Missing Sophie - Eileen Merriman - E-Book
SONDERANGEBOT

Missing Sophie E-Book

Eileen Merriman

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lügen, Liebe und Freundschaft 4 ever, aber trotzdem musst du sterben: "Das letzte Mal als ich Sophie A gesehen habe, küsste sie James Bacon. Sie konnte jeden Jungen dieser Welt haben, aber sie küsste einen Englischlehrer, der acht Jahre älter war als sie." Seit der Grundschule ist Sophie MacKenzie mit Sophie Abercrombie und Sophie Twiggs befreundet. Und auch wenn die drei mittlerweile unterschiedliche Interessen haben, halten sie trotzdem zusammen. Doch plötzlich fehlt von Sophie Abercrombie jede Spur. Das perfekte Trio existiert nicht mehr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

»Als ich Sophie A. zuletzt sah, küsste sie James Bacon. Sie hätte jeden Typen haben können, den sie wollte, aber sie küsste einen Englischlehrer, der acht Jahre älter war als sie.«

 

Drei Mädchen namens Sophie.

Drei Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Sie sind Freundinnen. Ein unzertrennliches Trio.

Sie teilen alles miteinander.

Bis eine von ihnen spurlos verschwindet …

Kann aus Freundschaft Feindschaft werden?

Aus Liebe Hass?

Aus Leidenschaft Schmerz?

 

 

 

 

 

 

 

Für Mum –

dafür, dass sie an mich glaubt

Teil 1

Tag 64

Heute ist der 1. September, der erste Tag im Frühjahr, und es ist jetzt vierundsechzig Tage her, dass ich Sophie Abercrombie zum letzten Mal gesehen habe. Vierundsechzig Tage, dass irgendjemand Sophie Abercrombie gesehen hat.

Die hübscheste Sophie.

Die Sophie, die verschwunden ist.

Es gibt uns nicht mehr, die drei Sophies. Wann musste ich das mit uns das letzte Mal erklären? Vielleicht bei der Polizei. »Sophie Twiggs ist Sophie T., für ihre Freundinnen Twiggy.« Ich weiß noch, wie ich gesagt habe, sie sei die sportliche Sophie, so wie Sporty Spice von einer Girlgroup, die meine Mum in der Highschool gehört hat. Da musste die Beamtin lächeln. »Ich bin Sophie M., Sophie McKenzie, für meine Freundinnen Mac«, fuhr ich fort. Ich sagte nicht, was ich immer denke, wenn ich das sage: dass ich die unscheinbare Sophie bin – nicht besonders hübsch, nicht besonders sportlich, aber intelligenter als die beiden anderen Sophies zusammen. Stimmt ja auch – mich interessieren nur gute Noten, damit ich Medizin studieren und Rechtsmedizinerin werden kann. Etwas anderes wollte ich nie werden.

Die Polizei fragte immer wieder, wann ich Sophie A. zuletzt gesehen hätte, deshalb musste ich sagen, was ich gesehen hatte. Als ich Sophie A. zuletzt sah, küsste sie James Bacon. Sie hätte jeden Typen haben können, den sie wollte, aber sie küsste einen Englischlehrer, der acht Jahre älter war als sie. War. Ist. Hoffentlich ist.

Dank Mr Bacon kenne ich den Unterschied zwischen Vergangenheitsform und Präsens.

Tag 63

Es ist jetzt dreiundsechzig Tage her, dass Sophie A. verschwunden ist, und immer noch ist ihr Bild in allen Zeitungen und im Fernsehen. Leute sehen sie an allen möglichen Orten, wie sie den Piha Beach entlangspaziert oder die Queen Street und sogar die Gold Coast in Australien. Aber jedes Mal, wenn die Polizei einem solchen Hinweis nachgeht, führt das zu nichts.

Ich habe irgendwo gelesen, dass die meisten Verbrechen von Leuten aus der Bekanntschaft des Opfers begangen werden, und vermutlich haben die Bullen deshalb mit Mr Bacon und mit Sophie A.s Stiefvater Dave Williams gesprochen. Ganz zu schweigen von der Hälfte der Schüler aus der dreizehnten Klasse der Eastbrook High, einschließlich meiner Wenigkeit.

Natürlich hat die Polizei auch mit mir und Twiggy gesprochen. Wir sind schließlich Sophie A.s beste Freundinnen. Wir hatten nicht viel zu sagen, außer, dass ich gesehen hatte, wie Sophie A. Mr Bacon küsste, was ich gleich am Anfang gesagt habe. Das mit dem Küssen ist am selben Tag passiert, an dem Sophie A. verschwunden ist.

Aber wer weiß, ob Sophies Verschwinden etwas mit Mr Bacon zu tun hat? Woher sollte ich es wissen? Ich weiß gar nichts. Ich versuche nur, Ruhe zu bewahren und zu lernen. Sophies Verschwinden hat hier alles auf den Kopf gestellt. Ich wünschte, alles wäre wieder normal. Wenn es so weitergeht, setze ich noch die Prüfungen in den Sand und kann nicht studieren.

Ich hoffe, man findet sie lebend, aber es sieht nicht gut aus.

