Miss Moons höchst geheimer Club für ungewöhnliche Hexen - Sangu Mandanna - E-Book

Miss Moons höchst geheimer Club für ungewöhnliche Hexen E-Book

Sangu Mandanna

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Beschreibung

Sind mehrere Hexen beisammen, geschehen schlimme Dinge – doch Mika Moon will nicht mehr einsam sein … Ein herzerwärmender Cosy-Fantasy-Roman.

Mika Moon ist Anfang dreißig, Single – und eine Hexe. Man erkennt es auf ihrem YouTube-Kanal über Hexerei zwar nicht, aber ihre magischen Fähigkeiten sind echt. Seit ihrer Kindheit weiß sie, dass immer schreckliche Dinge geschehen, wenn zwei Hexen mehr Zeit als nötig miteinander verbringen. Dennoch nimmt sie das Angebot an, gleich drei minderjährige Hexen auf einmal zu unterrichten. Aber im Nowhere House, in dem die Kinder versteckt vor der Öffentlichkeit leben, findet Mika nicht nur eine herausfordernde Aufgabe, sondern neue Freunde, neue Liebe und vielleicht sogar etwas, das sie bislang nie hatte: eine Familie.

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Seitenzahl: 431

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Buch

Mika Moon ist Anfang dreißig, Single – und eine Hexe. Man erkennt es auf ihrem YouTube-Kanal über Hexerei zwar nicht, aber ihre magischen Fähigkeiten sind echt. Seit ihrer Kindheit weiß sie, dass immer schreckliche Dinge geschehen, wenn zwei Hexen mehr Zeit als nötig miteinander verbringen. Dennoch nimmt sie das Angebot an, gleich drei minderjährige Hexen auf einmal zu unterrichten. Aber im Nowhere House, in dem die Kinder versteckt vor der Öffentlichkeit leben, findet Mika nicht nur eine herausfordernde Aufgabe, sondern neue Freunde, neue Liebe und vielleicht sogar etwas, das sie bislang nie hatte: eine Familie.

Autorin

Sangu Mandanna war vier Jahre alt, als ein Elefant sie auf einem Waldweg verfolgte und sie beschloss, ihre erste Geschichte darüber zu schreiben. Siebzehn Jahre und viele, viele Manuskripte später unterzeichnete sie ihren ersten Buchvertrag. Sangu lebt heute mit ihrem Mann und ihren Kindern in Norwich, einer Stadt im Osten Englands.

SANGU MANDANNA

MISS MOONS

höchst geheimer

CLUB

für ungewöhnliche

HEXEN

Roman

Deutsch von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»Very Secret Society Of Irregular Witches« bei Berkley, New York

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Sangu Mandanna

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Anja Rüdiger

Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, [email protected]

HK · Herstellung: kw

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-31221-3V002

www.penhaligon-verlag.de

Für Steve,

denn es ist allerhöchste Zeit,

dass ich dir einen davon widme.

KAPITEL 1

Die Sehr Geheime Gesellschaft Für Hexen traf sich an jedem dritten Donnerstag in jedem dritten Monat, aber das war so ziemlich das Einzige, was sich nie änderte. Sie trafen sich nie zweimal am selben Ort. Das letzte Treffen hatte zum Beispiel in Belinda Nkalas Wohnzimmer stattgefunden, wo es frisch gebackene Scones gab, und das Treffen davor im glorreichen Sonnenschein im Garten von Agatha Jones. Und dieses Treffen, an jenem kalten, nassen Oktobernachmittag, fand zufällig auf einem winzigen, verlassenen Pier auf den Äußeren Hebriden statt.

Eine Schiffsanlegestelle. Auf den Äußeren Hebriden. Im Oktober.

Natürlich hießen sie nicht wirklich die Sehr Geheime Gesellschaft Für Hexen. Sie hatten gar keinen Namen, und deshalb hatte Mika Moon beschlossen, sich einen auszudenken. Sie hatte zunächst mehrere Alternativen durchgespielt wie die Liga der Außergewöhnlichen Hexen und den Supergeheimbund der Hexigen Hexen. Letzteres gefiel ihr immer noch sehr gut.

Diese lächerlichen Namen dienten vor allem dazu, Primrose, die tüchtige und sehr korrekte Leiterin der Gruppe, zu ärgern. Primrose hatte sich selbst dazu ernannt, vermutlich irgendwann in den letzten hundert Jahren oder so. Mika übertrieb da vielleicht ein wenig, aber es war unmöglich, zu sagen, wie alt Primrose wirklich war. Sie wollte einfach nicht damit herausrücken.

Jetzt gerade hatte sich Mika so tief in ihren Mantel eingekuschelt, wie sie nur konnte, und wippte ungeduldig auf den Fußballen, während zwanzig andere Hexen zu ihr auf den Steg kamen. Das war, wie sie annahm, noch etwas, was sich fast nie änderte: die Anzahl. Mika war eines der jüngsten Mitglieder in diesem Ding-das-definitiv-keine-Gesellschaft-war, und sie gehörte seit fast zehn Jahren dazu. Das bedeutete, es war schon sehr lange her, dass sie jemand Neues aufgenommen hatten. Was nicht heißen sollte, dass es in ganz Großbritannien nur einundzwanzig erwachsene Hexen gab; Hexen waren zwar ungewöhnlich, aber Mika wusste, dass da draußen noch andere waren. Primrose, die es sich zur Pflicht gemacht hatte, neue Hexen zu finden und in die Nichtgesellschaft einzuladen, hatte erwähnt, dass sie von einigen im Laufe der Jahre abgewiesen worden war.

Mika konnte nur schwer glauben, dass irgendjemand in der Lage war, Primroses Überredungskünsten zu widerstehen, die ein liebloser Mensch vielleicht eher als vornehme Drangsalierung bezeichnen würde, dennoch war es ziemlich beruhigend, zu wissen, dass diese kleine, durchnässte Gruppe auf dem Pier nicht die einzigen Hexen waren, die es noch gab.

Nicht dass ihre Zahl eine Rolle spielte. Denn diese Treffen waren die einzige Zeit, in der sie überhaupt miteinander sprachen. Primrose Beatrice Everly würde nicht im Traum daran denken, irgendjemandem vorzuschreiben, wie er sein Leben zu leben hatte – jedenfalls sagte sie das, aber sie war der festen Überzeugung, dass Regeln sie alle schützten, und demnach sollten diese Regeln wirklich befolgt werden. Zu viel unkontrollierte Magie an einem Ort, meinte sie, würde Aufmerksamkeit erregen. Im Interesse aller mussten sie getrennte Leben führen. Es durfte keine Verbindung zwischen ihnen geben, keine Besuche, keine SMS, keine E-Mails – kurz gesagt nichts, was jemanden von einer Hexe zur anderen führen konnte.

Natürlich war Primrose die eine Ausnahme von dieser Regel. Und Mika nahm an, dass dies nur eines der vielen Privilegien war, die es mit sich brachte, die älteste, mächtigste und herrischste Hexe zu sein.

Folglich musste jegliches Gefühl von Gemeinschaft und Verbundenheit in der Gruppe in diesen kurzen Stunden alle drei Monate gestillt werden, was ein sehr nebulöses Gemeinschaftsgefühl erzeugte.

Während der Regen unaufhörlich vom kalten schlammgrauen Himmel herabtropfte, räusperte sich Primrose. »Wie geht es uns allen, meine Lieben?«

»Nass.« Mika konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.

»Dein Beitrag wird zur Kenntnis genommen, danke, Püppchen«, erwiderte Primrose unbeeindruckt.

»Wir tun doch so, als wären wir ein Buchclub, Primrose«, gab Mika verärgert zurück. »Also müssen wir uns doch nicht mitten im Nichts verstecken! Warum können wir uns nicht einfach auf einen verdammten Kaffee an einem Ort treffen, an dem es eine Heizung gibt?«

»Ich für meinen Teil denke, dass unsere Sicherheit mehr wert ist als unsere Bequemlichkeit«, sagte Primrose und zielte dann direkt auf den wunden Punkt. »Aber angesichts der höchst regelwidrigen Art, in der du deine Zeit verbringst, meine Liebe, wundert es mich nicht im Geringsten, dass du das nicht genauso siehst.«

Mika seufzte. Sie war wieder einmal voll ins Messer gelaufen.

