Miss Daisy und der Tod im Wintergarten - Carola Dunn - E-Book
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Miss Daisy und der Tod im Wintergarten E-Book

Carola Dunn

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Beschreibung

Das tote Dienstmädchen von Occles Hall. Daisy Dalrymple, eine junge Adlige mit ausgeprägtem kriminalistischen Scharfsinn, besucht im England der zwanziger Jahre das imposante Landgut Occles Hall. Eigentlich will sie hier einen Artikel schreiben, aber wenige Stunden nach ihrer Ankunft wird im Wintergarten die Leiche des Dienstmädchens gefunden. Die Polizei verdächtigt den Gärtner, aber ist er tatsächlich der Mörder? Miss Daisy hat da so ihre Zweifel, und zusammen mit Alec Fletcher von Scotland Yard macht sie sich an die Ermittlungen in ihrem atemberaubenden zweiten Fall... Prachtvolle Anwesen, englische Atmosphäre und liebenswerte Figuren.

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Ähnliche


Über Carola Dunn

Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte in den USA mehrere historische Romane, bevor sie die »Miss Daisy«-Serie zu schreiben begann.

Folgende Titel liegen vor:

Miss Daisy und der Tote auf dem Eis

Miss Daisy und der Tod im Wintergarten

Miss Daisy und die tote Sopranistin

Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman

Miss Daisy und die Entführung der Millionärin

Miss Daisy und der Tote auf dem Wasser

Miss Daisy und der tote Professor

Miss Daisy und der Tote auf dem Luxusliner

Informationen zum Buch

Das tote Dienstmädchen von Lady Valeria

Daisy Dalrymple, eine junge, schöne Adlige mit ausgeprägtem kriminalistischen Scharfsinn, besucht im England der zwanziger Jahre das imposante Landgut Occles Hall. Eigentlich will sie hier einen Artikel schreiben, aber wenige Stunden nach ihrer Ankunft wird im Wintergarten die Leiche der Magd gefunden. Die Polizei verhaftet den Gärtner, aber ist er tatsächlich der Mörder? Miss Daisy hat da so ihre Zweifel, und zusammen mit Alec Fletcher von Scotland Yard macht sie sich an die Ermittlungen in ihrem atemberaubenden zweiten Fall.

»Miss Daisy ist eine glaubwürdige und überaus liebenswerte Hauptfigur, die mit allen Mitteln für die Wahrheit und um ihre Unabhängigkeit kämpft. Man kann den nächsten Titel der ›Miss Daisy‹-Serie kaum erwarten!« Mystery News

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Carola Dunn

Miss Daisy und der Tod im Wintergarten

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Carola Dunn

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Impressum

Prolog

Eine milde Nacht war es für die Jahreszeit. Ein Halbmond, der gelegentlich zwischen den vorüberziehenden Wolken hindurchschien, spendete das nötige Licht. Die Erde war krümelig und ließ sich leicht bewegen.

Dennoch seufzte die Person mit dem Spaten erleichtert auf, als der letzte Rest wieder hineingeschaufelt war. Die Fußstapfen verwischen; hinaus durch die Tür in der Mauer und sie leise zuziehen; fest zuschließen, damit kein Gespenst hinterherkommen kann.

Für Reue war es jetzt ohnehin zu spät.

1

Der ältliche, silbergraue Swift, ein Zweisitzer, klapperte und hustete und hielt schließlich an. Einen Moment lang blieb Graf Phillip Petrie noch am Steuer sitzen. Er lehnte den Kopf mit den glatten blonden Haaren zur Seite, die Stirn gerunzelt, ein Abbild tiefer Konzentration. Hatte er da eben ein neuartiges Rasseln gehört? Es juckte ihm geradezu in den Fingern, dieser Frage sofort unter der Motorhaube nachzuspüren, aber es galt, Daisy pünktlich zur Bahn zu bringen.

Er wandte seinen gedankenvollen Blick dem schmalen, mit weißem Stuck verzierten Haus zu, das auf der anderen Straßenseite stand, von einem Eisengitter abgegrenzt. Daisy konnte sagen, was sie wollte, es war verflixt noch eins nicht comme il faut, daß zwei Mädchen zusammen wohnten – selbst in diesem Bohemien-Viertel Chelsea – und sich allein ihren Lebensunterhalt verdienten, wo sie doch beide ein Zuhause und Familien hatten, die sie jederzeit aufnehmen würden. Wenn doch nur Daisys Bruder Fairacres geerbt hätte und jetzt als Viscount dort leben würde. Aber er hatte in Ypern sein Leben gelassen ...

Man schrieb das Jahr 1923, und es war fünf Jahre her, daß Gervaise gefallen war. Hatte ohnehin keinen Sinn, sich den Schrecken der Vergangenheit hinzugeben. Phillip befreite seine langen Beine unter dem Lenkrad und stieg aus. Mit großen Schritten ging er den Vorgartenpfad zwischen den kahlen Sträuchern und allmählich sprießenden Büscheln von Schneeglöckchen und Krokussen hindurch zum Haus und klingelte.

Lucy Fotheringay öffnete ihm. Sie war großgewachsen und hatte eine knabenhafte Figur, wie sie derzeit en vogue war, und ihre dunklen Haare waren zu einem modischen Bubikopf geschnitten. Ihre bernsteinfarbenen Augen betrachteten ihn wie üblich mit einem leicht amüsierten Ausdruck. Sie schüchterte ihn ziemlich ein, obwohl er eher gestorben wäre, als dergleichen zuzugeben.

»Hallo, Phillip. Komm rein. Daisy macht sich gerade noch fertig. Das da drüben sind ihre Sachen.« Lucy wies auf einen Stapel Gepäck, der neben dem Eingang aufgetürmt war.

»In Ordnung, ich lad dann schon mal das alte Gefährt voll.«

»Vorsicht mit meinem Photoapparat.« Sie ging zur steilen Treppe am hinteren Ende des winzigen Flurs und rief hinauf: »Daisy, Phillip ist da.«

»Der Gute! Bin in einer Sekunde unten.«

Er verstaute einen abgewetzten Mantelsack und einen schweren Gladstone-Koffer im Wagen und war gerade wieder ins Haus zurückgekehrt, als Daisy die Treppe herunterkam.

Über ihren zierlichen Knöcheln, die in hautfarbenen Strümpfen steckten – ganz der letzte Schrei – endete ein Mantel aus dunkelgrünem Tweed, der die unmodernen Rundungen ihrer Gestalt nicht ganz verbergen konnte. Ein saphirgrüner, glockenförmiger Hut mit einer kecken Schleife an der einen Seite saß über einem fröhlichen, rundlichen Gesicht. Sie lächelte. Ihr Mund, alles andere als das derzeit gefragte Puttenschmollen, war rot geschminkt; die Sommersprossen, an die sich Phillip noch aus Kinderzeiten erinnern konnte, waren von einer Schicht Puder bedeckt; aber sie war immer noch dieselbe gute, alte Daisy. An ihr war jedenfalls nichts einschüchternd.

»Sei gegrüßt, mein Herz.«

»Hallo, Phil. Wirklich nett von dir, daß du mich fährst.« Sie nahm die lederne Phototasche auf. »Könntest du die Schreibmaschine tragen? Das Ding schimpft sich Reiseschreibmaschine, wiegt aber eine Tonne.«

»In Ordnung. Und das Stativ. Haben wir jetzt alles?«

»Das war’s.« Sie wandte sich zu Lucy um und küßte die Luft neben ihrer Wange, wie Frauen das immer taten – wohl, um sich nicht den Lippenstift zu verschmieren, vermutete Phillip. »Toodle-oo, Liebes.«

»Pip-pip, Daisy, Darling. Ich hoffe, Occles Hall ist deine Feder wert. Und daß du dich auf jeden Fall prachtvoll amüsierst!«

Sie gingen zum Auto, und er legte die Schreibmaschine und das Stativ auf den Notsitz. Während er Daisy die Tür aufhielt, sagte sie: »Und jetzt ras nicht so, Phil, sonst fliegt mir noch der Hut vom Kopf. Ich kann die Haare so tief im Nacken feststecken, wie ich will, der läßt sich einfach nie richtig fest herunterziehen.«

»Wenn du magst, kann ich auch gerne das Verdeck zumachen.«

»Nein, bloß nicht. Wenn es schon für den Februar so herrlich mild ist, soll man es auch genießen.«

Phillip ließ sich hinter das Steuerrad gleiten und warf einen Blick auf den Knoten, zu dem sie ihre honigbraunen Haare frisiert hatte. »Wieso läßt du dir dann nicht einen Pagenkopf verpassen?«

»Das sollte ich wirklich. Die Haare lang zu lassen, ist nur der allerletzte Versuch, Mutter zu gefallen«, gab sie kleinlaut zu.

