Mission Manifest -  - E-Book

Mission Manifest E-Book

4,5

Beschreibung

Kirche in Deutschland ist oft erstarrt, Glaube immer weniger lebendig. Immer klarer wird: Deutschland, Österreich und die Schweiz sind 'Missionsländer' geworden. Mit zehn Thesen zeigt dieses Buch, was sich in der Kirche ändern muss und wie das geht. Es ist eine mitreißende Forderung, dass Mission wieder die höchste Priorität hat. Und sie ist eine Einladung an alle, die sich nicht damit abfinden wollen, dass der Glaube verdunstet – der eigene Glaube und der der Welt. Die Initiatoren Johannes Hartl, Bernhard Meuser und Karl Wallner haben selbst zur Feder gegriffen, oder sie haben engagierte Vertreter der Erneuerungsbewegungen gebeten, die Präambel und die zehn Thesen von Mission Manifest zu erläutern. Dazu Stellung genommen haben Michael Prüller, Markus Wittal, P. Karl Wallner OCist, Sophia Kuby, Maxi Oettingen, Marie-Sophie Maasburg, Martin Iten, Katharina Fassler-Maloney und P. Hans Buob Sac. Die Autoren und Initiatoren des Mission Manifest leben und arbeiten seit Jahren im Herzen kirchlicher Aufbrüche; sie verbindet die Sehnsucht, dass die Kirche sich nachhaltig verändert, damit sie bleibt, was sie von Jesus her ist. Sie sind sich sicher: Das, was die Kirche jetzt braucht, ist das, was ihr immer schon aus verhängnisvollen Verstrickungen heraushalf: Bekehrung, Gebet, Mut für ungewöhnliche Lösungen, unbefangenes, gewinnendes Zugehen auf Nichtchristen, eine Neuorientierung anhand der Heiligen Schrift, aber vor allem die Hinwendung zu Gott – und zwar in realem Vertrauen, dass ER die versiegten "Bäche im Südland" (Ps 126,4) wieder füllen kann und füllen wird, wenn er angerufen wird. Zwei bis dato ziemlich nachrangige Begriffe – davon sind sie überzeugt – werden für die Zukunft der Kirche immer wichtiger werden: die Begriffe "Jünger" und "Mission". Eine Kirche ohne Nachfolger Jesu (= Jünger) ist ein Unding, ebenso wie es ein Unding ist, wenn die Kirche ihre "Mission" nicht mehr kennt, oder noch direkter formuliert: ihren Daseinszweck verloren hat.

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
 
Als deutsche Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutschsprachige Ausgabe
AΩ DIE BIBEL
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
 
Umschlaggestaltung und -motiv: elfgen pick gmbh & co. kg
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-451-38147-8
ISBN E-Book 978-3-451-81304-7

Inhalt

Eine Präambel und zehn Thesen
Einleitung
Was wir wollen, und was passiert, wenn mehr und mehr Leute mitmachen …
Michael Prüller
Präambel
Markus Wittal
1. Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehren.
Pater Karl Wallner OCist
2. Wir wollen, dass Mission Priorität Nummer eins wird.
Sophia Kuby
3. Wir glauben, dass die Chancen nie größer waren als jetzt.
Maximilian Oettingen
4. Wir sprechen alle Menschen in unseren Ländern an und machen keinen Unterschied …
Marie-Sophie Maasburg
5. Wir glauben, dass unsere Mission so kraftvoll sein wird, wie es unsere Gebete sind.
Johannes Hartl
6. Wir danken allen Christen außerhalb der katholischen Kirche, die heute schon mit Hingabe missionieren, taufen und Menschen zu Jesus führen.
Bernhard Meuser
7. Wir müssen die Inhalte des Glaubens neu entdecken …
Martin Iten
8. Wir wollen missionieren, nicht indoktrinieren.
Katharina Fassler
9. Wir brauchen eine »Demokratisierung« von Mission.
Pater Hans Buob SAC
10. Wir müssen uns selbst zur Freude des Evangeliums bekehren, um andere zu Jesus führen zu können.
Über die Autoren

* M I S S I O N M A N I F E S T *

Ich bin bereit für Mission.

Mein Name ist _______________ .

Ich bin _______________ Jahre alt.

Ich will, dass mein Land zu Jesus findet.

Ich verpflichte mich für den Zeitraum von einem Jahr,

eine bestimmte Aufgabe1 zu übernehmen.

Datum, Unterschrift

1 Die Aufgaben sind zu finden auf www.missionmanifest.online

Eine Präambel und zehn Thesen

P R Ä A M B E L

Nach menschlichem Ermessen wird die Kirche in Deutschland, Österreich und der Schweiz in wenigen Jahren kaum mehr eine gesellschaftlich wahrnehmbare Rolle spielen. Das ist weniger schade um die Kirche als schlimm für die Menschen, die Gott verlieren oder Jesus nie kennenlernen. Wir sind katholische Christen in Österreich, Deutschland und der Schweiz, die unter der »Erosion des Glaubens«, von der Papst Franziskus spricht, leiden. Wir wissen: Unsere Heimatländer sind Missionsländer geworden. Wir sind bereit für Mission. Wir wünschen, dass unsere Länder zu Jesus finden. Wir laden alle ein, die sich verbindlich mit uns hineinbegeben wollen in eine Welle des Gebets. Wir möchten diejenigen zusammenführen, die den Mut zu ungewöhnlichen Schritten haben. »Das Gebot der Stunde«, sagt auch Papst Franziskus, »ist die pastorale Neuausrichtung, also dafür zu sorgen, dass die Strukturen der Kirche alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ›Aufbruchs‹ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet«. Viele Bischöfe sind diesem Aufruf gefolgt und haben ihn sogar noch verstärkt. Unsere Initiative von unten möchte sie unterstützen. 

These 1

Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu ­Jesus Christus bekehren. Es ist nicht mehr genug, katholisch sozialisiert zu sein. Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben. Sie ist ja weniger eine Institution oder Kulturform als eine Gemeinschaft mit Jesus in der Mitte. Wer Jesus Christus als seinem persönlichen Herrn nachfolgt, wird andere für eine leidenschaftliche Nachfolge Jesu entzünden.