Mit ihren einunddreißig Jahren war sie eine recht junge Hexe in der Gruppe. Sie hatte zwar keine Tabelle mit den Altersangaben der einzelnen Hexen zur Hand, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie, Hilda Kim und Sophie Clarke die einzigen unter vierzig waren. Also hätte sie sich von Primrose vielleicht viel mehr eingeschüchtert fühlen müssen, als sie es tatsächlich war. In Wahrheit jedoch kannte sie Primrose viel besser als die meisten anderen anwesenden Hexen, und sie und Primrose hatten schon länger eine etwas diffizile Beziehung, als Mika sich erinnern konnte.

Das Problem war im Grunde, dass Hexen immer Waisen waren. Laut Primrose lag das an einem Bann, der in einer schon lange vergangenen Epoche schiefgegangen war. Mika war sich sicher, dass diese Geschichte ein Hirngespinst von Primrose war, aber sie hatte auch keine bessere Erklärung, denn Tatsache war: Wenn eine Hexe geboren wurde, wurde sie kurz darauf zur Waise. Es spielte keine Rolle, wo auf der Welt die Hexe geboren wurde, und die Todesursache konnte alles sein, von harmlosen Krankheiten bis hin zu alltäglichen Unfällen, aber der Tod war stets unvermeidlich. Einige Hexen wurden anschließend von ihren Großeltern oder anderen Verwandten aufgezogen und entdeckten mit der Zeit ihre eigene Magie. Alles in allem wuchsen sie, sofern sie nicht katastrophal leichtsinnig mit ihren Zaubersprüchen umgingen, heran und führten ein ganz normales Leben.

Einige Hexen jedoch, wie Mika, waren die Töchter von Hexen. Und einige dieser Hexen, wie Mika, waren auch Enkelinnen von Hexen. Das war auf jeden Fall ungewöhnlich, denn die meisten Hexen waren sich viel zu sehr des Schwertes über ihren Köpfen bewusst und verzichteten darauf, eigene Kinder zu haben. Aber manchmal kam es doch vor.

Als also Mika Moon, das Waisenkind eines Waisenkindes eines Waisenkindes, Anfang der Neunzigerjahre in Indien in der Obhut einer überforderten Sozialarbeiterin zurückgelassen wurde, fand Primrose sie, brachte sie nach England und steckte sie in ein vollkommen korrektes, komfortables Heim mit vollkommen korrekten, komfortablen Kindermädchen.

Mika erinnerte sich natürlich an nichts davon, aber sie erinnerte sich daran, dass sie in der Obhut von Kindermädchen und Erziehern aller Geschlechter, Ethnien und Temperamente aufgewachsen war, die nur so lange bleiben durften, bis sie einen Blick auf etwas Magisches erhaschten – was nie lange dauerte. Dann wurden sie ersetzt. Mika erinnerte sich daran, dass sie genug zu essen hatte, ein warmes Bett und alle nur denkbaren Bücher, die sie lesen konnte, aber nur sehr wenig Gesellschaft oder Liebe.

Und sie erinnerte sich an Primroses Besuche, die von Zeit zu Zeit stattfanden, meist, um eine neue Betreuerin einzustellen oder um Mika an die Regeln zu erinnern. Mikas Gefühle Primrose gegenüber waren folglich eher gemischt. Primrose beschützte sie, wofür sie dankbar war, aber sie nahm es ihr auch übel, eine so launische, despotische Person in ihrem Leben ertragen zu müssen. Als sie volljährig wurde, verschwanden die Kindermädchen und Erzieherinnen, und Mika lehnte Primroses Angebot, wohnen zu bleiben, ab. Sie zog aus dem Haus aus, und in den letzten dreizehn Jahren hatte sie Primrose mehr oder weniger nur alle drei Monate an jedem dritten Donnerstag im Monat gesehen.

Obwohl Mika den Eindruck hatte, dass sie nie etwas getan hatte, was Primrose guthieß, hatte sie auch nichts verbrochen, was Primrose besonders missbilligte. Zumindest nicht bis zum letzten Jahr, als Mika begonnen hatte, Videos auf ihre Social-Media-Konten hochzuladen.

Hexige Videos.

Das erklärte ihre derzeitige Fehde.

Im Moment jedoch schien Primrose das Thema nicht ansprechen zu wollen. »Hat irgendjemand Probleme?«, fragte sie die Versammelten.

»Es fällt mir schwer, meiner Verlobten nicht die Wahrheit über meine Magie zu sagen«, meldete sich Hilda Kim zu Wort. »Ich habe das Gefühl, dass ich so viel von mir vor ihr verberge, und das hasse ich.«

»Du kannst ja immer noch in Erwägung ziehen, doch nicht zu heiraten«, antwortete Primrose, die der Meinung war, es sei jedermanns Pflicht, Opfer für das Allgemeinwohl zu bringen. »Und während du darüber nachdenkst, meine Liebe …«, fuhr sie fort, als Hilda den Mund öffnete und wieder schloss, als ziehe sie es vor, lieber nicht zu antworten, »… hat irgendjemand irgendwelche echten Probleme? Neugierige Nachbarn, die zu viele Fragen stellen? Unkontrollierbare magische Ausbrüche?«

Alle zuckten mit den Schultern und schüttelten die Köpfe. Primrose ließ ihren Blick, der ein wenig zu lange auf Mika verweilte, von einer Hexe zur nächsten schweifen. Sie schien ziemlich enttäuscht zu sein, als niemand etwas sagte, als hätte sie gehofft, jemanden für seinen Leichtsinn bestrafen zu können.

»Dann …«, fuhr Primrose fort, während sich ein riesiges Zauberbuch aus dem Nichts in ihren Händen materialisierte, »hat vielleicht jemand neue Zaubersprüche, die er uns mitteilen möchte?«

Es gab einige: einen Zauber für einen erholsameren Schlaf, einen Trank, der Katzenfell vorübergehend rosa färbte – nur Katzenfell und nur rosa –, einen Zauber, mit dem man etwas Verlorenes wiederfinden konnte, und einen Zauber, der dunkle Augenringe sofort verschwinden ließ. Als Primrose, die ihre eigenen Zaubersprüche eifersüchtig hortete wie ein Drache das Gold, letzteren hörte, wirkte sie unglaublich verärgert, weil sie nicht zuerst auf diesen Zauberspruch gekommen war.

Als der Zauberspruch-Teil der Sitzung beendet war, räusperte Primrose sich. »Möchte uns vielleicht irgendjemand irgendwelche Neuigkeiten mitteilen?«

»Du kannst ruhig sagen, dass es jetzt Zeit für Klatsch und Tratsch ist, Primrose«, warf Mika fröhlich ein. »Wir alle wissen, dass das nach der Zauberarbeit dran ist.«

»Hexen tratschen nicht«, widersprach Primrose indigniert.

Dies jedoch war offensichtlich unwahr, denn tratschen war genau das, worauf sie sich jetzt stürzten.

»Mein Ex-Mann wollte sich letzte Woche wieder mit mir versöhnen«, begann Belinda Nkala. Sie war in den Vierzigern und hatte nie Zeit für den Unsinn der anderen. »Als ich ihn abgewiesen habe, hat er mir verkündet, ich sei ja ganz offensichtlich nichts ohne ihn. Dann ist er wieder abgezogen«, fügte sie hinzu. »Aber ich fürchte, er wird ein paar Wochen lang unter einem unerklärlichen Juckreiz in der Leiste leiden.«

Mehrere Hexen lachten, doch Primrose presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Und hast du in letzter Zeit auch jemandem so alberne Streiche gespielt, Mika?«

»Ach, um des verfluchten Himmels willen, Primrose, was hat das mit mir zu tun?«

»Das ist keineswegs eine unangemessene Frage, mein Püppchen. Du gehst ja sehr gern Risiken ein.«

»Zum millionsten Mal«, sagte Mika maßlos verärgert, »ich stelle Videos online, in denen ich so tue, als wäre ich eine Hexe. Es ist nur ein Spiel.« Primrose hob die Augenbrauen. Mika hob ihre auch. »Hunderte von Leuten machen das Gleiche, weißt du. Diese ganze Hexennummer ist sehr beliebt!«

»Hexenstil«, sagte Hilda und nickte weise. »Nicht ganz so populär wie Cottagestil oder Feenstil, aber er ist voll angesagt.«

Alle starrten sie an.