»Wenn du ins Witwenhäuschen von Fairacres, also zu ihr ins Dower House ziehen würdest – das würde ihr bestimmt gefallen.«

»Dann würde ich aber auch binnen kürzester Zeit wahnsinnig werden! Laß uns nicht schon wieder darüber streiten.«

»Tut mir leid, altes Haus.« Phillip drückte den Anlasser und spitzte die Ohren, während der alternde Motor rasselnd ansprang. Waren wohl doch keine neuen Klappergeräusche, stellte er halb enttäuscht fest. An einem Motor herumzutüfteln war schließlich eine der wahren Freuden des Lebens. Er legte den Gang ein, und der Swift glitt vom Straßenrand.

»Was machen die Geschäfte?«

»Mäßig bis mittelprächtig.« Rasch lenkte er von diesem unangenehmen Thema ab. »Erzähl mal lieber von diesem Schuppen, über den du schreiben willst.«

»Occles Hall, in Cheshire. Eines von diesen Fachwerkhäusern aus der Tudor-Zeit, über und über schwarz-weiß gemustert und schrecklich malerisch.«

»Und wer wohnt da?«

»Ich hab Bobbie Parslow eine Einladung aus der Rippe geleiert. Wir waren zusammen auf der Schule. Damals war sie eine unheimliche Sportskanone. Ihr Vater ist ein Baronet, und ihre Mutter ist die Schwester von Lord Delamare.«

»Doch nicht etwa Lady Valeria Parslow!«

»Ja, kennst du sie?«

»Nicht persönlich, aber meine Mutter ist vor ein paar Jahren etwas mit ihr aneinandergeraten, als sie im Winter an der Riviera war – irgendein Quatsch wegen einer Buchung, es ging um eine Suite mit Balkon – und du weißt doch, was für ein friedliches Mütterlein ich eigentlich habe. Wenn ich mich nicht täusche, hat Lady Valeria damals den Sieg davongetragen.«

»Das klingt wahrscheinlich. Ich hab schon gehört, daß sie ein wahrer Drache sein soll. Tommy und Madge Pearson haben sie letztes Jahr in Cannes kennengelernt. Sie war mit ihrem Sohn da, angeblich ein atemberaubend gutaussehender junger Mann, sagt Madge jedenfalls, aber sie hatten nicht viel miteinander zu tun. Lady Valeria hat ihn an der kurzen Leine gehalten, und Tommy meinte, sie hätte wohl Angst, daß er einmal eine Frau findet und dann ihren Fängen entkommt.«

»Klingt ja wie eine ziemlich schreckliche Familie. Mußt du da wirklich hin, altes Haus?« fragte Phillip kläglich.

»Muß ich. Mein Redakteur bei Town and Country lechzt schon ganz gierig nach dem nächsten Artikel. Der über Wentwater Court war ein Riesenerfolg, weißt du, obwohl ich ja keine Silbe über all die aufregenden Sachen schreiben konnte, die damals passiert sind.«

Er stöhnte auf. »Erinner mich bloß nicht daran! Und jetzt kannst du es kaum erwarten, dich dem nächsten Haufen merkwürdiger Leute ins Nest zu setzen.«

»Ist doch nur für ein paar Tage«, sagte Daisy mit ihrem üblichen munteren Optimismus. Ihre Stimme färbte sich allerdings ein wenig mit Bedauern, als sie hinzufügte: »Mach dir keine Sorgen, mein Lieber, der Blitz schlägt nie zweimal an derselben Stelle ein.«

An der Bahnstation von Euston organisierte Phillip einen Kofferträger, und dann stürzten sie sich in die schmuddelige, geschäftige Vorhalle. Am Fahrkartenschalter hörte er mit Entsetzen, wie sie um eine Fahrkarte zweiter Klasse bat.

»Hör mal, nein, verflixt noch mal«, protestierte er und zog seine Brieftasche hervor, »du kannst doch nicht zweiter Klasse reisen!« Und allen ihren Einwänden zum Trotz zahlte er den Rest für eine Fahrkarte erster Klasse. Er würde in einem der Lyons Corner Houses zu Mittag essen müssen anstatt im Piccadilly Grill, aber Gervaise hätte das schließlich von ihm erwartet. In der zweiten Klasse würde sich Daisy zweifelsohne mit allen möglichen merkwürdigen Zeitgenossen unterhalten. Sie hatte nicht das geringste Standesbewußtsein.

Den Kofferträger im Schlepptau, machten sie sich zu ihrem Gleis auf.

»Miss Dalrymple!«

Daisys Miene hellte sich bei diesem Ruf auf. Sie wandte sich lächelnd um. »Mr. Fletcher! Phillip, du erinnerst dich doch sicherlich an Detective Chief Inspector Fletcher.«

Phillip schaute ihn grimmig an. Nur zu gut konnte er sich an den Polizisten erinnern und an sein Verhör auf Wentwater Court, an diesen Blick aus grauen Augen unter unheilvollen, schwarzen Augenbrauen, der einem durch Mark und Bein ging, mochte man auch noch so unschuldig sein. Daran, wie dieser Mensch einem das Gefühl vermittelte, ein unreifer Dummkopf zu sein. Was zum Teufel hatte dieser Bursche denn hier zu suchen?

Zugegeben, er hatte sich durchaus wie ein Gentleman gekleidet: dunkler Straßenanzug, Mantel, weicher Filzhut, der dem von Phillip nicht unähnlich war. Trotzdem war der Kerl im Grunde nichts Besseres als ein in Zivilkledagen aufgedonnerter Bulle. Er hatte sich gefälligst nicht an eine Adelsdame wie Daisy Dalrymple heranzumachen, und sie hatte sich gefälligst nicht so zu freuen, ihn zu sehen. Das hatte man also davon, wenn man zuließ, daß höhere Töchter sich mit der Schreiberei und ähnlichem Blödsinn abgaben!

Er nickte kühl.

Der Detective verzog die Lippen zu einem kühlen Lächeln, und er wandte sich wieder Daisy zu. »Wie schön, daß ich Sie noch erwischt habe. Ich muß mich sputen, aber ich wollte Ihnen noch etwas für die Reise mitgeben.« Er überreichte ihr eine Pralinenschachtel bescheidenen Formats.

»Alec ... Mr. Fletcher, wie reizend aber auch! Ich werde zu einem richtigen Ferkel mutieren und alles aufessen, noch bevor ich überhaupt in Crewe umsteige.«

Alec, auch das noch! In finsterem Schweigen führte Phillip Daisy zu ihrem Zug. Die unglaubliche Frechheit dieses Emporkömmlings würde er noch nicht einmal einer mißbilligenden Bemerkung würdigen.

»Nun krieg dich mal wieder ein«, sagte Daisy mit einem sonnigen Lächeln, als sie sich aus dem Fenster lehnte. »In dieser Sache ist Lucy ganz deiner Meinung, aber du mußt doch zugeben, daß es eines Tages sehr nützlich sein könnte, einen Polizisten an seiner Seite zu wissen. Danke fürs Fahren, mein Herz. Cheerio!«

»Cheerio«, erwiderte Phillip mürrisch.

