Mirjams Schatz - Romana Knötig - E-Book

Mirjams Schatz E-Book

Romana Knötig

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Beschreibung

Kate Falling ist achtzehn Jahre alt, als ihre Familie bei einem tragischen Verkehrsunfall getötet wird. Völlig auf sich allein gestellt, versucht sie der anfänglichen Verzweiflung und Ausweglosigkeit zu trotzen und nimmt den harten Kampf, ihren Platz im Leben zu finden, auf. Durch ihren Ehrgeiz und festen Willen schafft sie es, eine erfolgreiche Strafverteidigerin zu werden und schließlich wird ihr der von ihren Kollegen so begehrte Einstieg in die Partnerschaft einer renommierten Anwaltskanzlei angeboten. Doch gerade als ihr Leben wieder in stabilen Bahnen zu verlaufen scheint und sie am Höhepunkt ihrer Karriere steht, schlägt das Schicksal erneut erbarmungslos zu. Kate wird die Diagnose Multiple Sklerose gestellt und sie hat neben körperlichen Beschwerden mit einer Vielzahl an Gefühlen zu kämpfen: Wut, Angst, Trauer, Resignation.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Zu diesem Buch

Kate Falling ist achtzehn Jahre alt, als ihre Familie bei einem tragischen Verkehrsunfall getötet wird. Völlig auf sich allein gestellt, versucht sie, der anfänglichen Verzweiflung und Ausweglosigkeit zu trotzen und nimmt den harten Kampf, ihren Platz im Leben zu finden, auf. Durch ihren Ehrgeiz und festen Willen schafft sie es, eine erfolgreiche Strafverteidigerin zu werden und schließlich wird ihr der von ihren Kollegen so begehrte Einstieg in die Partnerschaft einer renommierten Anwaltskanzlei angeboten.

Doch gerade als ihr Leben wieder in stabilen Bahnen zu verlaufen scheint und sie am Höhepunkt ihrer Karriere steht, schlägt das Schicksal erneut erbarmungslos zu. Kate wird die Diagnose Multiple Sklerose gestellt und sie hat neben körperlichen Beschwerden mit einer Vielzahl an Gefühlen zu kämpfen: Wut, Angst, Trauer, Resignation.

ROMANA KNÖTIG

MIRJAMS SCHATZ

Roman

www.tredition.de

© 2012 Romana Knötig

Umschlaggestaltung: Markus Maier

Umschlagbild: „Sommerende“ von Romana Knötig

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8491-2000-9

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere fürdie elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Personen, Orte und Namen in diesem Buch sind frei erfunden, autobiographische Züge jedoch in vielerlei Hinsicht vorhanden.

Für meine Familie

Für Selma und Gerhard,

Manuela und Markus

Ihr seid

die Sonne und der Regen

der Tag und die Nacht

die Luft und die Erde

die Musik und die Stille

Ihr seid

mein Glück und mein Friede.

Nichts ist härter als Diamant.

Nur der Mensch.

Inhalt
Prolog
1. Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
2. Teil
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25

Prolog

Ihr Ticket, bitte“, wiederholte die Dame am Schalter nun schon zum dritten Mal, „Sie sind ohnehin schon spät dran, oder wollen Sie, dass das Flugzeug ohne Sie startet?!“

Kate schreckte aus ihren Gedanken hoch. Eilig kramte sie in ihrem Rucksack nach dem Flugschein. „Verzeihung, Ma’am.“

„Okay, Ms...äh...Bergmann, die vorletzte Reihe ist noch unbesetzt. Möchten Sie lieber einen Platz am Fenster oder am Gang?“

Verwirrt sah Kate die Frau hinter dem Schalter einen Moment lang an, bevor ihr klar wurde, dass mit dem Namen Bergmann sie gemeint war. In ihrem jungen Leben hatte sie bereits drei verschiedene Namen getragen und es würde gewiss nicht der letzte sein: Kate Milstedt, ihr Mädchenname, dann Falling, als sie Eric geheiratet hatte, und nun Lisa Bergmann, ihre neue, vorläufige Identität. Wenn sie erst einmal ihr Ziel erreicht hatte, würde sie einige Zeit verstreichen lassen und dann wieder ihren ursprünglichen Namen annehmen. Niemand würde sich mehr für ihre Geschichte interessieren und in Neuseeland kannte man sie weder unter Kate Milstedt noch unter Lisa Bergmann. Neuseeland. Dort wollte sie hin.

„Ein Fensterplatz wäre mir lieber“, sagte Kate und stellte ihre Reisetasche auf das Förderband.

Der Chelford-Flughafen war ein modernes, unüberschaubares Areal mit riesigen Hallen, endlos langen Gängen, Geschäften und Restaurants aller Art sowie pompösen Gebilden aus Marmor, die – völlig deplatziert – an die ersten Versuche junger Künstler erinnerten.

Nachdem sie durch die Passkontrolle gegangen war, kaufte sich Kate bei einem Imbissstand ein Schinken-Käse-Sandwich und hielt nach einem freien Sitzplatz Ausschau. Die Menschenmassen und die abgestandene Luft machten sie schwindlig. Außerdem dröhnten die Flugansagen aus den Lautsprechern in ihren Ohren. Als sich schließlich ein älterer Herr aus seinem Stuhl erhob, ließ sich Kate erschöpft in diesen fallen und schloss für einen Moment die Augen. In ihrem Kopf rotierten die Ereignisse der letzten Tage. Das lange Warten auf den richtigen Zeitpunkt, die tränenreiche Verabschiedung von Mirjam und die Angst vor dem Scheitern. Eine Angst, die ihr fast den Verstand raubte. Und dann war plötzlich alles so schnell gegangen: die Flucht aus der Klinik mit den zweihundertfünfzig Me-tern kaltem Wasser, die vor ihr gelegen hatten; die Suche nach der Reisetasche mit der trockenen Kleidung, dem gefälschten Pass und den gebündelten Geldscheinen; das Verändern ihres Aussehens und die Fahrt zum Flughafen.