»Ich wusste gar nicht, dass es Feen gibt!«, kreischte Agatha Jones, die fast so alt war wie Primrose und der Überzeugung anhing, dass alle jungen Leute angeschrien werden mussten, damit sie die Bedeutung ihrer Äußerungen nicht überhörten. »Ist das denn die Möglichkeit!«

»Siehst du, Primrose?« Mika ignorierte die Unterbrechung. »Ständig nennen Leute sich Hexen. Ich bringe weder mich noch dich oder sonst jemanden in Gefahr. Niemand, der sich meine Videos ansieht, hält mich wirklich für eine Hexe.«

Es war einfach nur Pech für Mika, dass genau in diesem Moment, über fünfhundert Meilen entfernt, in einem großen Haus in einer ruhigen, windigen Ecke des ländlichen Norfolk, ein magerer alter Mann mit einem wunderschönen Regenbogenschal und riesigen flauschigen Hausschuhen genau das Gegenteil sagte.

*

»Auf keinen Fall!«

Das sagte Jamie, der mürrische Bibliothekar, der allerdings nicht der magere alte Mann mit dem Schal und den Hausschuhen war. Der hieß Ian. Die dritte Person in der Bibliothek war Lucie, die Haushälterin, eine pummelige Frau mit roten Wangen in den Fünfzigern, die seufzte, als wisse sie genau, wie dieser Streit ausgehen würde. Sie wusste es, und sie hatte recht.

Ian strich den Zipfel seines Schals glatt und antwortete mit der tiefen Stimme, die in seinen über achtzig Jahren das Publikum in vielen kleinen Theatern verzaubert hatte: »Werd jetzt nicht kompliziert, mein Lieber. Das steht dir nicht.«

Jamie war von dieser Kritik nicht sehr beeindruckt. »Du kannst doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, das da …« Er deutete mit dem Finger auf das taufrische, glitzernde Gesicht auf dem Display von Ians Telefon, »… hier ins Haus zu holen?«

»Und warum nicht?«, fragte Ian.

»Zum einen ist sie niemals eine echte Hexe«, erwiderte Jamie gereizt, was nicht ungewöhnlich war, denn das meiste, was Jamie sagte, klang gereizt. »Was für eine Hexe würde ihre Magie auf einer Plattform mit Millionen von Zuschauern zur Schau stellen?«

Mika hätte sich ungeheuer darüber gefreut, das zu hören, wenn sie dabei gewesen wäre, allerdings sah es so aus, als hätte ihr doppelter Bluff Ian nicht getäuscht.

»Sie ist eine echte Hexe«, betonte er.

»Woher zum Teufel willst du das wissen?«

»Ich habe eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Sieh dir einfach einen Teil des Videos an.« Ian wedelte mit seinem Handy, als würde er einem Kleinkind einen Lolli vor die Nase halten. »Eine Minute. Mehr verlange ich nicht.«

Jamies Blick blieb finster, aber er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen seinen Schreibtisch, um Ian über die Schulter zu schauen. Triumphierend tippte Ian auf das Display, und das Video startete.

Die Frau auf dem Bildschirm sah aus, als sei sie Ende zwanzig oder so, und sie war hübsch, so wie die meisten Menschen mit hellen Augen und einem fröhlichen Lächeln hübsch sind. Jamie kniff die Augen zusammen und versuchte herauszufinden, was Ians Aufmerksamkeit erregt hatte. Nichts an der Frau schien ungewöhnlich zu sein. Ihr Haar war von einem sehr dunklen Braun, lang und fiel locker über ihre nackten Schultern. Große braune Rehaugen, umrahmt von dichten schwarzen Wimpern, blinzelten ihnen fröhlich aus einem taufrischen Gesicht entgegen, das mit einer Art schimmerndem Puder bestäubt worden war, vermutlich, um ihr Aussehen jenseitiger zu machen. Sie war offensichtlich keine Weiße, aber es war schwer, ihre ethnische Zugehörigkeit zu bestimmen: Ihre Haut hatte ein pfirsichfarbenes, gebräuntes, goldenes Irgendwas, vielleicht lag das auch am Glitzer. Und der Name in der oberen Ecke des Videos, @MikaMoon, verriet nicht viel.

»Das Geheimnis ist …«, sagte sie gerade mit einem verschmitzten Lächeln, »… das Mondlicht genau zwei Minuten nach Mitternacht zu ernten.« Sie sprach Englisch, aber er konnte ihren Akzent keinem bestimmten Teil des Landes zuordnen. Sie hielt eine Schale mit flüssigem Silber hoch. »Nimm einen winzigen Löffel des geernteten Mondlichts«, fuhr sie fort und rührte die silberne Substanz mit einem Glaslöffel um, der angenehm gegen den Rand der Schale klirrte, »und fülle es in deinen Kessel.«

Als sie einen Löffel des angeblichen Mondlichts in einen Kessel gab, stiegen winzige Funken aus dem Inneren auf und tanzten in der Luft wie Glühwürmchen, bevor sie verlöschten.

»Und fertig!«, rief sie triumphierend. »Der perfekte Trank für ein verwundetes Herz.«

Ian stellte das Video auf Pause. Jamie schaute ihn verwirrt an. »Sollte ich etwa von den Spezialeffekten beeindruckt sein, die sie in den Kessel eingebaut hat? Oder von diesem Unsinn über ein verwundetes Herz?«

Ian lachte spöttisch. »Der Kessel? Nein, ich interessiere mich nicht für den Kessel. Sie ist es, die mich interessiert. Siehst du das nicht? Sie glüht förmlich vor Magie.«

Daraufhin ergriff Lucie zum ersten Mal das Wort. »Du benutzt deine Bühnenstimme, Liebster«, sagte sie beschwichtigend und tätschelte Ians Hand. »Bei Jamie funktioniert das nie. Aber …«, fügte sie, diesmal an Jamie gewandt, hinzu, »ich denke, wir sollten Ian zu Ende anhören. Du weißt, dass er ein Näschen für solche Dinge hat. Wenn er sagt, dass sie eine Hexe ist, hat er wahrscheinlich recht.«

»Siehst du?« Ian wirkte ziemlich selbstzufrieden. »Sie wäre perfekt!«

»Ian!« Jamie konnte es nicht glauben. »Selbst wenn sie eine Hexe ist, ihr Gesicht ist überall im verdammten Internet zu sehen! Das Risiko …«

Ian verdrehte die Augen so dramatisch, dass sie beinah in den Augenhöhlen verschwanden, und sagte: »Sie hat vierzehntausend Follower. Ich bin berühmter als sie, und es scheint dich nicht zu stören, dass ich hier bin. Natürlich …«, fuhr er schnell fort, damit Jamie nicht die Gelegenheit ergriff, ihn eines Besseren zu belehren, »… werden wir klarstellen, dass weder Nowhere House noch die Mädchen in irgendeiner Weise in ihren Filmchen auftauchen werden, wenn sie zu Besuch ist.«

»Und wie kommst du darauf, dass diese Wald-und-Wiesen-Fee sich überhaupt darauf einlassen würde?«

»Das wissen wir erst, wenn wir sie fragen.«

Lucie stand auf. Offensichtlich hatte sie genug von der Diskussion. »Eine Abstimmung ist der einzige Weg, dies zu regeln«, sagte sie.

Ian zuckte mit den Schultern. »Dann brauchen wir meinen Mann, nicht wahr?«

»Ken dürfte die Mädchen sicher schon ins Bett gebracht haben«, sagte Lucie. »Ich hole ihn.«

»Ich hole den Tie-Breaker«, erklärte Jamie.

»Das macht nur Sinn, wenn es unentschieden ausgeht, mein Lieber«, sagte Ian.