Daisy hockte auf dem Bock der Bahnhofsdroschke neben dem Kutscher, dessen Gesicht über die Jahre von Wind und Wetter gegerbt worden war, und konnte über die kahlen Hecken hinweg die langsam grün werdenden Wiesen der Ebene von Cheshire sehen, die sich zu beiden Seiten des Feldwegs ausdehnte. Dicke, zufriedene Kühe rupften schon am frischen Gras. In der Ferne staksten Dorfkirchtürme aus hier und dort verstreuten Baumgruppen hervor. Trotz des grauen Himmels war die Luft frühlingshaft mild, und zwischen den Hecken glänzte golden das Scharbockskraut.

Der Zosse trottete seelenruhig vor sich hin, ohne von seinem Besitzer weiter beachtet zu werden. Ted Roper, so hatte er sich vorgestellt, war voll und ganz damit beschäftigt, Daisy alles von seiner Familie zu erzählen. Auf seinen ältesten Enkel war er besonders stolz: er hatte Autofahren gelernt, »eins von diesen Motor-Lastautos«, mit dem er regelmäßig Güter von Manchester nach London transportierte.

Daisy überraschte es nicht, daß ein Fremder sie so ins Vertrauen zog. Aus irgendeinem Grund, den sie noch nicht genau erfaßt hatte, wollten ihr die Leute immer alles über sich erzählen. Während sie dann die passenden bewundernden oder mitleidigen Geräusche von sich gab, merkte sie sich alle Details: Eines Tages würde sie sich mal hinsetzen und einen Roman schreiben.

Alles, so dachte sie immer, war für einen Schriftsteller Rohmaterial.

Der Feldweg wand sich um ein trockenes Gestrüpp herum, und dann erstreckte sich plötzlich eine Dorfstraße vor ihnen.

»Occleswich«, sagte Ted Roper. »Sehen Sie die Schornsteine da hinten, oben auf dem Berg? Das ist Occles Hall.«

Der Berg war eher ein sanfter Hügel, stellte aber wohl trotzdem die höchste Anhöhe dar, die dieser Teil von Cheshire zu bieten hatte. Zu beiden Seiten der ansteigenden Straße umgaben identische weiße Lattenzäune identische Gärten und Blumenbeete, die vor identischen Fachwerk-Cottages lagen, alles paarweise nebeneinander angeordnet. Und alles hier war ordentlich: die Schneeglöckchen blühten, und durch den gejäteten Boden hatten die Narzissen schon ihre Triebe geschoben; die schwarz gestrichenen Balken hoben sich wie neu von den weißen Wänden ab; die rautenförmigen Fensterscheiben glitzerten; auf den Schieferdächern war nicht das geringste Anzeichen von Moos oder Flechten zu sehen. Sogar die Schornsteine schienen einheitlich getrimmt zu sein, denn aus allen stieg dasselbe, gerade Fähnlein von blaugrauem Rauch in den windstillen Himmel empor.

»Ach, bitte halten Sie doch mal an, Mr. Roper«, rief Daisy aus. »Würden Sie wohl einen Moment warten, während ich ein paar Photographien mache? Das ist doch ein wunderschönes Bild, und wer weiß, wie das Wetter in den nächsten Tagen wird.«

»Brrrr, Hotspur!« Sein Pferd blieb gehorsam stehen. »Nehmen Sie sich soviel Zeit, wie Sie brauchen, Miss. Das hier ist ein sogenanntes Musterdorf«, berichtete er. »Vor hundert, hundertfünfzig Jahren hat der damalige Gutsherr das alte Dorf abreißen lassen und das alles hier hingesetzt.«

»Ja, in Dorset hab ich mal ein ähnliches Dorf gesehen«, sagte Daisy, während sie hinunterkletterte und ihre Kamera und das Stativ herunterholte, »aber das hier ist ja noch viel hübscher. Und in so wunderbarem Zustand!«

»Gut, daß Sie Occleswich nicht gesehen haben, ehe Lady Valeria in Occles Hall eingezogen ist. Hat den Parslows ja das Geld eingebracht. Ganz schön runtergekommen waren sie beide, Occles Hall und das Dorf, und die Familie auch, wenn ich’s recht bedenke.« Ted Roper lachte aus vollem Herzen und wurde dann wieder ernst. »Nicht, daß ich gegen Sir Reginald auch nur ein Wörtchen sagen möchte. Ist ein rechter Gentleman, ist er wirklich, auch wenn er mächtig unterm Pantoffel steht. Lady Valeria hat da eindeutig die Hosen an.«

»Und Lady Valeria hat Occles Hall und das Dorf restaurieren lassen?« fragte Daisy, während sie ihre Kamera auf dem Stativ festschraubte. Die Kirche aus rosa Sandstein, auf halber Strecke gelegen, würde eine gute perspektivische Mitte für das Bild abgeben, beschloß sie, und schleppte ihren Apparat auf die andere Seite der Straße.

»Ja, sie hat alles instand gesetzt, das hat sie wohl. Das ist der ganze Stolz von Lady Valeria, außer dem jungen Herrn Sebastian natürlich, und sie sieht zu, daß die Pächter alles genau so machen, wie sie das will. Kein einziger Salat, kein Rosenköhlchen in den Vorgärten zu sehen, würd sich auch keiner raustrauen aus der Erde. Gibt nur einen einzigen Mann im ganzen Dorf, der ihr Paroli bieten kann, und in der Familie tut’s auch keiner.«

»Und wer ist das?«

»Werden Sie schon sehen, wenn wir da vorbeikommen, Miss«, sagte Ted Roper rätselhaft. »Ist nicht zu übersehen.«

Daisy machte mehrere Aufnahmen. Nachdem die Photos von Wentwater Court so großartig geworden waren, traute sie sich jetzt schon mehr zu, doch konnte es nicht schaden, auf Nummer Sicher zu gehen. Zufrieden verstaute sie ihre Sachen auf dem Wagen und kletterte dann behende auf den Bock. Das Pferd setzte sich wieder in Gang, ohne erst Ted Ropers Schnalzen abzuwarten.

Gleich hinter der Kirche, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, stand ein Gebäude im selben Stil wie die anderen Cottages, nur ein bißchen größer. Ein Schild über der Tür tat kund, daß es sich hier um das Cheshire Cheese Inn handelte. Daisy mußte über das Schild lachen, auf dem ein großer orangefarbener Käse zu sehen war, aus dem eine kleine Maus durch ein Seitenloch eine grinsende Katze anschaute.

»Fred Chiver, der Gastwirt, wollte den Namen eigentlich zu Cheshire Cat ändern«, offenbarte ihr der Kutscher, »aber Lady Valeria hat sich durchgesetzt, weil Cheese der historische Name ist, scheint’s. Konnte er nur noch das Bild da malen lassen. Ist von einem walisischen Künstlertypen, der hier mal paar Tage gewohnt hat.«

»Mir gefällt’s.« Daisy bemerkte einen alten Mann, der auf einer Bank nahe der Tür vor sich hin döste, zu seinen Füßen einen gleichermaßen schlaftrunkenen Hund, und ihr fiel auf, daß dies der erste Mensch war, den sie in Occleswich sah. »Wo sind denn eigentlich die ganzen Leute vom Ort?« fragte sie.

»Rüber nach Whitbury gefahren, Miss. Heute ist Markttag. Die meisten Frauen nehmen den frühen Bus, um ihre Einkäufe zu machen. Und die Kinder sind in der Schule, da drüben hinter St. Dunstan’s, neben dem Pfarrhaus.« Er zeigte in die Richtung und sah dabei über die Schulter auf die Kirchturmuhr. »Gleich ist die Schule aus, und der Omnibus von Whitbury ist auch gleich da. Hotspur und ich, wir sind nicht mehr zeitgemäß, so ist das nun mal«, fügte er traurig hinzu. »Lady Valeria, die unterhält uns noch, weil sie keins von den Automobilen in Occleswich haben will, außer ihrem eigenen natürlich. Zerstört den malerischen Eindruck. Der Bus muß ganz unten halten.«

»Das klingt ja wirklich so, als sei Lady Valeria durchaus gewohnt, sich durchzusetzen!« rief Daisy aus.

»Oh, ja, das stimmt«, pflichtete ihr Ted Roper bei.

