Miss Daisy und der Tote auf dem Eis & Miss Daisy und der Tod im Wintergarten - Carola Dunn - E-Book
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Miss Daisy und der Tote auf dem Eis & Miss Daisy und der Tod im Wintergarten E-Book

Carola Dunn

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Beschreibung

Miss Daisy und der Tote auf dem Eis: England in den wilden zwanziger Jahren. Eigentlich soll die junge Adlige Daisy Dalrymple einen Artikel über Wentwater Court schreiben, das zauberhaft gelegene Gut des gleichnamigen Grafen und seiner schönen Frau. Aber der Schein der Idylle trügt: Im zugefrorenen See wird eine Leiche gefunden. Zusammen mit Alec Fletcher von Scotland Yard löst Miss Daisy ihren ersten Fall... Miss Daisy und der Tod im Wintergarten: Daisy Dalrymple, eine junge Adlige mit ausgeprägtem kriminalistischen Scharfsinn, besucht im England der zwanziger Jahre das imposante Landgut Occles Hall. Eigentlich will sie hier einen Artikel schreiben, aber wenige Stunden nach ihrer Ankunft wird im Wintergarten die Leiche des Dienstmädchens gefunden. Die Polizei verdächtigt den Gärtner, aber ist er tatsächlich der Mörder? Miss Daisy hat da so ihre Zweifel, und zusammen mit Alec Fletcher von Scotland Yard macht sie sich an die Ermittlungen in ihrem atemberaubenden zweiten Fall.

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Informationen zum Buch

Miss Daisy und der Tote auf dem Eis:England in den wilden zwanziger Jahren. Eigentlich soll die junge Adlige Daisy Dalrymple einen Artikel über Wentwater Court schreiben, das zauberhaft gelegene Gut des gleichnamigen Grafen und seiner schönen Frau. Aber der Schein der Idylle trügt: Im zugefrorenen See wird eine Leiche gefunden. Zusammen mit Alec Fletcher von Scotland Yard löst Miss Daisy ihren ersten Fall ...

Miss Daisy und der Tod im Wintergarten:Daisy Dalrymple, eine junge Adlige mit ausgeprägtem kriminalistischen Scharfsinn, besucht im England der zwanziger Jahre das imposante Landgut Occles Hall. Eigentlich will sie hier einen Artikel schreiben, aber wenige Stunden nach ihrer Ankunft wird im Wintergarten die Leiche des Dienstmädchens gefunden. Die Polizei verdächtigt den Gärtner, aber ist er tatsächlich der Mörder? Miss Daisy hat da so ihre Zweifel, und zusammen mit Alec Fletcher von Scotland Yard macht sie sich an die Ermittlungen in ihrem atemberaubenden zweiten Fall.

Informationen zur Autorin

Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte in den USA mehrere historische Romane, bevor sie die "Miss Daisy"-Serie zu schreiben begann.

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Carola Dunn

Miss Daisy und der Tote auf dem Eis& Miss Daisy und der Tod im Wintergarten

Zwei Kriminalromane in einem E-Book

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Miss Daisy und der Tote auf dem Eis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Miss Daisy und der Tod im Wintergarten

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Impressum

Carola Dunn

Miss Daisy und der Tote auf dem Eis

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Carmen v. Samson-Himmelstjerna

Prolog

Ciro’s, um Mitternacht. Die letzten Klänge des Charleston gingen im Applaus für die farbige Kapelle unter. Gespräche wurden wieder aufgegriffen, Gelächter ertönte, und ein junger Mann führte seine Partnerin von der Tanzfläche. Ein älterer Herr beobachtete ihn. Er stellte fest, dass die gutgeschnittene Abendgarderobe des Jüngeren leicht zerknittert war, sein Gesicht auch für einen gerade beendeten schwungvollen Tanz zu rot. Dem Mädchen an seinem Arm schien das gleichgültig zu sein, was allerdings unter der dick aufgetragenen Schminke nicht richtig zu erkennen war.

Ihr flitterbesetztes Abendkleid mit der niedrigen Taille war kurz, der gegenwärtigen Mode zum Trotz, die in dieser Saison die Säume wieder auf Knöchelhöhe hatte sinken lassen. Mit ihrem Bubikopf und der lang herabhängenden Glasperlenkette sah sie aus wie eine Revuetänzerin oder schlicht wie ein »flottes junges Ding«.

Mit einem verächtlichen Grinsen ging der Beobachter auf sie zu und sprach ihren Partner an. »Auf ein Wort, alter Freund.«

Der junge Mann sah ihn mürrisch und abweisend an. »Zum Henker, hat das nicht Zeit?« presste er gelangweilt hervor.

»Mir ist zugetragen worden, dass du morgen nach Hampshire fährst.«

»Ja. Mein alter Herr besteht darauf, dass sich die ganze Familie zu Weihnachten bei ihm versammelt, aber in vierzehn Tagen bin ich wieder in der Stadt. Wo brennt’s denn?«

»Ich hätte nicht übel Lust, die Wiege deiner Ahnen zu sehen. Lad mich doch auch zu euch ein.«

»Verflixt, das kann ich doch nicht machen! Hör mal, Gloria, geh du schon mal an unseren Tisch.« Er gab dem Mädchen einen kleinen Klaps auf das in rosa Kunstseide gehüllte Hinterteil – also doch eine Revuetänzerin. Sie verzog ihre karminroten Lippen zu einem Schmollmund, beim Gehen wandte sie sich noch einmal um und schenkte dem älteren Mann den Schlafzimmerblick eines Möchtegern-Vamps.

»Vermutlich hat meine Schwester dir das eingeflüstert«, fuhr ihr Begleiter mürrisch fort.

»Denk, was du willst. Ich möchte jedenfalls eingeladen werden.«

»Mein Alter wird das ziemlich merkwürdig finden.«

»Dein Alter wird es noch merkwürdiger finden, wenn er von einem gewissen Geschäft erfährt.« Der drohende Unterton in der wohlklingenden Stimme ließ den anderen blass werden. »Ich habe nicht die geringste Absicht, euer feierliches Familienweihnachten zu stören. Der zweite Weihnachtsfeiertag oder der 27. würden durchaus reichen, und ich bleibe dann gerne noch bis zum neuen Jahr 1923 – ein vielversprechendes Jahr, davon bin ich überzeugt.«

»Na, dann meinetwegen.« Der junge Mann klang jetzt nur noch verdrießlich. »Hiermit bist du also eingeladen.«

Er wandte sich ab und drängelte sich durch die lärmende Menge zu seinem Tisch, wo er eine weitere Runde Cocktails bestellte. Fünf Minuten später, als die Kapelle erneut zu spielen begann, führte er seine kichernde Revuetänzerin wieder auf die Tanzfläche, um seine Sorgen bei einem Shimmy zu vergessen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Grund für seine schlechte Laune bereits den Nachtclub verlassen, gab dem Chauffeur Anweisungen und lehnte sich im Lanchester zurück, ein kaltes, erwartungsvolles Lächeln auf den schmalen Lippen.

1

»Es wird noch ein schlimmes Ende mit ihm nehmen, das sag ich Ihnen, und sie rührt keinen Finger, um ihn davon abzuhalten. Nur wegen der Kleinen mach ich mir Sorgen.« Die stämmige Dame seufzte tief, wobei ihr altmodischer giftgrüner Umhang sie umwogte. »Vier sind schon da, und das fünfte ist unterwegs und kommt dieser Tage auf die Welt.«

Daisy Dalrymple war überrascht, dass wildfremde Menschen sie immer wieder mit ihren Lebensgeschichten unterhalten wollten, mit ihren Ehesorgen oder den Missetaten ihrer Kinder. Aber das störte sie im Grunde nicht. Eines Tages würde sie einen Roman schreiben, und dafür war jeder Einblick in die menschlichen Erfahrungen nützlich.

Dennoch fragte sie sich oft, warum die Menschen ausgerechnet ihr die größten Geheimnisse verrieten.

Nachdem die rundliche Dame mit dem alkoholkranken Schwiegersohn in Alton ausgestiegen war, hatte Daisy das Damenabteil zweiter Klasse ganz für sich allein. Sie kniete sich auf den Sitz und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, den die L&SW Railway Company aufmerksamerweise dort aufgehängt hatte. Ihr rundliches, im Grunde ganz normales Gesicht lud doch nicht unbedingt zu Bekenntnissen ein. Eine Herzensvertraute, so fand Daisy, sollte dunkle, seelenvolle Augen haben, nicht die fröhlichen blauen, die sie jetzt anblickten.

In dem einen Winkel ihres Mundes, der von eher großzügigen Proportionen war und keineswegs dem Rosenknospen-Schönheitsideal entsprach, saß der kleine braune Leberfleck, unter dem sie schon ihr ganzes Leben lang litt. Egal, wieviel Puder sie auflegte, er wollte einfach nie ganz verschwinden.

Die verstreuten Sommersprossen auf ihrer Nase konnte man jedoch überdecken. Daisy nahm ihren Schminkbeutel aus der Handtasche und machte energischen Gebrauch von ihrer Puderquaste. Sie zog etwas Lippenstift nach und lächelte ihr Spiegelbild an. Auch wenn sie auf der Reise zu ihrem ersten großen journalistischen Auftrag für Town and Country so wirken wollte, als sei dies alles für sie schon Routine, musste sie doch zugeben, dass sie ziemlich aufgeregt war.

Mit ihren fünfundzwanzig Jahren hätte sie weltgewandt und selbstbewusst sein müssen, doch gelang es ihr nicht, die Schmetterlinge im Bauch zu verscheuchen. Sie musste den Auftrag einfach gut hinbekommen. Die Alternativen waren zu niederschmetternd, um überhaupt an sie zu denken.