Als ihre Gedanken begannen, tiefer in die Vergangenheit vorzudringen, riss Kate erschrocken die Augen auf. Da war sie wieder – diese lähmende Angst. Kate hatte in denletzten beiden Jahren die verschiedensten Ängste durchlebt: die Angst vor den schmerzhaften Behandlungen undden gesenkten Blicken der Ärzte; die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren; die Angst, sich selbst und den anderen nicht mehr genügen zu können; die Angst vor der unsicheren Zukunft; die Angst vor dem Einschlafen und Wiederaufwachen. Und vielleicht war eine gewisse Angst auch in ihrem früheren Leben stets präsent gewesen, so wie ein giftiges Insekt, dessen Anwesenheit man erst dann bemerkt, wenn es bereits zugestochen hat. Aber diese Angst, die sie hier am Chelford-Flughafen umgab und bereits mit dem Sprung in den Fluss ihren Anfang genommen hatte, war anders. Packender, bedrohlicher. Zu viel hing von der erfolgreichen Durchführung dieses Vorhabens ab, im Grunde ihre gesamte weitere Existenz. Aber was, wenn es scheiterte? Wenn jemand hinter ihr Geheimnis gekommen war? Hatte sie auch wirklich keinen Fehler gemacht? Oder wenn sie jemand, trotz Brille und Perücke, als diejenige erkannte, die sie eigentlich war?

Nervös fischte Kate aus ihrer Jackentasche eine Packung Zigaretten hervor und zündete sich eine davon an. Während sie den Rauch einsog, ließ sie ihre Flucht noch einmal Revue passieren. Nein, es war alles nach Plan gelaufen. Es musste einfach klappen! Wenn sie erst mal im Flugzeug saß, konnte nichts und niemand sie mehr aufhalten. Allmählich beruhigte sie sich und als endlich ihre Flugnummer aufgerufen und die Gangway freigegeben wurde, verschwand dieses panische Gefühl zur Gänze, so schnell, wie es zuvor gekommen war.

Die Maschine war entgegen ihres Erwartens bis zu den hinteren Reihen fast voll besetzt, nur vereinzelt war ein freier Sitzplatz zu erkennen. Kate hatte es sich neben dem Fenster, so gut es ging, bequem gemacht. Die beiden Plätze neben ihr waren noch frei. Bald, sagte sie sich, bald fängt mein neues Leben an! Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Dann griffen ihre Finger nach dem Medaillon, das sie um den Hals trug und umschlossen es zärtlich. „Danke“, flüsterte sie leise, „danke, dass ihr meine Schutzengel wart. Ich liebe euch, Mum, Dad, Annie.“

Als der Mann zu ihrer Rechten sie zum ersten Mal ansprach, war sie noch zu sehr in Gedanken vertieft, als dass sie die Stimme sofort erkannt hätte.

„Kate?“, fragte er erneut, „Du bist es doch, nicht wahr?“

Kate zuckte unwillkürlich zusammen. Jemand hatte sie bei ihrem Namen genannt. Kate. Nicht Lisa Bergmann, als die sie sich ausgab. Und diese Stimme, die so vertraut in ihren Ohren klang. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Sie wagte nicht, sich umzudrehen.

Das Flugzeug hatte inzwischen die Startbahn erreicht und donnerte mit enormer Geschwindigkeit über den schwarzen Asphalt. Ein Kind in den vorderen Reihen schrie auf und man konnte die monotone Stimme der Mutter hören, die es zu beruhigen versuchte. Draußen ging die Sonne hinter den Bäumen auf, der Nebel hing noch über dem Land und als die Maschine abhob, war sie zu einem glühenden Ball am Horizont aufgestiegen.

Als Kate schließlich den Blick wandte, hatte die Helligkeit noch nicht den gesamten Innenraum erreicht, sodass niemand ihr Gesicht sehen konnte. Es war aschfahl.

1. Teil

„Die Mahnung zur Weisheit“ (Spr. 4,18-4,19)

Doch der Pfad der Gerechten ist wie das Licht am Morgen; es wird immer heller bis zum vollen Tag. Der Weg der Frevler ist wie dunkle Nacht; sie merken nicht, worüber sie fallen.

Kapitel 1

Im Nachhinein konnte Kate nicht mehr genau sagen, wann alles begonnen und ob es überhaupt einen bestimmten Tag oder Zeitpunkt gegeben hatte, an dem ihr Leben aus den Bahnen geraten war. Aber zweifellos hatte es Vorwarnungen gegeben. Nicht etwa von Freunden, Verwandten oder irgendwelchen anderen Leuten – nein! Sie waren von ihr selbst gekommen, aus ihrem innersten Bewusstsein, dessen Zeichen zu deuten sie damals noch nicht imstande gewesen war. Und zweifelsohne war dem Ganzen ein schwerer Schicksalsschlag vorausgegangen, an diesem heißen Frühsommertag...

„Beeil dich Kate! Lucas steht schon vor der Tür.“

„Dann lass ihn halt noch für ein paar Minuten rein! Ich bin noch nicht ganz fertig.“

„Aber wenn ihr nicht bald losfahrt, fängt die Probe ohne euch an.“

„Ich weiß. Diese verdammte Frisur hält einfach nicht!“, rief Kate verärgert.