These 2

Wir wollen, dass Mission zur Priorität Nummer eins wird. Und zwar durch eine Fokussierung der finanziellen und personellen Ressourcen der Kirche auf die Evangelisierung. »Die Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch!« Der finale Auftrag Jesu an seine Freunde lautet: »Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern« (Mt 28,19). Eine Kirche, die nicht freudig und überzeugend auf alle zugeht, hat keine Mission; sie verliert ihr Warum und Wozu. Sie steht für nichts. Und sie schrumpft, statt zu wachsen. Für unsere Länder heißt das: »The church will send or the church will end.«

These 3

Wir glauben, dass die Chancen nie größer waren als jetzt. Das Defizit an privater und gemeinsamer Hoffnung in der Welt wird von Tag zu Tag größer. Viele suchen und geben sich mit kleinen Antworten zufrieden. Dabei ist die denkbar größte Hoffnung bereits in der Welt. Das Evangelium hat nichts von seiner Attraktivität verloren. Wir Christen sind dazu da, diese Hoffnung zu teilen, statt sie für uns zu behalten. Wo das geschieht, wird es für Menschen unserer Zeit verlockend, Christ zu sein. Weltweit nehmen 200 Millionen Christen sogar Verfolgungen in Kauf, weil sie von Jesus, ihrer einzigen Hoffnung, nicht lassen können.  

These 4

Wir sprechen alle Menschen in unseren Ländern an und machen keinen Unterschied (wie Jesus keinen Unterschied gemacht hat). Wir gehen auf Christen, Nichtchristen, Andersgläubige und Menschen, die nicht mehr glauben, zu. Es gibt keinen Menschen, für den Jesus nicht gestorben ist und der Jesus nicht kennenlernen sollte. Gott ist »die Liebe« (1 Joh 4,16) und will, »dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.« (1 Tim 2,4) Das wollen wir auch.

These 5

Wir glauben, dass unsere Mission so kraftvoll sein wird, wie es unsere Gebete sind. Ein missionarischer Neuaufbruch kann nicht anders beginnen als mit einem Neuaufbruch in Fasten und Gebet. Gott, der alle Menschen leidenschaftlich liebt, hat gehandelt und wird auch jetzt handeln, wenn wir ihn persönlich und rückhaltlos anrufen. Es werden Wunder geschehen. Gott wird den Menschen über den Weg laufen – und sei es in Träumen und inneren Eingebungen. »Haben wir keine Scheu, Gott selbst um die schwierigsten Dinge zu bitten (wie die Bekehrung großer Sünder oder ganzer Völker.« (Charles de Foucauld)

These 6

Wir danken allen Christen außerhalb der katholischen Kirche, die heute schon mit Hingabe missionieren, ­taufen und Menschen zu Jesus führen. Wir Christen in der katholischen Kirche sehen ihre Treue zur Heiligen Schrift und ihre entschiedene Nähe zu Jesus. Wir haben Wertschätzung für die positiven Impulse der Reformation. Wir wollen demütig lernen – auch und gerade von den Freikirchen – und mit allen unseren Geschwistern in der Ökumene kooperieren, um selbst missionarischer zu werden. Wir wissen, dass die Welt nur zu Christus findet, wenn wir die Einheit wiederfinden und sie in Gebet und Mission schon heute einüben (vgl. Joh 17,21).

These 7

Wir müssen die Inhalte des Glaubens neu entdecken und sie klar und mutig verkündigen, sei es nun »gelegen oder ungelegen«. (2 Tim 4,2) Wir haben sie durch Gottes Offenbarung empfangen, finden sie gefasst im Urdokument der Heiligen Schrift und lebendig überliefert im Verstehen der Kirche, wie es der Katechismus lehrt. Die Geheimnisse des Glaubens müssen vollständig, ganzheitlich, in rationaler Klarheit und in der Freude der Erlösten verkündigt werden. Sie müssen leuchten. Wer anderen Menschen den Glauben verkünden will, darf nicht dilettieren; er muss zuerst an sich arbeiten – an seinem Leben, an seiner Liebe und an seinem Wissen. Der missionarische Aufbruch erfordert eine neue Lernbewegung des Glaubens, denn wir haben verlernt, was es heißt, missionarisch zu sein.

These 8

Wir wollen missionieren, nicht indoktrinieren. Die Mission Jesu zu überbringen, hat stets den Charakter einer Einladung; Mission ist die Sehnsucht, die eigene Freude mit anderen zu teilen; ein freies, respektvolles Angebot an freie Menschen. Mission bedeutet, den Menschen die Füße zu waschen, nicht den Kopf. Sie überredet nicht, übt keinen Druck aus und ist mit Zwang oder Gewalt unvereinbar. Christen sind nicht nur tolerant gegenüber Andersdenkenden – sie engagieren sich sogar aktiv für Religionsfreiheit. Den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens vertreten wir ohne jede Aggression. Wir können unmöglich schweigen von der Hoffnung, die uns erfüllt. (1 Petr 3,15)

These 9

Wir brauchen eine »Demokratisierung« von Mission. Nirgendwo steht, dass die Mission, die Jesus uns gegeben hat, sich auf Spezialisten, professionelle Verkündiger, Theologen, Kleriker oder Mitglieder von Ordensgemeinschaften beschränkt. Missionarisch zu sein, ist der Auftrag Christi an alle Getauften. Mission beschränkt sich auch nicht auf bestimmte (»nichtchristliche«) Länder, Kulturen und/oder Religionen. Mission ist ist jederzeit und überall. Sie ist die große, oft vergessene Querschnittsaufgabe aller Christen in allen Ländern und Kulturen.

These 10

Wir müssen uns selbst zur Freude des Evangeliums bekehren, um andere zu Jesus führen zu können. Wo wir uns im Denken, Handeln und Fühlen einem allgemeinen humanistischen Mainstream angepasst haben, müssen wir entschiedene Anstrengungen unternehmen, um uns, wie Papst Benedikt XVI. sagt, »von der Weltlichkeit der Welt zu lösen.« Nur als geisterfüllte »neue Menschen« haben wir missionarisches Profil. Wir sollten allerdings damit rechnen, dass der ersehnte Aufbruch im Glauben nicht immer nur eine Erfolgsgeschichte sein wird. Doch im treuen und freudigen Zeugnis für Jesus erstrahlt auch aus Leiden und Widerständen eine Schönheit, die früher oder später fruchtbar wird.