War der saphirgrüne glockenförmige Hut von Selfridges Bargain Basement nicht vielleicht etwas zu auffällig für eine berufstätige Frau? Nein, beschloss sie, er gab ihrem alten dunkelgrünen Tweedmantel ein bisschen Schwung, genau, wie sie es gewollt hatte. Sie richtete den grauen Pelzkragen, den sie sich von Lucy ausgeliehen hatte. Er war eleganter als ein Wollschal, wenn auch weniger praktisch an diesem eisigen Januarmorgen.

Sie setzte sich wieder und nahm die Zeitung, die ihre Mitreisende dagelassen hatte. Daisy hatte kein übermäßiges Interesse daran, auf dem Laufenden zu sein, und die Schlagzeilen an diesem zweiten Tag des Jahres 1923 waren die gleichen wie vor ein oder zwei Wochen: Unruhen im Ruhrgebiet und in Irland; Mussolini, der in Italien Reden hielt; die Inflation, die in Deutschland wütete.

Sie schlug die Zeitung auf, las einen kurzen Artikel über die letzten wundersamen Funde aus dem Grab von Tutenchamun und stieß dann auf eine Überschrift:

RAUBÜBERFALL AUF FLATFORD

Scotland Yard ermittelt

Daisy war zusammen mit Lord Flatfords Tochter zur Schule gegangen, wenn auch nicht in dieselbe Klasse. Unglaublich, wie schon die bloße Erwähnung einer Bekannten interessanter sein konnte als die wichtigsten Auslandsnachrichten.

In den frühen Morgenstunden des Neujahrstages waren Diebe mit dem kostbarsten Schmuck der Hausgäste der Flatfords entkommen – nach dem Silvesterball waren die Preziosen noch nicht in Lord Flatfords Safe zurückgebracht worden.

Daisy hatte keine Zeit mehr weiterzulesen, denn das Rattern des Zugs auf den Gleisen verlangsamte sich erneut, und der nächste Halt war Wentwater. Nach einem kurzen Kampf mit dem Ledergriff gelang es ihr, das beschlagene Zugfenster herunterzuziehen. Sie schauderte bei dem eisigen Luftstoß, der den schweren, unverkennbaren Geruch einer mit Kohlen geheizten Dampflok hineinwehte, und fragte sich, ob Halsschmerzen nicht vielleicht doch ein zu hoher Preis für Eleganz waren.

Immerhin spendete der Knoten ihrer honigbraunen Haare im Nacken unter der Hutkrempe etwas Wärme. Dieses eine Mal war sie doch froh, dass sie ihrer Mutter nachgegeben hatte und sich die Haare nicht hatte kurz schneiden lassen.

Der Zug ratterte und schuckelte und hielt schließlich an. Daisy lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Träger!«

Der Mann, der daraufhin auf sie zukam, schien auf einem Holzbein zu gehen, zweifellos hatte er sein eigenes im Großen Krieg verloren. Dennoch eilte er rasch den schneegefegten Bahnsteig herunter. Er tippte mit der Hand an seine Schirmmütze, als Daisy aus dem Zug stieg, Lucys kostbaren Fotoapparat fest umklammert.

»Gepäck, Madam?«

»Ja, ich fürchte, es gibt sogar einiges zu tragen«, sagte sie schüchtern.

»Keine Sorge, Madam.« Er hüpfte behende in das Abteil und holte ihren Mantelsack, das Stativ, den Gladstone-Koffer und die Reiseschreibmaschine, die ihr Redakteur ihr geliehen hatte, aus dem Gepäcknetz. Schwer bepackt bahnte er sich einen Weg nach draußen. Er stellte alles ab, schlug die Tür krachend zu und hob den Arm. »Auf geht’s!« rief er dem Zugführer zu, der in seine Trillerpfeife blies und die grüne Flagge schwenkte.

Während der Zug sich schnaufend in Bewegung setzte, ging Daisy über den Fußgängersteg zum Bahnsteig gegenüber. Sie schaute sich um. Der Bahnhof war nicht viel mehr als eine Haltestelle, und sie war die Einzige, die aus dem Londoner Zug ausgestiegen war. Über den beiden Türen des winzigen Gebäudes am Gleis für die Züge in Richtung London waren zwei kleine Schilder angebracht: »Gepäckaufbewahrung« und »Warteraum und Fahrkartenschalter«.

Die Landschaft von Hampshire, die sich um den Bahnhof erstreckte, war von einer dicken Schneeschicht bedeckt, die in der Sonne funkelte. An skelettartigen Bäumen und Hecken glitzerte der Reif. Die einzigen Zeichen von Leben waren der zusehends schneller werdende Zug, der uniformierte Mann, der jetzt dahinter ihre Sachen über die Gleise trug, und eine Krähe, die auf dem Lattenzaun des Bahnhofs hockte.

»Ihre Fahrkarte bitte, Madam.«

Sie reichte sie ihm zum Abknipsen. »Ich muss nach Wentwater Court«, sagte sie. »Ist das weit?«

»Ungefähr drei Meilen.«

»Ach, du lieber Gott!« Daisy sah entsetzt auf ihr Gepäck und dann auf ihre eleganten ledernen Schnürstiefel mit den hohen Absätzen. Für meilenweite Fußmärsche auf schneebedeckten Landstraßen waren sie keinesfalls geeignet. Der Bahnhof war offensichtlich zu klein, um eine Bahnhofsdroschke zu unterhalten, geschweige denn ein Taximobil.

»Keine Sorge, Madam. Der Graf schickt immer sein Automobil, um die Gäste abholen zu lassen, aber bei diesem Wetter wird es wohl schwer anzulassen sein.«

»Das Problem ist«, vertraute ihm Daisy an, »ich bin eigentlich kein richtiger Gast. Ich schreibe einen Artikel über Wentwater Court, für eine Zeitschrift.«

Der Träger-Bahnhofsvorsteher-Fahrkartenabschneider in Personalunion sah angemessen beeindruckt aus. »Eine Schriftstellerin sind Sie also, Madam? Auch sehr nett. Also, wenn Sie zu Fuß gehen wollen, dann kann ich dafür sorgen, dass ein Junge aus dem Dorf Ihre Sachen nachher auf einem Handkarren hinbringt. Oder ich kann auch die Garage in Alton anläuten, dass ein Taximobil Sie abholen kommt.«

Daisy bedachte diese beiden Möglichkeiten, von denen die eine unbequem, die andere teuer war. Ihre Auslagen würden später von der Zeitschrift erstattet werden, aber sie hatte nur sehr wenig Bargeld bei sich.

In dem Moment hörte sie das Tuckern eines starken Automotors. Ein dunkelgrüner Rolls Royce Silver Ghost, glänzende Messingbeschläge an der langen Motorhaube, fuhr vor. Ein uniformierter Chauffeur sprang heraus.

»Sieht aus, als hält der Graf Sie doch für einen Gast, Madam«, sagte der Träger mit einer Zufriedenheit, die ihre eigene widerspiegelte, und griff ihr Gepäck.

»Miss Dalrymple?« fragte der Chauffeur und kam näher. »Ich bin Jones, vom Court. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, Miss. Bis sie heut morgen gestartet ist, hat’s ’ne Weile gedauert, kommt sonst nie vor, egal wie kalt es ist, sonst wär ich schon früher hier gewesen.«

»Völlig in Ordnung, Jones«, sagte Daisy und schenkte ihm ein sonniges Lächeln. Der liebe Gott saß also doch im Himmel, und auf der Welt ging alles noch immer mit rechten Dingen zu.

Er öffnete ihr die Autotür und verstaute dann zusammen mit dem Träger ihre Taschen im Kofferraum. Daisy lehnte sich in dem weichen Ledersitz zurück. Manchmal war es entschieden von Vorteil, von blauem Blut zu sein.

Natürlich hätte sie ohne ihre gesellschaftlichen Kontakte niemals den Auftrag bekommen, über Adelssitze zu schreiben. Obwohl sie Lord Wentwater nicht selbst kannte, so waren doch sein ältester Sohn Lord James Beddowe, seine Tochter Lady Marjorie und seine Schwester Lady Josephine alles Bekannte. Ihr Redakteur hatte mit seiner Annahme recht gehabt, dass die Türen, die einem Schreiber aus dem einfachen Volk für immer verschlossen wären, sich zum Willkomm der hochwohlgeborenen Daisy Dalrymple weit öffnen würden.

Der Rolls schnurrte aus dem Bahnhofsgelände hinaus, den Hügel hinab, um eine Kurve und durch das Dorf Lower Wentwater. Der Ententeich auf dem Dorfanger war gefroren. Kinder in dicken Wollstrümpfen rutschten kreischend vor Lachen auf dem Eis herum; zwischen ihren gestreiften Schals und den Wollmützen lugten nur ihre leuchtenden Augen hervor.

Hinter der kleinen, aus Steinen gemauerten Kirche wand sich der Weg viele Hügel hinauf und dann wieder hinab, an Feldern, Bauernhöfen und Baumgruppen vorbei. Der Schnee auf dem Fahrweg war ganz frisch, mit Ausnahme von zwei schmalen Rillen, die das Automobil des Grafen auf dem Weg zum Bahnhof hinterlassen hatte. Daisy war zunehmend dankbar dafür, dass sie nicht auf Schusters Rappen hatte kommen müssen.

Mitten in einem Wäldchen gelangten sie an ein Pförtnerhaus aus Backstein. Es bewachte das hohe, gusseiserne Tor, dessen Flügel offenstanden. Bei der Durchfahrt hupte Jones einmal. Daisy wandte sich um und sah, wie der Pförtner herauskam, um das Tor hinter ihnen wieder zu schliessen. Wenig später waren sie aus den Bäumen heraus.