Mrs. Milstedt ging kopfschüttelnd zur Haustür. Beinahe zwei Stunden war es nun her, seitdem sich ihre ältere Tochter im Bad eingeschlossen und kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hatte. Aber wenn sie an ihre eigene Jugendzeit zurückdachte, kamen ihr dieselben Bilder in den Kopf. Das Kleid, das ständig verrutschte und nie recht zu passen schien, die unbändigen Haare, der nervöse Blick auf die Uhr und dieses flaue Gefühl in der Magengegend. Und alles nur wegen ein paar Stunden Tanz, Musik und Unterhaltung. Aber wahrscheinlich blieb gerade deswegen der Abschlussball immer in Erinnerung.

„Hallo Lucas, komm rein! Kate braucht noch ein Weilchen.“

„Danke, Mrs. Milstedt. Die hier sind für Sie.“ Etwas verlegen hielt Lucas ihr einen Strauß gelber Rosen hin.

„Oh, die sind aber schön! Vielen Dank! Möchtest du vielleicht noch was trinken, bis Kate runterkommt?“

„Ja, ne Coke wär nicht schlecht.“

„Dann setz dich schon mal ins Wohnzimmer. Annie müsste auch drüben sein.“

Das Wohnzimmer war wohl der imposanteste Bereich des Hauses, sofern man überhaupt einen Raum von denanderen hervorheben konnte. Schwere Ölgemälde hingen über einem steinernen Kamin, dessen Glut sich in der gegenüberliegenden Glasfront spiegelte und den Blick auf die Terrasse verschleierte. Ein gewaltiger Kristallluster tat das seine dazu. In die Mitte des Raumes war eine zimtfarbene Sitzgruppe drapiert, dazu ein gediegener Mahagonitisch, der mit Farbe und Struktur des Wandschranks konform ging. Über die andere gesamte Seite des Raumes spannte sich ein deckenhohes Bücherregal mit naturwissenschaftlichen Bildbänden und medizinischen Fachbüchern. Dazwischen überall Fotos. Kate und Annie beim Schwimmen, Annie auf dem Dreirad und in Mamas Armen, Kate mit ihrer ersten Schultüte und in Papas viel zu großen Gummistiefeln. Und dann noch ein gemeinsames Foto vor einer Berghütte in den Westgregorian Mountains.

Als Lucas den Raum betrat, war Annie gerade dabei, ihre Fingernägel in einem grellen Rotton zu lackieren. Sie sah kurz auf und bedachte ihn mit einem verschmitzten Lächeln. In ihrem cremefarbenen Zweiteiler und den hochgesteckten blonden Locken wirkte sie bedeutend älter als siebzehn.

„Wow, Annie, du siehst toll aus! Hast du vor, die heutige Ballkönigin zu werden?“

„Ach komm, lass den Quatsch!“

„Also, meine Stimme hast du jedenfalls“, feixte Lucas.

Mrs. Milstedt kam mit einem vollen Glas in der Hand zurück, gefolgt von ihrem Mann Arnd.

„Warum ärgert sich denn meine Kleine schon wieder?“ Mr. Milstedt ging lachend auf Lucas zu und klopfte ihm tadelnd auf die Schulter. „Dachte ichs mir doch!“

„Guten Abend, Mr. Milstedt.“

Kates und Annies Vater war, im Gegensatz zu seiner zierlichen Frau, ein groß gewachsener, stattlicher Mann mit graumeliertem Haar und Schnauzer. Durch silber umrandete Brillengläser lugten zwei warmherzige, allwissende Augen und auf seinem Gesicht breitete sich stets ein schelmisches Grinsen aus.

Plötzlich polterte jemand hinter ihnen die Treppe hinunter und so lange Kate auch gebraucht haben mochte, bei ihrem Anblick war alle Zeit vergessen. Sie trug ein schlichtes, weinrotes Abendkleid, dessen fein bestickter Stoff fast bis auf den Boden fiel. Die dunklen Haare waren im Nacken zu einem Knoten gebunden und mit Strasssteinchen bedeckt. Um ihren Hals legte sich eine weiße Perlenkette. Kate hatte ihre rehbraunen Augen lediglich mit dunkler Mascara geschminkt, ansonsten trug sie keinerlei Make-up. Arnd meinte, sie hätte die natürliche Schönheit ihrer Mutter geerbt.

„Na, wie seh ich aus?“ Kate drehte sich ein Mal um die eigene Achse und vollführte einen höflichen Knicks.

„Großartig! Einfach bezaubernd!“ Mr. Milstedt drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange und sah mit Zufriedenheit die bewundernden Blicke von Lucas.

„Mir bleibt die Spucke weg. Mann, hab ich ein Glück! Und du bist dir sicher, dass du mit mir auf den Ball gehen willst?“

Kate schüttelte lachend den Kopf. „Wenn ihr noch lange so dasteht und Komplimente macht, dann überleg ichs mir wirklich noch mal.“ Sie gab ihm einen Kuss und zog ihn Richtung Haustür. Annie und ihre Eltern folgten.

„Nun aber los ihr zwei!“ Arnd half seiner Tochter in den Mantel und gab Lucas einen Klaps auf die Schulter. „Fahr nicht zu schnell!“, flüsterte er ihm zu.

„Ich werde versuchen, euch einen Platz in den ersten Reihen zu reservieren. Ich warte dann beim Eingang auf euch. Sagen wir halb acht?“

„Ok, mein Schatz, wir werden pünktlich sein. Ich hoffe nur, wir finden uns bei all den Leuten.“ Mrs. Milstedt schob die beiden zur Tür hinaus und winkte ihnen nach.

