseite schreiben. Vorsicht, nichts für Zartbesaitete. Bist du zartbesaitet?«

»Finde es heraus.« Sie streichelte ihn wieder.

Doch er wollte lieber vorlesen. »Für mich ist das, was Kafka kann, mehr als bloßes Schreiben, das ist Einbläuen, kein vorsichtiges Herantasten durch Worte. Er brennt dem Leser die Sätze in die Seele.« Und er fing an: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte.« Ernst hielt inne und schaute sie an. »Merkst du, welche Kraft in diesem Anfang steckt?« Wer verdammt noch mal war dieser Kafka, dass er ihr solch eine Konkurrenz machte? Milena legte die Hand in seinen Schritt und spürte es.

Außerhalb seiner Wohnung trafen sie sich im Arco, in Ernst Pollaks Stammlokal. Dort stellte er sie seinen Freunden, den Literaten, vor. In Prag gab es fast für jeden Beruf ein Kaffeehaus. Eines für Börsenmakler, eines für Spediteure und auch eines für die Theaterleute. Das hatten Milena und ihre Freundinnen bereits auf ihren Nachmittagstouren herausgefunden, wenn sie auf der Suche nach Aufregung von der tschechischen Seite zum deutschen Graben wechselten. Einmal machten sie gleich wieder kehrt, als sie am Tresen eine Gruppe schwitzender Kerle erblickten, die sie laut grölend hereinwinkten, durch die Zähne pfiffen und ein paar Stühle zwischen sich freiräumten.

»Puh, Glück gehabt, wer weiß, ob wir heil wieder herausgekommen wären«, sagte Jarmila, als sie eine Straße weiter zurückblickten, ob die Männer ihnen gefolgt waren.

Dass Milena nun ein anerkanntes Mitglied des berühmten Prager Literaturkreises zu werden schien, konnte sie noch immer kaum glauben. Im Arco, einem eleganten Etablissement mit großen Spiegeln, verkehrten hauptsächlich deutsche Juden, die der Krieg noch verschont hatte, Literaten wie Pollak. Jeder Stammgast, der durch die Tür trat, wurde mit seiner Leidenschaft angesprochen, als sei sie ein eingetragener Beruf.