Einleitung

Was wir wollen, und was passiert, wenn mehr und mehr Leute mitmachen …

Weil ihnen dasselbe Thema im Herzen brannte, trafen sich im Juni 2017 sechs Personen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Augsburger Gebetshaus. Sie wollten über den Weg der Kirche in ihren Ländern nachdenken: Martin Iten aus Zug in der Schweiz, Johannes Hartl und Bernhard Meuser aus Augsburg, Paul Metzlaff aus Düsseldorf, Benedikt Michal und Pater Karl Wallner OCist aus Wien. Alle waren sich einig: Die Kirche ist an dem Punkt angelangt, an dem es ans Eingemachte geht. Die traditionellen Instrumente der Pastoral greifen nicht mehr. Konventionelle Wege der Weitergabe des Glaubens sind weithin verschüttet. Dennoch herrschte in der Gruppe weder Alarmismus noch Depression. Man beklagte nicht lange die Abbrüche und verkarsteten kirchlichen Landschaften, sondern dachte mutig nach vorne. Es gibt in den Ortskirchen von Deutschland, Österreich und der Schweiz genug starke, teilweise sogar atemberaubende Neuaufbrüche, als dass man die Kirche hierzulande abschreiben müsste. Die Entwicklung ist freilich asynchron: Wir sind im Guten wie im Schlechten weiter als vor ­zwanzig Jahren.

 

Einig waren sich alle, dass es im Hinblick auf den ­missionarischen Aufbruch keinen Sinn hat, mit dem Finger auf andere zu zeigen, etwa auf Bischöfe, Priester, Religionslehrer, Hauptamtliche in den Gemeinden. Der berühmte Satz »Die sollen endlich mal was tun!« ist eine unzulässige Delegation. Die Weitergabe des Glaubens ist die Sache aller Getauften und Gefirmten, mehr noch: Sie ist die Nagelprobe des Glaubens. Sich angstvoll aus der Verantwortung zu stehlen, setzt uns der Frage Jesu aus: »Habt ihr noch keinen Glauben?« (Mk 4,40) Einig waren sie sich auch, dass das Heil nicht in Plakatkampagnen und TV-Spots, der Organisationsentwicklung, Strukturmaßnahmen und einer weiteren Bürokratisierung der Kirche liegen würde. Selbst die Schaffung tausender von Planstellen würde die Kirche nicht retten. Das, was die Kirche jetzt brauche, sei das, was ihr immer schon aus verhängnisvollen Verstrickungen heraushalf: Bekehrung, Gebet, Mut für ungewöhnliche Lösungen, unbefangenes, gewinnendes Zugehen auf Nichtchristen, eine Neuorientierung anhand der Heiligen Schrift, aber vor allem die Hinwendung zu Gott – und zwar in realem Vertrauen, dass ER die versiegten »Bäche im Südland« (Ps 126,4) wieder füllen kann und füllen wird, wenn er angerufen wird.

Der Abschied vom Glauben ist kein Naturgesetz. Selbst unter den Bedingungen einer epidemisch gewordenen Säkularisierung ist Christsein in Gemeinschaft möglich und sogar mit Wachstum gesegnet. Das ist nicht nur die Erfahrung der Freikirchen, die gerade überall zahlreich gegründet werden, sondern das ist auch die Erfahrung von Erneuerungsbewegungen, Gemeinschaften und nicht zuletzt auch von Reformgemeinden in der Katholischen Kirche. Gemeint sind damit jene Pfarren und Gemeinden, die (seit kurzem oder vor Jahren schon) ausgebrochen sind aus der schieren Bedienung volkskirchlicher Erwartungshaltungen, Pfarreien, die sich miteinander auf Pilgerschaft machten, lebendige Zellen gründeten oder eine Form der Anbetung einrichteten. Diese Gemeinden sind anziehend, weil sie »spirit« haben und weil sie den Kern ihres inneren Umbaus identifiziert haben. Kurz gesagt: Es ist mehr Glut unter der Decke einer scheinbar altgewordenen Kirche, als viele glauben. Bei Initiativen wie »Pastoralinnovation«, wo systematisch die Erfahrungen wachsender Gemeinden erforscht und für den deutschsprachigen Raum verfügbar gemacht werden, können Gemeinden lernen, wie Menschen aller Milieus neu für die Botschaft Jesu begeistert werden. Anders als noch vor einigen Jahrzehnten sind wir beschenkt mit einer wachsenden Zahl von geisterfüllten Orten und Personen mit innovativen Ideen. Man steigt ins Auto und fährt ein paar Kilometer, um an einem Gebetsabend teilzunehmen und trifft junge und ältere Leute, die Formen der persönlichen Hingabe an Gott in ihrem Alltag realisieren, weil sie in ihrem Leben einen »Kick« bekommen haben. Die Zahl der Gläubigen wächst, die weniger aufgrund kirchlicher Routine, sondern aufgrund authentischer Gotteserfahrung »da« sind, sei es, dass ihre persönliche Neuorientierung in der Stille von Taizé gewachsen ist, bei einem Alphakurs, einem Pfingsttreffen, auf einem Sommercamp, einer Jugendwallfahrt, beim Lobpreis in einem Gebetshaus, in einer Katechese auf einem Prayerfestival, bei Nightfever oder auf einer Fahrt zu einem der Weltjugendtage, oder, oder, oder …

Diejenigen, die neu zu Gott gefunden haben, sind nicht automatisch im Alltag der Gemeinden wiederzufinden, sei es, weil die Erfahrung mit Gott doch nur ein Strohfeuer war oder sei es, weil sie in den Gemeinden das Feuer und die Liebe nicht finden, von der sie sich entzündet wissen. Gemeinden sollten das als positive Provokation begreifen. Denn da hat Bert Brecht recht: »Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹ – ›Oh!‹ sagte Herr K. und erbleichte.«

Viele Pfarrgemeinden wissen bereits, dass ein »Weiter so!« nirgendwo hinführt. Sie ahnen, dass wir vor einem historischen Einschnitt stehen, der uns mindestens genauso stark provoziert und herausfordert wie die Christen vor 500 Jahren die Umbrüche der Reformationszeit. Das dekorative Christentum, das es vielerorts noch gibt und das Menschen nur am Rand zu berühren vermag, zerbröckelt wie alter Gips. Ohne Re-Formation, ohne die Bereitschaft, sich vom Evangelium her tiefgreifend verändern zu lassen, wird es für die Kirche kaum Zukunft geben. Sie wird abgelegt werden wie ein aus der Mode gekommenes Kleidungstück.