Tag 62

Twiggy hat mich heute von der Schule mit nach Hause genommen, zum ersten Mal seit Wochen. Ich bin gerade durch das Schultor gegangen, da habe ich ihren orangen Mini Cooper draußen parken sehen. Den haben ihre Eltern ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt, noch bevor sie die Führerscheinprüfung bestanden hatte.

Ich habe zum sechzehnten Geburtstag ein neues Paar Schuhe für die Schule bekommen. Twiggy kennt den Unterschied zwischen »etwas benötigen« und »sich etwas wünschen« nicht. Braucht sie auch nicht.

Sie hätte mich wahrscheinlich gar nicht mitgenommen, wenn sie nicht zufällig meinem Blick begegnet wäre. Ich lächelte und winkte. Das Beifahrerfenster ging runter, und Twiggy rief: »Soll ich dich mitnehmen?« Sie hatte ihre lakritzschwarzen Locken wie immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Mund lächelte, aber ihre dunklen Augen nicht.

»Wär super, danke.« Ich zog die Tür zu, und Twiggy reihte sich in den Verkehr ein. »Die Bio-Klausur war schrecklich, oder?«

Twiggy rückte den Rückspiegel zurecht. »Was ist für dich schrecklich? Neunzig Prozent?«

»Sei doch nicht so.« Ich stopfte eine Haarsträhne in meinen Seitenzopf. Letzten Sommer habe ich mir die Haare silberblond gefärbt. Tschüss, graue Maus. Keine Ahnung, warum ich das nicht schon früher getan habe.

»Ich meine ja nur.« Twiggy fuhr durch einen Kreisverkehr, fast ohne langsamer zu werden, und bretterte hangaufwärts. Überall waren Schüler zu zweit und zu dritt in ihren kotzgrünen Schuluniformen unterwegs und lachten und schrien. »Hoffentlich kann ich mit meiner Hausarbeit meine Scheißklausurnoten ausgleichen.«

Ich begann mit einem Zopf auf der anderen Seite. »Wenn du dich genug anstrengst, kannst du das.«

Twiggy sah mich nur kurz an und blickte wieder auf die Straße.

»Wenn ich mich genug anstrenge. Es ist doch nie genug, oder, Mac?«

»Es ist deine Zukunft«, murmelte ich. Im nächsten Moment schnitt mir der Sicherheitsgurt in die Brust. »Gott!«

»Katze«, sagte Twiggy, und wir sahen beide zu, wie ein getigerter Schwanz unter einem Busch verschwand. Twiggy atmete aus und bog rechts ab. Die großen Häuser mit den breiten Einfahrten und den Geländewagen blieben hinter uns zurück, genau wie die Strände und die Mütter mit den Designer-Sportkinderwagen.

Wir fuhren weiter bergauf, und die Häuser wurden kleiner und standen enger zusammen. Unser Bungalow ist zwischen einem Apartmenthaus und, auf der anderen Seite, einer maroden Villa mit ständig wechselnden Mietern eingezwängt.

Twiggy fuhr holpernd auf die Einfahrt und stellte den Motor aus. »Zwei Monate ist es jetzt her.«

»Zwei Monate und einen Tag.« Ich nehme meine Tasche.

»Was auch immer. Die finden sie nicht mehr lebend, oder?« Twiggys Stimme wackelte. Meine Brust war wie zugeschnürt.

»Wenn sie nicht entführt worden ist, nein.«

»Entführt!« Twiggy klang spöttisch. »Wie das klingt.«

»Leck mich doch.« Ich öffnete die Tür, um ihr zu entkommen, aber sie hielt mich am Handgelenk fest.

»Glaubst du wirklich, Mr Bacon hat was damit zu tun?«

»Ich glaube, er hat alles damit zu tun«, sagte ich.

Tag 61

Beim Aufwachen heute Morgen trommelte der Regen aufs Dach, mal lauter, mal leiser, wie mein Puls. Worauf ich mich fragte, wie viele Herzschläge mir noch bleiben. Steht das von Anfang an fest, so wie die Zahl der Menstruationszyklen, die ich je haben werde, bei meiner Geburt feststeht, weil bereits alle meine Eier in den Eierstöcken angelegt sind?

Das haben wir dieses Jahr in Biologie gelernt. Ich fand es ziemlich krass. Ein paar Wochen zuvor war ich bei Family Planning gewesen und hatte mir die Pille verschreiben lassen. Ich wollte verhindern, dass meine Eier ausgestoßen werden.

Ich wüsste gern, was mit diesen Eiern passiert. Sterben sie ab? Oder warten sie, bis ich die Pille nicht mehr nehme, und werden dann ausgestoßen, um sich mit einem Spermium zu vereinen und einen Embryo zu bilden?

Igitt, wie eklig. Ich glaube nicht, dass ich mal Kinder will.

Es klopfte an meiner Tür.

»Sophie, du kommst zu spät.«

»Ich steh gleich auf«, rief ich und vergrub den Kopf unter dem Kopfkissen. Früher ist es mir nie so schwergefallen, morgens aus dem Bett zu kommen. Es liegt nicht daran, dass ich nicht aufwache, es fällt mir einfach schwer, in Bewegung zu kommen, vor allem unter der Woche.

Früher bin ich morgens nach dem Aufstehen Laufen gegangen. Aber seit Juni, als auf einmal die Welt kopfstand, habe ich das nur noch ganz selten getan.