„Bis später!“

St. Patrick Highschool war eine der ältesten bestehenden Fakultäten in Poreb County und von einem Bankierssohn in den frühen Zwanzigern gegründet worden. Seither waren weder nennenswerte Veränderungen am Gebäude noch an der Schulverwaltung vorgenommen worden. Alles lief seinen gewohnten, immerwährenden Lauf und niemand im Professorenkreis hegte auch nur den leisesten Wunsch nach Umstrukturierung und neuen Lehransätzen. Nichtdestotrotz war die St. Patrick Highschool eine der bestbesuchten Schulen im ganzen Distrikt und ihr guter Ruf weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt.

Kates Eltern waren sich nach den guten Noten und dem Ehrgeiz ihrer Tochter schnell einig gewesen, dass nach der First State School ihre weitere Zukunft in St. Patrick liegen sollte. Nach fünf mühelosen Jahren stand Kate nun vor einem ausgezeichneten Abschluss.

„Und, hast du sie draußen wo entdeckt?“ Erwartungsvoll blickte Kate ihre Freundin an.

„Nein, tut mir leid“, antwortete diese, „aber wenn wir nicht bald reingehen, verpassen wir den Start. Außerdem komm ich gleich am Anfang dran und wir wollten doch noch mal unseren Text durchgehen.“

„Vergiss den blöden Text! Ich bleib so lange hier, bis sie auftauchen. Vielleicht stehen sie irgendwo im Stau oder Annie hat wie so oft vergessen, das Licht auszuschalten und sie sind noch mal zurückgefahren. Verdammt Jo, das ist mein Abschlussball!“

Joanna seufzte. „Du hast Recht.“ Mitfühlend griff sie nach Kates Hand und drückte sie sanft. „Ich sag Lucas Bescheid, er soll die Plätze noch für ein paar Minuten im Auge behalten. Bin gleich zurück.“ Joanna zwinkerte Kate zu und eilte in Richtung Festsaal.

Kates anfänglicher Ärger über die Verspätung ihrer Familie war inzwischen einem beunruhigenden Gefühl gewichen. Sie wusste, dass ihre Eltern stets pünktlich waren, besonders zu solchen Ereignissen. Besorgt schielte sie ins Freie. Von den Menschenmassen, die anfangs in das Schulgebäude gedrängt hatten, waren nur noch ein paar verspätete Angehörige übriggeblieben, die nervös auf die Uhr blickten und mit Erleichterung feststellten, dass sie es doch noch rechtzeitig geschafft hatten.

Joanna kam keuchend zurückgerannt. „Puh, drinnen ist die Hölle los! Mit so vielen Leuten hätt ich echt nicht gerechnet. Das musst du dir ansehn!“

Kate brachte ein müdes Lächeln zustande. Die Enttäuschung ließ jegliche Lust schwinden, an der Aufführung teilzunehmen. Für wen sollte sie denn spielen? Noch dazu die strahlende Helena! Für Joanna etwa? Oder Lucas? Ja, Lucas, ihre erste große Liebe, falls man hier überhaupt von Liebe sprechen konnte. Es war mehr eine dieser Highschool-Beziehungen, die sich notgedrungen ergab, wenn pubertierende Jungs und Mädchen zu fast gleichen Anteilen aufeinandertrafen. Sie hatten sich am Pausenhof kennengelernt: Kate, die ihn verstohlen inmitten einer Gruppe Halbwüchsiger gemustert hatte, ihn, den großen, dunklen Jungen, der mit seinen coolen Sprüchen vor nichts Angst zu haben schien. Und Lucas war einfach auf sie zugegangen und hatte sie angesprochen. Seitdem waren vier Monate vergangen und außer Händchenhalten und heißen Küssen auf Partys war nicht viel gelaufen. Aber Kate mochte ihn. Und Lucas gab ihr das Gefühl, begehrt zu sein. Im Grunde wussten sie beide, dass es eine Beziehung auf Zeit war und sich ihre Wege nach der Schule trennen würden.

„Komm Kate, lass uns reingehen! Ich bin sicher, deine Eltern wurden durch was Wichtiges aufgehalten. Aber sie kommen noch, ganz bestimmt! Und wenn sie die ersten Minuten verpassen, ist es ohnehin besser für sie.“ Joanna gluckste und zog eine Grimasse. „Marlies spielt echt zum Kotzen!“

„Zugabe! Zugabe!“ Die Menge applaudierte. Einige Leute hatten sich sogar aus ihren Sitzen erhoben, um ihrem Beifall mehr Ausdruck zu verleihen. Troja war ein großer Erfolg gewesen. Alles war wie geplant abgelaufen, ohne einen einzigen Versprecher.

Eltern und Familienangehörige drängten nun zu ihren Zöglingen, um ihnen zu ihren reifen Leistungen zu gratulieren.

Kate versuchte, in der Menschenmenge jemanden aus ihrer Familie zu erkennen. Lucas hatte es geschafft, die drei Plätze in der dritten Reihe links bis zum Beginn des Stückes freizuhalten. Sie waren bis jetzt leer geblieben.

„Ms. Milstedt?“ Ein vollbärtiger, untersetzter Mann war neben sie getreten.

Kate hob die Augenbrauen.

„Kann ich Sie bitte unter vier Augen sprechen?“, fragte er.