»Habe die Ehre, Herr Kritiker«, begrüßte der Oberkellner Poschta Milenas Liebsten mit einer Verbeugung. Manche saßen von mittags bis spätnachts unter den großen Zuglampen, deren Fransen aus Glas bei jedem Luftzug klimperten. Bequeme Lehnstühle gruppierten sich um die Tische. Man konnte sich sogar anrufen lassen, der Kellner trug dann einen Telefonapparat heran, wovon Ernst oft Gebrauch machte. Im Arco wurde geschrieben, geredet und gestritten. Oft verglich man die Papierwelt der Bücher und Zeitungen mit der wirklichen, die den Krieg hervorgebracht hatte, und empörte sich. Die Kaffeehausbesucher weinten, flehten, schimpften auf und über das Leben. Sie saßen nicht hier, weil sie keine heizbare Wohnung besaßen oder nichts zu essen fanden, sie suchten nach einer Möglichkeit zu vergessen, ihre Sorgen und Zukunftsängste, und fanden hier einen Ruhepol inmitten der umtriebigen Stadt. Zusammen mit ihren Hüten hängten sie ihr privates Ich an die Garderobe gleich neben dem Eingang, und wurden für den Rest des Tages zu Künstlern. Aber das Kaffeehaus war auch Gemeinschaft, hier entkam man der Einsamkeit, tauchte ein Gast zwei Tage nicht auf, munkelte man schon, wo er steckte. Den Spitznamen Arconauten hatte ihnen der Wiener Satiriker Karl Kraus gegeben, der in seiner Zeitschrift »Die Fackel« über die Prager Gruppe um Ernst Pollak lästerte. Doch sie fassten es als Ehrung auf, dass man sogar in Wien und durch die weltweite Verbreitung der »Fackel« darüber hinaus von ihnen sprach. Die meisten Arconauten lebten wie er nicht vom Schreiben. Sie legten ihren Brotberuf so, dass sie nachmittags an ihren Werken arbeiten konnten, oder gingen ins Kaffeehaus, um in den ausliegenden Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, wie auch Milena es tat. Das Arco rühmte sich, die größte Auswahl von ganz Prag anzubieten, sogar englischsprachige, italienische oder sogar französische Druckerzeugnisse lagen aus. Die Gäste kostete das kaum mehr als einen Mokka oder einen Verlängerten. Milena vertiefte sich in das breite Angebot aus Kunst und Literatur, las amerikanische Kurzgeschichten und französische Gedichte und setzte sich mit dem Expressionismus auseinander. Endlich wagten es die Künstler zu zeigen, was in ihnen vorging, und hatten offenbar eine Ausdrucksform gefunden, die es auch transportierte. Kräftige Farben, starke Konturen. Trotzdem staunte sie, als eine Kunstzeitschrift »Das schwarze Quadrat« zeigte, das ein Russe namens Malewitsch gemalt hatte. Ein völlig schwarzes Bild, Milena hielt die Abbildung zuerst für einen Fehldruck. Aber der Zeitungskritiker schwelgte in dieser eckigen Finsternis und glaubte darin mehr zu entdecken als in der »Alexanderschlacht«, einem Monumentalgemälde aus dem Mittelalter, das in Deutschland hing. Aber auch in den Modemagazinen blätterte sie, wusste bald besser über gewagte Kleiderschnitte und Frisuren Bescheid als ihre Freundinnen. Darüber hinaus erhielt sie einen warmen Platz in weichen Plüschsesseln und Gesellschaft, sofern sie sie suchte. Felix Weltsch arbeitete vormittags als Bibliothekar in der Prager Universität und schrieb für tschechische und österreichische Zeitungen zugleich. František Langer, der wie Milena Tscheche war, aber bedeutend besser Deutsch beherrschte als sie, verfasste Theaterstücke, Jugendbücher und Romane in beiden Sprachen. Tagsüber diente er als Militärarzt und saß darum in Uniform im Arco. An Ernsts Seite respektierte man Milena, hörte ihr zu, nicht nur, um ihre Meinung zu Frauenthemen zu hören. Das verstärkte ihr Glück. So schnell wie möglich musste sie ihre Freundinnen mit herbringen. Auch dass sie Herrn Max Brod kennengelernt hatte, den berühmten Autor, mussten sie erfahren. Er war Beamter und zugleich Romancier, Dramatiker und Kritiker. Seine Werke fanden auch außerhalb des Kaiserreichs große Resonanz und sorgten für Gesprächsstoff. Seiner Großzügigkeit verdankte Milena ihre erste Begegnung mit Ernst. Sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte dreißig, nur wenig älter als ihren Liebsten. Konzentriert durch seinen schmalen Augenzwicker blickend, half ihr Herr Brod häufig über ihre schlechte deutsche Aussprache hinweg, oder wenn sie wieder einmal nach dem richtigen Wort suchte. Er hatte ihr sogar sein neuestes Buch geschenkt: »Die Höhe des Gefühls«, ein Drama in Szenen und Versen, mit einer persönlichen Widmung. Nur Franz Kafka, der Ernst die Geschichte von der Verwandlung überlassen hatte, war sie bisher noch nicht begegnet. Max Brod war sogar seit seinem Studium mit ihm befreundet, brachte ihn aber nie mit und schürte damit die Neugier auf diesen großen Unbekannten umso mehr. Wahrscheinlich sah dieser Kafka selbst wie eine Wanze aus, dachte Milena. Er scheute einfach das Licht, und sei es auch noch so schummrig wie das im Arco.

Staša und Jarmila wirkten anfangs nicht sonderlich begeistert, als sie ihnen von den Arconauten berichtete. Nach einigen Wochen, in denen sie die beiden nur kurz gegrüßt hatte, wenn sie sich zufällig auf den Gängen der Universität über den Weg gelaufen waren, trafen sie sich zum Essen in der Mensa.

»Schön, dass du dich plötzlich wieder an uns erinnerst. Kaffee trinken mit fremden Kerlen scheint dir offenbar wichtiger zu sein, als mit uns zusammen zu sein?« Jarmila schmollte sogar.

»Entschuldigt«, fing Milena an, »ich wollte euch schon viel eher treffen, aber …«

»Sind wir dem Fräulein Musikstudentin nicht mehr fein genug?«, fiel ihr Staša ins Wort. »Sag nicht, dass es an den Stundenplänen liegt.« Sie studierte Psychologie und Philosophie und Jarmila hielt mit Medizin weiter durch, auch nachdem Milena zur Musik gewechselt war.