Wentwater Court breitete sich vor ihnen aus. Der Landsitz war an den Hang über einem flachen Tal gebaut. Der mit Zinnen und Türmchen versehene Mittelbau aus der Tudorzeit, aus rotem Backstein mit Steinrisaliten, war von zwei Flügeln aus der Zeit von Queen Anne flankiert. Ranken wilden Weins, jetzt ohne Laub, verdeckten den Übergang von einem Baustil in den anderen, und zwei riesige Zedernbäume milderten die Strenge der rechteckigen Seitenflügel. An der Talsohle mündete die Kiesauffahrt in eine reich dekorierte Brücke aus Stein, die sich über einen Zierteich wölbte. Der Schnee war vom zugefrorenen Teich weggekehrt worden, und rot, grün und blau gekleidete Schlittschuhläufer glitten darüber hinweg oder wirbelten in phantasievollen Schleifen umher.

»Jones, bitte, halten Sie an«, rief Daisy aus. »Ich muss unbedingt ein paar Fotografien machen.«

Der Chauffeur holte das Stativ aus dem Kofferraum. »Soll ich auf Sie warten, Miss?«

»Nein, fahren Sie ruhig schon vor, ich komme zu Fuß nach.« Sie baute am Rand der Auffahrt ihre Ausrüstung auf und stellte die Kamera ein.

Den größten Teil ihrer Erfahrung als Fotografin hatte sie in Lucys Studio gesammelt. Sie blinzelte konzentriert durch den Sucher und stellte sich die vor ihr liegende Szene auf einer halben Zeitschriftenseite vor. Die Eisläufer auf dem See würden gerade mal als Pünktchen auszumachen sein, stellte sie ernüchtert fest.

Dennoch schoss sie ein paar Fotos, ehe sie ihren Apparat auf die Villa richtete, um ein paar weitere Aufnahmen zu machen. Dann marschierte sie mit ihrer Ausrüstung zum Seeufer hinab, um ein paar Nahaufnahmen von den Schlittschuhläufern und der pittoresken Brücke zu machen.

Die Eisläufer hatten sie schon gesehen, und der eine oder andere hatte auch schon gewunken. Als sie näher kam, versammelten sich alle fünf am nächstgelegenen Fuß der Brücke.

»Hallo, Daisy«, rief Marjorie. »Wir haben uns schon gedacht, dass du das sein musst.« Ihre modisch knabenhafte Figur wurde von einem maßgeschneiderten kirschroten Sportmantel mit passendem Rock betont. Daisy wusste, dass der weiße Wollhut einen Bubikopf mit marcellierten Wellen bedeckte. Das Rot ihrer klassisch geschwungenen Lippen passte zu dem ihres Mantels, ihre Augenbrauen waren gezupft und dunkel gefärbt, und die Wimpern waren stark getuscht. Mit ihren einundzwanzig Jahren war Lady Marjorie Beddowe ein Backfisch, wie er im Buche stand.

»Willkommen auf Wentwater, Miss Dalrymple.« Marjories Bruder James, ein stämmiger junger Mann, der etwa drei Jahre älter als seine Schwester sein mochte, trug eine lange Knickerbockerhose und einen gelb-blau-gemusterten Fair-Isle-Pullover. Sein fülliges Kinn stand im Kontrast zu seiner aristokratisch schmalen Nase, und die Wangen waren von der Bewegung an der frischen Luft rosa gefärbt. Er hatte seinen Mantel, die Mütze und den Schal bereits auf der Bank am anderen Ende des Sees deponiert. »Sie kennen doch Fenella, nicht wahr?«

»Ja, sehr gut sogar. Wir kommen aus derselben Gegend in Worcestershire.« Daisy lächelte das schüchterne Mädchen an, dessen Verlobung mit James kürzlich in der Morning Post bekanntgegeben worden war. »Und Phillip ist natürlich auch ein alter Freund.«

»Sei gegrüßt, meine Liebe, dich hab ich ja Ewigkeiten nicht mehr gesehen.« Fenellas Bruder, ein großgewachsener, blonder, schlaksiger junger Mann grinste sie an. Phillip Petrie sah auf eine eher gewöhnliche Art gut aus. Er war der beste Freund von Daisys Bruder gewesen, ehe Gervaise im Schützengraben gefallen war. »Hast mit der Fotografie angefangen, was?« fragte er.

»In gewisser Hinsicht ja, schon.«

Er schien den Grund ihrer Anreise hier also nicht zu kennen. Sie wollte es ihm erklären, aber Marjorie fuhr eilig dazwischen, um den fünften Eisläufer vorzustellen.

»Daisy, dies ist Lord Stephen Astwick.« Sie schaute den älteren Mann hingebungsvoll an. »Ihr kennt euch noch nicht, oder?«

»Das Vergnügen war mir bislang nicht vergönnt«, sagte er verbindlich. »Guten Tag, Miss Dalrymple.« Mit seinen ungefähr vierzig Jahren war Lord Stephen eine elegante Erscheinung. Er trug eine legere Norfolk-Lederjacke mit Gürtel, und seine schwarzen Haare waren mit Pomade aus einem gut geschnittenen Gesicht zurückgekämmt.

»Lord Stephen.« Daisy senkte beim Gruß den Kopf. Die Art, wie er sie mit seinen kalten grauen Augen begutachtet hatte, war ihr unangenehm. »Lassen Sie sich von mir nicht bei Ihrem Vergnügen stören. Ich würde gerne noch ein paar Aufnahmen von etwas weiter oben machen.«

»Soll ich nicht den Apparat da für dich tragen?« bot sich Phillip an und trat vor. »Der sieht ja verflixt schwer aus.«

»Nein, vergnüge du dich lieber weiter beim Schlittschuhlaufen, Phil. Je mehr Menschen auf der Fotografie zu sehen sind, desto besser.«

Ein gepflasterter Gehweg um den Teich war freigeschaufelt und mit Sand bestreut worden. Während sie dort entlangging, bemerkte Daisy, wie Marjorie besitzergreifend Lord Stephens Arm umklammerte.

»Zeigen Sie mir doch noch einmal diese Figur«, sagte sie mit einem künstlichen Kichern. »Diesmal werde ich sie aber wirklich hinbekommem, das schwöre ich Ihnen.«

»Wenn Sie darauf bestehen, Lady Marjorie«, entgegnete er, wobei er kurz mürrisch das Gesicht verzog. Daisys spontane Abneigung gegen diesen Mann bestätigte sich. Marjorie mochte ja eine kleine Nervensäge sein, aber Lord Stephen hatte seine Verachtung für sie nicht so deutlich zur Schau zu tragen.

Daisy fand genau den richtigen Standort auf einer kurzen Mole neben einem hölzernen Bootshaus und baute ihre Kamera auf. Sie machte mehrere Fotografien von den Schlittschuhläufern, die Brücke im Hintergrund. Freundlicherweise blieben sie alle an diesem Ende des Teichs, obwohl Daisy sie vorhin noch unter der Brücke hatte hindurchsausen sehen. Es war ein Jammer, dass die Farbfotografie ein so komplizierter und wenig zufriedenstellender Vorgang war, denn die leuchtenden Farben der Kleider machten einen großen Teil des Charmes dieser Szene aus.

Daisy verknipste den ganzen Film. Die anderen Rollen befanden sich in ihrem Gladstone-Koffer, und so packte sie ihre Sachen zusammen, löste den Fotoapparat vom Stativ und schob vorsichtig das Akkordeon des Objektivs wieder ein. Kaum, dass sie sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrierte, spürte sie die beißende Kälte, die an ihren Zehenspitzen und Wangen nagte.

Das zusammengeklappte Stativ ungeschickt unter einen Arm geklemmt, die Kameratasche am Riemen über die Schulter gehängt, marschierte sie weiter um den See herum. Ein gesandeter, gut ausgetretener Pfad im Schnee führte sie von der Bank auf das Haus zu. Ehe sie dort ankam, war Phillip zu ihr herübergeglitten.

»Fertig? Ich helf dir, die Sachen nach oben zu tragen, wenn du die eine Sekunde wartest, bis ich mir die Schlittschuhe ausgezogen habe.«

»Danke, das wäre eine große Hilfe.«

Er lief hinüber zur Bank, um sich die Schuhe anzuziehen. Während sie zu ihm hinüberschlenderte, fragte sich Daisy, ob er wohl vorhatte, seine gelegentlich auftretende Verehrung für sie wieder einmal aufleben zu lassen. Seit sie ihre flaschengrüne Schuluniform hinter sich gelassen hatte wie ein Schmetterling seinen Kokon, machte ihr der Hochwohlgeborene Phillip Petrie, der dritte Sohn des Baron Petrie, immer mal wieder den Hof. Manchmal hatte sie allerdings den Eindruck, das lag eher an Gervaise als an ihrer Person.

Sie lächelte ihn an, als er sie von ihrer Last befreite. Obwohl sie seine gelegentlichen Heiratsanträge standhaft ablehnte, mochte sie ihren Jugendfreund und einstigen Zopfzieher sehr.

»Hast du deine Schlittschuhe mitgebracht?« fragte er und verkürzte seine langen Schritte, um sich ihrem Tempo anzupassen, während sie den Hügel hinaufgingen, auf dem sie trotz des gesandeten Weges hin und wieder ausrutschten.

»Nein, daran hab ich nicht gedacht.«

»Sicherlich kannst du dir welche ausleihen. Wir könnten dann gleich wieder hierherkommen. Es ist doch ein Jammer, einen so famosen Tag zu verschwenden.«

»Ja, aber ich bin nicht als Gast hier, oder jedenfalls nicht zum Vergnügen. Ich werde hier sehr viel zu tun haben.«

Er sah sie erstaunt an. »Was in aller Welt meinst du denn damit?«

»Ich habe den Auftrag, für Town and Country einen Bericht über Wentwater Court zu schreiben«, sagte sie voller Stolz.