„Klar, worum gehts?“

Der Mann kniff die Augen zusammen und blinzelte nervös. „Es wäre mir lieber, wir könnten uns wo ungestört unterhalten. Vielleicht gibt es ein Klassenzimmer, das frei ist.“

„Die sind alle zugesperrt“, sagte Kate. Und nach kurzem Überlegen: „Aber der Pausenraum ist bestimmt offen. Was ist es denn so Wichtiges, dass Sie es mir nicht hier sagen möchten? Ich meine, heute ist Abschlussball und ich würde jetzt ganz gerne feiern gehn.“

Der Mann fasste Kate unbeirrt am Arm und zog sie sanft nach draußen. Der Gang war leer. Nur am hinteren Ende war eine Gestalt zu erkennen, die zusammengekauert auf einem Stuhl saß. Als sie sich näherten, erhob sich die Gestalt langsam. Es war eine Frau in Uniform. Sie ging ein paar Schritte auf Kate zu und bot ihr freundlich die Hand an. „Guten Abend, Ms. Milstedt. Mein Name ist Rose Lenghart. Ich bin Polizeibeamtin.“

Kate runzelte die Stirn. „Polizei?“

Der Mann an ihrer Seite flüsterte der Frau ein paar Worte zu, die Kate aber nicht verstehen konnte.

„Bitte, Ms. Milstedt, führen Sie uns zum Pausenraum.“ Die Frau lächelte matt.

Kate verstand noch immer nicht, was dies alles zu bedeuten hatte, aber irgendetwas stimmte nicht. Schweiß trat auf ihre Stirn und ein äußerst beklemmendes Gefühl überkam sie.

„Es wäre besser, wenn Sie sich setzen würden.“ Die Stimme der Polizeibeamtin klang nun so leise, dass sich Kate anstrengen musste, um überhaupt etwas zu verstehen. Der Mann, der sie zuvor angesprochen hatte, sah mit ernster Miene zu Boden.

„Mein Kollege und ich müssen Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen. Ihre Familie hatte einen Unfall bei der South Cornet Bridge.“

„Was?!“ Kate sprang auf. „Wie konnte das passieren? Sind sie verletzt?“

Ms. Lenghart warf ihrem Kollegen einen raschen Blick zu, so als würde sie es vorziehen, er würde in der Erzählung fortfahren. Dieser jedoch starrte nur weiter ins Leere. „Wir wissen noch nichts Konkretes. Unsere Techniker sind gerade dabei, den Wagen zu untersuchen. Sie vermuten, die Bremsen...“, sagte sie.

„Oh mein Gott!“ Kate sank benommen auf den Stuhl zurück. Ihre Mundwinkel zuckten nervös und ihre Lider begannen leicht zu flattern.

„Es sieht so aus, als hätten die Bremsen versagt. Ihr Vater ist von der rutschigen Fahrbahn abgekommen. Der Wagen ist mit voller Geschwindigkeit durch das Brückengeländer gerast.“ Die Polizeibeamtin räusperte sich mehrmals. „ Es tut mir leid, Ms. Milstedt, ihre Familie ist abgestürzt.“

Kate warf den Kopf herum. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet. Als sie sprach, klang ihre Stimme schrill und fremd. „Ich will sofort zu ihnen! Ich muss sie sehn! Fahren sie mich ins Krankenhaus. Los!“

Eilig lief sie zur Tür.

Der Mann, der die ganze Zeit über apathisch dagestanden hatte, sog tief die Luft ein. Dann sah er Kate direkt in die Augen. „Ms. Milstedt, es waren über fünfundzwanzig Meter.“ Seine Stimme brach ab. Er hatte große Mühe, seine Worte hervorzubringen. Zitternd griff er nach einem Taschentuch und wischte sich über die nasse Stirn. „Niemand auf der Welt hätte einen derartigen Sturz überlebt. Ms. Milstedt, ihre Familie ist tot. Mein aufrichtiges Beileid.“

Kate taumelte. Ihr Mund stand offen und an ihrer rechten Schläfe pochte eine dicke Ader. Ihr Herz raste. Dann ging alles sehr schnell. Erst war es nur ein gurgelndes Geräusch, das aus ihrem Inneren drängte, dann ein gellender Schrei. Kate griff nach der Beamtin, um Halt zu finden, verfehlte diese jedoch und kippte vornüber. Ein dumpfer Aufprall, dann vollkommene Dunkelheit.

Kapitel 2

Am Fuße des Venaro Hill schlängelte sich ein schmaler Fluss, der an manchen Stellen in ein breites Flussbett auslief. In den Sommermonaten waren dies beliebte Plätze für Angler, Camper oder junge Abenteurer, die, um ein Lagerfeuer versammelt, nach neuen Entdeckungen Ausschau hielten. In den frühen Morgenstunden befand sich kaum jemand am Uferpfad, nur ein älterer Herr, der mit seinen zwei Hunden spazieren ging und zwei junge Mütter, die sich über die Fortschritte ihrer Sprösslinge unterhielten, während sie die Kinderwägen vor sich herschoben. Kate hatte den Wagen an der nördlichen Seite des Venaro Hill geparkt und war dann querfeldein zum Fluss hinuntergelaufen. Der Tau hing noch an den üppigen Blüten der Nachtkerzen und die Sonnenstrahlen färbten das Wasser silbern. Kate atmete tief die klare Luft ein. Am Uferrand lagen ein paar leere Bierdosen und neben den Resten einer Feuerstelle hatte jemand seinen Pullover vergessen. Nach einigen Metern machte der Fluss eine Biegung und der Pfad führte steil bergauf. Kate keuchte, als sie die Steigung hinter sich gelassen hatte und blieb für einen Moment stehen. Die Aussicht auf den Flusslauf und das rote Gestein des angrenzenden Venaro Hill war berauschend. Wie die Aufnahme auf einer dieser kitschigen Postkarten. Kate band sich den Pullover um die Taille und lief weiter. Wie jedes Mal, wenn sie hier ihre Runde drehte, fingen ihre Gedanken an zu kreisen. Etwas mehr als zwei Jahre waren seit dem Tod ihrer Familie vergangen, aber für Kate schien es noch immer so, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte nie einen Weg gefunden, mit diesem schrecklichen Ereignis abzuschließen, aber vielleicht hatte sie auch nicht die Möglichkeit dazu bekommen.

Nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte, war sie von den beiden Polizeibeamten ins Poreb County Hospitalgebracht worden. Die Ärzte hatten sie drei Tage lang im Tiefschlaf gehalten und ihr anschließend eine psychologische Betreuung zugewiesen. Die Nächte waren grausam und nur mit einer hohen Anzahl von Schlaf-und Beruhigungstabletten zu ertragen gewesen. Nach vier weiteren Tagen hatte man sie mit den besten Wünschen entlassen und zu ihrer Tante nach Langville gesandt. Kate hatte erst lange Zeit vor dem Krankenhaus gewartet, in der Hoffnung, man würde sie dort abholen und schließlich den Bus genommen. Die Adresse, die ihr ein Pfleger gegeben hatte, war leicht zu finden gewesen. Ein schönes Holzhaus mit grünen Fensterläden in einer ruhigen Siedlungslage.

Onkel Benedict war der jüngere Bruder ihres Vaters und hatte sich seit der Heirat mit Sophie um einhundertachtzig Grad gewendet. Die regelmäßigen Treffen und Ausflüge mit Arnd und dessen Frau schienen plötzlich ebenso unwichtig wie das Heranwachsen seiner beiden Nichten. Kate konnte sich nur an ein paar Besuche seinerseits erinnern, die aber jedes Mal im Streit geendet hatten. Sie machte sich also keine allzu großen Illusionen, dass Tante Sophie und Onkel Benedict, die es bevorzugt hatten, kinderlos zu bleiben, sie besonders liebevoll aufnehmen würden. Dennoch waren sie seit dem frühen Tod ihrer Großeltern die einzigen Verwandten, die sie noch hatte.

Nach Kates Ankunft im neuen Heim war nicht viel Zeit zum Trauern geblieben. Onkel Benedict hatte ihr aufgetragen, eine Liste mit all jenen Sachen anzufertigen, die sie aus ihrem Elternhaus benötigen würde. Und Sophie hatte sie regelrecht mit Arbeit eingedeckt. Stiegenaufgang schrubben, Wäsche waschen, Unkraut jäten, Gemüse putzen. „Damit du ein wenig abgelenkt wirst“, meinte sie. Ein Meerschweinchen wäre ihr bedeutend lieber gewesen, so wie früher, als sie mehrere besessen und das helle Gequieke durchs gesamte Haus getönt hatte. Die kleinen Nager mit ihrem zutraulichen Wesen und der oft unterschätzten Intelligenz hatte Kate schon immer gemocht, doch Onkel Benedict schien eine allgemeine, wenn auch fragwürdige, Tierhaarallergie zu haben und somit war dieses Thema schnell vom Tisch.

Nach der Beerdigung hatten sie einen Notar aufgesucht, der einen kleinen Pflichtanteil Onkel Benedict zuwies, das Haus und den Rest des Vermögens sollte Kate an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag übertragen bekommen.

Die folgenden Wochen waren geprägt von Kates Überlegungen in Hinblick auf ihren weiteren beruflichen Werdegang und dem festen Entschluss der Milstedts, dass ein Jurastudium das einzig Richtige für sie sei. Benedict war selbst erfolgreicher Anwalt und konnte Kates Wunsch, einer Ausbildung als Journalistin oder Schriftstellerin nachzugehen, nur belächeln. „Was willst du mit einem derart brotlosen Job? Glaubst du, wir können dir jedes Mal aus der Patsche helfen, wenn du mal wieder auf der Straße stehst?! Aber wenn du dich für ein Jurastudium entscheiden würdest“, fügte er milde hinzu, „dann könnte ich sicher ein gutes Wort bei meinen Partnern für dich einlegen und wer weiß...vielleicht steigst du dann in unserer Kanzlei ein.“

Kate hatte schnell begriffen, dass ihre Wünsche immer erst an zweiter Stelle zu stehen hatten. Die Tatsache, dass sie außer Onkel Benedict und Tante Sophie niemanden mehr hatte, den sie um Rat und Unterstützung fragen konnte, sollte dies einmal erforderlich sein, ließ sie zu der Überzeugung gelangen, dass es besser war, sich nicht gegen die beiden aufzulehnen.

In Langville gab es weder eine juristische Fakultät noch irgendeine andere Universität. Kate war also gezwungen, sich einen billigen Gebrauchtwagen zu kaufen und zwischen Poreb und Langville hin-und herzupendeln. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr die Milstedts nahelegten, sich einen Heimplatz zu organisieren. Kate war daraufhin in Tränen ausgebrochen und hatte versucht, sich mit einer Schachtel Schlaftabletten das Leben zu nehmen.

Der Pfad mündete nun in einen breiteren Kiesweg, der eigens von der Stadtverwaltung für Spaziergänger angelegt worden war. Vor einem Waldstück teilte er sich und Kate verließ schnellen Schrittes den Uferpfad. Wie immer lief sie an dem Stapel gefällter Baumstämme und der Futterkrippe vorbei und erreichte schließlich eine kleine Lichtung. Das Handy surrte. Kate blieb stehen und griff in ihre Hosentasche.