Wir müssen jedoch keine Angst haben vor dem Neuen. Uns sollte höchstens unwohl werden bei der Vorstellung, in der Kirche müsste alles genau so bleiben, wie es in den alten Staatsverträgen, Dienstordnungen, Pastoralplänen, Sitzungsprotokollen, Öffnungszeiten und Arbeitsverträgen geregelt ist. Die Rückbesinnung auf das Evangelium bringt die große Linie zurück und macht locker: »Kirche« ist möglich ohne Konkordate, Fakultäten und Kathedralen, ja fast ohne all das, was sie heute in den Augen der Zeitgenossen ausmacht. Doch sie ist nicht möglich ohne das Feuer des Heiligen Geistes, ohne die Gegenwart des Auferstandenen, ohne Jünger, die seine Stimme hören; ohne die Spendung der Sakramente, ohne vollmächtige Verkündigung, ohne das lebensschaffende Wort Gottes, ohne selbstlosen Dienst am Nächsten und ein paar weitere, zentrale Momente, die in jeder armen Hütte am Rand der Stadt zu realisieren sind. Der gewaltige, in zwei Jahrtausenden angewachsene Rest ist »nice to have«. Es sind Elemente, die historisch gewachsen sind, die in anderen Zeiten aber auch zu einer Bau- und Lebenslast werden können und das eigentlich Christliche verstellen.

Zwei bis dato ziemlich nachrangige Begriffe – davon sind wir überzeugt – werden für die Zukunft der Kirche immer wichtiger werden: die Begriffe »Jünger« und »Mission«. Eine Kirche ohne Nachfolger Jesu (= Jünger) ist eine Unding, ebenso wie es ein Unding ist, wenn die Kirche ihre »Mission« nicht mehr kennt, oder noch direkter formuliert: ihren Daseinszweck verloren hat.

Unternehmensberater empfehlen kriselnden Klienten zunächst, ihre Kräfte zu bündeln, ihre Mitarbeiter zu motivieren, ihr Produkt zu überdenken und ihre Stärken zu stärken. Genau deshalb haben die sechs Initiatoren in community writing das Mission Manifest verfasst. Es soll die Kräfte sammeln, die an eine Kirche mit missionarischer Ausstrahlung glauben und heute schon ideenreich an der Weitergabe des Glaubens, also an einer jungen, wachsenden Kirche arbeiten. Noch leben die, denen die Lust an Gott und die Lust an der Kirche auch in schwierigeren Zeiten nicht vergangen ist, häufig in der »Atomisierung«; sie wirken da und dort, manchmal auch isoliert in Gemeinden und Gemeinschaften, wo man noch nicht versteht, dass eine andere Zeit gekommen ist. Das muss so nicht bleiben. Mission Manifest will diese Leute ermutigen, zusammenführen und vernetzen. Es ist Zeit, dass man den Scheinwerfer auf die Initiativen richtet, in denen die Kirche »aus sich herausgeht« (Papst Franziskus). Es ist gut, sie ans Licht zu heben und ihnen engagierte Helfer und Gleichgesinnte zuzuführen.

Vor Ihnen liegt »das Buch« zum Mission Manifest. Die Initiatoren haben selbst zur Feder gegriffen, oder sie haben engagierte Vertreter der Erneuerungsbewegungen gebeten, die Präambel und die zehn Thesen von Mission Manifest zu erläutern. Herausgekommen ist nichts, was den Anspruch einer systematischen Programmschrift erheben dürfte; wohl aber findet der Leser ein vielstimmiges, sich häufig überschneidendes Bild bestimmter kollektiver Gewissheiten, wie sie in der spirituellen »Schwarmintelligenz« der Reformbewegungen seit dem Konzil gewachsen sind. Autoren und Initiatoren leben und arbeiten seit Jahren im Herzen kirchlicher Aufbrüche; sie verbindet die Sehnsucht, dass die Kirche sich nachhaltig verändert, damit sie bleibt, was sie von Jesus her ist.

 

Wie kann man sich im Rahmen von Mission Manifest engagieren?

Praktisch geht es über zwei »Klicks«:

 

• DER ERSTE KLICK. Einzelpersonen, aber auch Gruppen, Gemeinden und Gemeinschaften können zunächst das Mission Manifest unterschreiben. Das geht online: www.missionmanifest.online.

 

• Wer unterschreibt, wird auf eine zweite Seite von www.missionmanifest.online geleitet. Dort findet sich eine Vielzahl von missionarischen Aktivitäten2 – all die Aktivitäten, die Gruppen, Gemeinschaften und Gemeinden schon eingestellt haben oder nach und nach auf dieser Seite einstellen. Jeder, der etwas veranstaltet, das der Weitergabe des Glaubens dient oder Gläubige dazu ermutigt, andere für Jesus und die Kirche zu gewinnen, kann sein Angebot auf diese Seite stellen.

 

• DER ZWEITE KLICK. Wer unterschreibt, verpflichtet sich, bei einer Initiative mitzumachen oder selbst eine solche zu starten und sich mit mindestens einer anderen Person zusammenzutun.

 

Sehr wichtig: Geh nicht allein! Suche den/die anderen bei der Weitergabe des Glaubens! Den Freund, den Partner, die Gruppe, jemand, der brennt wie du. Jemand, den du anzündest. Man kann das »Tandemprinzip«3 nennen. Gemeint ist: Jesus beruft die Jünger einzeln, aber er sendet sie zu zweit. Zu zweit ermüdet man nicht so schnell. Zu zweit kommt Verbindlichkeit in gute Absichten. Zu zweit ist man kreativer. Zu zweit liefert man das bessere Zeugnis ab.

 

Johannes Hartl, Bernhard Meuser, Karl Wallner

 
 
 

2 Wer noch weitere Ideen für Initiativen sucht, findet hervorragende praktische Anregungen im Standardwerk von Otto Neubauer: »Mission Possible Handbuch für die neue Evangelisation«, Freiburg, 2018. Otto Neubauer, ein Laie, war der große Anreger und (zusammen mit seinem Team) praktische Organisator für die Schule machende Wiener Stadtmission. Papst Benedikt XVI. ließ sich von ihm zu Mission und Neuevangelisierung vortragen.