»Du und deine dämliche Schreiberei«, stöhnte er auf. »Verflixt noch mal, Daisy, es kann doch nicht länger als eine Stunde oder so dauern, irgendeinen Quatsch für die Klatschspalte zusammenzuschreiben. Das wirfst du doch nachher ganz schnell aufs Papier.«

»Es geht nicht um ein oder zwei Absätze, es ist ein richtiger Artikel. Mit Fotos. Das ist eine ernsthafte Sache, Phillip. Die zahlen mir einen Haufen Geld, damit ich eine Serie schreibe, einmal im Monat einen Artikel über die interessantesten der weniger bekannten Landsitze.«

»Geld!« Er runzelte die Stirn. »Zum Henker, mein liebes altes Mädchen, du musst doch nicht etwa für deinen eigenen Lebensunterhalt arbeiten? Gervaise wäre ja völlig entsetzt.«

»Gervaise hat nie versucht, mir zu sagen, was ich tun oder lassen soll«, sagte sie mit einiger Schärfe, »und er hätte auch verstanden, dass ich unmöglich bei Mutter wohnen kann, und schon gar nicht bei Vetter Edgar. Er konnte Edgar und Geraldine genausowenig ausstehen wie ich.«

»Mag ja sein, aber trotz alledem würde er sich im Grab umdrehen. Seine eigene Schwester arbeitet!«

»Jedenfalls ist Schreiben viel besser als diese schreckliche Sekretärinnenarbeit, die ich vorher machen musste. Ich fand es ja wirklich schön, Lucy in ihrem Studio zu helfen, aber sie hatte eigentlich nicht genug Arbeit für mich, um das Gehalt zu rechtfertigen, das sie mir zahlte.«

»Und Lucy Fotheringay war es ja auch, die dir diesen ganzen Unabhängigkeitsblödsinn überhaupt eingeimpft hat. Teilst du dir immer noch diese Wohnung in Bayswater mit ihr?«

»Keine Wohnung.« Daisy nutzte die Gelegenheit, das Thema ihrer Berufstätigkeit zu beenden, obwohl sie wusste, dass er ihr immer wieder damit in den Ohren liegen würde. »Wir haben uns ein süßes kleines Häuschen in Chelsea gemietet, ganz dicht am Fluss.«

Sie beschrieb es ihm in größter Ausführlichkeit, und Phillip war zu wohlerzogen, um sie zu unterbrechen. Ehe sie in ihrer Beschreibung auf dem Dachboden angekommen war, erreichten sie die Haustür. Da Phillip mit Schlittschuhen, Stativ und Kamera schwer beladen war, klingelte Daisy.

Ein Diener in auberginefarbener Livree öffnete einen Flügel der massigen, eisenbeschlagenen Doppeltür aus Eiche. Daisy trat ein und reichte ihm ihre Karte, während sie sich umblickte.

»Ach, ich kann es ja kaum erwarten, das alles zu fotografieren!« Die große Eingangshalle aus dem fünfzehnten Jahrhundert war genauso, wie man sie ihr beschrieben hatte. Die verzierte Wandtäfelung erhob sich zu einem geschnitzten Fries von Tudorrosen, Binsen und stilisierten gekräuselten Wellen. Die Wände darüber waren weiß gekalkt, Tapisserien mit Jagd- und Turnierszenen waren dort zu sehen und dazwischen gekreuzte Piken, Hellebarden und Banner. Eine Stichbalkendecke wölbte sich über allem empor.

Daisy verzweifelte – wie sollte sie den Dimensionen dieses Raumes jemals mit ihrer Kamera gerecht werden?

Es schauderte sie. Selbst das hoch auflodernde Feuer im riesigen Kamin ihr gegenüber konnte die winterliche Kälte nicht vertreiben, die von dem gefliesten Fußboden emporstieg. Kalte Zugluft blies aus dem gewölbten steinernen Treppenhaus am einen Ende der Halle herüber. Der Diener schloss eilig hinter Phillip die Haustür.

»Sie sind die Dame, die schreibt. Miss?«

»Ja, genau.« Sie hatte zwar neue Visitenkarten bestellt, auf denen ihr Beruf stolz unter ihrem Namen stand, doch die waren noch nicht angekommen.

Offensichtlich unsicher, was mit ihr anzustellen sei, wandte sich der Diener erleichtert dem würdigen, schwarz gekleideten Butler zu, der jetzt durch eine mit grünem Boi bedeckte Tür am anderen Ende der Halle eingetreten war. »Es ist Miss Dalrymple, Mr. Drew.«

»Wenn Sie bitte hier entlang kommen wollen, Miss, der Graf wird sie in seinem Studierzimmer empfangen.«

»Danke.« Sie winkte ab, als Phillip Anstalten machte, sie zu begleiten. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, wäre Phillip an ihrer Seite, voller Missbilligung, während sie mit Lord Wentwater ihre Arbeit besprach. »Warte nicht auf mich, Phil. Geh lieber wieder Schlittschuh laufen, es könnte ja heute Nacht tauen. Wir sehen uns später.«

Sie puderte sich rasch die rote Nase, während sie dem Butler folgte, und spürte, dass ihre Nervosität vollkommen verschwunden war. Sie hatte es noch nie schwierig gefunden, ältere Gentlemen mit ihrem Charme zu bestricken, und sie hatte keinen Grund anzunehmen, dass das beim Grafen anders sein würde. Schließlich war die halbe Schlacht bereits gewonnen, denn er hatte ihr erlaubt, den Artikel zu schreiben, und sie nach Wentwater eingeladen. Nachdem sie die überwältigende Eingangshalle gesehen hatte, hegte sie keinen Zweifel, dass sie hier jede Menge finden würde, worüber man schreiben konnte.

Der Butler führte sie aus dem spätgotischen Teil des Hauses zum Ostflügel. Dort klopfte er an eine Tür, öffnete sie und kündigte Daisy an. Sie trat mit einem freundlichen Lächeln ein, und Lord Wentwater kam um seinen lederbedeckten Schreibtisch herum und begrüßte sie.

Der großgewachsene, schlanke Herr von ungefähr fünfzig Jahren erwiderte ihr Lächeln nicht, aber er schüttelte ihre ausgestreckte Hand mit ernster Höflichkeit. Er hatte James’ lange, schmale, aristokratische Nase, und sein leicht ergrautes Haar und der Schnurrbart verliehen ihm ein distinguiertes Aussehen. Daisy fand ihn außerordentlich attraktiv, trotz seines Alters und der viktorianischen Steifheit, die er ausstrahlte.

Noch viktorianischer wurde es, als sie die schweren Mahagonimöbel im Zimmer und den dunkelroten türkischen Teppich wahrnahm. Ein Landseer-Gemälde von zwei schwarzen Retrievern, der eine mit einer Wildente im Maul, hing über einem ausnehmend schönen klassizistischen Kamin.

Daisy war immer noch durchgefroren und bewegte sich automatisch auf den Kamin zu, sie zog ihre Handschuhe aus und hielt die Hände vor die Flammen.

»Möchten Sie sich nicht setzen, Miss Dalrymple?« Der Graf wies auf einen kastanienbraunen Ohrensessel, der neben dem Kamin stand. Er setzte sich in einen ähnlichen Sessel gegenüber und sagte: »Ich kannte natürlich Ihren Vater. Ein schmerzhafter Verlust für das House of Lords. Diese entsetzliche Influenza-Epidemie hat uns schwer getroffen, und das so kurz, nachdem der Krieg gerade fast unsere ganze Jugend abgeschlachtet hat. Ihren Bruder auch, nicht wahr?«

»Ja, Gervaise ist in Flandern gefallen.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen mein Beileid auszusprechen, wenn auch etwas verspätet.« Zu ihrer Erleichterung ließ er dann von diesem unglückseligen Thema ab und fuhr in einem trockenen, leicht fragenden Ton fort: »Es schmeichelt mir sehr, dass Sie sich ausgerechnet meine Heimstatt für einen Artikel auserkoren haben.«

»Ich hatte schon davon gehört, wie prachtvoll die Innenausstattung ist, Lord Wentwater, und für einen Artikel im Januar möchte ich eigentlich keine Außenaufnahmen machen.«

»Ach ja, richtig, in seinem Brief hatte Ihr Redakteur ja erwähnt, dass Sie mit einem Fotografen kommen würden.«

Daisy zwang sich, nicht rot zu werden. »Leider hat sich Mr. Carswell eine Grippe zugezogen, so dass ich selber die Aufnahmen machen werde.« Sie redete eilig weiter, ehe Lord Wentwater seinem Mitgefühl für den fiktiven Mr. Carswell Ausdruck verleihen konnte. »Es wäre mir eine riesige Hilfe, wenn Sie mir einen kleinen Raum ohne Fenster als Dunkelkammer zur Verfügung stellen könnten. Eine Rumpelkammer vielleicht, eine Vorratskammer, oder eine Spülküche? Da ich keine ausgebildete Fotografin bin, würde ich gerne sehen, wie meine Fotografien geworden sind, ehe ich wieder fahre – falls ich welche noch einmal machen muss.«

Ein Lächeln huschte über Lord Wentwaters Gesicht. »Da können wir Ihnen sogar bestens weiterhelfen. Mein Bruder Sydney, der jetzt im Colonial Service ist, war in seiner Jugendzeit ein begeisterter Fotograf und hat sich damals eine Dunkelkammer einrichten lassen.«

»Ach, das ist ja famos!«

»Die Ausrüstung ist immer noch da, obwohl Sie sie vielleicht etwas altmodisch finden mögen. Gibt es sonst noch irgend etwas, womit ich Ihre Arbeit erleichtern kann?«

»Ich hab ein bisschen über die Geschichte des Hauses gelesen, aber wenn es noch irgendwelche interessanten Anekdoten gibt, die nicht allgemein bekannt sind …?«

»Dafür wäre meine Schwester zuständig. Sie weiß alles, was es über Wentwater und die Beddowes zu wissen gibt.«

»Lady Josephine ist hier? Das ist ja fabelhaft!«

Wieder lächelte der Graf. Lady Josephine Menton war genauso redselig wie gesellig, und als Gastgeberin war sie ebenso berühmt wie sie als Klatschbase berüchtigt war. Niemand hätte Daisys Zwecken besser dienen können.