Hinter dem Cheshire Cheese machte die Straße eine Kurve nach rechts. In schnörkeligen Buchstaben stand über der Tür eines Cottages: Village Store & Post Office, und ein Schild im Fenster des Nachbarhauses tat kund, daß dort die Dorfpolizei ihren Sitz hatte. Zwischen den beiden Gebäuden zeigte ein Wegweiser in Richtung Bürgermeisteramt, das hinter einer Hecke versteckt lag. Das schien auch schon alles zu sein, was Occleswich als kaufmännisches und soziales Zentrum zu bieten hatte.

Hundert Meter weiter endete die Straße an einer T-förmigen Kreuzung. Auf der gegenüberliegenden Seite versperrte eine hohe Mauer aus demselben rosafarbenen Stein wie die Kirche den Weg. Hotspur marschierte tapfer die Anhöhe hinauf, und Daisy bemerkte beim Näherkommen ein kleines Tor in der Mauer.

»Wo ist denn das Haupttor?«

»Rechts hinunter, dann noch eine Viertelmeile oder so.«

Sie blickte nach rechts – und schnappte vor Erstaunen nach Luft. »Du liebes bißchen, was ist das denn für ein schrecklicher Anblick!«

Das letzte Cottage auf der Straße war die Dorfschmiede. Die Wohnräume waren neben und über der Werkstatt, anstelle eines Vorgartens mit Blumenbeeten lag vor dem Haus ein zementierter Hof, der mit Haufen vor sich hin rostender Metallteile bedeckt war. Verbogene Hufeisen und Pflugschare, zerbrochene Bettgestelle, altmodische Öfen sowie zahllose Teile von Karosserien und die Innereien dahingegangener Automobile waren dort aufgetürmt. Die gefährlich wackelig aussehenden Stapel reichten bis über die Simse der schmuddeligen Fenster.

»Stan Moss, der Schmied, der wollte hier ’ne Tankstelle haben«, sagte Ted Roper grinsend. »Aber klar, daß Lady Valeria davon nichts wissen wollte. Hätt ja den pittoresken Eindruck vom Dorf zuschanden gemacht, nicht wahr. Na ja, und Stan ist unglaublich nachtragend. Hinten, wo er arbeitet, ist es ein bißchen ordentlicher. Aber nur ein bißchen, wohlgemerkt.«

»Ich hätte gedacht, daß Lady Valeria von einer Ohnmacht in die andere fallen würde. Sie läßt ihm diese Unordnung durchgehen?«

»Nicht, daß sie es nicht schon anders versucht hätte. Zwei Jahre führen die schon Krieg. Einmal hat sie fremde Leute hergebracht, die aufräumen sollten, aber die hat er fortgejagt. Also hat sie sie wieder hergeholt, und noch ein paar Polizisten zum Aufpassen, als er mal in Nantwich war. Na ja, und was soll ich sagen, womit ist er zurückgekommen? Mit ’ner neuen Ladung Schrott, als hätt er gewußt, was sie im Schilde führt.«

»Das ist wohl wie die Sache mit der unwiderstehlichen Kraft und dem unbeweglichen Objekt«, bemerkte Daisy.

»Stan ist ein Sturkopf«, stimmte ihr Ted Roper zu. »War immer schon ein streitsüchtiger Typ, und als ihm seine kleine Gracie weggelaufen ist, hat’s ihm die Laune auch nicht wesentlich verbessert. Da ging ihm nicht nur ihr Gehalt flöten, seine Haushälterin war er damit auch gleich los.«

»Gracie?«

»Seine Tochter. Ist mit einem von diesen Handlungsreisenden durchgebrannt, vor ein paar Monaten. Gibt aber kaum einen, der ihr das übelnimmt. Hübsche Mädchen wollen nun mal gerne ein bißchen Spaß haben, aber Gracie durfte an ihrem freien Tag von der Arbeit als Serviermädchen oben auf Occles Hall für Stan malochen, und zum Dank hat er ihr auch noch jeden Penny von ihrem Lohn abgenommen. Ach herrje, da kommt ja Lady Valeria. Wir sollten mal lieber weiter.«

Hotspur wurde zu einem Trott überredet, und die Droschke bog rasch um die Ecke. Daisy blickte zurück und erspähte eine respekteinflößende Gestalt, die durch das kleine Tor schritt, einen braun-weiß gescheckten Pointer an ihrer Seite. Lady Valeria war in braunen Tweed gekleidet, trug einen eher männlichen Schlapphut mit Fasanenfeder auf dem Kopf und hielt einen soliden Spazierstock aus Schlehdornholz mit Messingknauf.

Sie blickte weder nach links noch nach rechts, sondern marschierte geradewegs über die Straße, stieg vorsichtig über die Schrotthaufen von Stanley Moss und donnerte mit ihrem Gehstock an seine Tür.

Bäume verdeckten die Schmiede vor Daisys Blick, doch über Hotspurs gemächliches Hufgetrappel hinweg konnte sie zwei wütende Stimmen hören, die sich aufgeregt erhoben.

»Na, sind die beiden mal wieder zugange«, grunzte Ted.

Ihr erster Eindruck von Lady Valeria war nicht gerade ermutigend. Als der Pförtner einige Minuten später die guß-eisernen Tore von Occles Hall aufschwenkte, fuhr Daisy einigermaßen beunruhigt durch sie hindurch.

2

Die Ostfassade von Occles Hall konnte man nur als prachtvoll bezeichnen. Das Fachwerk bestand aus tiefschwarz umrandeten Zacken, Fünfecken, Rauten, Rosetten und Muscheln und war zweifelsohne in dekorativer Absicht und nicht aufgrund baulicher Notwendigkeiten so geschaffen worden. Jedes der drei Stockwerke ragte ein wenig über das daruntergelegene hinaus. In der Mitte befand sich ein zweigeschossiges Torhäuschen, dessen Erdgeschoß ein Torbogen ganz einnahm. Ein massiger Balken darüber war von der Last der Jahre schon ganz durchgebogen. Eine niedrige Steinbrücke führte über den Burggraben zum Herrenhaus, das sich in der stillen Wasseroberfläche spiegelte.

Enttäuscht bemerkte Daisy, daß das spätnachmittägliche Licht schon zu schwach war, um noch photographieren zu können. Außerdem fielen auch schon vereinzelte Regentropfen ins Wasser des Burggrabens und verwackelten damit die Reflexion. Mochte sich Lady Valeria als noch so schwierig erweisen, Daisy würde in jedem Fall so lange bleiben, bis sie ein paar wirklich gute Aufnahmen des herrschaftlichen Renaissancehauses hinbekommen hätte.

Ted Roper fuhr über die Brücke und in den Torvorbau hinein. Mit einem Schnaufen, das sehr nach einem erleichterten Aufseufzen klang, hielt Hotspur in der Mitte des tunnelartigen Torbogens an, der von seinen beiden Enden her schwach durch das rasch schwindende Tageslicht beleuchtet wurde.

Daisy blickte sich um und entdeckte an der Wand gegenüber eine massige, zweiflügelige Tür mit Eisenbeschlägen. Lucys kostbare Kameratasche umgehängt, stieg sie von dem Gefährt ab und ging hinüber. An der Tür war neben einem altmodischen Klingelzug noch ein schwerer Eisenklopfer in Gestalt einer mißgelaunten englischen Dogge befestigt. Aus leidvoller Erfahrung wußte Daisy, daß man sich bei altmodischen Klingelzügen leicht die Schulter auskugeln konnte, und so wagte sie sich an die Dogge und klopfte mit einem lauten Ratt-tatt.

Während Ted neben ihr die Taschen zu einem ordentlichen Haufen schichtete, puderte sich Daisy die Nase. Immer noch gab es kein Lebenszeichen aus dem Haus. Sie bezahlte ihn und wollte ihn gerade bitten, für sie an der Klingel zu ziehen, als sich schließlich mit einem eindrucksvollen, gotisch anmutenden Knarren doch noch die Tür öffnete.