3 siehe www.missionmanifest.online/tandem

Michael Prüller

Präambel

Nach menschlichem Ermessen wird die Kirche in Deutschland, Österreich und der Schweiz in wenigen Jahren kaum mehr eine gesellschaftlich wahrnehmbare Rolle spielen. Das ist weniger schade um die Kirche als schlimm für die Menschen, die Gott verlieren oder Jesus nie kennenlernen. Wir sind katholische Christen in Österreich, Deutschland und der Schweiz, die unter der »Erosion des Glaubens«, von der Papst Franziskus spricht, leiden. Wir wissen: Unsere Heimatländer sind Missionsländer geworden. Wir sind bereit für Mission. Wir wünschen, dass unsere Länder zu Jesus finden. Wir laden alle ein, die sich verbindlich mit uns hineinbegeben wollen in eine Welle des Gebets. Wir möchten diejenigen zusammenführen, die den Mut zu ungewöhnlichen Schritten haben. »Das Gebot der Stunde«, sagt auch Papst Franziskus, »ist die pastorale Neuausrichtung, also dafür zu sorgen, dass die Strukturen der Kirche alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ›Aufbruchs‹ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet«. Viele Bischöfe sind diesem Aufruf gefolgt und haben ihn sogar noch verstärkt. Unsere Initiative von unten möchte sie unterstützen

1. Wüste. Blüten. Wüste.

In der Erzdiözese Wien, für die ich arbeite, hat sich im vergangenen Jahr die Zahl der Erwachsenen, die sich auf ihre Taufe vorbereiten, verdreifacht. Das hat viel Interesse bei den Medien hervorgerufen, und wir konnten eine Reihe von Interviews organisieren. Journalisten stellten Fragen wie: »Was hat Sie am Christentum so beeindruckt, dass Sie sich dafür entschieden haben?« Oder: »Was erwarten Sie sich von der katholischen Kirche?« Die Interviewten sind häufig jung; sie schauen manchmal etwas konsterniert, als ob sie mit Fragen dieser Art wenig anfangen können. Sie sprechen lieber über Jesus Christus. Wie sie ihn kennengelernt haben. Wie er für sie Alles geworden ist. Gelegentlich sind es Migranten, und sie erzählen, wie sie unter Lebensgefahr zuhause begonnen haben, in der Bibel zu lesen und dabei immer stärker seine Gegenwart gespürt haben. Wie sie in ihrem Glauben ein Glück erfahren haben, einer Hoffnung begegnet sind, wie sie sie nicht gekannt haben. Und wie sehr sie sich danach sehnen, durch die Taufe ganz zu Christus zu gehören. Den Journalisten ist das manchmal fast peinlich. Irgendwie wäre es ihnen lieber, ihre Interviewpartner würden über etwas Greifbares reden. Über christliche Werte zum Beispiel. Über die Mitmenschlichkeit in einem tollen Pfarrcafé. Aber nicht über Sachen, die man nicht ganz ernst nehmen kann. Denn nähme man das ernst, könnte man ja nicht weiterleben wie bisher! Im Grunde geht es vielen von uns, den von Schnullerzeiten an kirchlich sozialisierten Menschen, nicht viel anders als diesen Journalisten. Wir können uns kaum mehr vorstellen, welche Freude es ist, als erwachsener Mensch Christus zu entdecken.

2. Manchmal sind es nur ein Bild oder ein Film.

Die Erwachsenen, die um die Taufe bitten, fragen wir immer, ob sie uns nicht ihren Weg in den Glauben schildern könnten. Häufig hat man den Eindruck: Es sind nicht die Menschen, die nach Gott suchen, sondern es ist Gott, der sich einen Weg zu den Menschen bahnt. Oft überraschend, manchmal in kleinen Schritten, manchmal mit Wucht, manchmal über lange Zeiträume hinweg.

Ein paar Geschichten – sie sind nicht erfunden: Eine Frau setzte sich in eine Kirche, weil sie mit ihrem Liebeskummer nicht fertig wurde – und fing dort an zu glauben. Manchen schließt die vielstimmige Kirchenmusik auf eine Weise das Herz auf, dass sie gar nicht anders können, als Christus hineinzulassen. Jemand bekam von einer Fremden im Park eine Bibel geschenkt. Ein anderer ging seiner Frau zuliebe in die Kirche und erlebte, wie er Gott den kleinen Finger reichte und der ihn gleich fest umarmte. Eine Mutter lernte durch die Erstkommunionvorbereitung der Tochter dieses fremde Wesen namens »Gott« kennen. Ein anderer Täufling geriet aus ganz pragmatischen Gründen in eine christliche Gemeinschaft, war überrascht vom Vertrauen, der Zuneigung, der Offenheit und der Liebe der Gastgeber – und begann sich dafür zu interessieren, woher das kommt. Manchmal ist der Auslöser nur ein Kruzifix, manchmal nur ein Bild oder ein Film … Jemand war Gast in einer Familie, in der gebetet wurde. Wieder jemand anderes wurde bei einer Straßenmission angesprochen. Anderen erschien Christus sogar im Traum und offenbarte sich ihnen als der Erlöser.

Wenn sich mancher auch die Augen reibt: Es gibt eine in der Stille wachsende Kirche. Und überall, wo sie das tut, begegnet man Schicksalen, die man nicht wieder vergisst. Der Sohn einer der berüchtigsten Bankräuber- und Drogenschmugglerfamilien Londons bekehrte sich  – im Gefängnis – und bekehrt nun andere. Eine Ärztin, die früher Schwangerschaftsabbrüche durchführte, betreut jetzt Straßenkinder. Und das sind nur die spektakulären Fälle. Es sind viele Menschen und es werden mehr, die mit Freude und Staunen von ihrem neu- oder wiedergefundenen Glauben berichten.

Alle sind auf ihrem Weg auf Menschen gestoßen, die zunächst einmal vorbehaltslos gut zu ihnen waren. Irgendwann, als die Zeit dafür reif war, haben diese Menschen dann zu ihnen auch von Gott gesprochen. Mir kommt das Wort des heiligen Vinzenz von Paul, dem Gründers des Lazaristenordens, in den Sinn: »Gott befiehlt uns bloß, die Netze auszuwerfen, nicht aber, Fische zu fangen, weil er es ist, der sie ins Netz gehen lässt.« Er macht das tatsächlich, täglich, vor unseren Augen. Und wenn er es tut, ist es umwerfend. Mich bewegt das: Gott ist groß! Der Gott, den es nach dem Menschen und seiner liebenden Antwort dürstet. Nie bin ich Gott so nahe, wie wenn ich ihn anderen nahebringe. Keine Minute ist so groß wie die, in der jemand seine Größe erkennt. Keine Aufgabe ist so schön wie die, das Werkzeug seiner Liebe, seiner Sehnsucht nach jedem Menschen zu sein. Missionar zu sein, Werkzeug der Bekehrung, ist eine große Freude. Es ist die wunderbarste und glücklichste Vollendung des Christseins.

