MISTY DEW 2 - Agnete C. Greeley - E-Book

MISTY DEW 2 E-Book

Agnete C. Greeley

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Beschreibung

Im Mistydew County verschwinden Menschen. Die Polizei und die Parkranger vermuten, ein Killerbär treibe sein Unwesen. Irene, Julian und Matt von der Eagleside Ranch erkennen jedoch bald, dass es um mehr geht. Ehe sie es sich versehen, stecken sie bis zum Hals in Schwierigkeiten. Eine Legende scheint wahr geworden und ruft den Indianer Askuwheteau auf den Plan – Irene und Julian werden mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und Matt trifft eine Entscheidung. Schließlich und endlich sehen sich die Freunde erneut einer bösen Macht gegenüber und müssen um ihr Leben kämpfen.

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Von Agnete C. Greeley erschienen:

Aus der Mistydew - Romanreihe

Misty Dew 1 - Schattenfeuer

Kurzgeschichten:

Kleine Schattenwelten

Anthologien:

Telefon!

Roman:

Nebel der Vergangenheit

Im Mistydew County verschwinden Menschen. Die Polizei und die Parkranger vermuten, ein Killerbär treibe sein Unwesen. Irene, Julian und Matt von der Eagleside Ranch erkennen jedoch bald, dass es um mehr geht.

Ehe sie es sich versehen, stecken sie bis zum Hals in Schwierigkeiten.

Eine Legende scheint wahr geworden und ruft den Indianer Askuwheteau auf den Plan – Irene und Julian werden mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und Matt trifft eine Entscheidung.

Das zweite Abenteuer der Eagleside-Crew führt in die düsteren Abgründe vergessener Indianerlegenden.

Agnete C. Greeley

Misty Dew 2 - Schattenwinter

A. C. Greeley

MISTY DEW 2

Schattenwinter

Roman

Text: Copyright © 2015 A. C. Greeley, Wien,

http://www.aceyw-greeley.eu/

Blog: http://www.nebeltau.blogspot.co.at/

Covergestaltung © Reija T. Korpela

COPYRIGHT © 2015 A. C. Greeley

Der Titel ist bei Lektoren.ch unter Hinweis auf § 5 Abs. 3 MarkenG in allen Schreibweisen und Darstellungsformen geschützt und im Online-Titelschutz-Anzeiger veröffentlicht worden.

Das Manuskript, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrovervielfältigungen und die Einspeicherung und/oder die Verarbeitung in elektronische

Systeme.

The cold stars are dancin‘ to ancient rhythms,

they are old, these stars,

their memories are long,

the whisperin‘ of the hunter sounds

like a bittersweet and bloody song.

A. C. Greeley

Prolog

Abwartend stand er da und starrte in die Dunkelheit. Seine hagere, skelettartige Gestalt hob sich schattenhaft gegen das Sonnenlicht ab, das in zarten Strahlen zwischen den Bäumen hindurchfiel und die graubraune Masse der gefallenen Blätter in ein buntes Farbenspiel aus Rot, Gelb und fülligem Braun verwandelte. Die Nacht würde noch eine Weile auf sich warten lassen.

In seinen Eingeweiden tobte ein Hunger, den er kaum zu zügeln wusste.

Zu früh!

Er hatte noch nicht genügend Vorräte gesammelt, doch er fühlte, wie der Winter nahte. In ein paar Tagen schon würde das kahle Braun mit der weißen, alles erfrierenden Pracht bedeckt sein. Die Angst wütete in seinem Inneren.

In dieser neuen, ihm fremden Zeit veränderte sich das Wetter ständig, weshalb er nicht wusste, wieviel Zeit ihm noch blieb.

Er trat zum Ufer des Flusses und hob erregt die Nase.

Ja, es dauerte nicht mehr lange. Die kalte Luft roch intensiv nach Eis und Schnee.

Ein Windhauch rüttelte zögerlich an den bunten Blättern der vereinzelt stehenden Laubhölzer.

Der harzige Duft der Nadelbäume legte sich über den modrigen Geruch des feuchten, mit verwesenden Blättern bedeckten Erdreichs.

Es war noch viel zu früh für den Winter!

Ein leises Knurren, das einem unbedachten Lauscher wohl eine Gänsehaut verursacht, oder noch schlimmer, ihn zur wilden Flucht getrieben hätte, entrang sich seiner Kehle.