Die Tür der Bibliothek schlug klappernd zu, als Lucie ging. Zähneknirschend marschierte Jamie an den Reihen alter Holzregale auf und ab und stellte die Bücher wieder an ihre angestammten Plätze. Die Bibliothek von Nowhere House war etwa fünfzig Jahre zuvor an das Haupthaus angebaut worden. Sie war wunderschön, mit großen Fenstern und einer Wendeltreppe, die in den ersten Stock führte, und voller Bücher, Manuskripte und Globen. Auf der einen Seite blickte man durch die Fenster auf das Meer hinter den Dünen, auf der anderen Seite konnte man die Bäume, die Schaukel und den Lavendel im Vorgarten sehen.

Es war mit Abstand Jamies Lieblingsort auf der ganzen Welt, doch in diesem Moment konnte er ihn nicht wirklich schätzen. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie all ihre Geheimnisse ans Tageslicht kamen und ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde.

Als er zum Eingang der Bibliothek zurückkehrte, saß Ian noch genau dort, wo er ihn zurückgelassen hatte, und sah sich erneut das Video an.

»Ich wünschte, du könntest sehen, was ich sehe«, sagte Ian ein wenig wehmütig. »Es ist so viel Magie um sie herum, als würde sie brennen. Wie bei den Mädchen.«

Jamie liebte Ian von ganzem Herzen, aber gütiger Himmel! Es war, als wäre der Mann direkt einem Poesiealbum entsprungen, und niemand hätte genug gesunden Menschenverstand gehabt, um ihn zurückzuschicken.

»Da keines der Mädchen für mich so aussieht, als würde es brennen, Ian«, antwortete er etwas säuerlich, »ist das keine große Hilfe. Und wie ich schon sagte, es ist gleichgültig, ob sie tatsächlich eine Hexe ist. Es ist ein zu großes Risiko, jemand Neuen hierher zu holen.«

Ian legte eine Hand auf die von Jamie und drückte sie. »Wir haben keine anderen Vorschläge, James. Uns läuft die Zeit davon.«

»Edward wird …«

»… es ist nicht nur Edward«, unterbrach Ian ihn. »Er ist zwar im Moment unser größtes Problem, aber ich denke auch an das, was danach kommt. Danach. Es geht auch um den Rest des Lebens der Mädchen. Lillian, Gott hab sie selig, hat es gründlich vermasselt. Ist dieses Leben wirklich das, was wir für diese wunderschönen, kostbaren Kinder wollen? Sie können nicht zur Schule gehen. Sie verlassen fast nie das Nowhere House. Sie haben nur sich selbst.«

»Und uns.«

»Und uns.« Einen Moment erlosch das allgegenwärtige Glitzern in Ians Augen. Er deutete auf ein Foto, das auf einem Bücherstapel auf Jamies Schreibtisch lag. »Sieh uns an. Selbst mit den besten Absichten können wir den Mädchen nicht alles geben, was sie brauchen. Ich bin zweiundachtzig Jahre alt. Ich weiß, wie es ist, zu verbergen, wer ich bin. Ich weiß, wie es ist, am Rande der Gesellschaft zu leben. Die Mädchen werden vielleicht immer einen Teil von sich selbst geheim halten müssen, aber ich möchte, dass sie trotzdem in der Lage sind, hinauszugehen und zu leben. Sie brauchen jemanden, der weiß, wie das ist, wie es ist, so auszusehen und sich so zu fühlen, wie sie es tun, und der ihnen zeigen kann, wie sie mutig und sicher den Weg durch ihr restliches Leben gehen können.«

»Das weiß ich«, gab Jamie schroff zu. »Ich weiß es, Ian. Aber das kann bis nach Edward warten. Und darauf zu vertrauen, dass diese hypothetische Hexe uns hilft, ist ein großes Wagnis. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich auszahlen wird.«

»Wenn du keine bessere Idee hast, ist das eine Chance, die zu verpassen wir uns nicht leisten können.«

Als Lucie mit Ken im Schlepptau in die Bibliothek zurückkehrte, war die Abstimmung nicht mehr nötig. Es musste nur noch darüber entschieden werden, wie man Mika Moon überzeugen konnte, nach Nowhere House zu kommen. Ian wollte ihr eine Nachricht schicken, die mit den Worten »HEXEGESUCHT« beginnen sollte. Das treffe seiner Meinung nach genau den richtigen Ton. Die anderen waren damit nicht einverstanden.

Und ganz oben in Schottland zitterte Mika weiter auf einem verregneten Pier, völlig ahnungslos, dass da eine Abrissbirne auf sie zukam.

KAPITEL 2

HEXEGESUCHT.

Es waren diese beiden Wörter, die zwei Wochen später dafür verantwortlich waren, dass Mika nervös mit den Fingern auf das Lenkrad ihres Besenstiels tippte, ihrer zuverlässigen buttergelben Fließhecklimousine. Sie war gerade an dem Schild vorbeigefahren, das sie in Norfolk willkommen hieß, einem Teil des Landes, in dem sie seit ihrem zweijährigen Studium an der University of East Anglia nicht mehr gewesen war, und das Navi, das in der unteren Ecke der Windschutzscheibe klebte, zeigte ihr an, dass sie noch etwa eine Stunde Fahrt vor sich hatte.

HEXEGESUCHT. Hauslehrerin für drei junge Hexen gesucht. Nerven aus Stahl erforderlich. Lehrerfahrung nicht erforderlich. Hexigkeit unerlässlich.

Vierzehntausend Anhänger waren eigentlich nicht sehr viele, aber es reichte aus, um sicherzustellen, dass auf Mikas Accounts in den sozialen Medien an jedem beliebigen Tag eine Sammlung von seltsamen, aufdringlichen oder geradezu beleidigenden neuen Nachrichten auftauchten. Jetzt konnte sie schon anhand der Übersicht über ihren Posteingang an der Vorschau jeder neuen Nachricht erkennen, welche sich zu lesen lohnten und welche nicht. Eine Nachricht, die mit den Worten HEXEGESUCHT begann und in Großbuchstaben gepostet worden war, als kündigte sie die Geburt eines neuen königlichen Babys an, hätte direkt in den Papierkorb wandern sollen. Mika ging, noch während sie die Nachricht aus reiner Neugierde anklickte, davon aus, dass es sich wahrscheinlich um eine Art Einladung zu perversem Hexensex mit dem Absender handeln würde.

Deshalb war ihre Überraschung riesig, als sie feststellte, dass es in Wirklichkeit noch viel perverser war.

Es hatte sie gegen ihren Willen amüsiert. Und obwohl sie es besser wusste, hatte sie eine Antwort geschickt.

Volle Punktzahl für Kreativität, aber ich fürchte, meine Nerven sind eher aus Marshmallows gemacht.

Zufällig, kam die Antwort fast postwendend, sind wir so verzweifelt, dass wir Ihre Nerven akzeptieren, ganz gleich, in welchem Zustand sie auch immer sein mögen.

Und dann, bevor Mika mit Spott reagieren oder die App beenden oder etwas anderes tun konnte, wozu sie vielleicht versucht gewesen wäre, ploppte eine neue Nachricht auf. Sie bestand aus einem einzigen Wort.

Bitte.

Aus diesem Grund fuhr Mika nun, nachdem sie viele weitere Fragen gestellt und nur ausweichende Antworten erhalten hatte, den ganzen Weg von ihrer Wohnung in Brighton zu einem Ort mit dem höchst geheimnisvollen Namen Nowhere House.

Alles nur, weil mal jemand im Internet gute Manieren hatte.

Und weil außerdem ihr letzter Job im September geendet hatte, der sechsmonatige Mietvertrag für ihre Wohnung fast abgelaufen war und sie – so unwahrscheinlich es auch schien, dass es sich um ein echtes, seriöses und ganz und gar nicht verdächtiges Angebot handelte – eine neue Unterkunft und die damit verbundene bezahlte Arbeit brauchte.

Und vielleicht auch, nur vielleicht, weil die Magie, dieses Lied, das in ihr nie verstummte, ihr einen kleinen Schubs gegeben hatte.

»In einer Viertelmeile links abbiegen«, sagte das Navi.

Sie hatte die großen verkehrsreichen Straßen inzwischen hinter sich gelassen und folgte einer kurvenreichen Landstraße, die sich durch kleine Städte und Dörfer mit Pubs, Schulen und alten Cottages schlängelte, die alle urige und typisch englische Namen trugen wie Catfield oder Hickling. Bald blieben auch diese Orte hinter ihr zurück und wichen den Bächen und Teichen der Norfolk Broads. Endloses Ackerland mit Schafen, Kühen und Pferden und am Horizont die heidebewachsenen Dünen der Küste. Es war fast unwahrscheinlich perfekt, eine idyllische Welt, gemalt mit den weichen goldenen Strichen der Novembersonne.