3. Aber warum verliert die Kirche dann an Bedeutung?

Aber wenn die Menschen Gott suchen und glücklich sind, wenn sie ihn finden, warum wenden sich dann immer mehr Menschen von der Kirche ab statt ihr zu? Ist es so, wie es in der Präambel des Mission Manifest steht, um das es in diesem Buch geht: Wird unsere Kirche bedeutungslos?

In vielerlei Hinsicht natürlich nicht: Die hochprofessionelle Caritas, unsere Schulen und Kindergärten florieren und bauen aus. Kirchliche Spitäler, Pflege- und Altersheime werden weiterhin eine wichtige Aufgabe für die Gesellschaft erfüllen. Und die Kirche ist auch noch viel zu finanzstark und sie bietet noch zu viele Chancen auf Aufträge und Jobs, um über Nacht bedeutungslos zu werden.

Dazu wissen wir auch noch nicht, was die Suche nach einer europäischen Identität angesichts der Herausforderung der islamischen Migration bringen wird. Wird es zu einer Renaissance des kirchlichen Brauchtums kommen, zu einer Wiederentdeckung der Fronleichnamsumzüge und Nikolausfeiern? Und behält die schöne Erzählung von Maria, Josef und dem Eselchen im schneebedeckten Stall nicht auch dann noch ihre besinnlichkeitssteigernde Wirkung, wenn man sie für ein Märchen der Brüder Grimm hält?

Das mag alles sein. In ihrer »Macht« jedenfalls, Menschen an sich zu binden, nähert sich die Kirche aber tatsächlich asymptotisch der Bedeutungslosigkeit. Für Österreich habe ich die exakten Zahlen, aber sie sehen wohl auch für Deutschland und die Schweiz sehr ähnlich aus: In der unmittelbaren Nachkriegszeit fanden sich in jeder österreichischen Pfarre im Durchschnitt 720 Menschen am Sonntag zu den Gottesdiensten ein. 1995 waren es nur noch 440. Heute sind es 190. Geht dieser Trend ungebremst weiter, werden es in einem weiteren Vierteljahrhundert nur noch 80 Kirchgänger sein. Und in zwei Generationen, im Jahr 2065, sind es dann magere 30. Gut – 30 Menschen können immer noch einen stimmungsvollen Gottesdienst feiern. Sie können auch noch zwei Bibelkreise füllen. Sie können sogar noch regelmäßig faire Schokolade aus Ecuador verkaufen. Aber für eine Pfarrgemeinde, die in die Welt hinausstrahlt, ist das längst nicht mehr genug. Ersparen wir uns die ganze, deprimierende Statistik-Kiste, den Blick auf die Abnahme der Taufen und kirchlichen Trauungen sowie das fast flächendeckende Verschwinden der Beichte. Das stille Ableben einer katholischen Zeitschrift nach der anderen. Klar ist: Die Struktur unserer Kirchen wird sich dramatisch verändern. Nicht soll oder muss, sondern: wird. Das ist unausweichlich. Wir können uns nur aussuchen, ob wir diesen Prozess erleiden oder aktiv gestalten möchten.

4. Wegfallende Gründe

Aber die Erosion der Strukturen bedeutet nicht, dass der ­Inhalt verschwindet. Schauen wir einmal genauer hin: Ist es nicht so, dass von 100 Gründen, sonntags in die Kirche zu gehen, geschätzte 98 heute nicht mehr ziehen – von der Angst, im Dorf als Nicht-Kirchgänger als asozial zu gelten, bis hin zur Hoffnung, in der Kirche einen Partner zu finden? Aber die zwei wichtigsten Gründe bleiben: Die Freundschaft mit Christus zu vertiefen und ihr gemeinsam mit anderen Ausdruck zu verleihen. Was wir erleben, ist vielleicht nicht so sehr eine Abnahme des Glaubens als eine Reduktion auf den Glauben. Das Unwesentliche fällt weg. Wer bleibt, hat substanzielle Gründe.

Wer braucht heute noch einen Gottesdienst, um aus seiner Einsamkeit auszubrechen, wenn er sich über Facebook ein analoges Feeling verschaffen kann? Welcher 17-Jährige ist heute noch auf den Tischtennistisch im Pfarrheim angewiesen, wenn er es am Wochenende mit seinen Freunden nett haben will? Niemand muss mehr ins Kloster, um Krankenschwester werden zu können. Niemand muss mehr Ministrant werden, damit ihm der Pfarrer das Gymnasium zahlt. Wer Angst um seinen Job hat, zündet nicht mehr Kerzen an, sondern setzt auf lebenslanges Lernen und den Betriebsrat. Wer um seine Gesundheit bangt, konsultiert Ärzte und schließt eine Zusatzversicherung ab. Wen die Schwermut überkommt, der geht zum Psychiater. Landwirte setzen eher auf eine vernünftige Ernteversicherung als auf Flurprozessionen. Und wen es drängt, entgrenzende Erfahrungen mit der Urkraft des Universums zu machen, der hat ausufernd Gelegenheit, das im Reich der Sexualität zu tun, was in der Regel ja auch deutlich lustvoller erlebt wird und einen niederschwelligeren Zugang hat als etwa eine Einführung ins mystische Gebet.

An Opiaten aller Art herrscht kein Mangel. Ambrose Bierce definierte schon 1911 in seinem »Wörterbuch des Teufels«, was Opium ist: »Eine unversperrte Tür im Gefängnis des Ichs. Sie führt in den Gefängnishof.« Aber der Ausflug in den Gefängnishof ist schon ziemlich cool, wenn man nicht weiß, wie man sonst aus dem Ego-Gefängnis herauskommen kann.

Der Kirche ist eine letzte Domäne geblieben: die Welt außerhalb von »Ich bin ich und muss mir selbst genügen«. Wer Gott sucht, der findet ihn eher selten beim Trachtenfest, Clubbing oder im rituellen Aufsuchen von Gourmetlokalen. Er findet ihn auch kaum beim Entschlacken, bei Pilates oder bei den Glückssteinen. Für Menschen, die Gott suchen, ist die Kirche immer noch der Hafen, in den man mit seiner Sehnsucht einlaufen kann. Hier liegt die Stärke der Kirchen, hier haben sie ihren USP, ihren Unique selling point: Sie vermitteln »die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus, eine Glaubensgemeinschaft, die einen aufnimmt, einen Horizont von Sinn und Leben« (Papst Franziskus »Evangelii Gaudium«).