Der Butler, ein hagerer Mensch mit hängenden Schultern und grauen Haaren, die ihm glatt und dünn auf dem Schädel lagen, wirkte, als hätte er gerade beim Rennen in Goodwood sein letztes Geld auf ein Pferd gesetzt, das zu guter Letzt überhaupt nicht an den Start gegangen war. »Miss Dalrymple?« fragte er, und Verzweiflung lag in seiner Stimme.

»Ja, ich bin Daisy Dalrymple«, sagte Daisy fest und trat über die Schwelle in ein kleines, holzgetäfeltes Zimmer, das von Gaslampen beleuchtet wurde.

»Ich bin Moody, Miss. Bitte folgen Sie mir doch.«

Während sie seinen gemessenen Schritten durch eine ganze Flucht ähnlicher Zimmer folgte, hoffte sie, sein Temperament ließe auch gute Laune zu und nicht nur die gegenwärtige Trübsal.

Sie traten in ein weiteres holzgetäfeltes Zimmer, einen länglichen Raum mit niedriger Decke. Die gegenüberliegende Wand war ganz von Fenstern eingenommen. Durch die winzigen rautenförmigen Fensterscheiben konnte Daisy nur erkennen, daß draußen regnerische Dämmerung herrschte. Also sah sie sich um. An den drei anderen Wänden gab es mehrere Türen, und mindestens drei Treppen führten von hier aus empor. Dazwischen hingen Porträts in ziselierten Goldrahmen. Das einzige Mobiliar waren verschiedene uralte Stühle, in denen sich anzulehnen unglaublich schmerzhaft sein mußte, so fein waren sie geschnitzt.

»Die Long Hall, Miss«, sagte Moody düster, »und das ist Mrs. Twitchell, die Sie jetzt auf Ihr Zimmer begleitet.«

Die Haushälterin, eine fröhliche Frau mittleren Alters, trug ein graues Kleid mit weißem Kragen und weißen Manschetten. Ganz im angenehmen Gegensatz zu dem mürrischen Butler plauderte sie munter drauflos, während sie Daisy eine der engen Treppen hinaufführte, die ebenfalls mit der anscheinend allgegenwärtigen Holztäfelung verkleidet war.

»Miss Roberta wird es ja so leid tun, daß sie nicht hier war, um Sie zu begrüßen, Miss Dalrymple. Sie ist nach dem Mittagessen ausgeritten, und wahrscheinlich ist sie dabei weiter weg geraten, als sie eigentlich wollte. Es wird ja schon dunkel, und regnen tut’s dazu. Nicht, daß ein Regen Miss Roberta je aufgehalten hätte. Zum Tee ist sie aber bestimmt wieder zurück.«

Sie bogen um weitere Ecken, gingen Treppen hinauf und wieder hinunter, durchquerten Galerien und kamen durch endlose Fluchten von kleinen und großen Zimmern, von denen manche wiederum holzgetäfelt und andere weiß gestrichen waren. Die Bauherren der Tudor-Zeit hatten offenbar nie etwas von Korridoren gehört, und die Decken waren in beliebiger Höhe gebaut, wie es ihnen gerade gefiel. Daß der Fußboden im Geschoß darüber dadurch auf ganz anderer Ebene lag, schien damals niemanden gestört zu haben. Auch an Daisys Zimmer, das sie endlich erreichten, führte eine Stufe zur Tür.

»Da finde ich ja nie wieder zurück!«

»Sie werden das schnell lernen, Miss. Ach, da ist ja schon Gregg, die Zofe Ihrer Ladyschaft. Sie wird Ihnen in allem behilflich sein. Wenn Sie dann soweit sind, bringt sie Sie zum Tee in den Gelben Salon.«

Gregg war eine solide gebaute, schweigsame Landfrau, die Daisys Gladstone-Koffer bereits ausgepackt hatte. Durch welchen Zauber er wohl vor ihr in das Zimmer gebracht worden sein mochte? Gregg bot an, Daisys bestes Abendkleid aus rosenfarbener Charmeuse zu bügeln. Unter dem Einfluß von Daisys besonderem Charme raffte sie sich sogar zu der Bemerkung auf, das wäre ihr eine besondere Freude.

»Nachdem es ja so ist, daß sich Ihre Ladyschaft nichts aus schönen Kleidern macht und ich für Miss Roberta meistens nur den Schlamm von den Reithosen und den Golfstrümpfen abbürsten kann«, erklärte sie.

Daisy, die sich noch aus Schulzeiten an Bobbie erinnerte, erstaunte das nicht.

Sie wusch sich in einer Porzellanschüssel, die auf dem Waschtisch in der Ecke des kleinen Zimmers stand, den Schmutz der Bahnfahrt von Gesicht und Händen, zog ihren Lippenstift nach und puderte sich noch einmal. Dann richtete sie ihr Haar und steckte die Haarklammern etwas fester in den Knoten. Vielleicht würde sie sich wirklich die Haare kürzer schneiden lassen oder gar einen dieser modischen Jungenhaarschnitte wagen, überlegte sie. Lucy verspottete sie dauernd wegen ihrer Frisur, und Mutter hatte schon so viele Gründe, über sie zu klagen, daß es auf einen weiteren auch nicht mehr ankam.

Ihr hellblaues Strickkostüm war durchaus vorzeigbar, wenn auch nicht übermäßig elegant, allerdings wohl ein wenig kurz in Anbetracht der jüngst fast auf die Knöchel gesunkenen Saumlängen. Aber schließlich wollte sie hier professionell auftreten, und es ging nicht um ein gesellschaftliches Ereignis. Sie vermeldete, sie sei nun bereit, in den Gelben Salon geführt zu werden.

Zwei Herren sprangen von ihren Stühlen auf, als Daisy den Raum betrat. Aber sie hatte nur Augen für einen von ihnen. Madge hatte Sebastian Parslow als »atemberaubend gutaussehend« beschrieben, aber auf diesen Anblick war sie nicht vorbereitet.

Er war Anfang Zwanzig, großgewachsen, hatte breite Schultern, schmale Hüften und lange Beine. Sein dichtes, leicht gewelltes Haar war wie aus gesponnenem Gold. Seine Augen waren kobaltblau und hatten wunderbar dunkle Wimpern; Nase und Mund waren wie gemeißelt, das Kinn kantig mit der Andeutung eines Grübchens. Ein englischer Adonis!

Daisy wünschte sich plötzlich, sie hätte doch das Teekleid aus bernsteinfarbenem Chiffon angezogen.

»Miss Dalrymple? Guten Tag. Ich bin Sebastian Parslow«, sagte er mit volltönender Baritonstimme und durchquerte mit der Grazie eines Athleten das Zimmer, um sie zu begrüßen. Dabei tat er so, als bemerkte er ihre fassungslose Bewunderung nicht. »Tut mir leid, daß der Rest der Familie noch nicht da ist, um Sie zu begrüßen. Darf ich vorstellen: Ben Goodman.«

»Der Sekretär von Sir Reginald.« Die Stimme war hell und eher trocken. »Guten Tag, Miss Dalrymple.«

Nur mit Mühe löste Daisy ihren Blick von diesem Prachtexemplar, um den schmalen, dunklen Herrn hinter ihm anzusehen. Wie taktvoll von Mr. Parslow, Ben Goodmans Dienstposition nicht zu erwähnen. Goodman mußte etwa um die Mitte Vierzig sein. Sein schmales, blasses Gesicht war von der Art, die man bei Frauen jolie-laide nennen würde: so unauffällig, daß es fast häßlich war, doch mit einem merkwürdigen Reiz.

»Guten Tag, Mr. Goodman.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Als er zu ihr trat, um ihr die Hand zu schütteln, fiel ihr sein humpelnder Gang auf. Sofort zog sie zehn Jahre von seinem mutmaßlichen Alter ab und fügte seinem Lebenslauf eine Kriegsverletzung hinzu. Sein warmes Lächeln machte ihn ungeheuer attraktiv, denn in seinen Augenwinkeln erschienen viele sympathische kleine Falten, und die Linien um seinen Mund vertieften sich.