Als Besenstiel dem Punkt auf der Karte, der das geheimnisvolle Haus im Nirgendwo markierte, immer näher kam, wich das Ackerland gutmütig einem Wald mit hohen, meist kahlen Bäumen und gelben Blätterteppichen auf beiden Seiten der schmalen Straße.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

Mika bremste ab und runzelte die Stirn. Sie sah nichts anderes als Bäume, Blätter und die Straße. Hatte man sie ausgetrickst? Würde sie gleich im Wald ermordet werden wie jedes naive Fräulein in so gut wie jedem Horrorfilm? Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge.

Dann zog sie die letzte Textnachricht zurate, die ihr geheimnisvoller Beschwörer ihr geschickt hatte.

Sie haben vielleicht Schwierigkeiten, das Haus zu finden. Sehen Sie sehr genau hin.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass keine Autos hinter ihr waren, fuhr sie langsam rückwärts und blickte sich durch die Autofenster um, ob sie irgendetwas auf der Straße übersehen hatte.

Da! Sie hatte tatsächlich etwas übersehen: ein schlichtes Eisentor zwischen Hecken, die halb von Bäumen verdeckt waren. Hinter dem Tor konnte sie einen Kiesweg erkennen, der an einer Scheune und einem Cottage vorbeiführte und vor einem großen Giebelhaus mit dem endlosen blassen Himmel im Hintergrund endete.

Mika bog nach rechts ab und lenkte Besenstiel im Schneckentempo die Einfahrt hinauf, da sie an die drei Kinder dachte, von denen zweifellos jedes ohne Vorwarnung auf die Straße rennen konnte. Und als sie das Tor passierte, lag um sie herum ein unverkennbares Knistern in der Luft.

Magie.

Das konnte doch nicht sein! Oder doch?

Verunsichert überlegte Mika, ob es zu spät war, den Wagen zu wenden und zu flüchten. Sie warf einen vorsichtigen Blick auf das Haus am Ende der Einfahrt, doch bevor sie sich entscheiden konnte, hatte sie bereits die Scheune und das Cottage erreicht. Und durch ein Fenster des Letzteren winkte ihr jemand heftig zu.

Mika lenkte Besenstiel so weit wie möglich auf die linke Seite der Einfahrt, ohne die niedrige Steinmauer, die das Cottage umgab, umzufahren, stellte den Motor ab und stieg nervös aus dem Auto. Das Cottage war bezaubernd: ein winziges, perfektes Haus wie aus einem Märchenbuch mit einer leuchtend roten Tür, einem echten Strohdach und einem kleinen, hervorragend gepflegten Vorgarten zu beiden Seiten eines mit großen Steinplatten gepflasterten Weges. In einer Ecke des Gartens war ein winziges Gemüsebeet mit einer Handvoll perfekt reifer Kürbisse angelegt, die darauf warteten, geerntet zu werden. Und zwischen ihnen kniete ein älterer Mann.

Dieser stand auf, als Mika auf den Weg trat, und blinzelte gegen die Sonne. Er war kahlköpfig, ein Japaner in den Siebzigern, bekleidet mit Jeans und einem gestreiften Pullover, über dem er eine Gartenschürze trug. Er hatte breite, vom Alter leicht gerundete Schultern und ein herzliches Lächeln, das es unmöglich machte, es nicht zu erwidern.

»Sie müssen Mika sein«, sagte er, zog die Schürze aus und wischte sich die Hände daran ab, bevor er ihr die rechte hinhielt. »Willkommen.«

»Danke«, sagte Mika und schüttelte die angebotene Hand. Sie war schwielig, die Hand eines Mannes, der viel im Garten arbeitete. »Sind Sie Ian?«

Er lachte über ihre Worte, doch bevor er antworten konnte, flog die Haustür auf, und ein Wirbelsturm in flauschigen Hausschuhen fegte heraus.

»Das ist Ian«, sagte der Mann und klopfte ihr mitfühlend, so schien es ihr, auf die Schulter. »Viel Glück.«

Den Wirbelsturm hatte ein ebenfalls älterer Mann mit so viel überschwänglicher Energie ausgelöst, dass Mika schon sein Anblick erschöpfte. Er war groß und schlank, hatte einen weißen Haarschopf, funkelnde blaue Augen und einen gestreiften Regenbogenschal um den langen Hals geschlungen. Abgesehen von dem Schal und den flauschigen Hausschuhen, trug er unerwarteterweise eine ganz normale schwarze Hose und einen schwarzen Pullover.

»Ian Kubo-Hawthorn, zu Ihren Diensten«, sagte der Zyklon und strahlte, als er Mika mit einer Umarmung beglückte, mit der er ihr fast die Knochen zermalmte. Seine Stimme war tief und melodisch, mit einer Deutlichkeit, die sie mit Shakespeare-Darstellern und BBC-Moderatoren in Verbindung brachte. »Vielleicht haben Sie schon von mir gehört?«

»Ian«, tadelte ihn der andere Mann.

»Du hast natürlich recht, Lieber«, sagte Ian wie aus der Pistole geschossen. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Wie ich sehe, haben Sie Ken schon kennengelernt«, fuhr er fort und deutete mit dem Daumen in die Richtung des Asiaten. »Ich bin sein Ehemann. Oder er ist mein Ehemann. Ich bin mir nicht sicher, wie herum es richtig ist.«

»In beide Richtungen, denke ich«, erwiderte Mika.

»Ian und ich wohnen hier im Cottage.« Kens ruhige, sanfte Stimme bildete einen fast komischen Kontrast zu der von Ian.

»Das gewährt uns ein bisschen Privatsphäre«, sagte Ian und zwinkerte ihr zu. »Im Haupthaus hätten wir die nicht, das kann ich Ihnen versprechen. Sie dagegen«, fügte er hastig hinzu, als hätte er sich gerade daran erinnert, dass er ihr das Haus schmackhaft machen sollte, »werden dort viel Privatsphäre genießen, falls Sie sich entscheiden, bei uns zu bleiben.«

Mika schaute zwischen den beiden hin und her, bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken, und sagte sehr bestimmt: »Ich fürchte, ich brauche ein paar Antworten, bevor ich irgendetwas entscheide. Sie waren bei unserem Mailkontakt außerordentlich geheimnisvoll. Mit Absicht, wie ich vermute.«

»Es gibt Dinge, die man nicht schriftlich festhalten möchte«, gab Ian unumwunden zu. Seine Augen bildeten kleine Falten in den Winkeln. »Aber wir sind so dankbar, dass Sie den weiten Weg auf sich genommen haben, nur um dieses Gespräch zu führen, meine Liebe. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dringend wir Sie brauchen.«

»Brauchen Sie wirklich eine Hauslehrerin?«

»Ja.« Ken beantwortete die Frage, bevor Ian etwas sagen konnte, da er wohl – und wahrscheinlich korrekterweise – annahm, dass Mika eher ihm glauben würde. »Kommen Sie mit uns ins Haupthaus, und Sie werden sehen, warum.« Er legte seine Schürze über die Steinmauer und machte sich auf den Weg.

»Kann ich den Wagen hier parken, solange wir im Haus sind?«

»Ja natürlich«, sagte Ian. »Normalerweise stellen wir unsere Autos in der Scheune ab, was Sie auch gerne tun können, wenn Sie hierher ziehen, aber im Moment kann er gern dort stehen bleiben.«

Mika blickte noch einmal zu dem Tor zurück, zu der Stelle, an der sie dieses seltsame, vage Knistern von Magie gespürt hatte. Hatte sie sich den Schimmer von Goldstaub in der Luft nur eingebildet?

»Mika?«

Sie wandte sich eilig um, schloss Besenstiel ab und folgte den beiden Männern über die glatten Kieselsteine in Richtung des Hauses.

Ian deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ist Ihnen am Tor etwas aufgefallen?«

»Ganz und gar nicht«, sagte Mika sofort.