»Unsinn, ich wollte es euch schon längst sagen, aber dann war so viel los und ich …«, sie holte Luft, »also, ich habe mich verliebt.« In Wahrheit hatte sie jede freie Minute mit Ernst verbracht, ohne irgendjemand anderen an ihrer Seite überhaupt zu bemerken. Er war der Mann ihrer Träume, an seiner Seite würde sie ein freies Leben führen können, glaubte sie. »Kommt, seid gnädig und seht es mir nach. Ich bin ja wieder hier oder besser gesagt, wir drei sind wieder zusammen.«

»Verliebt? Wie? Du meinst so richtig?« Staša riss die Augen auf. »Erzähl, wir sind ganz Ohr.«

»Aber alles, lass ja nichts aus.« Die Neugier stimmte auch Jarmila milder.

Und Milena erzählte, angefangen von dem Abend im Ständetheater bis zu den Besuchen im Literatenkreis und der Zweisamkeit in seinem Zimmer. Dabei vergaßen die drei den Lärm ringsum, das Tellerklappern und Geschrei und auch zu essen. Es gab sowieso nur Steckrübensuppe und Brot wie jeden Tag seit Kriegsbeginn. »Habt ihr Lust, mal mit zu den Arconauten zu gehen?«, leitete sie von den allzu intimen Fragen über, die besonders Staša, die zwei Jahre jünger als Jarmila und sie war, brennend interessierte.

»Selbstverständlich, deinen ernsten Ernst wollen wir uns doch nicht entgehen lassen. Mal sehen, ob er unserer Prüfung standhält.« Jarmila lachte.

»Wie wäre es, wenn wir uns etwas Besonderes überlegen«, schlug Milena vor. »Die eingeschworene Herrenrunde könnte ein wenig Auflockerung vertragen.« Sie beratschlagten eine Weile und entschieden sich für eine Hommage an ihr Idol, die große Barfußtänzerin Isadora Duncan. Für diesen Anlass wollte Milena für Staša, Jarmila und sich extra wallende Gewänder anfertigen lassen. Gleich am nächsten freien Nachmittag suchten sie gemeinsam eine der bekanntesten Prager Schneidereien auf. Zuerst konnte Herr Kučera, der schon lange für die Familie Jesenský nähte, mit der Beschreibung, die sie abgaben, nichts anfangen. Zudem fielen sich die drei ständig gegenseitig ins Wort. Der Schneider hörte zu, kniff mehr und mehr die Augen zusammen, als könnte er auf diese Weise eine Aussage herausfiltern. Milena breitete Fotografien von Isadora Duncan auf dem Tisch aus, die sie aus Illustrierten ausgeschnitten und gesammelt hatte.

»Aha, ich verstehe, Fräulein Jesenská«, Kučera atmete auf, »Sie wollen sich als Römerin maskieren?«

»Ich hoffe nicht, dass wir hinterher wie verkleidet aussehen«, erwiderte sie.

»Nein, nein, keinesfalls, so meinte ich das auch nicht, aber mein erster Eindruck von diesen Aufnahmen ist …«, er räusperte sich, »wenn Sie erlauben … für solch junge, wohlgestaltete Damen, wie Sie es sind, wirkt diese Kleidung ein wenig … wie soll ich sagen … antik.«

»Im Gegenteil, Herr Kučera, das ist hochmodern und wird sich auch in Prag durchsetzen, sobald wir es tragen. Das Kleid ist nicht römisch, sondern entspricht dem griechischen Schönheitsideal. Die Frage für uns ist eher, ob Sie so etwas anfertigen können?«

Staša und Jarmila kicherten.