Ich kann kaum erwarten, dass dieses Jahr vorbei ist.

Fünf Minuten später klopfte Mum nicht mehr an, sondern riss die Tür auf.

»Wenn ich dich zur Schule mitnehmen soll, musst du jetzt loslegen. Draußen schüttet es, falls du es noch nicht bemerkt hast.«

Als könnte mir entgangen sein, dass es regnete. Früher habe ich das Trommeln des Regens auf dem Dach geliebt, aber jetzt habe ich dabei das Gefühl, dass ich gleich einen Herzinfarkt kriege.

»Ich wollte ja gerade aufstehen.« Ich schlurfte an ihr vorbei. Mum trug ihre Uniform als Bankkassiererin und hatte ihre zimtbraunen Locken zu einem Knoten gebunden. Manche Leute halten sie für meine ältere Schwester, wahrscheinlich, weil sie mich bekommen hat, als sie so alt war wie ich, siebzehn. Ihre Eltern haben sie verstoßen, weil sie den Exklusiven Brüdern angehören und meine Mutter dort sämtliche Regeln gebrochen hat.

Jetzt ist sie allerdings ziemlich langweilig und arbeitet sich die Seele aus dem Leib, um Miete, Essen und Kleider bezahlen zu können. Langweilig, aber ich hab sie lieb, weil sie alles ist, was ich habe.

Vor allem jetzt.

 

Wir krochen Stoßstange an Stoßstange im Regen die East Coast Road entlang, und da beschloss Mum, dass es Zeit für ein kleines Gespräch war. Ich weiß immer schon im Voraus, wann wir ein kleines Gespräch haben werden, weil sie dann immer dasselbe sagt.

»Schatz, kann ich dich was fragen?«

Stöhn! Die Antwort lautete Nein, aber wenn ich das sagte, fragte sie trotzdem. Also sagte ich: »Klar«, und starrte aus dem Fenster, an dem die Tropfen hinunterliefen.

»Also«, sagte sie, während wir auf unerklärliche Weise mitten auf einem Kreisverkehr zum Stehen kamen, »ich weiß, dass die vergangenen zwei Monate richtig schwer für dich waren.«

»Mmm.« Ein Junge in einer grünen Jacke fuhr auf seinem Fahrrad an uns vorbei. Er trug blaue Kopfhörer und sang zur Musik von wer weiß wem mit. Sah aus wie Peter Schmidt. Der verrückte Deutsche. Aber was ist verrückt? Und was normal?

»Ich finde, wir sollten verreisen«, sagte Mum. »In den Schulferien im Oktober.«

»Was? Wohin?«

»Vielleicht nach Coromandel? Eine Kollegin von der Bank sagte, ihre Familie hätte dort ein Ferienhaus, in dem wir ein paar Tage wohnen könnten.«

»Vielleicht.« Wir waren an der Ampel stehen geblieben. Auf der Spur neben uns stand ein vertrauter schwarzer Ford Falcon mit einem sehr vertrauten Mann mit aschblonden Haaren am Steuer. Scheiße, wie standen die Chancen? Ich wandte den Blick ab und rutschte auf meinem Sitz nach unten. »Ich muss viel lernen.«

Hatte James Bacon mich gesehen? Ich meinte förmlich zu spüren, wie sich sein Blick in mich bohrte.

Ich habe gesehen, wie Mr Bacon Sophie in seinem Wagen küsste.

Dass musste ich ihnen ja sagen.

»Dann nimm doch deine Bücher mit. Aber du musst auch mal raus an die frische Luft. Du kannst nicht die ganze Zeit lernen.«

»Du hast gut reden.«

»Genau deshalb brauchen wir eine Pause.« Die Ampel schaltete auf Grün, und Mum trat aufs Gas. Ächzend setzte das Auto sich in Bewegung. James Bacons Rücklichter verschwanden Gott sei Dank schon um die Ecke.

»Gut«, sagte ich, »dann fahren wir nach Coromandel.« Alles ist besser, als hier herumzuhängen und darauf zu warten, dass die Bullen Sophie A. finden.

Ich frage mich, ob sie sie je finden werden. Und wann sie die Suche nach ihr einstellen.

Einundsechzig Tage kommen mir schon schrecklich lang vor.

Tag 60

Traumtagebuch: Es ist 2.13 Uhr, und ich hatte gerade einen Albtraum. Meerjungfrauen haben mich verfolgt und ihre langen Haare aus Seetang um meine Glieder geschlungen. Ich habe wie wild gestrampelt, aber sie haben mich trotzdem zum Meeresgrund hinuntergezogen und mir dort Steine in die Hände gedrückt und eine Muschel in den Mund. Beim Aufwachen war meine Brust so verspannt, als hätte ich die ganze Zeit die Luft angehalten.

Man kann die Luft nur eine gewisse Zeit anhalten.

Tag 59

Heute war einer der wenigen guten Tage, die ich seit Sophie A.s Verschwinden hatte. Das liegt vermutlich daran, dass ich nicht in die Schule musste, die mir im Moment vorkommt wie ein Wolfsbau mit mir als Lamm.

Nein, es liegt nicht nur daran, dass ich nicht in die Schule musste, sondern auch daran, was ich stattdessen getan habe. Ich glaube, der heutige Tag hat mein Leben zum Guten verändert.