»Hmm.« Ian klang amüsiert.

Ken wandte sich ihr zu, als sie zu ihnen aufschloss. »Wissen Sie etwas über Lillian Nowhere?«, fragte er.

Mika schüttelte den Kopf. »Sollte ich?«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Lillian ist Archäologin und die Eigentümerin von Nowhere House.«

»Oh, werde ich sie gleich treffen?«

»Nein, Lillian ist im Moment nicht zu Hause«, sagte Ian. »Wie meistens. Sie ist manchmal ein paar Wochen hier, dann ein paar Monate unterwegs, dann wieder ein paar Wochen hier und so weiter. Diesmal handelt es sich um eine Ausgrabung in Südamerika. Deshalb sind das Haus und die Kinder in unserer Obhut.«

»In Ihrer und Kens Obhut?« Mika runzelte die Stirn und konnte kaum glauben, dass die beiden in einem Cottage wohnten, während drei Kinder allein in dem großen Haus lebten.

»Unserer und der von Lucie und Jamie«, sagte Ken. »Lucie ist seit fast dreißig Jahren Lillians Haushälterin und Freundin. Jamie arbeitete in der Bibliothek, als die Kinder kamen …« Ken deutete auf den großen Anbau auf der rechten Seite des Hauses. »Aber jetzt ist er mehr oder weniger der einzige Vater, den sie haben. Was Ian und mich betrifft – ich bin seit über zwanzig Jahren Lillians Hausmeister. Lillian und Ian haben sich bei einer Wohltätigkeitsgala kennengelernt, als er noch als Schauspieler gearbeitet hat. Sie hat mich eingestellt und uns das Cottage für eine lächerlich geringe Summe verkauft.«

»All das ist für die Geschichte, die wir Ihnen gleich erzählen werden, von Bedeutung«, versicherte Ian Mika.

Eine abwesende Archäologin, eine Haushälterin, ein Bibliothekar, ein Gärtner, ein ehemaliger Schauspieler und drei mögliche Hexen. Was Hintergrundgeschichten anging, war das eine der seltsamsten, die Mika je gehört hatte.

»Wer genau sind die Kinder?«, fragte Mika. »Ich meine, wie sind sie mit Ihnen verwandt?«

»Rechtlich gesehen sind sie Lillians Adoptivkinder«, antwortete Ian. Er hielt inne und schien zu bedauern, was er dann hinzufügte. »Aber sie ist so oft unterwegs, dass Jamie und wir anderen die eigentliche Erziehung der Kinder übernommen haben.«

Während Ken gesprochen hatte, waren sie bei dem Haus angelangt, und Mika blickte daran hoch. Es war ein altes zweistöckiges Gebäude mit Giebeldächern und vielen Fenstern, Mauern aus warmen braungrauen Ziegeln, die mit grünem Efeu bewachsen waren, und einem fröhlich qualmenden Schornstein. Zu beiden Seiten der verblichenen weißen Eingangstür, die unter dem Dachvorsprung versteckt war, befanden sich breite Erkerfenster, die wie die Fenster im zweiten Stock Giebel hatten. Und vor dem Haus, auf beiden Seiten des Weges, der um das Haus herumführte, befand sich der Garten, der genauso gepflegt war wie der winzige Cottage-Garten: Eichen, Lavendelbüsche, frisch gemähtes Gras, eine Schaukel und ein rundherum eingezäuntes Gemüsebeet. Er sah ehrlich gesagt aus wie ein kleines Stück vom Himmel.

»Es ist wunderschön hier«, sagte Mika.

»Schön genug, um sofort einzuziehen?«

»Ian!«

Mika verbiss sich ein weiteres Lächeln und blieb standhaft. »Ich bin immer noch auf der Suche nach Antworten. Sie haben bisher nicht wirklich erklärt, warum Sie mich brauchen.«

»Gehen wir hinein.« Ken stieß die Haustür auf.

Mika verweilte noch einen Moment, den Blick auf den Garten gerichtet. Sie hatte sich die Magie am Tor nicht eingebildet. Hier gab es Magie, sie konnte sie spüren, und das lag nicht nur daran, dass sie hier war.

Es konnte doch wirklich nicht sein, dass hier drei junge Hexen zusammenwohnten, oder doch?

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Ian sie und wippte ungeduldig auf den Fußballen.

Mika wich der Antwort aus, indem sie eine Gegenfrage stellte. »Wie kommt es, dass der Lavendel noch blüht?«

Ian sah ein wenig enttäuscht aus, als habe er gehofft, dass sie etwas ganz anderes sagen würde, Ken jedoch lächelte. »Das hat bedauerlicherweise nichts mit meiner Pflege zu tun. Sie werden hier eine Reihe von jahreszeitlichen Merkwürdigkeiten feststellen.«

Das liegt daran, dass es hier eine Menge Magie gibt.

Aber das konnte sie nicht sagen. Vielleicht gab es an diesem Ort wirklich Hexen. Oder es war etwas ganz anderes, eine Art bösartige, düstere Falle, um leichtsinnige, naive Hexen zu umgarnen, die einfach ihren Mund nicht halten konnten. War das unwahrscheinlich? Ja. War es unmöglich? Nein. Aber wie auch immer, so viel wusste sie: Sie, Ian und Ken wichen dem Thema aus. Jeder von ihnen versuchte herauszufinden, wie viel der andere wusste, und sie durfte nicht diejenige sein, die als Erste nachgab.

Also tat sie so, als habe sie das Interesse an dem unzeitgemäß blühenden Lavendel verloren, lächelte ihr sonnigstes Lächeln und fragte: »Wollen wir dann reingehen?«

Mika hatte etliche Zweifel an der tatsächlichen Existenz von Kindern an diesem Ort gehabt, denn viele Menschen im Internet waren nicht gerade für ihre Wahrheitsliebe bekannt. Aber das Innere des Hauses ließ die meisten dieser Zweifel verschwinden. Es war vollgestopft mit fröhlichen Sesseln, bunten Decken, Pflanzen und Büchern. Die Wände waren in einem cremigen Weiß gestrichen, das ab und zu durch den Schnörkel eines Buntstifts oder einen Klecks Fingerfarbe unterbrochen wurde. Turnschuhe, Ballerinas und Gummistiefel in allen Größen, vom Vorschulkind bis zum Erwachsenen, waren im vorderen Flur unordentlich aufgereiht. Eines der Fenster wies einen unverkennbaren Flecken auf, der darauf schließen ließ, dass häufig die Nase eines Kindes dagegengedrückt wurde. Und natürlich lag überall Spielzeug herum.

In das Haus war offensichtlich viel Arbeit gesteckt worden, um es sauber und warm zu halten. Neue Heizkörper knackten gemütlich, und in dem riesigen vorderen Raum brannte ein Feuer in einem Kamin. Bunte Kissen und weiche Plaids belebten mit ihren Farben die bequemen Sofas und Sessel. Die Böden, Treppen und Tische waren aus robustem glänzendem Holz, und in jedem Flur und jedem Raum, die sie auf dem Weg zum hinteren Teil des Hauses durchquerten, standen Topfpflanzen. Schließlich erreichten sie die rustikale, sonnendurchflutete Küche.

Dort trafen sie auf zwei Personen – eine kleine, rundliche Frau in den Fünfzigern, von der Mika annahm, dass es sich um Lucie handelte, und einen finster dreinblickenden Mann Mitte dreißig, der Jamie sein musste. Die Frau betrachtete gerade kritisch ein Tablett mit Topfkräutern und drehte sich zu ihnen um, als sie eintraten. Der Mann blieb an der offenen Flügeltür am anderen Ende der Küche stehen, die Arme vor der Brust verschränkt und den Blick in den Garten gerichtet.

»Perfektes Timing! Du kannst mit dem Essen anfangen«, forderte die Frau Ian auf.

»Mika, das ist Lucie«, sagte Ian und tänzelte durch die Küche.