Damit stehen sie heute freilich einer Fülle von Ablenkungen gegenüber: Wen die Sinnkrise überfällt, der kann sich mit dem Frustkauf eines Paars Schuhe, einem Kinobesuch, einem neuen Ego-Shooter, dem aktuellen Justin-Bieber-Video oder einem hilfreichen Psychopharmakon lange Zeit recht erfolgreich vor der Konfrontation mit seinem Schöpfer herumschwindeln. Jammern ändert daran aber gar nichts, weder die Klage über die Unfähigkeit der Kirche noch die Brandrede gegen die Schlechtigkeit unserer Zeit. Es ist, wie es ist.

5. Alles schon mal dagewesen

Und das ist nicht zum ersten Mal so. Die Geschichte der Kirche ist eine Geschichte ihrer Krisen. Wenn wir wie hypnotisiert auf den in Zahlen messbaren Niedergang starren, müssen wir uns nicht alleine fühlen: Das haben nämlich schon viele Generationen vor uns getan. Es gibt nicht wenige Kulturhistoriker, die zu dem Schluss gekommen sind, das »christliche Europa« habe nie wirklich existiert. Wir müssen uns also hüten vor einer nostalgischen Idealisierung der europäischen Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Gegenwart. Wir denken von den zwanzig Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs her, in der die christlichen Kirchen eine ganz außergewöhnliche Hochblüte erlebten, die uns heute aber wie der »Normalzustand« vorkommt. Dabei ist der Normalzustand der, den wir jetzt haben.

Seit ich mit 16 Jahren in der elterlichen Bibliothek ein Buch mit Alfred Delps im Gestapo-Gefängnis verfassten Aufsätzen gefunden habe, hat der Jesuitenpater eine besondere Wirkung auf mich. Die Nationalsozialisten richteten ihn an Lichtmess 1945 hin, weil er mit Kreisen aus dem Widerstand Pläne für eine Neuordnung Deutschlands nach dem Naziterror entworfen hatte. Seine Gedanken, die er im Angesicht des Todes niederschrieb, sind teils von einer atemberaubenden Aktualität. Schon 1941 sagt er in einem Vortrag: »Die Sprache der Zahlen zeigt eine ständige Abnahme der kirchlich gebundenen Menschen.« Und: »Mensch der Kirche sein heißt heute: einsam sein, fremd sein, die Fühlung mit vielen Dingen verloren haben, missverstanden und falsch verstanden werden.« Die Erfahrung der spirituellen Wüste sprach Delp schon damals klar und nüchtern aus: »Wir sind Missionsland geworden. Diese Erkenntnis muss vollzogen werden. Die Umwelt und die bestimmenden Faktoren allen Lebens sind unchristlich. (…) Missionsland darf man nur betreten mit einem echten Missionswillen, das heißt mit einem Willen, an den anderen Menschen sich auf allen Wegen heranzupirschen und ihn zu gewinnen für Gott den Herrn.«

Und Delp sah eine müde gewordene, verbürgerlichte Kirche, die sich damit aufhält, »ihre Devotionalien zu putzen« und nichts spürt »von dem großen Marsch und Rhythmus, der uns quält und drängt.»Der Mensch kann die Kirche krank machen dadurch, (…) dass er gleichsam nur in die Kirche sich flüchten möchte zur eigenen Sicherheit und Geborgenheit. Wie anders gingen wir durch die Geschichte, wenn wir uns angehaucht fühlten von dem Heilswillen Gottes! Kirche ist man nicht aus ein bisschen Heilsangst, sondern aus einem unbändigen Missionswillen heraus.«

6. »Die wollen uns doch gar nicht …«

Delp hat wohl Recht: Kirche ist man aus einem unbändigen Missionswillen heraus. Aber dieser Wille hat große Widersacher, und einer davon ist die Resignation. Unangenehmerweise gibt es vieles, was dafür spricht, resignativ zu sein.

In der Erzdiözese Wien hat der Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, gemeinsam mit seinen Weihbischöfen und Vikaren eine kleine Missionsinitiative gestartet: Einmal im Monat werden die Tore des Bischofshauses geöffnet. Ein roter Teppich geht dann von der Straße in der Wiener Innenstadt hinein durch das Tor, quer über den Innenhof, bis zur Kapelle des Erzbischofs. Kardinal Schönborn und seine engsten Mitarbeiter teilen sich dann in drei Gruppen auf: Eine erste Gruppe steht vor dem Tor und lädt die Vorübergehenden ein hereinzukommen. Eine zweite Gruppe schenkt im Hof Kaffee und Suppe aus und lädt die Hereingekommenen zum Gespräch ein. Und eine dritte Gruppe tut in der Kapelle Dienst, wo das Allerheiligste ausgesetzt ist und alle eingeladen sind, einfach nur dazusitzen oder auch eine Kerze anzuzünden, einen Zettel mit einer Gebetsbitte in ein Kästchen zu werfen oder eine Bibelstelle zu ziehen. Alle sind eingeladen, in den Hof, in die Kapelle, zu einer Plauderei oder auch einem Seelsorgegespräch mit dem Bischof und den anderen. Egal, ob sie gerade ein Eis schlecken, einen Hund an der Leine führen, ob sie beruflich in der Innenstadt zu tun haben, Tourist sind, Bettler oder Schulkind.

Einmal haben wir Mitarbeiter der Erzdiözese gebeten, dabei doch mitzuhelfen. Einer Kollegin war anzumerken, wie unangenehm ihr diese Vorstellung war, vor allem der Gedanke, vor dem Tor zu stehen und Passanten einzuladen. »Im Grunde wollen die Leute uns ja gar nicht«, erklärte sie. »Die lehnen die Kirche doch nur ab und sind an dem, was wir ihnen geben wollen, doch gar nicht interessiert.«

Ich kannte das auch von mir. Aber ich habe dann einfach erzählt, was ich selbst dort erlebt habe: Den Mann, der zuerst fünf verschiedene Gründe nennt, warum er jetzt keine Zeit hat und dafür schon gar nicht – und der dann doch hereinkommt, eine halbe Stunde mit Tränen in den Augen in der Kapelle sitzt und ein intensives Gespräch mit einem der Priester führt. Die Frau, die sich beim Weggehen innig bedankt: »Genau das habe ich heute gebraucht.« Die Studentin, die mir sagt, dass sie es jetzt mit Beten für ihre bevorstehende Prüfung probiert hat. Erstmalig. »Wenn’s funktioniert hat, das verspreche ich Ihnen, dann werde ich katholisch!« Die Migranten, die ganz andächtig Kerzen anzünden. Die Touristen, die von der stillen Atmosphäre des Innenhofes mitten im Trubel der Großstadt berührt werden.