Ich habe am Morgen den Bus in die Stadt genommen, bin zum Krankenhaus gelaufen und habe im Foyer auf die Rechtsmedizinerin gewartet. Sie kam fünf Minuten zu spät zu unserer Verabredung um neun, aber das war okay. Ich saß auf einer Bank im Foyer und habe zugesehen, wie die Leute kommen und gehen.

Menschen zu beobachten hat mich schon immer fasziniert. Es sagt so viel aus, wie jemand sich kleidet, redet und sich bewegt. Ich versuche, mir immer vorzustellen, was die Leute wohl denken. Meistens wahrscheinlich langweiliges Zeug, zum Beispiel was sie zu Mittag essen werden oder was für ein Geschenk sie ihrem Vater zum Geburtstag kaufen wollen. Aber weil das hier ein Krankenhaus war, machten sie sich vielleicht auch Sorgen um kranke Angehörige. Vielleicht bekam einer gerade ein Herz transplantiert, oder er war gestorben.

Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich wirklich die Gedanken all dieser Leute hören könnte. Das wäre ein ziemlicher Lärm. Ich bin froh, dass niemand meine Gedanken hören kann. Ich werde ja oft nicht mal selbst mit ihnen fertig.

»Sophie McKenzie?« Eine zierliche Inderin in figurbetonten schwarzen Hosen und einer magentaroten Bluse blieb vor mir stehen.

»Ja.« Ich sprang auf. »Doctor Symons, ja?«

Sie lächelte und streckte die Hand aus. »Nett, dich kennenzulernen.« Ihre Haut war kühl, und ein schwacher Geruch, den ich nicht einordnen konnte, wehte mich an – vielleicht Formaldehyd?

Cool. Mir kribbelte der Bauch vor Aufregung, während ich ihr durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen zu ihrem Büro folgte.

»Du interessierst dich also dafür, Rechtsmedizinerin zu werden?« Doctor Symons winkte mich zu einem Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch.

»Ja.« Mein Blick wanderte zu den dicken Fachbüchern auf dem Regal hinter ihr und dem Mikroskop auf ihrem Schreibtisch. »Danke, dass ich heute kommen durfte.«

»Kein Problem.« Doctor Symons hatte das perfekte Lächeln. Ich hasse die Lücke zwischen meinen beiden oberen Schneidezähnen, aber Mum meint, sie kann sich unmöglich eine Zahnspange für mich leisten. »Ich dachte, bevor wir ins Labor gehen, stelle ich dir mein Fach erst mal vor, wie ich es bei Medizinstudenten auch tue.« Sie drehte einen Computerbildschirm zu mir. »Unterbrich mich jederzeit, wenn du Fragen hast.«

Die nächste halbe Stunde stand ich wie unter einem Bann. Zuerst erklärte Doctor Symons, es sei Aufgabe der Rechtsmedizin, die Todesursache festzustellen (etwa eine Schusswunde), die Vorgänge, die zum Eintritt des Todes geführt haben (etwa Verbluten), die Todesart (etwa Mord oder eine zufällige Verletzung) und den Todeszeitpunkt. Zur Feststellung des Todeszeitpunkts werden sogar Insekten auf der Leiche untersucht und in welchem Stadium ihres Lebenszyklus sie sich befinden, zum Beispiel die Larven von Schmeißfliegen. Das meiste davon wusste ich schon, aber es war toll, es von einer Expertin zu hören.

Sie erzählte mir von den Stadien der Leichenstarre, wie Blutergüsse sich je nach Alter verfärben und was für Muster Blutspritzer bilden können. Sie hatte auch interessante Bilder. Ich hätte mich ekeln müssen, aber ich war wie elektrisiert wegen all dieser neuen, interessanten Zusammenhänge.

»Hast du noch Fragen?«, fragte Doctor Symons, als sie mit ihren ungefähr sechzig Dias durch war.

Ich sagte: »Ja, machen Sie heute noch eine Obduktion?«

Leider war das nicht geplant. Und selbst wenn es so gewesen wäre, sagte Doctor Symons, dürfe sie Highschool-Schüler nicht in die Leichenhalle mitnehmen. Aber sie nahm mich ins Labor mit und zeigte mir einige bei Obduktionen entnommene Proben. Sie zeigte mir Proben von Leber und Gehirn und wie so was aussieht, wenn es als superdünne Scheibe auf einer Glasplatte unter dem Mikroskop liegt.

Ich fragte, an was die betreffende Person gestorben sei, und Doctor Symons meinte, es handle sich um eine junge Frau, die man tot in ihrer Wohnung gefunden hätte. Sie war vermutlich an einer Herzrhythmusstörung gestorben, weil man keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden oder auf Drogen im Blut gefunden hatte. Ich fand das ziemlich traurig, wenn das Herz plötzlich einfach so stehen bleibt. Dann dachte ich an Sophie A. und konnte auf einmal nicht mehr richtig atmen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Doctor Symons. »Willst du an die frische Luft?«

»Nein, geht schon.« Einerseits hätte ich ihr gern von Sophie A. erzählt, von der sie wahrscheinlich gehört hatte, weil die Medien ja ständig über sie berichteten, andererseits wollte ich an diesem Tag unerkannt bleiben. Ich war mein halbes Leben lang eine von drei Sophies. Heute wollte ich nur einen Tag lang die Sophie ohne M. sein, die einzige Sophie.