Heftig riss er den Kopf hoch. Irgendwo lief ein Wapiti hastig durch das Gestrüpp. Er roch die Angst des wilden Tieres, das panisch davonstürmte und das brennende Gefühl in seinem Inneren verstärkte sich. Hunger!

Sehnsuchtsvoll dachte er an seinen Unterschlupf, wo er den nagenden Hunger stillen konnte. Heute würden sich keine Menschen mehr hier hinauf verirren.

Er hob noch einmal den Kopf, ehe er ein leises wolfsähnliches Heulen ausstieß.

Sein Vorrat reichte noch lange nicht aus.

In den letzten Monaten hatte er zu wenig gehortet. Viele Menschen hatten sich hier in den Bergen herumgetrieben. Allerdings waren sie nie alleine gewesen, und in einer Gruppe waren sie zu beschützt. Er hatte vergeblich versucht, sie vor einander wegzulocken, doch die Menschen passten seit Neuestem in der Wildnis besser auf. Dadurch hatte er sich keinem nähern können.

Mit wildem Blick sah er um sich, ehe er geschmeidig, mit einem einzigen Satz auf eine hohe Hemlocktanne sprang. Geschickt erklomm er einen harzigen Ast nach dem anderen, bis er ganz oben in der Krone thronte. Von hier hatte er einen herausragenden Ausblick auf die herrliche Landschaft. Einen Moment verspürte er diesen seltsamen Schmerz, von dem er nicht mehr wusste, woher er resultierte. Vage Erinnerungen an etwas, das er vor vielen Jahren erlebt hatte, rührten an seinem Bewusstsein, doch konnten den Ort nicht verlassen, an dem er sie verwahrte. Zu viele Jahre waren vergangen. Schon vor langer Zeit hatte er seine Menschlichkeit verloren. Er wusste nicht mehr, was es hieß, Mensch zu sein. Längst schon hatte der alles beherrschende Hunger sämtliche anderen Gefühle in ihm zurückgedrängt.

Ein Geräusch von der Straße her, ließ ihn aufhorchen.

Diesen Laut kannte er nur zu gut. Das Stottern, das Absterben eines Motors, die Versuche, ihn wieder in Gang zu bringen.

Die graue pergamentähnliche Haut seines Mundes verzog sich zu etwas, dass man mit ein wenig Fantasie wohl als Grinsen deuten könnte.

In freudiger Erwartung lauschte er in den Wind. Beute ...

Er hörte die sich öffnenden Autotüren, die Stimmen zweier Leute, die sich gedämpft stritten, und er roch ...

Warm, weich, eine Frauund ein Mann, nicht zu alt.

Fast vermeinte er, das Pulsieren des Blutes in den Adern dieser Menschen hören zu können, doch das war natürlich pure Einbildung.

Selbst er, der seit vielen Jahren in diesen Wäldern existierte, verfügte nicht über ein derart starkes Gehör. Dennoch spürte er instinktiv, dass er nicht mehr lange hungern müsste. Ein neuer, herber Geruch mischte sich in die verlockenden Düfte.

Feinde.

Ein Wolfsrudel pirschte sich an eine kleine Herde Rehe heran.

Rastlos sah er sich nach den Raubtieren um. Die braungrau dahinschleichenden Schatten ließen ihn unruhig werden und er knurrte erregt.

Als er wahrnahm, wie das Rudel langsam weiterschlich, machte sich Erleichterung in seinem Inneren breit. Sie waren nicht an den Menschen interessiert, sondern verfolgten auf leisen Pfoten weiterhin das Rotwild.

Ein Luftzug strich kühl und flüsternd über seine knochige Fratze. Sein Jagdinstinkt nahm überhand. Er spürte das Vibrieren in seinem Körper und erzitterte hocherregt.

Sein Blick wanderte durch die nähere Umgebung, ehe er mit einem kraftvollen Satz von der alten Tanne herabsprang.

Während er Richtung Straße davonstürmte, heulte er triumphierend auf.

1. Kapitel

Eagleside Ranch

Julian seufzte tief. Matt, der soeben Heuballen auf den Anhänger lud, sah von seiner Tätigkeit hoch.

»Was ist los? Keine Lust mehr auf Arbeit?«

»Nerv mich nicht. Wir haben ganz schön viel geschafft. Und ich glaube nicht, dass heute noch Schnee kommt.« Er sah zum leuchtend blauen Himmel hoch.