»Nun gut.« Von Milenas Überheblichkeit wenig beeindruckt, klemmte sich der Schneider ein Monokel ins Auge, hob einen Zeitungsausschnitt auf und hielt ihn dicht vor die Nase. Anschließend vertiefte er sich wieder in die Vorlagen. »Wenn mir die Damen bitte helfen. Ich weiß gar nicht, wo ich bei der Büste einen Abnäher oder eine Nahtzugabe machen soll?«

»Das ist das Entscheidende.« Wie Miss Duncan war Milena der Meinung, dass der weibliche Körper die gleiche Freiheit genießen sollte wie der revolutionäre Geist und sich nicht mehr einschnüren musste. Nicht nur in den Schützengräben, überall auf der Welt brodelte es. In London, in Paris, in New York, aber auch auf dem Land stiegen die Frauen für ihre Rechte auf die Barrikaden, und Milena war mittendrin. Sie kämpfte für sich und ihre Mitschwestern und vielleicht auch für ihre Tochter, sollte sie eines Tages eine bekommen. Sie und keiner sollte mehr ein Mensch zweiter Klasse sein. In Finnland durften sie schon seit 1906 wählen, hatte ihnen Fräulein Honzáková, ihre geliebte Lehrerin im »Minerva«, damals freudig erklärt. Seit zehn Jahren also schon, es wurde Zeit, dass es auch in ihrer Heimat wahr wurde. Obwohl der Krieg die weltweite Solidarität wieder gespalten hatte, dauerte es bestimmt nicht mehr lange und all die Sitzstreiks und Gefängnisstrafen der Suffragetten, wie die Kämpferinnen für Gleichberechtigung hießen, würden nicht umsonst gewesen sein. »Keine Abnäher, Herr Kučera, und wir werden auch kein Korsett unter den Kleidern tragen. Wir brauchen lediglich ein paar goldene Schnüre um den Busen und die Taille, dafür aber sehr viel Stoff zum Drapieren, um nirgendwo eingeengt zu sein.«

»Das lässt sich einrichten.« Seinem Gesichtsausdruck nach wirkte der Meister nicht völlig überzeugt, doch ganz Geschäftsmann und Handwerker zugleich, fügte er sich. »Offene Schultern, ärmellos, ohne Kragen, Wasserfallausschnitt, bodenlang mit Borte im Saum. Das verlangt nach mehreren Bahnen Stoff, wenn ich das richtig sehe.«

»Ist das ein Problem?«

»Normalerweise nicht, aber in diesen Zeiten wird jedes Fitzelchen Stoff gebraucht, um Uniformen oder warme Unterwäsche daraus zu machen, doch mir fällt etwas ein. Wenn die Damen bitte einen Moment Platz nehmen.« Kučera verschwand im Nebenraum.

»Er hat recht, vielleicht ist es doch zu gewagt«, sagte Jarmila leise.

»Er hat doch nichts von gewagt gesagt, sondern dass es unvorteilhaft für uns wäre«, erklärte Milena. »Aber seht euch mal um, wie rückständig die Modelle noch sind.« Sie zeigte auf die Kleiderpuppen. »Hochgeschlossene Kragen und Wespentaille? Oder diese ausgepolsterten Hinterteile, als wären wir Gänse. So etwas trägt höchstens noch die Frau Ministerialrätin und ihre Großmutter. Das sind doch nicht wir.«

Staša gluckste. »Mein Vater lässt mich sofort in eine Zwangsjacke stecken und zu den Irren sperren, wenn er mich in dem neuen Kleid auf der Straße sieht.«

»Willst du einen Rückzieher machen? Das haben wir doch alles schon besprochen.« Milena verdrehte die Augen. »Und von welchen Irren redest du, dein Vater ist doch Kinderarzt?« Ihrer und Milenas Vater waren nicht nur Arztkollegen, sie kannten sich auch privat.

»Er arbeitet seit Neuestem in Weleslawin«, erklärte Staša.

»Im Schloss?«, fragte Milena.

»Das ist doch ein Sanatorium für Lungenkranke«, sagte Jarmila.

Staša nickte. »Aber dort gibt es auch eine geheime Abteilung für Geisteskranke, mit der droht uns Vater ständig, wenn wir ungehorsam sind.« Sie war die älteste von fünf Töchtern. »Wenn rauskommt, dass ich als Griechin verkleidet vor fremden Männern tanze, wird Vater mir den Umgang mit euch verbieten, aber eigentlich …«, sie sprang auf, »braucht ihr mich, denn ich bin die beste Duncan von uns, was wäre das sonst für ein jämmerlicher Auftritt.« Und sie drehte sich mit erhobenen Armen um die eigene Achse.