 

Dann sagte Doctor Symons, dass sie jetzt noch Berichte schreiben müsse, was aufregend klang, aber sie meinte, es sei nur Bürokram. Ich verbrachte den restlichen Vormittag mit einer Wissenschaftlerin aus dem Labor. Sie hieß Gladys und hatte blaue Haare und eine dazu passende Brille. Sie zeigte mir ein amputiertes Bein, eingelegt in einen weißen, mit Formaldehyd gefüllten Behälter. Es handelte sich ganz offensichtlich um das Bein eines Erwachsenen, weil es länger war als meins, und die Haut war ganz glatt und gräulich-weiß. Ich muss eine seltsame Farbe bekommen haben, denn Gladys meinte, ich solle früh in die Mittagspause.

Ich ging in einem Park in der Nähe unter den knorrigen Ästen von Pohutukawa- und Feigenbäumen spazieren. Als ich das letzte Mal hier war, vor sieben Monaten, hätte ich auf einem Laubhaufen fast meine Jungfräulichkeit verloren.

Ich hatte geglaubt, ich hätte mich verliebt, dabei wusste ich gar nicht, was das ist.

Es war der einzige Tiefpunkt des Tages. Der Gedanke an ihn, meine ich. Damals war es allerdings das Überwältigendste, das mir je widerfahren war. Vielleicht hat die Heimlichtuerei alles ja noch spannender gemacht.

 

Jetzt ist es spät, fast Mitternacht. Ich sitze in meinem Zimmer und schreibe auf, was ich heute alles gelernt habe.

Hier etwas Interessantes: Eine Leiche bleibt oft eine Zeit lang auf dem Meeresgrund liegen, bevor sie aufgrund der Gase, die sich während des Verwesungsprozesses in ihr ansammeln, zur Oberfläche aufsteigt.

Ich frage mich, wem das Bein in dem Behälter heute wohl gehört hat. Ich glaube, was mir zu schaffen gemacht hat, war das Blumen-Tattoo am Knöchel. Es sah nicht aus wie von einer älteren Person.

Tag 58

Heute ist Sonntag. Die Sonntage fand ich in letzter Zeit nicht mehr so schön, weil ich dann nur noch daran denken kann, dass ich am Montag wieder in die Schule muss. Heute habe ich meine übliche Schulangst allerdings nicht, weil morgen mein Berufspraktikumstag im Krankenhaus ist. Ich bin gespannt, ob ich bei einer Obduktion zusehen darf.

Davon abgesehen, bin ich immer noch ziemlich down. Ich vermisse unsere Dreiergruppe, auch wenn ich die meiste Zeit des Jahres nur davon loskommen wollte. Wir haben die Wochenenden immer bei einer von uns zu Hause verbracht, Netflix geguckt, über die Jungs geredet, in die wir verknallt waren, und von der Zukunft geträumt.

 

Sophie A. wollte Modedesignerin werden. Twiggy wollte immer Sportlehrerin werden, aber vergangenen Sommer änderte sie ihre Meinung und wollte Physiotherapeutin werden.

Ich hatte gelacht. »Doch nur deshalb, weil du dich in deinen Physio verliebt hast.«

»Hab ich nicht.« Twiggy schüttete sich Erdnüsse aus einer Tüte in den Mund. Es war die erste Januarwoche, und wir saßen in unseren Bikinis um Twiggys Pool und tranken Lemon, Lime and Bitters. Ich kam mir damals so erwachsen vor.

Ich hatte ja keinen blassen Schimmer.

»Na ja«, sagte ich, »jedenfalls kommt man da nicht so leicht rein. Es ist zwar nicht so wie Medizin, aber es reicht nicht, wenn du in Chemie gerade mal bestehst.«

»Leck mich«, hatte Twiggy in ihrem gelangweilten Ist-mir-doch-egal-Ton gesagt, aber ich merkte am Zucken ihres linken Auges, dass es ihr eben doch nicht egal war. Der Tic ist mir schon aufgefallen, als ich neun war und wir einander in der Grundschule gefunden hatten. Drei Sophies in derselben Klasse, konnte das ein Zufall sein? Nur deshalb haben wir am Anfang gemeinsam Sachen gemacht.

Sophie A. stand auf und streckte die gold gebräunten Arme. »Dann solltest du Twiggy vielleicht in Chemie helfen.« Wassertropfen glitzerten auf ihrem Dekolleté. Ich war eifersüchtig auf ihr Dekolleté, auf ihr D-Körbchen, und hätte jederzeit mein B-Körbchen dafür eingetauscht. Sie wandte sich ab und marschierte nach drinnen.

»Und in Physik.« Twiggy kletterte auf eine pinke Flamingo-Luftmatratze und ließ sich in die Mitte des Pools treiben. »In Physik brauche ich ganz viel Hilfe.«

»Klar.« Ich steckte einen Cheezel in den Mund und sah zu, wie Twiggy sich auf dem Flamingo im Kreis drehte. »Wenn du für deine Hausarbeiten genügend Punkte kriegst, zählen die Prüfungen nicht mehr so viel.«

»Also hilfst du mir?«, fragte Twiggy mich mit zusammengekniffenen Augen. Sie wollte etwas, das ich hatte. Das war neu. Gewöhnlich war es umgekehrt.