»Ich vermute, nach dieser endlosen Reise freuen Sie sich schon auf einen Tee«, sagte er. »Ich hab Moody gesagt, er soll ihn gleich servieren, sobald Sie da sind.«

»Eine Tasse Tee wird mir wirklich guttun, obwohl die Reise eigentlich gar nicht so schrecklich war.« Dank eines Sitzplatzes in der ersten Klasse und einer Pralinenschachtel. »Wenigstens mußte ich nicht in Birmingham umsteigen, sondern nur in Crewe. Und die Fahrt vom Bahnhof hierher war sehr angenehm. Ted Roper hat mir schon alles mögliche über Occleswich erzählt.«

Ein Schatten glitt über die makellosen Züge des peinlich berührten Mr. Parslow: »Niemand hat den Daimler zur Bahn geschickt«, sagte er entschuldigend, »noch nicht einmal den Morris, aber ...«

»Daisy!« Bobby Parslow platzte in den Raum und warf dabei ihre Reitkappe auf den nächstbesten Stuhl. Die Sportjacke über ihrer Reithose war feucht, und ihre Stiefel hinterließen Schlammspuren auf dem Teppich. »Großartig, dich mal wiederzusehen.« Fest drückte sie Daisy die Hand.

Miss Roberta Parslow war ganz offensichtlich Sebastians Schwester, doch bei ihr stimmten leider die Proportionen nicht. Die Größe und die breiten Schultern, die bei einem Mann so beeindruckten, paßten nicht zu einer Frau, und während er elegant wirkte, wirkte sie nur korpulent und robust. Ihr Haar, Stroh im Vergleich zu seinem Gold, war kurz geschnitten und hing so gerade herab wie ein Pferdeschweif. Ihr rechteckiges Gesicht war eine verwaschene Kopie des seinen, als hätte ein Maler Sebastians Porträt mit der bemalten Seite auf eine andere Leinwand gelegt, ehe die Farbe ganz getrocknet war. Ihre Augen waren hellblau, die Wimpern kaum zu erkennen.

Doch war sie ohne Zweifel hoch erfreut, Daisy zu sehen.

»Tut mir schrecklich leid, daß ich so spät komme«, sagte sie. »Ich war gerade auf dem Weg zum Bahnhof, um neben deiner Kutsche herzureiten, aber dann hat Ranee ein Hufeisen verloren. Hast du Mummy schon begrüßt?«

»Noch nicht«, antwortete Daisy, »obwohl ich vorhin gesehen hab, wie ...«

Sie unterbrach sich, als ein Serviermädchen das Teetablett hereintrug.

»Oh, wunderbar«, rief Bobbie aus. »Würden Sie wohl einschenken, Ben? Ich sterbe vor Hunger, und außerdem klekkere ich ja immer bei so was, schrecklich. Ein Sandwich?« Sie bot Daisy den Teller an, nahm sich selbst einen ganzen Stapel der winzigen, dreieckig geschnittenen Brote ohne Kruste und ließ sich dann in einen Sessel plumpsen.

Mr. Goodman bot Daisy Milch, Zitrone und Zucker an, und Sebastian reichte ihr die Tasse.

»Unsere werte Mama ist gerade hinunter ins Dorf gegangen, um Mr. Lake zu sagen, was gestern an seiner Predigt alles nicht in Ordnung war«, sagte er seiner Schwester. »Und du weißt ja, daß sie nie an der Schmiede vorbeigehen kann, ohne Stan Moss noch einmal ordentlich die Meinung zu geigen, sonst wäre sie ja mittlerweile wieder zurück. Eines schönen Tages werden die beiden sich noch prügeln. Wirklich erstaunlich, daß es noch nicht soweit gekommen ist.«

»So ein Ärger! Dann wird er überhaupt keine Lust haben, Ranee morgen für mich zu beschlagen.«

»Ihr bringt eure Pferde zur Dorfschmiede?« frage Daisy.

»Ja. Der Laden sieht fürchterlich unordentlich aus, und Moss ist eigentlich immer schlecht gelaunt, aber trotzdem ist er der beste Schmied in der Gegend und ein Genie, was Maschinen und Motoren angeht. Ich wünschte nur, Mummy hätte sich nicht ausgerechnet den heutigen Nachmittag ausgesucht, um ihn zu ärgern. Andererseits bin ich auch ganz froh, daß sie noch weg ist«, sagte Bobbie unverblümt, während sie ein Pâté-Sandwich verspeiste. »Ich hatte schon Angst, ich wäre nicht rechtzeitig wieder zurück, um dich zu warnen, Daisy.«

»Wovor mußt du mich denn warnen?« fragte Daisy, und plötzlich war ihr höchst mulmig zumute.

»Vor Mummy. Sagen Sie, Ben, ist das etwa ein Victoria-Biskuitkuchen? Schneiden Sie mir doch bitte ein schönes großes Stück ab, seien Sie so gut. Also, Daisy, ich fürchte, Sie war nicht gerade begeistert, daß du herkommst.«

»Ach, du liebes bißchen. Das hättest du mir ja ruhig vorher sagen können. Ich kann doch nicht ohne ihre Erlaubnis über Occles Hall schreiben.«

»Deswegen brauchen Sie sich auch keine Sorgen zu machen«, sagte Ben Goodman mit einem beruhigenden Lächeln. »Lady Valeria ist hoch erfreut, daß ihr Haus endlich die Anerkennung erfährt, die es verdient.«

»Aber was ist dann ...?«

»Bobbie hat es vermasselt.« Sebastian zog eine ironische Grimasse. »Sie hat Sie eingeladen, ohne vorher Mummy um Erlaubnis zu fragen. Eine wahre Todsünde.«

»Dein Brief kam, als Mummy und Sebastian noch in Antibes waren«, entschuldigte sich Bobbie übertrieben schuldbewußt. »Überzeugende Briefe zu schreiben, ist wirklich nicht eine meiner besonderen Fähigkeiten, und Ben wollte ich nicht darum bitten, weil es ihm damals unglaublich schlecht ging. Es war damals schon so schrecklich kalt, erinnern Sie sich, Ben? Sie haben sich ja förmlich die Lunge aus dem Leib gehustet.«

Mr. Goodman wurde rot. »Senfgas«, erklärte er. »Nicht, daß Sie glauben, Sie sind in ein Haus mit einem Schwindsüchtigen geraten.«

Daisy nickte und legte soviel Mitleid in ihren Blick, wie sie nur konnte. Darauf konnte man nichts erwidern. Seit dem Weltkrieg gab es in ganz England junge Männer, deren Lungen völlig zerfressen waren. Ob sie wirklich mehr Glück gehabt hatten als jene, die nun in Flandern begraben lagen, wie Gervaise und Michael – die Frage war sinnlos.

»Mummy wollte Ben Goodman nicht an die Riviera mitnehmen«, sagte Sebastian. Er kniff die Lippen zusammen, als machte ihn diese Erinnerung immer noch wütend, doch dann zuckte er mit den Achseln. »Es hat kaum Sinn, sich mit ihr anzulegen, wenn sie sich einmal entschieden hat.«

»Vollkommen sinnlos«, stimmte Bobbie ihm zu. »Deswegen hab ich auch erst mal Daddy gefragt, ob wir Daisy einladen können, bevor ich ein definitives Nein von Mummy riskiere. Und Daddy fand, es ist eine großartige Idee. Wo steckt er eigentlich?«

»Sir Reginald ist noch nicht von der Molkerei zurück«, sagte Mr. Goodman.

»Armer Daddy. Vermutlich steht ihm der nächste Streit bevor, wo Daisy jetzt angekommen ist.«

»Ich möchte um gar keinen Preis der Stein des Anstoßes sein.« Daisy war das alles fürchterlich peinlich, und sie überlegte, ob sie nicht vielleicht auf die Schnelle einen anderen Landsitz finden würde, über den sie schreiben könnte. Wenn alle Stricke reißen sollten, dann konnte sie immer noch Vetter Edgar und seine Frau Geraldine fragen. Ihr altes Zuhause Fairacres war bei weitem nicht so pittoresk wie Occles Hall, doch in der Not frißt der Teufel bekanntlich Fliegen. Sie ließ also alle Professionalität sausen und schlug hastig vor: »Vielleicht sollte ich lieber morgen früh wieder abreisen.«

»Nein!«, erscholl es aus drei Kehlen mit gleicher Vehemenz.