„Hi Jo, was gibts? Wartest du etwa schon auf mich?“

„Nein nein, bin erst bei der Brücke. Philip hat mich so lang aufgehalten. Tut mir leid.“

Kate lachte. „Seid wohl nicht aus dem Bett gekommen?“

„An was du schon wieder denkst!“ Joanna grummelte vor sich hin. „Nein, Phil hat mich gebeten, seine Arbeit noch mal durchzusehen. Auf Fehler und so. Du weißt ja, er und Eric haben heut Abgabetermin.“

„Au scheiße! Das hab ich total vergessen!“ Kate schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.

„Mach dir nichts draus. Hauptsache du fragst Eric danach, wenn ihr euch seht. Sowas kommt immer gut an. Habt ihr euch denn schon was ausgemacht?“

Kate legte den Kopf schief. „Sei nicht so neugierig, Jo!“

„Ach was, tu doch nicht so scheinheilig! Du wartest doch schon die ganze Zeit darauf, dass ich dich frage.“

„Also gut“, meinte Kate gnädig, „Eric hat gestern angerufen und mich für morgen Abend zum Essen eingeladen. In das neue Steak-House am Joseph Square.“

„Ich werd verrückt! Und du sag noch ein Mal, er will nichts von dir!“

Joanna legte auf, nachdem sie vereinbart hatten, sich in zwanzig Minuten vor Terrys Imbissstube zu treffen. Bis dahin blieb Kate noch genügend Zeit, um einen kleinen Umweg zu machen. Sie verließ die Lichtung und kam über einen Forstweg auf die Arlens Road. Kate joggte diese entlang, bis sie zu einer Kreuzung kam. Sie hielt sich nördlich und gelangte schließlich auf die Lynet Street, zu deren linker Seite sich ein weitläufiges Siedlungsgebiet erstreckte. Kate verlangsamte ihr Tempo und hielt vor dem vierten Haus. Nach einem kurzen Blick über die Schulter kletterte sie über das schwarze Eisentor. Der Garten lag verwildert vor ihr. Wo einst ein Gemüsebeet gelegen hatte, wucherte nun dichtes Unkraut und unter den Obstbäumen häuften sich verfaulte Früchte. An der Rückseite des Hauses rankte sich Efeu die Dachrinne empor und das Gras neben dem Brunnen reichte bis zu den Knien. Kate wischte über eine der schmutzigen Fensterscheiben. Die Sonnenstrahlen drangen schwach durch das verschmierte Glas. Das Innere wurde in fahles Licht getaucht. Kate konnte die Umrisse der Sitzgruppe und des hohen Wandschranks erkennen; alles stand genau so, wie es bei ihrem letzten Besuch dagestanden hatte. Kate nickte zufrieden. In weniger als einem Jahr würde sie in ihr Elternhaus zurückkehren, das Haus ihrer und Annies Kindheit und der vielen schönen Erinnerungen.

Sie hatte das Heim von Anfang an gehasst und wenn Joanna nicht gewesen wäre, mit der sie sich ein Zimmer teilte, so hätte sie höchstwahrscheinlich einen zweiten Selbstmordversuch unternommen. Joanna studierte Architektur und schaffte es immer wieder, Kates Gemüt zwischen Paragraphen und Gesetzestexten aufzuheitern. Kate hatte sich anfangs nur sehr schwer an das Studentenleben und die verschrobenen Professoren gewöhnen können, doch ihr unermüdlicher Ehrgeiz hatte sie dazu bewogen, durchzuhalten und insgeheim das Ziel aufkommen lassen, das Studium so schnell wie möglich zu beenden.

Philip und Eric hatten sie in der Mensa kennengelernt. Joanna und Kate waren gerade dabei gewesen, eine Portion weichgekochte Spaghetti mit lauwarmer Sauce zu vertilgen, als sich die beiden Männer zu ihnen an den Tisch gesetzt hatten. Wie sich herausstellte, studierten die zwei ebenfalls Jura, allerdings schon drei Semester weiter. Joanna hatte Phil von Anfang an sympathisch gefunden und als Verkupplerin zwischen Eric und Kate fungiert. Und nun hatte Eric sie tatsächlich zum Essen eingeladen!

Kate sah auf die Uhr und beschloss, in Richtung Terrys Imbissstube aufzubrechen. Auf dem Parkplatz vor dem Lokal standen zwei Autos, von denen eines wahrscheinlich dem Besitzer selbst gehörte. Ansonsten war er leer. Kate wartete ein paar Minuten und entschloss sich schließlich, ihrer Freundin entgegenzulaufen.

Plötzlich verspürte Kate ein Kribbeln in den Beinen, erst im rechten Fuß, dann auch im linken. Abrupt blieb sie stehen. Ihre Beine fühlten sich matt und kraftlos an. Als sie langsam weiterging, war ihr Gang plump und schwerfällig. Ihre Sohlen trafen hart auf den Asphalt und erzeugten ein dumpfes, hallendes Geräusch.

Joanna winkte schon von weitem und lachte, als sie näher gekommen war. „Was ist denn mit dir passiert? Bist du in einen Ameisenhaufen gefallen?“

Kate überging die neckische Bemerkung ihrer Freundin und rieb sich den Bauch. „Wenn ich nicht bald was zu essen krieg, kannst du mich huckepack heimtragen!“

„Na, dann komm! Auf zu Terrys Schinkenomelette.“ Joanna eilte voraus. Als sie sich umdrehte und Kate hinter sich herstolpern sah, hielt sie inne. „Sag mal, gehts dir nicht gut? Hast du dich vielleicht überanstrengt? Ich meine...ich kann ohnehin nicht verstehen, dass du jedes Mal die große Runde nimmst.“

Kate machte eine abwehrende Handbewegung. „Ach was, ich bin nur ein bisschen müde. Wahrscheinlich hab ich gestern zu lang ferngesehen.“

Joanna musterte sie von der Seite. Nach täglichem Zusammenleben auf engstem Raum kannte sie nicht nur Kates Gewohnheiten auswendig, sondern wusste auch, dass diese nie spät zu Bett ging. „Das war nicht das erste Mal, stimmts?“, fragte sie besorgt.