Ich schlenderte zum Rand des Pools, setzte mich und ließ die Beine ins Wasser hängen. »Kommt drauf an.«

»Was heißt ›Kommt drauf an‹?«

Ich schwang meine Beine vor und zurück und betrachtete die verschwommenen Umrisse unter dem Wasser. »Ich könnte deine Hausarbeiten für dich schreiben. Gegen Honorar.«

»Honorar?«

»Ja. Bezahlung für meine Dienste.« Ich blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne. »Fünfzig Dollar pro Hausarbeit.«

Twiggy starrte mich entsetzt an. »Auf keinen Fall!« Man hätte denken können, ich hätte sie gefragt, ob sie eine Niere spenden will oder so. Mein Gott, sie bekam fünfzig Dollar Taschengeld die Woche. Das war für sie doch nicht viel Geld.

»Dann eben nicht. Es ist dein Leben.« Meine Haut fühlte sich an, als würde sie brennen, obwohl ich nur eine Viertelstunde in der Sonne gesessen hatte. Ich drückte mich vom Rand ab und ließ mich in den Pool fallen. Als ich mit dem Kopf wieder auftauchte, schwamm der pink Flamingo direkt vor meiner Nase.

»Also gut«, sagte Twiggy. »Aber nur, wenn du eine gute Note bekommst.«

Ich drehte den Kopf, aber von Sophie A. war immer noch nichts zu sehen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich Twiggy an. »Ein Sehr gut würde angesichts deiner bisherigen Leistungen womöglich auffallen. Wie wär’s mit fünfzig Dollar für ein Gut und fünfundzwanzig, wenn ich nur ein Bestanden schaffe – also du?«

Twiggy lag auf dem Bauch und spritzte sich Wasser auf die Wangen.

»Gut«, sagte sie leise. »Abgemacht.«

»Gott, ist mir heiß«, rief eine laute Stimme hinter mir, gefolgt von einem lauten Platschen und einem Kreischen, als Sophie A. Twiggy von dem Flamingo kippte.

Und dann alberten wir lachend herum wie die kleinen Mädchen, die wir früher waren, die drei Sophies – die Hübsche, die Sportliche und die Intelligente.

Wenn ich mein Leben bis fünf Minuten vor dieser Abmachung zurückdrehen könnte, würde ich sagen, dass wir damals das letzte Mal richtige Freundinnen waren, ohne jeden Hintergedanken.

Aber dann kamen die Hintergedanken und schnürten uns immer mehr ein.

Kein Wunder, dass ich keine Luft mehr kriege.

Tag 57

Will hat mir heute Morgen geschrieben und mich gefragt, ob wir am Abend ins Kino gehen wollen. Er hat mich seit Anfang des Jahres ungefähr dreimal zu etwas eingeladen oder viermal, wenn ich Mitchells Party mitzähle. Abgesehen von der Party, die nicht zählt, habe ich immer Nein gesagt. Nicht, dass ich Will nicht mag, aber ich war bis vor Kurzem noch zu sehr mit dem untreuen Mistkerl beschäftigt.

Das letzte Mal, dass Will sich mit mir verabreden wollte, war zwei Monate vor Sophie A.s Verschwinden. Ich hätte vielleicht zugesagt, wenn mir klar gewesen wäre, dass der Mistkerl mich schon damals betrog.

Also dachte ich heute Morgen, warum eigentlich nicht? Ich hatte mich in letzter Zeit irgendwie einsam gefühlt. Twiggy redete seit zwei Monaten kaum noch mit mir, und sonst habe ich keine engen Freundinnen. Früher waren die beiden anderen Sophies das Einzige, was ich brauchte.

Zuerst ging alles gut. Wir sahen den neuesten Marvel-Film, der okay ist, wenn man Chris Hemsworth mag. Ich mochte ihn früher, aber er sieht dem Mistkerl ziemlich ähnlich, oder umgekehrt. Das hat mich irgendwie gestört. Will hat allerdings nicht versucht, meine Hand zu halten oder so was, was gut war. Ich wusste nicht, ob ich dazu schon bereit war.

Als der Film zu Ende war, fragte Will, ob ich noch zum Strand gehen wollte, und ich sagte: »Klar, warum nicht?« Aber das brachte mich dann erst recht aus dem Gleichgewicht. Als wir ankamen, schien der Vollmond über dem Meer, das spiegelglatt war und wie Alufolie glänzte. Der Anblick des Mondes über dem Wasser brachte die ganzen schlimmen Erinnerungen zurück, von denen ich geglaubt hatte, ich hätte sie in dem Bitte-nicht-stören-Fach in meinem Kopf verstaut.

Seit Sophie A.s Verschwinden sind zwei Monate vergangen. Wenn sie noch lebt, dann, denke ich, müsste sie jetzt allmählich auftauchen.

Oder eben nicht.

»Sollen wir den Weg an den Felsen entlanggehen?« Will hielt sein Handy hoch und blendete mich mit dem Licht der Handy-Taschenlampe. Er trug eine Beanie über seinen schwarzen Locken. Wenn mir nicht schon das mit dem Mistkerl passiert wäre, hätte ich ihn vielleicht süß gefunden.