Jarmila lachte. »Du ähnelst eher einer Tänzerin auf einer Spieluhr, wir wollen uns frei bewegen und wenn, dann Sirenen darstellen. Die, vor denen sich Odysseus an den Mast seines Schiffes hat binden lassen, damit er ihnen nicht verfällt. Ich glaube, das müssen wir noch üben, sonst lässt sich keiner von uns bezirzen. Sagt mal, wo bleibt eigentlich der Schneidermeister? Ist er geflohen?«

Wie gerufen kehrte Kučera endlich zurück und rollte einen quietschenden Wagen mit mehreren Stoffballen herein. Behutsam legte er einen nach dem anderen auf den Tisch. »Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat.« Er tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. In seinen Haaren hingen Spinnweben. »Aber ich musste erst das halbe Lager umräumen, bis ich das Gesuchte fand.« Mit geschickten Handgriffen wickelte er vom ersten, einem violetten Stoff, der herrlich blau und rot schillerte, einige Meter ab und breitete ihn aus. »Fühlen Sie mal«, forderte er sie auf. Milena hielt eine Hand unter die Stoffkante, ihre Haut lugte durch das feine Gewebe. Sie strich darüber.

»Was sagen Sie?« Herrn Kučeras Augen glänzten, als enthüllte er einen Goldschatz.

»Fühlt sich kühl und gleichzeitig geschmeidig an, wie das Fell einer Katze.«

Er nickte. »Und schauen Sie, wie der fällt. Darf ich?«

Milena nickte. Herr Kučera raffte den Stoff und legte ihn ihr um die Schultern. »Was ist das für ein Material?«, fragte sie. Auch Jarmila und Staša strichen über den Stoff und wirkten begeistert.

»Feinster französischer Batist«, erklärte er, »Leinen, Baumwolle und Seide zusammen verwebt und eingefärbt. Ich habe mehrere Farben eingekauft, aber bisher nie Verwendung dafür gefunden. In Prag sind immer noch gedeckte Farben und Zurückhaltung angesagt. Zu meinem Leidwesen bevorzugen die meisten Grau, Braun, Blau und Schwarz. Außerdem kann man Batist nur für Abendgarderobe verwenden, für Uniformen ist er völlig ungeeignet. Damit würde jedem Soldaten das Hemd aus der Hose rutschen.«

»Also perfekt für uns«, sagte Milena. Wieder glucksten die Freundinnen. »Eigentlich wollten wir alle ein weißes Kleid wie Miss Duncan, aber jetzt, wo wir die Auswahl haben, nehmen wir …« Sie zögerte einen Moment, zog Jarmila und Staša ans Fenster, um außer Hörweite des Schneiders mit ihnen zu verhandeln. »Was haltet ihr von den Farben der Frauenbewegung?«

»Welche sind das?«, fragte Staša.

»Na, Violett, Grün und Weiß. Die englischen Suffragetten tragen sie als Schleifen im Kampf fürs Stimmrecht. Violett steht für die Würde, Weiß für die Unschuld und Grün für die Hoffnung, dass wir Frauen wirklich eines Tages die Hälfte der Welt erhalten, die uns zusteht. Also genau das Richtige für unseren Auftritt.«

»Als gestreifte Schleifen mag es ja gehen, aber beißt sich das nicht zusammen in einem Kleid?«, warf Jarmila in die Runde.

»Ich meinte ja auch nicht in einem Kleid, jede wählt eine Farbe und zu dritt symbolisieren wir dann die Gleichberechtigung.«

»Du bist genial, Milena.« Staša umarmte sie.

»Also wer will welche Farbe?« Milena strahlte.

Staša und Jarmila überlegten. Aus dem Augenwinkel bemerkte Milena, wie der Schneider die Uhr aus seiner Westentasche zog und sie aufklappte.

»Wirklich noch unschuldig ist doch keine von uns«, flüsterte Jarmila. »Aber wenn schon Weiß, dann für dich, Staša. Falls dein Vater nachfragt, hast du dich wenigstens in Unschuld gehüllt.«

»Ich dachte schon, du betonst schon wieder, was für ein Küken ich bin.« Sie wirkte erleichtert. »Mir gefällt Weiß sowieso am besten.«

»Und ich würde gerne in meiner Lieblingsfarbe die Würde vertreten«, schlug Jarmila vor.