»Bitte bleib da«, bat Bobbie sie inständig. »Jetzt freut Mummy sich schon darauf, das Haus in Town and Country zu sehen, und sie wird unausstehlich sein, wenn die Sache nun doch nicht klappt. Ehrlich gesagt, das einzige ernsthafte Problem ist, daß sie mißbilligt, wenn Mädchen arbeiten – Mädchen aus unseren Kreisen, meine ich. Sie glaubt, daß du mir Flausen in den Kopf setzen wirst. Aber wenn sie erst sieht, daß man eine Dame bleiben kann, obwohl man arbeitet, gibt sie vielleicht nach und erlaubt mir, etwas Sinnvolles mit meinem Leben anzufangen. Schließlich bist du wesentlich damenhafter, als ich es je war oder sein werde. Reich mir doch bitte die Kekse, Bastie.«

Ihr Bruder gab ihr den Teller. »Bitte, bleiben Sie, Miss Dalrymple«, drängte auch er. »Wir haben viel zu selten Besuch.«

Mit einem gewissen Unwohlsein erinnerte Daisy sich an Tommy Pearsons These über Lady Valerias Sorge, ihr Sohn könne durch eine Eheschließung ihren Fittichen entkommen. War das ein weiterer, unausgesprochener Grund, warum sie etwas gegen Daisys Besuch auf Occles Hall hatte?

Nicht, daß Sebastian auf irgendeine Weise gezeigt hätte, daß er sie besonders nett fand. Und außerdem hatte sie bestimmt nicht vor, ihn zu ermutigen, sollte dem tatsächlich so sein. Obwohl er wirklich noch besser aussah als Rudolph Valentino, das neue Filmidol aus Amerika. Die Frau eines solchen Adonis, so vermutete sie, würde kein einfaches Leben führen, vor allen Dingen, wenn sie seine Mutter zur erklärten Feindin hatte. »Nun ja ...«

»Ich hoffe wirklich, Sie können bleiben«, sagte Mr. Goodman mit seinem sympathischen Lächeln. »Ich hab mich schließlich nur um Ihretwillen in die Geschichte von Occles Hall gestürzt.«

»Und das ist ein wirklicher Freundschaftsdienst«, vermeldete Sebastian. »Ben ist eigentlich Archäologe und Altphilologe. Die englische Geschichte bezeichnet er gemeinhin als ein völlig wirres Durcheinander.«

»Ganz so ist es nicht!« Er lachte. »Aber ich hätte das bestimmt nicht auf mich genommen, wenn Lady Valeria nicht deutlich zum Ausdruck gebracht hätte, daß sie es für einen Teil meiner Pflichten erachtet, Sie über alles Wissenswerte aufzuklären.«

Daisy schmunzelte. »Ich kann ja wohl unmöglich die Verantwortung auf mich nehmen, daß Sie Ihre Zeit mit Quatsch vergeudet haben, und dann auch noch umsonst. Außerdem muß ich zugeben, daß ich so spät nur sehr schwer ein anderes Thema für meinen Februar-Artikel finden würde. Ich bleibe also gern.«

»Na, bestens«, sagte Bobbie. »Nimm doch noch einen Keks.«

»Nein, danke. Mr. Goodman, könnten Sie mir wohl vorab eine Kurzversion der Gutsgeschichte erzählen, damit ich meinen Artikel in groben Zügen entwerfen kann?«

»Aber gerne doch. Allerdings kann man leider nicht behaupten, daß sie besonders spannend ausfällt. Occles Hall wurde nach den Rosenkriegen gebaut, also ist dem Haus dieser ganze Aufruhr immerhin erspart geblieben. Die Herren des Hauses waren immer ruhige, häusliche, gesetzestreue Grundbesitzer, die die Interessen ihrer Pächter und Nachbarn gerade ausreichend achteten, um vor Ort keine revolutionären Tendenzen zu wecken. Sie waren weit genug von London entfernt, um nicht bei irgendwelchen politischen Streitereien mitmachen zu müssen, weit genug von der Grenze entfernt, um den Plünderungen durch die Schotten zu entgehen, und sogar weit genug von den Industriegebieten entfernt, um den Angriffen der Ludditischen Maschinenstürmer zu entgehen.«

»Ein ziemlich langweiliges Schicksal«, bemerkte Sebastian.

»Meistenteils wohl«, stimmte Mr. Goodman dem zu. »Einen Augenblick der Glorie, wenn man das so nennen will, gab es immerhin im Bürgerkrieg. Der Gutsbesitzer war Royalist. Cromwell hatte anderswo Wichtigeres zu tun, aber ein Trupp Parlamentsanhänger belagerte das Haus. Die einzigen Mittel zur Verteidigung des Hauses waren der Burggraben und ein paar Flinten. So hat eine kleine Kanone den Verteidigern des Hauses rasch die rechte Furcht vor dem Herrn gelehrt – oder wenigstens vor den Rundköpfen –, und zwar mit durchschlagendem Erfolg, im wörtlichen Sinn. Nach ungefähr einem halben Dutzend Treffer hat man sich klugerweise ergeben.«

»Damit hätten wir also mit Ihrem Vorfahren umgekehrt eine Art ritterlichen John Hampden, der sich ›tapfer mit trotz’ger Brust‹ wehrt«, sagte Daisy.

Sebastian lachte. »Na, sie waren wohl eher ›stumm und ruhmlos‹, meine Vorfahren.«

Bobbie schaute verwirrt drein. Wie hatte sie es nur geschafft, während ihrer Schulzeit um Grays »Elegie« herumzukommen, diesen Dauer-Lieblingstext aller Englischlehrer?

»Nicht lachen«, wandte sich Mr. Goodman an Sebastian. »Auch ein so kurzer Widerstand hat in der Restaurationszeit immerhin dazu gereicht, um den Titel eines Baronets verliehen zu bekommen. Wenn man damals noch ein bißchen länger ausgehalten hätte, dann wären Sie heute möglicherweise Erbe eines Barons. Noch etwas Tee, Bobbie?«

»Ja, bitte. Nur selber essen macht satt, Bastie! Bitte reich mir den Kuchen.«

Weder Lady Valeria noch Sir Reginald erschienen, während Bobbie ihren Hunger stillte. Mit einem tiefen Seufzer gesättigten Wohlbefindens wuchtete sie sich schließlich aus ihrem Sessel empor.

»Ich sollte mich lieber mal umziehen. Komm doch mit hinauf in mein Zimmer, Daisy, dann können wir endlich einmal wieder ausgiebig plaudern.«

Daisy war amüsiert, wenn auch nicht völlig überrascht, als sie feststellte, daß die Wanddekoration von Bobbies Schlafzimmer ausschließlich dem Sport gewidmet war. Olympiasiegerinnen wie Constance Jeans, Kitty McKane und Phyllis Johnson hingen unter Bildern von Bobbie zu Pferde und in irgendwelchen Sportmannschaften. Bobbie war zu Schulzeiten in jeder Mannschaft gewesen, ob Golf, Tennis, Cricket, Rudern oder Schwimmen, und in den meisten Teams war sie sogar Mannschaftskapitän gewesen. Daisy, die es im letzten Schuljahr gerade mal als Zwölfte in die B-Mannschaft des Cricket-Teams geschafft hatte, erinnerte sich an ihre damalige tiefe Bewunderung für ihre Freundin.

Als sie auf dem Nachttischchen die Ausgabe von Town and Country bemerkte, in der ihr Artikel über Wentwater Court erschienen war, hoffte sie, daß sich die Verhältnisse damit jetzt wenigstens etwas umkehrten.

Bobbie schickte das Zimmermädchen hinaus, und Daisy schlenderte im Zimmer umher, betrachtete die Bilder und entdeckte vertraute Gesichter wieder, während Bobbie im Badezimmer nebenan verschwand, wobei sie die Tür offenließ. Zwischen walartigem Prusten und Planschen hörte Daisy ihre hoffnungsfrohe Stimme.