Kate nickte. „Es fing bei Tante Sophie an. Ich war gerade dabei, die Treppe zu putzen, als ich mit dem Bein gegen das Geländer stieß und eine taube Stelle oberhalb des Knies bemerkte. Zwei Tage später war es wieder vorbei. Ich dachte, ich hätte zu lange am Boden gekniet, aber ein halbes Jahr später hatte ich ein ähnlich taubes Gefühl in der Hand.“

Joanna schüttelte besorgt den Kopf. „Kate, du arbeitest zu viel. Erst bei deinem Onkel, dann der Stress auf der Uni. Du solltest wirklich mal ausspannen.“

„Aber das tu ich doch gerade.“ Kate schmunzelte und umarmte ihre Freundin herzlich. „Oder glaubst du etwa, ein Frühstück bei Terry ist für mich arme Studentin kein Luxus?“

Kapitel 3

Richter Samuel Thoss ließ schwerfällig die Hände auf die Richterbank sinken und beugte sich ein Stück nach vor. Seine Augen lugten streng über den Rand seiner schmalen Nickelbrille. Auf seiner Stirn hatte sich im Laufe der Verhandlung ein kleiner See gebildet, den er nun mit einem Taschentuch zu trocknen versuchte. Der Gerichtssaal war bis in die letzten Reihen gefüllt und die heiße, stickige Luft stand förmlich in dem sonst angenehm temperierten Raum. Jeder Luftzug löste ein erleichtertes Aufatmen unter den Zuschauern aus. Richter Thoss war ein genauer, scharfsinniger und überaus launischer Mann Anfang sechzig. Seine unberechenbaren Entscheidungen waren ebenso berüchtigt wie seine sachliche, emotionslose Art, die er sowohl im als auch außerhalb des Gerichtsgebäudes wahrte. Dies machte ihn zu einem der gefürchtetsten Richter in ganz Poreb County und unter den Anwälten scheute man Prozesse, die unter seiner Obhut geführt werden sollten. „Also gut, Mrs. Falling. Schließen Sie damit Ihr Schlussplädoyer ab?“ „Ja, Euer Ehren.“ Kate ging zur Anklagebank zurück und warf einen raschen Blick auf Martin Norse. Der Staatsanwalt hatte während der gesamten Verhandlung sowohl in seiner Zeugenvernahme als auch in der Beweisführung brilliert und die Geschworenen mit einer dramatischen Schilderung des Tathergangs auf seine Seite gezogen. Kate sank erschöpft in ihren Stuhl. Die letzten Stunden hatten ordentlich an ihren Kräften gezehrt und sämtliche Energiereserven in ihr aufgebraucht. Obwohl sie ihr Bestes gegeben hatte, wurde sie das Gefühl nicht los, immer einen Schritt hinter Norse gelegen zu sein. Nervös zupfte sie an ihrer Bluse. Das dunkelblaue Kostüm klebte an ihrer Haut. Die Hitze war unerträglich. Als sie sich gerade zu ihrer Mandantin umdrehen wollte, ertönte der Hammer von Richter Thoss.

„Was passiert jetzt?“, fragte eine leise Stimme neben ihr.

„Die Geschworenen ziehen sich zur Beratung zurück.Über Mittag ist Pause, dann findet die Urteilsverkündung statt.“ Kate musterte ihre Mandantin aus den Augenwinkeln. Fiona war zierlich gebaut und nicht größer als einsfünfundfünfzig. Die schwarz gefärbten Haare hatte sie streng nach hinten gekämmt und bildeten einen starken Kontrast zu ihrer weißen, pergamentartigen Haut. Gespenstisch, dachte Kate.

„Glauben Sie, die sind auf unsrer Seite?“

„Ich weiß es nicht.“

Kate sah den Geschworenen nach, die gemeinsam mit Richter Thoss durch eine Tür hinter der Richterbank verschwanden. Sie hatte in ihrem Schlussplädoyer alles auf eine Karte gesetzt und die tragische Kindheit ihrer Mandantin zum Thema gemacht. Jahrelange Prügeleien und Misshandlungen durch ihre alkoholsüchtige Mutter, deren Belastbarkeitsgrenze stets am seidenen Faden hing und ihr demzufolge viel zu schnell und oft die Hand ausrutschte. Die Strenge und Gefühlskälte eines Stiefvaters, dem man nie etwas recht machen konnte und der Fiona sehr deutlich zu verstehen gab, dass er sie nie als seine Tochter akzeptieren würde. Verwahrlosung, Liebesentzug, Unterernährung, Gleichgültigkeit. Natürlich konnte dies alles keine Entschuldigung für den begangenen Mord an ihrem eigenen Baby sein, aber es würde zumindest erklären, weshalb es zu dieser schrecklichen Tat gekommen war.

Kate hatte während ihrer Ausführungen ein entrüstetes Kopfschütteln bei einem der männlichen Geschworenen und betroffene Blicke bei zwei weiteren beobachten können. Und genau das war ihr Ziel gewesen. Wenigstens einen der Geschworenen in Zweifel zu versetzen, ob tatsächlich eine lebenslange Haftstrafe verhängt werden sollte.