»Ich bin mir sicher, dass ich mich auf Ihre Diskretion und auf die Ihres Redakteurs verlassen kann«, sagte Lord Wentwater und erhob sich. »Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr und stelle Sie auch gleich meiner Frau vor. Meistens findet man die beiden um diese Zeit im Damensalon.«

Sie gingen über den Verbindungsgang durch das Haus, und er führte sie in einen sonnigen Salon, der eher behaglich als elegant eingerichtet war – es dominierten die Farben Salbeigrün, Crèmeweiß und Pfirsich. Als sie eintraten, hob ein grauschnäuziger schwarzer Spaniel auf dem Kaminvorleger kurz neugierig den Kopf, schlug mit seinem stummeligen Schwanz ein paarmal auf den Boden und schlief dann wieder ein. Eine der beiden Frauen am Kamin sah erschrocken auf – es war fast so, als hätte sie Angst.

»Annabel, meine Liebe, das ist Miss Dalrymple. Du wirst doch dafür Sorge tragen, dass sie sich bei uns wohlfühlt?«

»Natürlich, Henry.« Lady Wentwaters melodische Stimme war leise, fast gedämpft. Sie erhob sich anmutig und kam auf sie zu. »Guten Tag, Miss Dalrymple.«

Daisy war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte in der Post gelesen, dass der Graf kürzlich wieder geheiratet hatte, aber dass seine zweite Frau so jung war, hatte sie nicht gewusst. Annabel Gräfin Wentwater war höchstens ein oder zwei Jahre älter als James, ihr ältester Stiefsohn. Und sie war wunderschön.

Weder der warme, gesprenkelte Tweedrock noch die unförmige Wolljacke, die bis zu den Oberschenkeln herabhing, konnten ihre hochgewachsene, schlanke Figur verbergen, die etwas weiblicher war, als es die Mode derzeit vorschrieb. Ihr blasses Gesicht besaß eine perfekt ovale Form, mit hohen Wangenknochen und zarten Zügen, und ihr tiefbraunes, zu einem Knoten hochgestecktes Haar glänzte. Dunkle, weit auseinanderstehende Augen lächelten Daisy schüchtern an.

»Ich lasse Sie in besten Händen, Miss Dalrymple«, sagte der Graf und wandte sich zum Gehen um.

Der Blick seiner Frau folgte ihm. Und darin lag, das sah Daisy ganz deutlich, eine verzweifelte Trauer.

2

»Also, Daisy, Sie arbeiten jetzt?« Die stämmige, fröhliche Lady Josephine klang eher interessiert als missbilligend. »Bestimmt hat sich Ihre Mutter unglaublich darüber aufgeregt.«

»Mutter ist in der Tat nicht sehr begeistert«, gab Daisy zu. »Es wäre ihr viel lieber, wenn ich zu ihr ins Dower House ziehen würde.«

»Was für ein sterbenslangweiliges Dasein für ein junges Mädchen! Sie sollte doch dankbar sein, dass Sie für eine anständige Zeitschrift schreiben und nicht für eines von diesen skandalösen Schmierblättern. Ich habe schließlich selbst Town and Country abonniert. Ich freue mich schon darauf, Ihre Artikel zu lesen, meine Liebe.«

»Danke sehr, Lady Josephine.« Sie wandte sich der Gräfin zu. »Es ist wirklich unglaublich nett von Ihnen und Lord Wentwater, mich herkommen zu lassen. Ich kam mir ein bisschen frech vor, das überhaupt vorzuschlagen.«

»Aber nicht im Geringsten, Miss Dalrymple«, antwortete Lady Wentwater freundlich. Ihre Augen waren jetzt von den langen, dichten Wimpern umschattet, und Daisy fragte sich, ob sie sich den Kummer darin nur eingebildet hatte. »Henry ist stolz auf Wentwater«, fuhr sie fort. »Er freut sich über jede Gelegenheit, damit anzugeben.«

»Stimmt«, bemerkte ihre Schwägerin, »aber ich bin es, die dieses Anwesen kennt wie ihre Westentasche. Ich könnte Sie später herumführen, wenn Sie Lust haben, Daisy. Vermutlich möchten Sie jetzt erst einmal auf Ihr Zimmer gehen, um sich frisch zu machen. Man fühlt sich doch immer entsetzlich schmuddelig nach einer Zugfahrt, nicht wahr?«

Lady Wentwater, durch diese sanfte Erinnerung an ihre Pflichten verlegen geworden, zog an der Klingelschnur.

Die Haushälterin führte Daisy zurück in die Eingangshalle, weiter ging es dann die Steintreppe hinauf, einen Korridor entlang und in den Ostflügel. Daisy erkundigte sich nach der Dunkelkammer, die Lord Wentwater erwähnt hatte.

»Ja, Miss, die ganzen Sachen von Mr. Sydney sind immer noch da«, versicherte ihr die Haushälterin, »und werden auch immer abgestaubt, da können Sie sicher sein. Das ist unten im Küchentrakt – ein einziges Labyrinth übrigens. Da müssen Sie sich ein bisschen durchfragen.«

»Gibt es da elektrisches Licht?«

»O ja, Miss, seine Lordschaft hat überall elektrisches Licht installieren lassen. Das ist ja sicherer als Gas, wobei ich sagen muss, dass unser Generator so seine Launen hat. Wenn es noch irgend etwas gibt, was Sie für Ihre Fotografien brauchen, fragen Sie einfach mich oder Drew. So, da wären wir. Das da drüben ist das Wasserklosett, Miss, und hier ist Ihr Zimmer.«

Das quadratische Schlafzimmer mit der hohen Decke war hell und luftig. Es war mit einer Blumentapete, dazu passender Tagesdecke und ebenfalls darauf abgestimmten Vorhängen ausgestattet. Die Möblierung war altmodisch, aber bequem, und im Kamin brannte heimelig ein Feuer. Ein kleiner Sekretär stand am Fenster, das nach Süden zum See ging. Daisy war erleichtert, als sie ihre Kamera und das Stativ auf der Kommode entdeckte.

Ein apfelbäckiges junges Zimmermädchen in grauem Wollkittel und mit weißer Haube und Schürze packte gerade ihren Koffer aus. Sie wandte sich um und machte einen Knicks. Daisy lächelte ihr zu.

»Mabel wird Sie versorgen, Miss«, sagte die Haushälterin, während sie mit einem raschen Blick durch das Zimmer überprüfte, ob auch alles in Ordnung war. »Sollte sie irgend etwas nicht schaffen, dann soll sie Barstow holen, die Zofe von ihrer Ladyschaft. Unsere Mädchen haben ab acht Uhr abends frei, außer dem, das die Wärmflaschen verteilt und bis um Mitternacht Bereitschaftsdienst hat. Das Badezimmer liegt hinter der Tür dort drüben. Sie werden es sich mit Miss Petrie teilen, die das Zimmer auf der anderen Seite hat. Um elf Uhr wird im Frühstückszimmer Kaffee gereicht, und Mittagessen gibt es um eins. Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein, Miss?«

»Nein, danke sehr.«

Daisy wurde endlich ein bisschen wärmer, und sie legte Hut und Mantel ab. Sie tauschte ihre Stiefel gegen Schuhe aus, glättete ihr hellblaues Trägerkleid, ordnete sich das Haar und puderte sich die Nase.

»Bitte, Miss, ich bekomme Ihre Tasche nicht auf.«

»Nein, die ist auch verschlossen, Mabel. Da ist nichts drin, womit Sie sich befassen müssen. Das sind nur Teile meiner fotografischen Ausrüstung.«

»Sie sind die Zeitungsdame, oder, Miss?« fragte das Zimmermädchen mit großen Augen. »Ich find das erstklassig, ehrlich. Sie müssen unglaublich schlau sein.«

Amüsiert, aber dennoch geschmeichelt, gestand Daisy sich ein, dass Phillips Missbilligung sie beleidigt hatte und dass die Bewunderung des Zimmermädchens, zusammen mit Lady Josephines freundlicher Reaktion, sie erheblich aufmunterte. Heiterer Laune ging sie wieder hinunter in den Damensalon.

Als sie eintrat, stellte der Butler gerade ein Tablett mit einem silbernen Kaffeeservice aus dem achtzehnten Jahrhundert auf den Tisch neben Lady Wentwaters Sessel.

»Ist den Schlittschuhläufern eine Thermoskanne gebracht worden, Drew?« fragte sie mit ihrer leisen Stimme.

Daisy konnte seine Antwort nicht hören, da Lady Josephine die Honneurs machte. »Sie kommen gerade rechtzeitig zum Kaffee, Daisy. Sicherlich kennen Sie Hugh.«

Sir Hugh Menton, ein Gentleman eher unbeeindruckender Statur, der neben der Massigkeit seiner Frau fast verschwand, hatte sich bei Daisys Eintreten erhoben. »Guten Tag, Miss Daisy«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Wie ich höre, sind Sie jetzt unter die Schriftsteller gegangen.«

Sie schüttelte ihm die Hand. »Nicht ganz, Sir Hugh, ich bin nur eine Anfängerin im Journalismus, obwohl ich natürlich große Hoffnungen hege.«

»Ah, Josephine nimmt gerne die großartigen Leistungen ihrer Freunde vorweg«, sagte er nachsichtig und lächelte seine Frau liebevoll an.

»Besser, als wenn ich ihnen Misserfolge prophezeite!« erwiderte sie spitz.