Ich nickte. »Okay.« Ich zog den Reißverschluss meines Anoraks bis zum Kinn hoch und ging los, und er ging neben mir. Unter uns klatschte das Meer gegen die Felsen. Der Wind wehte durch meine Haare. Ich wünschte, ich hätte sie hochgebunden. Überhaupt wünschte ich, ich wäre gar nicht hergekommen.

»Hast du schon deinen Praktikumstag gehabt?« Will leuchtete uns mit seiner Handy-Taschenlampe den Weg. Die Klippen links von uns lagen im Schatten. Dort gab es keine Wellen und keinen Wind.

»Nein. Du?« Ich verschränkte die Arme.

»Ja, letzte Woche. Ich war auf dem Set von Shortland Street. Cool, was?«

»Megacool.« Ich sehe die Serie nicht, aber ich weiß, dass Will Drehbuchautor werden will, also passte das.

»Wirklich. Ich konnte sogar mit Michael Galvin sprechen.« Seine Hände schwangen, anders als meine, an seinen Seiten hin und her, und gelegentlich streiften seine Finger meine Hüfte. Ich wich ihnen nicht aus, vor allem, weil ich nicht ins Wasser fallen wollte. Es war zwar nicht gefährlich, nicht wie an den Stränden der Westküste, aber es wäre um diese Jahreszeit eiskalt gewesen.

»Megacool«, sagte ich noch einmal.

Hypothermie tritt ein, wenn die Körpertemperatur auf unter 35 Grad Celsius fällt.

»Wann hast du denn dein Treffen mit der Rechtsmedizinerin?«, fragte Will.

»Nächste Woche. Ich kann es kaum erwarten.«

»Glaubst du, du kannst bei einer Obduktion dabei sein?«

»Keine Ahnung. Hoffentlich.« Mein Herz begann, schneller zu schlagen. Bei einer Obduktion dabei zu sein wäre krass, aber auch gruselig.

»Genau wie bei CSI.«

»Stimmt.« Das war eine Serie, die ich sah oder wenigstens gesehen hatte, bevor unser Fernseher streikte. »Ich hab mal eine Folge gesehen, wo eine Frau vierzig Minuten lang unter dem Eis eingesperrt war. Ihre Körpertemperatur fiel auf nur 13,7 Grad. Sie war drei Stunden lang klinisch tot. Aber die Ärzte holten sie ins Leben zurück, und sie hatte keinen Hirnschaden, keine bleibenden Folgen. Ist das nicht ein Wunder?«

Will schwenkte den Strahl seiner Taschenlampe hin und her und beleuchtete die Felsen und die glänzenden Wassertümpel links von uns. »Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist.«

»Ich auch nicht. Aber es ist offenbar so, wenn der Körper stark auskühlt, fährt auch der Stoffwechsel komplett runter, und die Hirnzellen sterben nicht so schnell, wie sie es bei normalen Temperaturen tun würden.«

»Verrückt.«

»So verrückte Sachen passieren die ganze Zeit«, sagte ich.

Will zögerte. »Stimmt.« Einen Moment lang glaubte ich, er würde auf Sophie A. zu sprechen kommen, aber das tat er nicht. Der Wind war stärker geworden. Er roch nach Seetang und etwas noch Ekligerem. Fauligem Fisch vielleicht. Ich fröstelte.

»Ist dir kalt?«

»Nein«, sagte ich, obwohl mir schon ein bisschen kalt war. »Mich hat’s nur gerade geschaudert.«

»Das sagt meine Oma auch immer.« Will legte den Arm um meine Taille. Es fühlte sich sonderbar an, aber nicht nur unangenehm.

»Ach so. Ich habe keine Oma.«

»Nein?«

»Natürlich habe ich eine, sonst gäbe es mich ja nicht.« Ich lachte, aber es klang nicht fröhlich. »Ich habe meine Omas nur nie kennengelernt. Die Eltern meiner Mum haben meine Mum verstoßen, als sie mit mir schwanger wurde. Und meinen Vater oder seine Familie kenne ich gar nicht.«

»Hast du Bilder von ihm gesehen?« Wir waren stehen geblieben. Will hatte mich näher zu sich herangezogen, und ich spürte die Wärme seines Körpers. Er roch nach Seife und nach dem Popcorn, das wir uns im Kino geteilt hatten.

»Nein, nie.« Ich wollte Will nicht sagen, dass meine Mum nicht einmal den Nachnamen meines Vaters kannte. Ich sah ihn an. Es fühlte sich gut an, wieder in den Armen gehalten zu werden, so gut, dass ich mich nicht wehrte, als er mich küsste.

Will küsste anders als der Mistkerl. Ich vermute mal, dass jahrelange Erfahrung einen Unterschied macht. Der Gedanke war ärgerlich und deprimierend zugleich. Was, wenn sich nie mehr etwas so gut anfühlt?