Und ich habe der Kollegin auch davon erzählt, wie exponiert und lächerlich ich mir vorkomme, wenn ich mich da auf die Straße stelle, wie viel Überwindung mich das kostet. Und dass die allermeisten tatsächlich einfach vorbeilaufen. Aber dass das nichts ausmacht.

7. Wenn die Fische ausbleiben

»Ich denke, die Leute wollen uns nicht«, hat mir auch ein befreundeter Pfarrer gesagt, der in seiner Pfarre seit Jahren versucht, die Menschen wirklich in eine Freundschaft mit Christus zu führen und der vieles versucht hat. Ich verstehe ihn. Und doch, denke ich, ist seine Beobachtung nicht die ganze Wirklichkeit: »Die Leute« mögen in der Masse zu sehr abgelenkt sein, um unser Angebot wahrzunehmen. Aber in der Masse sind dennoch die vielen Einzelnen, die suchen. Und wir wissen nicht, wann und wie uns Gott in unsere ausgeworfenen Netze Fische schwimmen lässt.

Und vor allem gilt, was Papst Franziskus in »Evangelii Gaudium« so klar benennt, in einer Stelle, die selten zitiert wird: »Manchmal kommt es uns vor, als habe unsere Arbeit kein Ergebnis gebracht, aber die Mission … ist etwas viel Tieferes, das sich jeder Messung entzieht. Vielleicht verwendet der Herr unsere Hingabe, um Segen zu spenden an einem anderen Ort der Welt, wo wir niemals hinkommen werden. Der Heilige Geist handelt wie er will, wann er will und wo er will; wir aber setzen uns ohne den Anspruch ein, auffällige Ergebnisse zu sehen. Wir wissen nur, dass unsere Hingabe notwendig ist. Lernen wir, in den zärtlichen Armen des Vaters zu ruhen, inmitten unserer kreativen und großherzigen Hingabe. Machen wir weiter, geben wir ihm alles, aber lassen wir zu, dass er es ist, der unsere Mühen fruchtbar macht, wie es ihm gefällt.«

8. Heulen und Zähneknirschen

Wenn Sie trotzdem die Versuchung überfällt, sich dem scheinbaren Desinteresse der Menschen an der Freundschaft mit Christus geschlagen zu geben, dann denken Sie an Paul Cowley und seine Geschichte.

Ich habe diese erstaunliche Lebensgeschichte auf einer Studienreise in England gleich zweimal gehört und ich gebe ausgerechnet diese Geschichte hier weiter, weil Paul Cowley, den ich nicht besser kenne als von einmal Händeschütteln, sie auch auf Youtube erzählt und sie damit öffentlich gemacht hat. Das erste Mal, dass ich ihn erlebte, war während einer Einheit des Glaubenskurses »Alpha«. Dreihundert Menschen waren dazu in die Pfarrkirche Holy Trinity Brompton in London gekommen, wo man vor Jahrzehnten schon diesen Kurs für »Glaubens-Neulinge« konzipiert hat. An dem Abend, an dem ich als Zaungast auf der Galerie sitzen durfte, ging es um das Thema »Warum Bibel lesen?«, Impulsreferent war Paul Cowley.

Er begann so: »Das erste Mal in meinem Leben sah ich eine Bibel mit 18, als ich vor Gericht vereidigt wurde, als Angeklagter.« Cowley ist heute um die 60 Jahre alt, fit, kräftige Statur. Der Mann aus der Industriestadt Manchester gehört zu jenen Menschen, denen man instinktiv vertraut, weil sie einfach Verlässlichkeit ausstrahlen. Man hat den Eindruck, nichts könne ihn erschüttern. So jemanden hätte man gern als Kommandanten auf der Brücke, wenn die Titanic untergeht.

Mit britischem Humor gab er das Zeugnis eines gar nicht lustigen Lebens: Die Eltern Alkoholiker. Mit 16 aus dem Elternhaus und zugleich aus der Schule geflogen. Straßendiebstähle, erste Strafen, Betrügereien, ein Jahr Gefängnis. Kein einziger Besuch von den Eltern. Als er entlassen wurde und sie suchte, waren sie geschieden und unbekannt verzogen. Sein Rettungsanker wurde das Militär. Paul Cowley wurde Berufssoldat und ging für Auslandseinsätze nach Nordirland und auf die Falkland-Inseln. Aber innerlich kam er nicht zur Ruhe. Zweimal heiratete er, zweimal folgte bald danach die Scheidung. Einen dreijährigen Sohn ließ er bei der Mutter zurück und hatte fortan keinen Kontakt mehr zu ihm. Nach 17 Jahren mustert man Paul Cowley aus, er wurde Fitnesstrainer. Er hatte eine neue Freundin, aber aus Angst, der Verantwortung nicht gewachsen zu sein, wollte er nicht heiraten. »Mein Leben«, so sagt er, »war ein großes Chaos. Voll Alkohol, Spielschulden, moralischer Verirrungen und vor allem voller Verzweiflung, obwohl ich das nie zugegeben hätte.«

Wenn er heute zurückblicke, dann werde ihm der Grund klar: »In meinem Leben hat Gott keine Rolle gespielt.« Niemals habe er je etwas über Gott erfahren. Keiner habe ihm davon erzählt. Die Eltern waren Atheisten, in der Schule gab es keinen Religionsunterricht. Im Gefängnis und beim Militär bekam er all die Jahre nie einen Seelsorger zu Gesicht.

Erst als er 40 Jahre alt war, lud ihn ein Bekannter ein, der Christ geworden war. Beim Abendessen sprachen sie über den Glauben, und der Freund gab ihm einen Bibelvers mit. »Und damit hat alles angefangen.« Der Bibelvers, den er zufällig auswählt, ist jener, in dem vom »Heulen und Zähneknirschen« in der Hölle berichtet wird. »Sicher nicht ein Bibelvers, den wir uns aussuchen würden, um jemanden zu bekehren«, sagt Paul Cowley. Aber er lässt ihn nicht los, beunruhigt ihn so, dass er mehr wissen will.