»Kann jemand vielleicht den Kessel aufsetzen, während ich den Ofen vorheize?«

»Ian ist der beste Koch im Haus«, sagte Ken halblaut zu Mika. »Aber verraten Sie ihm nicht, dass ich das gesagt habe. Es würde ihm zu Kopf steigen.«

Lucie hatte rosige Wangen, kleine Falten um die Augen, am Ansatz leicht ergrautes braunes Haar und so etwas wie eine ungeschickt gebastelte Papiertiara schief auf dem Kopf. Sie betätigte den Schalter des Wasserkochers und lächelte Mika herzlich zu. »Es ist schön, Sie kennenzulernen, Mika«, sagte sie. »Ihr Lächeln ist ja noch viel schöner als in Ihren Videos!«

»Nicht wahr?« Ian klang so stolz, dass man hätte meinen können, er hätte persönlich an Mikas Lächeln mitgewirkt.

Mika lachte, dann wandte sie sich an den Mann an der Flügeltür. »Sie müssen Jamie sein. Hallo.«

Der Angesprochene drehte sich nicht gerade höflich um. Er war nicht ganz so groß wie Ian, Mika schätzte ihn auf knapp einen Meter achtzig, gut einen Kopf größer als sie selbst. Der peinliche Ausdruck umwerfend gut aussehend schoss Mika durch den Kopf, bevor sie ihn sofort wieder verbannte. Seine Augenbrauen waren dunkel und gerade, sein Gesicht hatte kantige Züge, und er hatte ungekämmtes kurzes Haar irgendwo zwischen dunkelblond und braun, einen Bartschatten in der gleichen Farbe und beunruhigend scharf blickende graue Augen. In Anbetracht des finsteren Blicks fand sie es geradezu unhöflich von ihm, dass er so verdammt gut aussah.

»Jamie Kelly«, sagte er. Seine Stimme klang rau, als wäre sie mit Sandpapier behandelt worden. Hatte sie einen leichten irischen Akzent herausgehört? »Hallo.« Eine vollkommen höfliche Antwort, die jedoch alles andere als freundlich klang. Nicht einmal ein bisschen freundlich. Da war nichts von der Wärme und dem Enthusiasmus, den die anderen gezeigt hatten.

Mika beschloss, es nicht persönlich zu nehmen, und lächelte ihn einfach an. »Haben Sie früher mal in Belfast gelebt?«

»Ja.« Er erwiderte ihr Lächeln nicht.

Mika beschloss, sich lieber wieder Ken zuzuwenden, denn er schien mehr als bereit zu sein für die Antworten, die ihr versprochen worden waren. »Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich nicht viel Erfahrung mit Kindern habe. Ehrlich gesagt habe ich mich nur ein einziges Mal bewährt, als ich einem Kleinkind im Zug eine Erbse aus der Nase ziehen musste. Aber ich nehme an, das ist nicht das, was Sie hier von mir erwarten.«

»Für die Erziehung und die Ausbildung der Kinder ist größtenteils gesorgt«, erklärte Ken. »Sie werden zu Hause unterrichtet. Zum Teil über Online-Kurse, größtenteils unterrichten wir sie aber selbst. Jamie lernt mit ihnen Englisch und Geschichte, Ian lehrt sie Theater, Kochen und so unkluge Dinge wie Auf-Bäume-Klettern, Lucie unterrichtet sie in Mathematik, und ich bringe ihnen Japanisch, Naturwissenschaften und Gärtnern bei, und was mir sonst noch so einfällt.«

Mika schaute die Anwesenden nacheinander an. Das klang alles außerordentlich normal. Sie war verwirrt. »Ich habe nicht den Eindruck, dass da irgendetwas fehlt. Wozu brauchen Sie dann eine Hauslehrerin?«

Eine kurze Stille trat ein, als ob sie kollektiv Atem holen würden. Dann sagte Ian: »Um sie Magie zu lehren, natürlich.«

Eigentlich hätte Mika nicht überrascht sein sollen, denn in seiner ersten Mitteilung hatte Ian ganz ausdrücklich den Wunsch nach einer Hexe geäußert. »Magie«, sagte sie langsam. »Sie wollen, dass ich sie Magie lehre.«

»Sie sind schließlich eine Hexe, oder?«, stellte Ian fest, als ob es nichts Offensichtlicheres gäbe. »Genau wie die Mädchen. Ergo brauchen sie Sie.«

»Ist das eine Art außerschulische Aktivität, bei der Sie die Mädchen entscheiden lassen, was sie werden wollen, um das dann spielerisch auszuprobieren?«, erkundigte sich Mika. »Sie haben also beschlossen, dass sie Hexen werden wollen, und Sie sind nun auf jemanden gestoßen, der zur Unterhaltung Hexenvideos ins Internet stellt?«

Wieder herrschte Schweigen. Lucie und Ken wirkten verunsichert, während Jamie die Augen zusammenkniff. Nur Ian schien unbeeindruckt. Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Mika Moon«, sagte er in einem großväterlichen Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie sanft und freundlich zurechtgewiesen wurde. »Ihr Account ist einer von Hunderten, auf dem Hexen-Videos gepostet werden. Aber ich will keinen dieser anderen zweifellos ganz reizenden Menschen. Ich will Sie. Warum, glauben Sie, ist das so?«

»Räumliche Nähe?«

»@SilverSpoons lebt in Suffolk«, sagte Ian. »Das ist viel näher als Brighton. Sie hat dreiundfünfzigtausend Follower im Gegensatz zu Ihren vierzehntausend. Und doch ist sie nicht hier, wie Sie vielleicht bemerkt haben.«

Mika wurde von einem leichten Unbehagen erfasst, aber sie hatte einunddreißig Jahre damit verbracht, zu lernen, wie man mit genau solchen Situationen umging, und so blieb sie standhaft. »Nur um das klarzustellen«, sagte sie und riss scheinbar ungläubig die Augen auf, »Sie haben meine Videos gesehen und glauben jetzt, dass ich eine echte Hexe bin? Mit echter Magie?«

Guter Gott, bitte nicht! Primrose würde sie erwürgen.

»Ja«, sagte Ian schlicht. Er trat auf sie zu und legte einen Finger unter ihr Kinn, damit sie ihm in die Augen sah. Sein Blick war gleichzeitig ernst und freundlich, als er sie musterte und anflehte, ihm zu vertrauen. »Mika. Bitte.«

Schon wieder dieses Bitte. Verflucht!

»Okay.« Mika trat einen Schritt zurück und wechselte die Strategie. »Nehmen wir einmal an, dass es echte Hexen gibt. Sind Sie tatsächlich der Meinung, dass es sich bei den drei Kindern, die in diesem Haus leben, um solche handelt?«

»Das ist genau das, was wir sagen wollen.«

»Unmöglich«, erklärte Mika.

Zum einen waren Hexen höchst selten. Es kam nicht jeden Tag vor, dass man einer begegnete, geschweige denn drei. Und zum anderen war das Zusammenleben von drei Hexen absolut verboten. Primrose war zwar zugegeben nicht die Herrin und Meisterin aller Hexen, aber sie war alt, mächtig und, was am wichtigsten war, überzeugend. Sie hätte auf keinen Fall zugelassen, dass drei junge Hexen zusammen in einem Haus aufwuchsen.

Es sei denn, sie wusste nichts von ihnen.

»Ian«, mischte sich Lucie unsicher ein, »ich glaube nicht …«

»Ach, ich gebe auf!« Ian rang die Hände. »Es ist äußerst ärgerlich, um den heißen Brei herumzureden. Mika, ich nehme an, Sie wollen uns nicht die Wahrheit sagen, bevor wir Ihnen nicht die Wahrheit sagen. Also gut. Sie haben gewonnen.«

»Ian …«

»In diesem Haus leben drei Kinder«, sagte Ian mit fester Stimme und sah Mika in die Augen. »Diese drei Kinder sind Hexen. Jamie, Ken, Lucie und ich wissen, dass sie Hexen sind. Wir wissen über Hexen Bescheid. Lillian hat es uns erzählt. Weil sie ebenfalls eine Hexe ist.«

»Ian!«, protestierte Lucie.