»Hey«, sagte Will. Er spürte wahrscheinlich, dass ich nicht bei der Sache war. »Alles klar?«

»Mhm.« Ich schob ihn weg, froh, dass er die Tränen nicht sehen konnte, die mir in die Augen traten. »Ja. Danke für das Kino und den Spaziergang. Aber ich finde, wir sollten lieber nur Freunde bleiben.«

»Ach so«, sagte Will. »Klar.«

Wir gingen den Pfad zurück, viel schneller als auf dem Hinweg, und sprachen auf der siebzehnminütigen Fahrt zu mir nach Hause kaum ein Wort.

»Wir sehen uns dann in der Schule.« Will wartete nicht einmal, bis ich im Haus war, sondern fuhr gleich weg. Ich ging über den rissigen Gartenweg und setzte mich auf die Stufe vor der Haustür. Der Mond beschien meine Haut. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen.

Ich wollte, Will hätte mich nicht geküsst. Alles wäre gut gewesen, wenn er damit zufrieden gewesen wäre, einfach nur mit mir abzuhängen, ein Abend unter Freunden. Freunde konnte ich im Moment gut gebrauchen.

Alles ist so verkorkst. Wenn ich nicht dieses Tagebuch hätte, wäre das Durcheinander in meinem Kopf noch größer.

Ich muss das ordnen, muss meine Erinnerungen auf diesen Seiten festhalten, damit ich sortieren kann, was stimmt und was nicht.

Es ist nicht einfach.

Tag 56

Traumtagebuch: Ich saß auf dem Pausenhof der Grundschule, spürte den Beton warm unter den Schenkeln und weinte. Ein paar Meter entfernt zeigten zwei Mädchen auf mich und lachten.

Sie lachten, weil ich die Neue war und Secondhand-Schuhe trug. Dass die Schuhe gebraucht waren, wussten sie, weil die Schuhe einer von ihnen gehört hatten. Die grün-weiß gestreiften Schnürsenkel waren wohl ziemlich auffällig.

Mum hatte die Schuhe am Vortag im Secondhand-Laden bei uns in der Nähe gekauft. Ich hatte sie bis vor fünf Minuten noch wunderschön gefunden.

Hastig wandte ich mich ab und wartete, bis ich die Mädchen nicht mehr lachen hörte. Dann vergewisserte ich mich mit einem kurzen Blick über die Schulter, dass sie weg waren, trat die Schuhe von den Füßen und stopfte sie in meine Schultasche. In Strümpfen ging ich auf die Mädchentoilette und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht.

»Hallo.«

Ich erstarrte. Das »Hallo« galt doch wohl sicher nicht mir? Und wenn doch, musste ich eine weitere Demütigung über mich ergehen lassen? Ich hatte mir an diesem Vormittag Zöpfe geflochten. Vielleicht war das an dieser Schule ja uncool, oder ich wurde jetzt gehänselt, weil ich in Strümpfen herumlief.

»Hallo«, sagte die Stimme wieder. »Bist du die Neue?«

Neben mir stand ein zierliches Mädchen mit weißblonden Haaren und himmelblauen Augen.

»Ja«, sagte ich, und das Mädchen lächelte.

»Ich bin Sophie.« Sie zeigte mit einer Handbewegung auf das Mädchen hinter ihr, das größer war als wir beide und einen schwarzen Pferdeschwanz hatte. »Das ist auch eine Sophie. Ich bin Sophie A. und das ist Sophie T., aber alle nennen sie nur Twiggy.«

»Ich bin auch eine Sophie«, sagte ich. »Sophie McKenzie.«

»Also Sophie M.«, sagte das blonde Mädchen, Sophie A. »Eh, das ist ja cool. Bist du auch neun?«

»Mhm.« Zum ersten Mal an diesem Tag wagte ich ein Lächeln und die beiden anderen Sophies lächelten zurück.

»Dann sollten wir uns zusammentun«, sagte Twiggy. Die Glocke zum Ende der Mittagspause läutete.

Meine neu gefundenen Freundinnen brachten mich zu meinem Klassenzimmer und sahen meine neue Lehrerin strahlend an, und meine Lehrerin, eine rundliche Frau, strahlte zurück. »Ihr seid ja ein richtiges Trio.«

»Dann bis nach der Schule«, sagte Twiggy.

»Bis dann«, sagte ich. Aber als ich Sophie A. ansah, war ihr Gesicht auf einmal ganz verschwommen. Je mehr ich zwinkerte, desto verschwommener wurde es. Twiggy kicherte und überquerte Rad schlagend den Schulhof, als hätte sie gar nicht bemerkt, wie Sophie A. sich vor uns auflöste.

»Wann hast du Sophie A. zuletzt gesehen?«, fragte meine Lehrerin. Sie sah nicht mehr wie eine Lehrerin aus, nicht mit der blauen Uniform und der blauen Mütze.

»Sie hat gerade Mr Bacon geküsst«, stotterte ich. »Mehr weiß ich nicht.« Als ich auf meine Füße hinuntersah, trug ich wieder die Secondhand-Schuhe, und die gestreiften Schnürsenkel wanden sich wie Schlangen.

Schweißnass und mit klopfendem Herzen wachte ich auf. Meine Traumerinnerungen machen mir Angst. Und zwar deshalb, weil ich nicht weiß, was als Nächstes hochkommt.

Wenn ich mich an nichts erinnere und auch sonst niemand etwas weiß, heißt das vielleicht, dass es nicht passiert ist?



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.