»Viel besser«, stimmte ihr Daisy zu. »Als ich Sie das letzte Mal in London gesehen habe, Lady Josephine, da war Sir Hugh in Brasilien, und wir haben damals beschlossen, dass allein schon seine Gegenwart dort ausgezeichnete Kaffee- und Kautschuk-Ernten bewirken würde. Ich hoffe, Ihre Reise war erfolgreich, Sir Hugh?«

»Ausgezeichnet, danke sehr, wobei die guten Ernten nicht ausschließlich auf mein Konto gehen. Ich habe gute Verwalter in meinen Betrieben eingesetzt und überlasse es ihnen, alles zu organisieren. Gelegentlich fahre ich hin, um nach dem Rechten zu sehen. Man muss einen Mittelweg zwischen Kontrolle und Gleichgültigkeit finden.«

Dass Sir Hugh sich auf diesem Mittelweg zu bewegen wusste, daran zweifelte Daisy keine Sekunde. Es hieß, er hätte außer seinen riesigen Gummi- und Kaffeeplantagen in Brasilien noch ein beträchtliches Vermögen in der Stadt erworben. Doch trotz seiner gewitzten Geschäftstüchtigkeit war er genauso höflich und vornehm wie Lord Wentwater, nur auf eine modernere, weltlichere und zugänglichere Art. Daisy mochte ihn.

Er fragte, wie sie ihren Kaffee trank, und ging, eine Tasse für sie und seine Frau zu holen.

»Möchten Sie ein Stück Kuchen, Miss Dalrymple?« erkundigte sich Lady Wentwater. Für Lady Josephine hatte sie bereits eine große Scheibe Dundee-Kuchen abgeschnitten, bemerkte Daisy amüsiert.

Das Frühstück lag Ewigkeiten zurück. »Ja, bitte«, sagte Daisy.

In dem Augenblick traten zwei junge Männer ein. Lady Josephine machte alle miteinander bekannt: »Meine Neffen Wilfred und Geoffrey, Daisy. Miss Dalrymple wird für Town and Country einen Artikel über Wentwater Court schreiben.«

»Das ist ja großartig!« Wilfred, ungefähr ein Jahr älter als seine verführerische Schwester Marjorie, war ein richtiger junger Gesellschaftslöwe. Von seinen glatten, mit Pomade zurückgekämmten Haaren, die einen leichten Veilchenduft ausströmten, bis hin zu seinen Schuhen aus Lackleder war er tadellos gepflegt und eine durch und durch elegante Erscheinung. Daisy konnte sich gut vorstellen, wie er gelangweilt einen Croquetball durch ein Törchen schlug; Schlittschuhlaufen hingegen wäre ihm wohl zu anstrengend. Seine etwas geschwollenen Augenlider ließen vermuten, dass er seine Energie dafür aufsparte, um sich in Nachtclubs auszutoben. Sein Mund wirkte irgendwie schmollend.

Wilfreds jüngerer Bruder, ein großer, athletischer Jüngling, murmelte: »Nett, Sie kennenzulernen«. Er stand verlegen herum und wusste nicht so recht, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Kaum hatte Wilfred wieder zu sprechen begonnen, steuerte er den Kaffeetisch an.

»Jede Wette, dass Sie lieber über das Anwesen der Flatfords schreiben würden, Miss Dalrymple«, warf Wilfred ihr hin. »Das wäre doch was gewesen! Haben Sie von dem Einbruch gehört?«

»Nur, dass er stattgefunden hat. Irgend etwas mit vielen Hausgästen und einem Ball?«

»Stimmt. Es scheint eine ganze Serie von Einbrüchen gegeben zu haben, aber das hier war ganz in unserer Nähe! Einige von uns waren sogar auf diesem Silvesterball, wissen Sie, aber man hat darauf bestanden, dass wir früh gehen, und deswegen haben wir die ganze Aufregung verpasst.«

»Seid froh, dass ihr überhaupt hindurftet«, sagte Lady Josephine. »Nur so eine halbseidene Clique wie die um Lord Flatford würde an einem Sonntag einen Ball geben, Silvester hin oder her. Es hat mich überrascht, dass Henry euch da überhaupt hat hingehen lassen. Jedenfalls hat es gar keinen Unterschied gemacht, dass ihr um Mitternacht gegangen seid. Der Überfall ist ja erst am nächsten Morgen entdeckt worden.«

Er seufzte. »Du hast natürlich recht, Tante Jo. Bitte entschuldige mich einen Moment, ich hole mir einen Kaffee.« Er schwebte von dannen.

»Wilfred ist ein Nichtsnutz«, sagte seine Tante. »Geoffrey hingegen, aus dem kann noch was werden. Er studiert in Cambridge und ist da schon in der Boxmannschaft, obwohl er erst neunzehn ist.«

Der jüngste Beddowe hatte sich in einen Sessel neben dem Kaffeetisch gesetzt und verschlang schweigend ein riesiges Stück Kuchen. Der letzte Krümel verschwand, während Daisy ihm noch zusah. Dann merkte sie, dass sie die Mandeln von ihrem Scheibchen heruntergepult und zuerst gegessen hatte, eine schlechte Angewohnheit aus ihren Kindertagen.

»Noch ein Stück Kuchen, Geoffrey?« fragte Lady Wentwater mit einem Lächeln.

»Ja, bitte.«

»Unser Fass ohne Boden«, sagte Wilfred grinsend. Geoffrey futterte ungerührt weiter.

Als Daisy ihren Kaffee ausgetrunken hatte und hinüberging, um eine zweite Tasse zu erbitten, nahm Geoffrey gerade das dritte Stück Kuchen in Angriff. Mehr als ein neuerliches »Ja, bitte« hatte er in der Zwischenzeit nicht von sich gegeben. Daisy führte seine Schweigsamkeit auf Schüchternheit zurück.

Auch Lady Wentwater war sehr still. Ein wenig bemüht erzählte Wilfred von der Music-Box-Revue – er hatte wohl Sorge, die Konversation könnte ins Stocken geraten. Daisy, die das Stück auch gesehen hatte, warf gelegentlich eine Bemerkung ein, und Lady Josephine fragte nach dem Bühnenbild.

»Wenn das Bühnenbild gut gemacht ist«, sagte sie, »dann kann man sich während der langweiligen Passagen damit amüsieren, es zu bewundern. Magst du auch Revues, Annabel, oder ziehst du wie ich Musical-Komödien vor?« fragte sie freundlich, um ihre junge Schwägerin in die Unterhaltung einzubeziehen.

»Ich war noch nie in einer Revue und hab bisher nur eine Musical-Comedy gesehen, aber die wenigen Male, die ich im Theater war, fand ich es sehr schön.«

»Ach ja, du hattest ja nur selten Gelegenheit, ins Theater zu gehen«, sagte Lady Josephine und wandte sich wieder Wilfred zu. Der kritische Unterton in ihrer Stimme überraschte Daisy.

Die Gräfin sah entmutigt aus, und Daisy versuchte, sie aufzuheitern. »Wollen wir uns zusammen eine Matinee-Vorstellung ansehen, wenn Sie nächstes Mal in die Stadt kommen, Lady Wentwater?« schlug sie vor.

»Oh, danke Ihnen … das würde ich sehr gerne … aber ich bin mir nicht sicher … Wollen Sie mich nicht Annabel nennen, Miss Dalrymple?«

»Selbstverständlich, gerne, aber dann müssen Sie mich auch Daisy nennen.«

Es war ihr aufgefallen, dass Wilfred und Geoffrey es vermieden, ihre Stiefmutter beim Vornamen zu nennen. Ohne Zweifel würde Lord Wentwater eine solche Vertrautheit missbilligen, doch sie »Mutter« zu nennen, wäre wohl kaum möglich. Es war eine schwierige Situation – schließlich war sie ihren Stiefkindern altersmäßig näher als ihrem Ehemann. Daisy fühlte mit ihr, doch gleichzeitig fragte sie sich, ob das wohl die einzige Erklärung für ihre offensichtlich gedrückte Stimmung war.

Lady Josephine trank ihren Kaffee zuende und wuchtete sich aus ihrem Sessel. »Also, Daisy, soll ich Sie mal durch das Haus führen, ehe es Mittagessen gibt? Möchtest du nicht mitkommen, Annabel? Ich bin sicher, dass es einige Geschichten gibt, die du noch nicht gehört hast.«

»Das würde ich gerne, aber ich muss unbedingt noch ein paar Briefe schreiben«, entschuldigte sich Annabel.

»Aber wem sie angeblich schreiben will«, murmelte Lady Josephine Daisy zu, als sie aus dem Damensalon traten, »das kann ich mir im Leben nicht vorstellen. Als Henry sie geheiratet hat, hatte sie überhaupt keine Freunde. Die beiden haben sich letzten Winter in Italien kennengelernt, wissen Sie«, erklärte sie. »Henry war nach einer scheußlichen Bronchitis zur Kur dorthin geschickt worden, und sie war frisch verwitwet.«

Ihr Ton verriet Daisy einiges über Lady Josephines Meinung zu jungen, schönen, einsamen Witwen, die reiche Adlige heirateten, die alt genug waren, um es besser zu wissen.

Der Rundgang begann in der Eingangshalle, die gelegentlich immer noch für größere Abendgesellschaften genutzt wurde. »Ich werde Sie nicht mit Details langweilen, die Sie auch in Büchern nachschlagen können«, sagte Lady Josephine geradeheraus. »In der Bibliothek steht ein ganz gutes Buch über das Haus und den Teil der Geschichte der Beddowes, den man drucken kann – Sie wissen schon, wer wen geheiratet hat, wer in wessen Kabinett Minister war –, aber die Familienhistörchen werden Sie darin nicht finden.«

»Da verlasse ich mich auch ganz auf Sie.«

»Also, der erste Baron Beddowe hat unser Anwesen während der Zeit Heinrichs VII. erbaut, ein kluger Kerl, der im Rosenkrieg auf der richtigen Seite stand – nachdem er allerdings vorher gleich mehrfach das Bündnis gewechselt hatte. Sein Enkel war einer der wenigen Adligen, die Königin Elisabeth I. beherbergt haben, ohne dadurch den Bankrott zu erleiden.«

»Wie hat er das denn geschafft?« fragte Daisy und stenografierte Notizen in ihr Heft.