»Moment.« Mika war völlig verdattert. »Lillian ist eine Hexe? Die Frau, der dieses Haus gehört? Die Archäologin, die nie zu Hause ist?«

»Ebendie.«

»Und sie hat Ihnen von Hexen erzählt?«

Ian nickte enthusiastisch. »Verstehen Sie jetzt?«

Mikas Gedanken überschlugen sich, als sie versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, in das sie da gestolpert war. Es passte alles zusammen. Hier gab es so viel Magie, dass es das Zuhause einer Hexe sein musste, vielmehr in diesem Fall einer Reihe von Hexen. Und was war mit der Magie, die sie am Tor gespürt hatte? Was, wenn das in Wirklichkeit Schutzzauber waren, die das Haus und die Gärten umgaben, um die Kinder zu verstecken? Mika selbst war in Primroses mit Zaubern geschütztem Haus aufgewachsen, einem Ort, an dem Zaubersprüche und eventuelle Missgeschicke von Nachbarn, Passanten und sogar anderen Hexen unbemerkt blieben. Was, wenn die Schutzzauber von Nowhere House der Grund dafür waren, dass Primrose nichts von der Existenz dieser Kinder wusste?

Wusste Primrose überhaupt, dass Lillian existierte? Das musste sie wissen. Lillian war höchstwahrscheinlich eine jener Hexen, die irgendwann einmal Primroses Einladung abgelehnt hatten, der Gruppe beizutreten, die keineswegs die Sehr Geheime Gesellschaft Für Hexen hieß.

»Sie glauben mir nicht«, vermutete Ian, als Mika schwieg.

»Ich glaube Ihnen nicht nicht«, widersprach Mika behutsam.

Jamie mischte sich brüsk ein. »Kommen Sie her.«

Unbeeindruckt von seinem Tonfall, ging Mika durch die Küche und stellte sich neben ihn. Jamie schaute durch die offene Flügeltür wieder nach draußen. Mika folgte seinem Blick in den großen, schönen Garten mit der breiten, geschwungenen Hecke am Rand und den von Heidekraut überwucherten Dünen dahinter. Ein farbenfrohes Beet mit riesigen Sonnenblumen unterbrach die Hecke, und daneben befand sich ein kleines Holztor, durch das man vermutlich zu den Dünen und dem Meer dahinter gelangte.

Jamie schaute jedoch nicht auf das Tor, sondern auf drei Mädchen, die in einem Baumhaus am anderen Ende des Gartens spielten. Mika kniff die Augen zusammen, um sie besser erkennen zu können. Die Älteste, ein Kind mit langen Gliedmaßen, tief dunkelbrauner Haut und dickem, krausem Haar, das zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war, konnte nicht älter als zehn oder elf sein. Sie saß mit einem Buch auf dem Schoß da. Die anderen Mädchen sahen jünger aus. Eines hatte pfirsichfarbene Haut und glattes, glänzend schwarzes Haar, das bis zu ihren Schultern reichte. Das andere Mädchen hatte einen locker zusammengefassten hellbraunen Zopf und gebräunte Haut mit einem goldenen Schimmer, die mehr oder weniger Mikas Hautfarbe entsprach.

Mikas Herz schlug ein wenig schneller. Als Ken ihr gesagt hatte, dass Lillian die Kinder adoptiert hatte, war sie davon ausgegangen, dass sie gleichzeitig adoptiert worden waren und aus derselben Familie stammten. Dann hätten sie unmöglich Hexen sein können. Denn wenn sie kein Zwilling war, hatte eine Hexe fast nie biologische Schwestern, die ebenfalls Hexen waren. Das war eine unvermeidliche Konsequenz der ganzen Waisensituation.

Aber diese Mädchen waren biologisch eben nicht miteinander verwandt, und außerdem konnte Mika selbst von ihrem Platz aus die unverwechselbaren Goldstaub-Magie-Partikel um sie herum sehen. Die Macht sang zu ihr wie ein Ruf von Gleichem zu Gleichem, und sie musste sich zwingen, still zu verharren, um ihm zu widerstehen.

Ach du meine Güte. Sie waren wirklich …

»Die Älteste ist Rosetta«, unterbrach Jamie den Tumult ihrer Gedanken. Sein Ton war immer noch scharf und misstrauisch. »Sie ist zehn. Lillian hat sie in London gefunden, als sie etwa drei Monate alt war. Ein Feuer hatte ihre Eltern getötet. Die mit dem glatten schwarzen Haar ist Terracotta, acht Jahre alt. Lillian hat sie in einer kleinen vietnamesischen Stadt gefunden, als Terracotta ein Jahr alt war. Ihre Eltern waren an einem Fieber gestorben, das die halbe Stadt ausgelöscht hatte und an dem auch ihre Großmutter litt, die gerade im Sterben lag, als Lillian hinzukam. Die Jüngste, Altamira, ist sieben Jahre alt. Lillian entdeckte sie in den Trümmern eines palästinensischen Krankenhauses, als sie erst ein paar Tage alt war.«

Mika hatte gemischte Gefühle bei dieser ganzen Angelegenheit, nicht zuletzt, weil es sich so sehr nach dem anhörte, was Primrose ihr angetan hatte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um dieses spezielle Gespräch zu führen.

»Das sind ungewöhnliche Namen«, meinte sie.

Die anderen waren ebenfalls an die Flügeltür gekommen, und es war Lucie, die antwortete: »Lillian hat sie alle nach großen archäologischen Entdeckungen benannt.«

»Wenigstens eine von ihnen muss doch schon einen Namen gehabt haben, als Lillian sie fand«, wandte Mika ein. Sie selbst hatte einen gehabt. Sie wusste allerdings nicht mehr, wie er lautete. Nur dass sie nicht mit dem Nachnamen Moon geboren worden war. »Sie sagten, Terracotta war schon ein Jahr alt, als Lillian sie fand.«

»Sie wollte nicht, dass jemand sie aufspüren konnte, angesichts dessen, was sie sind.«

»Wieso sind Sie sich so sicher, dass sie Hexen sind? Nur weil Lillian das gesagt hat?«

Es brauchte ihr jedoch niemand zu antworten, denn während Mika die drei Mädchen in ihrem Baumhaus beobachtete, beobachtete sie, wie die Jüngste zur Strickleiter lief. In dem Moment, als der Fuß des Kindes die erste Sprosse der Leiter berührte, ging diese in hellgrüne Flammen auf.

KAPITEL 3

»Ach du liebe Güte!«, sagte Mika.

»Kein Grund zur Sorge«, meinte Ian unbekümmert. »Das passiert mindestens zweimal am Tag. Dabei ist noch nie jemand zu Schaden gekommen. Nicht einmal die Leiter.«

»Das liegt daran, dass es Hexenfeuer ist!« Mika fluchte, weil sie nicht glauben konnte, dass sich drei kleine Hexen ausgerechnet im verdammten Norfolk versteckten. Und das nicht etwa, weil sie Angst um das Leben der drei kleinen Hexen gehabt hätte. »Hexenfeuer funktioniert nur bei Kesseln. Für alles andere ist es völlig harmlos, obwohl es unendlich lange brennt, wenn man es nicht richtig löscht. Hat Lillian Ihnen das nicht gesagt?«

Ken seufzte. »Ich fürchte, Lillian hat uns sehr wenig gesagt.«

Während sie zusahen, kletterte das Mädchen, unbeeindruckt von den grünen Flammen, die Leiter hinunter, wobei ihr lockerer Zopf bei jeder Sprosse wippte. Unten angekommen, hob sie ein zerfleddertes Stoffkaninchen auf, das am Fuß der hohen Eiche gelegen hatte, und kletterte dann sofort wieder die brennende Leiter hinauf.

»Wir müssen das Feuer immer mit Decken ersticken, um es zu löschen«, fuhr Ian fort, der vor Aufregung zu zittern schien. »Das ist furchtbar umständlich. Sie kennen nicht zufällig eine bessere Methode?«

Da es wenig Sinn hatte, ihr Geheimnis länger zu verbergen, hob Mika eine Hand und schnippte mit den Fingern, als wollte sie ein Blatt aus der Luft reißen. Das Hexenfeuer, das den Ruf einer stärkeren und herrischeren Entität erkannte, gehorchte kleinlaut, löste sich von der Strickleiter und verschwand wie eine Rauchwolke in Mikas geschlossener Hand.

»Großer Gott«, murmelte Lucie.

»Hah!« Ian triumphierte. »Verstehen Sie jetzt, warum wir Sie brauchen?«

»Woher wussten Sie es?«, erkundigte sich Mika. »Nichts in meinen Videos hätte mich verraten sollen.«