»Daddy wird dir bestens gefallen. Er ist einfach ein prima Kerl. Er wird dir seine Mustermolkerei zeigen wollen, aber wenn du ablehnst, ist er auch nicht beleidigt.«

»Das klingt aber interessant für meinen Artikel. Sir Reginald kümmert sich wirklich persönlich um die Leitung der Molkerei?«

»Die Hälfte seiner Zeit verbringt er da unten. Drei Viertel, eher. Er hat das Ganze fürchterlich wissenschaftlich aufgezogen und experimentiert dauernd mit neuen Methoden herum. Und auf den Landwirtschaftsmessen gewinnen seine Cheshire-Käse alle möglichen Preise.«

»Dann muß ich doch auf jeden Fall darüber schreiben.« Der Ärmste – wahrscheinlich war er froh, mit seiner Molkerei ein Refugium vor seiner Frau zu haben. Nach allem, was Daisy gehört hatte, stand er genauso unter dem Pantoffel wie seine Kinder.

»Du mußt ja unglaublich schlau sein, daß du so schreiben kannst. Und Geld bekommst du auch dafür?« Bobbie klang fast eifersüchtig.

»Ist das nicht großartig? Eine Weile hab ich mich als Stenographin versucht. Das war gräßlich. Aber das Schreiben macht mir riesigen Spaß. Mit Artikeln wie diesem hier und ein paar kleineren Aufträgen hier und da komme ich ganz gut über die Runden. Zwischendrin helfe ich Lucy manchmal in ihrem Photostudio. Und dann hab ich noch ein bißchen Geld, das mir eine Tante vererbt hat, und das hilft mir natürlich auch weiter. Würdest du denn gerne arbeiten?«

»Schrecklich gern, aber ich bin ja für nichts zu gebrauchen außer für Pferde und Mannschaftsspiele. Und ich hab keinen einzigen Pfennig eigenes Einkommen.« Noch ein gurgelndes Planschen, und einen Moment später erschien Bobbie tropfend im Türrahmen, in ein riesengroßes rosa Handtuch gehüllt. »Und überhaupt: Wenn ich hier rauskomme und dann geht doch irgend etwas schief, dann könnte ich es einfach nicht ertragen, zurückgeschlichen zu kommen und betteln zu müssen, daß man mich wieder aufnimmt.«

»Das kann ich verstehen. Mutter würde mich das immer spüren lassen, wenn ich jetzt doch noch zu ihr ins Dower House ziehen würde.«

»Dein Bruder ist im Weltkrieg gefallen, nicht wahr?« fragte Bobbie unvermittelt, während sie sich wieder in das Badezimmer zurückzog.

»Ja, und Vater während der Grippeepidemie gestorben. Mein Vetter hat dann den Titel und Fairacres geerbt. Aber da muß ich gerecht bleiben: Er und Geraldine würden mir liebend gerne ein Zuhause geben, aber die beiden sind einfach schrecklich steif. Und bei meiner Schwester Violet und ihrem Mann könnte ich auch wohnen, die sind beide richtige Schätzchen. Da würde ich mich wohl als Tante nützlich machen. Aber lieber bin ich unabhängig, auch wenn das ein ziemlicher Kampf ist.«

Bobbie tauchte wieder auf, diesmal in rosa Flanellunterwäsche gekleidet, und ihr feuchtes Haar stakste in alle möglichen Richtungen, als wäre es ein Heuhaufen. Obwohl sie stark gebaut war, war sie überhaupt nicht dick. Tatsächlich hätte sie so mancher schmale Mann um ihre muskulöse Figur beneidet. Neben ihr kam sich Daisy zerbrechlich und äußerst feminin vor.

»Ich bin wahnsinnig froh, daß du hergekommen bist.« Während Bobbie sprach, zog sie sich einen Unterrock aus Crêpe-de-Chine-Seide über ihre etwas prosaische Unterwäsche. »Und Sebastian sieht das genauso, das weiß ich genau. Ich hab gleich gemerkt, daß er dich mag: er hat ja tatsächlich mit dir geredet. Das arme Herzchen ist Mädchen gegenüber normalerweise ganz schrecklich schüchtern.«

Seine Mutter mußte diesen so glänzend aussehenden Sebastian so nachhaltig vor den weiblichen Listen gewarnt haben, daß er schon im vorhinein das Feuer scheute, vermutete Daisy. »Wahrscheinlich wird dein Bruder von den Mädchen geradezu verfolgt«, sagte sie taktvoll.

»Er ist einigermaßen atemberaubend, nicht wahr? Ich wünschte, ich sähe nur halb so gut aus wie er.« Bobbie steckte ihren Kopf in die Stoffmassen eines scheußlichen olivgrünen Seidenkleides, das dicht mit Perlen bestickt war, und schüttelte sich leicht, bis es richtig saß. Es hing an ihr herunter wie ein Sack. »Ich vermute, er würde sicher verfolgt werden, wenn Mummy ihn endlich einmal alleine irgendwo hinlassen würde.«

»Ich hab gehört, daß er gelegentlich an der Riviera ist.«

»Aber immer schön an der Leine. Ich glaube, sie hat das Gefühl, sie müßte ihn gelegentlich doch an die frische Luft bringen, sonst denken die Leute noch, er wäre schwachsinnig oder so was. Wenn er da unten nicht schwimmen könnte, würde er sich genauso langweilen wie hier. Er schwimmt wie ein Fisch. Und außerdem gibt es da noch irgendwelche römische Ruinen, in denen sie ihn herumwandern läßt.«

»Mr. Parslow interessiert sich für Ruinen aus der Antike?« fragte Daisy erstaunt.

»Na ja, als er noch in der Schule war, hat er sich fürchterlich für irgendein Stückchen aus einem römischen Mosaik begeistert, das man in einer von Daddys besten Heuwiesen gefunden hat. Mummy hat darauf bestanden, daß er die ganze Wiese umgraben durfte. Ein paar Münzen hat er da gefunden, obwohl ich mich manchmal frage, ob sie die nicht gekauft und extra für ihn da hineingelegt hat. Sie waren nämlich in bemerkenswert gutem Zustand.«

»Würde sie so etwas wirklich tun?«

»O ja, alles, um ihn bei Laune zu halten – alles außer ihn loszulassen«, sagte Bobbie bitter. »Ansonsten hat er nie was gefunden, aber sein Interesse an der Sache hat er nie verloren. Dann kam Ben, um für Daddy zu arbeiten, und der hat Bastie für die alten Griechen begeistern können.«

»Mr. Goodman ist also tatsächlich Archäologe und Gräzist?«

»Ja, in Oxford, und er wäre da sicherlich auch Professor geworden, wenn der Krieg nicht alles durcheinandergebracht hätte. Natürlich begeistert er sich mehr für Bücher und Philosophie und dieses ganze Zeugs. Aber er ist unglaublich nett und bringt Bastie alles mögliche über Keramik und solchen Kram bei. Mummy hat ihm eine schrecklich alte und teure Amphi… ich meine, eine Amphore gekauft, aber er meint, es wäre nicht dasselbe, als wenn man so was selber ausgräbt.«

»Wahrscheinlich kann man als Archäologe seinen Lebensunterhalt nicht wirklich verdienen«, sagte Daisy nachdenklich. »Die Leute, die damit anfangen, sind anscheinend alle wohlhabend, so wie Lord Carnarvon, der letztes Jahr das Grab von Tut-ench-Amun ausgegraben hat.«

»Ach, Sebastian hat durchaus was auf der hohen Kante, jedenfalls genug, um davon zu leben. Genau wie du hat er etwas von einer Tante geerbt – mir hat sie keinen Penny hinterlassen, Pech für mich.«

»Und er hat sich noch nicht nach Griechenland abgesetzt?« Vor lauter Überraschung vergaß Daisy ihr Taktgefühl.

Bobbie wurde rot. »Man kann ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er Mummy kein Kontra gibt«, sagte sie zu seiner Verteidigung. »Warte erst mal, bis du sie kennenlernst, dann verstehst du das besser.«

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