»Gern. Violett zu deinen dunklen Haaren, das sieht bestimmt wunderbar aus. Dann nehme ich die Hoffnung, von der kann man nie genug verbreiten.« Milena stimmte zu und sie teilte ihre Entscheidungen Herrn Kučera mit.

Nun konnte er Maß nehmen. Anschließend zog er mehrere Schubladen auf und zeigte ihnen kunstvoll bestickte Bänder, mit denen sie die Kleider in Form bringen und ihre Figur an den richtigen Stellen betonen wollten. Staša wählte ein Band mit Blattranken, Jarmila eines mit dem Muster des laufenden Hundes und Milena entschied sich für eine stilisierte Amaryllis.

3. Kapitel

MOHN

Als sie ihre ausgefallenen Tuniken nach der dritten Anprobe abholten, bezahlte Milena wie üblich mit einem Wechsel ihres Vaters. Er gewährte ihr Zugriff zu seinem Bankkonto und freie Hand, solange sie das Geld für sinnvolle Dinge ausgab. Angemessene Kleidung gehörte für ihn bestimmt dazu, dachte Milena. Jan Jesenský stammte aus ärmlichen Verhältnissen und hatte sich zum stadtbekannten Professor für Kieferchirurgie hochgearbeitet. Einst spielte er nicht nur Geige in Nachtlokalen, um sein Studium zu finanzieren, er arbeitete sogar als Kofferträger auf dem Prager Bahnhof. Heute sollte jeder sehen, was er erreicht hatte, deshalb legte er allergrößten Wert auf sein Äußeres. Ihr Vater besaß handbestickte Socken mit seinen Initialen und bald mehr Schuhe als Bücher, und das sollte etwas heißen in einem Arzthaushalt. »Wenn mein Vater nachfragt, sagen Sie ihm bitte, dass es sich um eine Abendveranstaltung meiner Universität handelt, bei dem ich als Hypatia auftrete.« Sie und ihre Freundinnen hatten sich bereits wieder umgezogen.

»Ich verstehe nicht, gnädiges Fräulein?«

»Das war eine griechische Philosophin«, erklärte sie. »Vielleicht schreiben Sie es sich besser auf?«

Hastig notierte der Schneider Hüpat …, hielt dann inne. »Mit Ypsilon und hinten mit i und a«, sagte sie. »Und bitte sagen Sie ihm auch, dass es sich dabei um nur ein Kleid handelt, ein sehr aufwendiges.« Sie gab Herrn Kučera einige Kronen Trinkgeld in bar.

»Wohin darf ich die Kleider morgen bringen lassen?«

»Alle zu mir, in die Obstgasse siebzehn, fünfter Stock, wie üblich. Vielleicht können Sie sie übereinander auf einen Bügel hängen, dass man meint, es sei nur eines mit mehreren Unterröcken? Und bitte liefern Sie vor zwölf Uhr, das ist wichtig.« Vormittags war sie sicher, dass ihr Vater nicht zu Hause war. Er hielt Vorlesungen in der Universität, erst nach dem Mittagsmahl stand er für seine Patienten in seiner Praxis im Erdgeschoss bereit.

»Selbstverständlich.« Herr Kučera notierte sich alles und schob die Extrascheine in die Weste.

Die fließenden Bewegungen der Miss Duncan hatten sie bereits dreimal im Kino studiert, aber nun wollten sie den sinfonischen Ausdruckstanz in der passenden Ausstattung einüben. An einem Abend, an dem sie sich ungestört wähnten, trafen sie sich bei Milena. Die Dienstboten hatten Ausgang und ihr Vater besuchte Agneta, seine langjährige Geliebte am anderen Ende der Stadt. Die gesamte Wohnung gehörte ihnen. Schon das Umkleiden und Frisieren in Milenas Ankleidezimmer war ein Vergnügen.

»Die moderne Frau trägt keine Hochsteckfrisuren oder enganliegende Zöpfe mehr, auch das Haar darf atmen.« Milena zeigte ihnen ein paar der internationalen Zeitschriften, die sie sich nach der Recherche im Arco gekauft hatte. Jarmilas dunkle Mähne, Milenas helle Locken und Stašas kastanienbraunes Glanzhaar flossen ihnen bald in sanften Wellen