»Auf eher unehrenhafte Weise, fürchte ich. Die Königin fiel mit ihrem üblichen Riesengefolge auf Wentwater ein. Am zweiten Abend, während eines üppigen Banketts in genau diesem Saal, hat mein Ahne einen Streit mit einem der Höflinge angezettelt. Die Queen hatte den Kerl schon lang loswerden wollen, aber ohne Erfolg, da er der Sohn eines einflussreichen Herrn war. Wilfred Beddowe, angeblich betrunken, erstach den Kerl mit einem Stoß ins Herz – mit dem Dolch, den sie da oben zwischen den Hellebarden aufgehängt sehen.« Sie zeigte auf den gemmenbesetzten Dolch, der an dem Ehrenplatz über dem riesigen Kamin hing.

»Und die Königin war so dankbar, dass sie gleich am nächsten Tag abgereist ist?«

»Ja, wobei sie natürlich ihr Entsetzen und ihre Missbilligung zum Ausdruck brachte. Allerdings wurde er knapp ein Jahr später zum Grafen ernannt.«

Daisy lachte. »Das ist genau die Art von Geschichten, die meinen Artikel interessant machen werden. Ob Lord Wentwater etwas dagegen haben wird, wenn ich sie verwende?«

»Du liebe Güte, nein. Solange Sie nicht die Skandale des letzten Jahrhunderts oder Ähnliches bringen.« Lady Josephine gab nun eine unanständige Geschichte von der Verwicklung ihres Großonkels mit Lillie Langtry und dem Prinzen von Wales, Bertie, zum Besten. »Henry hat sich über solche Dinge immer sehr aufgeregt«, sagte sie. »In mancherlei Hinsicht ist er viktorianischer als das ganze viktorianische Zeitalter. Manchmal mache ich mir wirklich Sorgen, dass er mit Annabel nicht glücklich wird.«

»Sie scheint doch sehr in sich zu ruhen«, sagte Daisy taktvoll.

»Aber sie ist um so vieles jünger. Wenn nur mein idiotischer Neffe diesen Lord Stephen nicht eingeladen hätte!«

Daisy strengte sich nicht besonders an, die vertraulichen Erzählungen abzuwenden, die sie ja eigentlich unbedingt hören wollte. »Ich habe Lord Stephen noch nicht ganz einsortieren können, obwohl mir der Name Astwick geläufig ist. Wer ist er noch mal genau?«

»Der jüngere Bruder des Marquis von Brinbury. War immer schon eher ein schwarzes Schaf, fürchte ich. Es geht sogar das Gerücht um, sein Vater hätte ihn enterbt. Aber geschäftlich hat er großen Erfolg, obwohl Hugh ihm nicht über den Weg traut.«

»Und Sir Hugh dürfte das ja wohl bestens einschätzen können.«

»Hugh weiß in der Geschäftswelt Londons am besten Bescheid«, stimmte seine stolze Ehefrau zu. »Er hätte es bestimmt verhindert, dass Wilfred Lord Stephen einlädt, wenn man ihn vorher gefragt hätte.«

»Wilfred hat ihn eingeladen? Wie merkwürdig! Ich hätte nie gedacht, dass die beiden irgend etwas gemein haben.«

»Doch: ein ausschweifendes Leben«, sagte Lady Josephine wissend, »aber wenn Sie mich fragen, dann hat Marjorie ihm das eingeflüstert. Sie ist ganz verrückt nach diesem Kerl und hat es sich in ihren albernen Kopf gesetzt, dass sie bis über beide Ohren in ihn verliebt ist. Gott sei Dank zeigt er an dem Mädchen nicht das geringste Interesse. Wenn ich nur dasselbe von Annabel sagen könnte! Aber das tut hier nichts zur Sache. Lassen Sie uns mal in die Suite von Königin Elisabeth gehen. Seit ihren beiden Nächten auf Wentwater ist daran nichts mehr verändert worden.«

Nachdem Daisys Neugier so enttäuscht worden war, konzentrierte sie sich auf die historischen Fakten. Ihr Notizbuch füllte sich zusehends mit rätselhaften Kringeln, von denen sie inständig hoffte, dass sie sie später würde entziffern können. Während sie weiter durch das Haus gingen, erfuhr sie von dem aufsehenerregenden Bruch in der Familie, als ein ältester Sohn für das Parlament gegen die Royalisten gekämpft hatte; von den Töchtern, die als alte Jungfern gestorben waren, weil ihr Vater ihre Mitgift darauf verwandt hatte, die neuen Flügel anbauen zu lassen; und von der Braut im frühen neunzehnten Jahrhundert, die mit einem Straßenräuber durchgebrannt war.

Lady Josephine runzelte die Stirn. »Wenn ich es recht bedenke, dann sollten Sie diese letzte Geschichte vielleicht besser weglassen, Daisy. Das könnte schlafende Hunde wecken. Nicht, dass ich damit andeuten wollte, es gäbe auch nur im Entferntesten die Möglichkeit, dass Annabel sich ihm hingibt«, fügte sie eilig hinzu, »aber man kann nicht leugnen, dass Stephen Astwick ein gutaussehender, überaus charmanter Mann ist, der nicht die geringsten Skrupel hat. Sein Name taucht ja dauernd in den Skandalblättchen auf, und immer in Verbindung mit Damen, die es eigentlich besser wissen müssten.«

»Annabel könnte mit Lord Stephen durchbrennen?« fragte Daisy erstaunt und wandte sich von dem Turmfenster ab, von dem aus sie einen Reiter beobachtet hatte, der auf einem Braunen quer durch den Park galoppierte.

»Sie kennen sich schon seit einigen Jahren, wenn ich das richtig sehe, und jetzt verfolgt er sie auf wenig vornehme Art, ausgesprochen ungeniert, ja geradezu aufdringlich. Ich fürchte, der arme Henry weiß überhaupt nicht, was er machen soll. Er kann doch nicht Brinburys Bruder aus dem Haus werfen wie irgendeinen dahergelaufenen Mistkerl. Immerhin sind die beiden Mitglieder in denselben Clubs.«

»Liebe Güte, was für eine entsetzliche Situation.«

»Aber ich muss Ihnen sagen, dass Henry viel zu sehr ein Ehrenmann ist, um seiner Frau zu misstrauen. Ich fürchte, dass er sich nicht einmal bewusst ist, was hier vor seiner Nase geschieht. Mein Bruder war immer schon ein unerschütterlicher, stoischer Mann, Sie wissen schon, einer von denen, die nie durchblicken lassen, was sie gerade denken. Ich finde immer, dass ich ihm die Augen öffnen sollte, aber Hugh hat es mir unter allen Umständen verboten.«

Tränen waren der rundlichen Matrone in die Augen gesprungen, und ihr Doppelkinn bebte. Daisy tätschelte ihr den Arm und sagte ein wenig hilflos: »Ich bin mir sicher, dass Lord Wentwater alles bestens im Griff hat, Lady Josephine.«

»Ach, meine Liebe, ich sollte Sie wirklich nicht mit unseren Sorgen belasten, aber es ist einfach eine solche Erleichterung, mir das alles von der Seele zu reden, und euch moderne junge Dinger schockiert ja heutzutage gar nichts mehr. Na ja, jetzt wollen wir das mal beiseite lassen. Wo waren wir doch eben? Ach so, ja, das hier ist das Zimmer, in dem König Charles II. in flagranti mit der jungen Cousine der damaligen Lady Wentwater erwischt wurde. Der wurde nicht noch einmal eingeladen.«

Sie plapperte weiter. Während Daisy sich ihre Notizen machte, beschloss sie, die Bewohner von Wentwater Court genauestens zu beobachten. Für eine angehende Schriftstellerin waren die Verwicklungen der Vergangenheit nicht halb so interessant wie die der Gegenwart.

Etwas später, als sie aus einem anderen Turmfenster schaute, sah Daisy die Schlittschuhläufer den Hügel zum Haus hochkommen. Lady Josephine blickte ebenfalls hinaus und sah dann auf ihre Armbanduhr. »Du lieber Himmel, wie die Zeit doch vergeht. Wir müssen hinuntergehen, wenn Sie noch vor dem Mittagessen den Ballsaal sehen möchten.«

»Ja, bitte. Ach, das ist ja merkwürdig. Lord Stephen will doch nicht etwa wegfahren, so kurz vor Mittag?« Ein grauer Lanchester hatte auf seinem Weg die Auffahrt hinunter angehalten. Daisy beobachtete, wie Astwick zu ihm hinüberging und mit dem Fahrer sprach.

»Ich vermute, er schickt seinen Diener mal wieder auf irgendeinen Botengang«, sagte Lady Josephine irritiert. »Mein Dienstmädchen hat erzählt, der Kerl wäre öfter weg als hier. Von mir aus kann er seinen Herrn gleich mitnehmen!«

Sie ließ das unangenehme Thema fallen und führte Daisy hinab in den Ballsaal, wobei sie von den prachtvollen Bällen in ihrer Jugendzeit schwärmte. Der riesige Saal war mit Tüchern verhangen und wirkte wie tot. Daisy beschloss, nicht darum zu bitten, dass er für eine Fotografie exhumiert würde. Es gab im älteren Teil des Hauses schließlich genügend interessante Motive.

Lady Josephine seufzte. »Aber ihr jungen Dinger zieht ja dieser Tage Nachtclubs vor. So, meine Liebe, jetzt hab ich Ihnen das Schönste von Wentwater präsentiert. Natürlich können Sie hier jederzeit noch alleine herumwandern, und ich werde natürlich versuchen, alle Fragen zu beantworten, die Sie vielleicht noch haben.«

»Das ist wirklich ganz reizend von Ihnen, Lady Josephine.« Daisy blätterte noch einmal ihr Notizbuch durch, während sie die Treppe hinuntergingen. »Ich habe schon jede Menge Material, mit dem ich anfangen kann, und ein paar großartige Ideen, was ich alles fotografieren möchte. Ich würde gerne eine Aufnahme von der Familie machen, vor dem Kamin in der Halle. Meinen Sie, Lord Wentwater wäre einverstanden?«

»Ich werde mal mit ihm sprechen«, versprach Lady Josephine.

Im Salon, einem langen, wunderbar proportionierten Raum, der im Stil der Regency-Zeit möbliert war, waren schon mehrere Gäste und Familienmitglieder versammelt. James, Fenella an seiner Seite, goss gerade die Drinks ein. Er mixte einen Gin-and-It für seine Tante, und Daisy bat um einen kleinen halbtrockenen Sherry.

»Vor dem Mittagessen darf ich unmöglich einen Cocktail trinken, dann könnte ich mein nachmittägliches Arbeitspensum vergessenen«, sagte sie.

»Wie soll man auch eine Kamera richtig einstellen, wenn man nicht gerade aus den Augen gucken kann«, fügte James mit einem Grinsen hinzu.

»Und es ist auch schon mit klarem Kopf schwer genug, meine Kurzschrift zu lesen. Danke sehr.« Daisy nahm ihr Glas entgegen und blickte sich im Zimmer um.

Etwas weiter weg stand Wilfred und erzählte seiner Stiefmutter in seinem gedehnten Tonfall, den heutzutage alle schicken jungen Leute hatten, die Handlung von Al Jolsons Bombo, einer Musical Comedy, sofern man bei diesem Stück überhaupt von einer Handlung sprechen konnte. Daisy beobachtete, wie er sich einen riesigen Schluck aus seinem fast vollen Cocktailglas gönnte. Sie bezweifelte, dass dies sein erster Drink war. Annabels Sherryglas war ebenfalls fast voll. Sie schien es vergessen zu haben und stand mit geneigtem Kopf da. Entweder hörte sie Wilfred mit größerem Interesse zu, als es das Thema eigentlich verdiente, oder sie war in ihren eigenen Gedanken versunken.

Am Kamin unterhielten sich Sir Hugh und Phillip – über Politik, nahm Daisy an, denn sie hatte gehört, wie Bonar Law und Lloyd George erwähnt wurden. Marjorie stand dicht bei ihnen und rauchte gelangweilt eine Zigarette, die in einer langen Schildpattspitze steckte. In ihrem Cocktailglas schwammen die Reste eines Pink Gin. Daisy hätte wetten können, dass Phillips Glas einen trockenen Sherry beinhaltete. Sie wusste, dass er Cream Sherry vorzog, doch hielt er dies für unmännlich und bat in Gesellschaft immer um einen trockenen. Als er einen Schluck nahm, krauste er ein ganz kleines bisschen die Nase und bestätigte damit ihren Verdacht.

Lady Josephine ging hinüber zu ihrem Mann, und nach einem Augenblick trat Marjorie von dieser kleinen Gruppe fort. Sie kam hinüber zum Getränketisch und reichte ihrem Bruder das Glas.

»Mach ihn mal voll, Jimmy, altes Haus.«

»Das wird jetzt aber besser ein Kleiner«, warnte James sie. »Vater kann jede Minute hier sein.«

»Sei doch nicht so ein Spießer.« Sie zog demonstrativ an ihrer Zigarette und pustete den Rauch über ihre Schulter.

Daisy ergriff rasch die Flucht, denn hier drohte eindeutig ein Familienstreit. Sie ging hinüber zu Annabel und Wilfred. Annabel schaute auf und lächelte abwesend.

»Haben Sie schon die neue Show im Apollo gesehen, Miss Dalrymple?« fragte Wilfred.

»Nennen Sie mich doch Daisy. Nein, noch nicht. Ist sie gut?«

»Ach, man kann es aushalten, wissen Sie. Das große Finale war geradezu –« Seine Stimme erstarb, als Lord Stephen den Salon betrat – »ganz nett gemacht«, beendete er mit Mühe den Satz, und ein hasserfüllter Blick richtete sich auf den älteren Mann.

Während Daisy irgendeine beiläufige Erwiderung auf Wilfreds Worte von sich gab, beobachtete sie Lord Stephen. Er ging hinüber zum Getränketisch, wo Marjorie ihn mit einem schmachtenden Blick begrüßte.

»Lord Stephen nimmt immer einen trockenen Martini«, wies sie ihren Bruder an.

»Ich nehme einen Gin-and-Twist, wenn es Ihnen nichts ausmacht, alter Freund«, bat Lord Stephen prompt.

»In Ordnung.« James warf seiner schmollenden Schwester einen bösen Blick zu und reichte ihm den Drink. Mit ähnlich böser Stimme bat er: »Ach so, Astwick, würde es Ihnen etwas ausmachen, meine Stiefmama zu fragen, ob sie noch einen Drink möchte?«

»Aber das tue ich doch gerne!« Der verbindliche Tonfall wurde durch die raubtierhafte Art, in der Lord Stephen den Mund verzog, und durch das Funkeln seiner harten Augen Lügen gestraft.

Als er sich näherte, wurde Wilfred blass. »Muss mal eben was mit Tante Jo besprechen«, murmelte er und machte sich aus dem Staub. Warum in aller Welt hatte er den Mann eingeladen, wenn er ihn nicht ausstehen konnte? fragte sich Daisy.

»Miss Dalrymple.« Lord Stephen nickte ihr zu, doch seine Aufmerksamkeit galt bereits der Gräfin: »Annabel, meine Liebe, Beddowe hat mich geschickt, um herauszufinden, ob Sie wohl einen neuen Drink brauchen, aber wie ich sehe, war seine Fürsorge ganz überflüssig.« Er ließ seine Fingerspitzen über den Rücken ihrer Hand gleiten, in der sie das immer noch volle Glas hielt.

Die bernsteinfarbene Flüssigkeit schimmerte, während ihre Hand zitterte. »Ja, danke. Ich habe alles, was ich brauche.«

»Alles? Nur wenige können von sich behaupten, das Glück zu haben, alles zu besitzen, was sie sich wünschen«, sagte er mit einem bedeutsamen Lächeln. »Ich für meinen Teil weiß, dass ich es nicht habe.«

»Ich aber wohl, Lord Stephen.« Sie warf ihm durch ihre langen Wimpern einen kurzen Blick zu. Daisy konnte nicht erkennen, ob sie flirtete, ob sie versuchte, ihn zurückzuweisen, oder ob sie ihn absichtlich reizte, indem sie die Zurückweisung nur spielte.

»Kommen Sie, hatten Sie nicht versprochen, mich Stephen zu nennen? Miss Dalrymple wird glauben, dass Sie mich nicht zu Ihren Freunden zählen. Ich kann Ihnen aber versichern, Miss Dalrymple, dass Annabel und ich sogar sehr gute Freunde sind, aus uralten Zeiten noch, nicht wahr, mein Herzchen?« Er legte ihr die Hand auf den Arm.

»Ja, Stephen.« Ihre Stimme bebte vor unterdrückten Gefühlen. Weder schob sie seine Hand weg, noch ging sie fort.

3

Zu Daisys Erleichterung trat Geoffrey heran und löste die Spannung auf, die zwischen Annabel und Lord Stephen knisterte. Neben diesem großen, soliden und ehrenwerten jungen Mann wirkte Lord Stephens elegante Figur schmächtig und eher unmännlich. Ein wohltuender frischer Windstoß schien durch den Raum zu wehen.

»Waren Sie gerade reiten?« fragte Daisy. »Ich meine, ich hätte Sie eben von einem der Turmfenster aus gesehen.«

»Ja, es war ein herrlicher Ausritt, sogar mit einer Galoppstrecke«, antwortete er begeistert und strahlte.

»Ist so ein Galopp nicht gefährlich, wo doch jetzt noch dicker Schnee liegt?« fragte Annabel. Lord Stephens Hand glitt von ihrem Arm, als sie sich ihrem jüngsten Stiefsohn zuwandte.

Geoffrey errötete. »Nicht, wenn man das Gelände kennt.« Nachdem seine Zunge soweit gelockert war, fuhr er fort: »Wenn man weiß, wo die Hindernisse versteckt sind, Gräben und so weiter, dann ist es einfach großartig. Es ist so klar, dass man meilenweit sehen kann. Kein Schlamm, der einen aufhält, und man muss sich keine Sorgen machen, dass man irgend jemandes Ernte niedertrampelt. Natürlich kommt nicht jedes Pferd mit Schnee zurecht, aber mein Galahad ist ein wunderbarer Zossen.«

Daisy hörte der Aufzählung von Galahads besseren Eigenschaften nur halb zu, denn sie sah Lord Wentwater eintreten. Sofort stellte Marjorie verstohlen ihren Drink ab und drückte ihre Zigarette aus.

Auch Wilfred entledigte sich eilig seines Glases. Ihr Vater schien es nicht zu bemerken.

Die guten Manieren verlangten von Daisy, dass sie ihm von ihrem Rundgang durch das Haus berichtete. Sie bewegte sich von der Gruppe fort und stellte sich zu ihm. Geneigten Kopfes hörte er ihr mit höflichem Interesse zu und gab ihr dann sein Placet, die Geschichten, die Lady Josephine ihr erzählt hatte, in ihrem Artikel zu verwenden.

»Ohne Zweifel hat jede Familie irgendwelche Leichen im Keller versteckt«, sagte er mit einem ironischen Lächeln.

Genau in dem Moment kam der Butler herein und tat kund, das Mittagessen sei serviert. Lord Wentwater führte Daisy in das Speisezimmer und machte sie zu seiner Tischdame. Da er so freundlich und zugänglich war, beschloss sie, nicht darauf zu warten, bis Lady Josephine ihm ihre Bitte vortrüge.