»Aber was solls? Du meinst, es wird schneien, also werd ich weiterhin brav diese Heudinger hier verladen.« Schulterzuckend machte er sich daran, weiterzuarbeiten.

Matt wischte sich über die Stirn. Trotz der eher kühlen Temperaturen war die Arbeit anstrengend genug.

»Nicht ich meine das, sondern unser Askuwheteau aus Stormy Mills.«

Julian hielt mit seiner Tätigkeit inne. Den Namen hatte er schon gehört.

»Askuwheteau? Ist das nicht dieser Indianer?«

Kopfschüttelnd hievte er einen weiteren Heuballen auf den bereits ziemlich vollen Anhänger.

»Mann, ihr hier in der Wildnis glaubt ernsthaft, was euch ein Indianer erzählt?«

Matt überlegte einen Moment, ehe er nickte.

»Ja, tun wir.« Er warf ein großes Netz über die vielen Heuballen, die sich am Hänger türmten. Das würde die letzte Fuhre für heute sein. Während er die Haken die sich an jedem Eck des Netzes befanden, festmachte, damit die Heuballen bei der Fahrt in die Scheune nicht verloren gingen, sprach er ruhig weiter.

»Und du tätest auch gut daran, ihm zu glauben, Jul. Askuwheteau ist so quasi unser Indianerchief hier im County. Der irrt sich eigentlich nie. Denk nur an seine Warnung im Frühling.«

Der Angesprochene streckte sich. Er erinnerte sich wieder. Da hatte er zum ersten Mal etwas von ihm gehört.

»Okay, gut, dann glaube ich eben mal an euren Indianer, auch wenn der Himmel blau ist und wir Temperaturen um die zehn Grad Celsius haben.« Er hielt ein Uwetter für unwahrscheinlich, aber wer wusste schon, was in den Bergen passieren konnte? Seit er im Frühling hierhergekommen war, hatte sich sein Leben geändert. Nicht dass es ihn störte, ganz im Gegenteil. Aber all die Indianerdinge waren ihm nach wie vor zu abgehoben, auch wenn dieser Asku im Vorjahr die Leute aus dem County vor dem Frühlingsschneesturm gewarnt hatte.

Für einen Moment dachte er an Will Sawyer, seinen väterlichen Freund, der in Wyoming eine Detektei betrieb. Ob er klarkam? Julian hoffte es. Sie telefonierten ab und zu miteinander, doch Will sprach nicht viel über seinen Job.

Julian hatte ihm viel zu verdanken. Nachdem seine Eltern unter unnatürlichen Umständen ums Leben gekommen waren, war er wie ein steuerloses Schiff dahingetrieben. Zornig auf die ganze Welt war er von einer Schwierigkeit in die nächste gestolpert. Mehrmals war er in Gefahr geraten, doch das war ihm damals egal gewesen. Auf der Jagd nach dem Bösen hatte er sich auf alles gestürzt, was ihm passend erschien. Und eines Tages war der beste Freund seines verstorbenen Vaters einfach aufgetaucht, und hatte ihm das Leben gerettet.

Danach hatte Will ihn unter seine Fittiche genommen, ihn wieder auf die richtige Bahn gebracht und ihm gezeigt, dass man sich selbst am besten half, indem man anderen half. Irgendwann hatte der Zorn sich in Trauer verwandelt und Julian hatte erkannt, dass er einfach ein normales Leben wollte.

Den Schmerz über seinen Verlust konnte er niemals loswerden, dennoch musste er weiterleben, wie viele andere auch.

Er dachte an den heurigen Frühling zurück, als sein alter Freund und er hierhergekommen waren, um Irene zu helfen. Sie hatten einen Geist verscheuchen müssen, der Irene, und sämtliche andere Menschen auf dieser Ranch bedroht hatte. Seitdem waren Monate vergangen. Sowohl Matt, der Rancharbeiter, wie auch Irene hatten Wochen gebraucht, um dieses Erlebnis zu verdauen.

Nach wie vor fiel es den Beiden schwer, zu akzeptieren, dass es Übernatürliches gab, dennoch waren sie inzwischen zur Normalität zurückgekehrt. Nur ab und zu sprachen sie noch über Randy, dessen zerstörerischer Geist alle in Gefahr gebracht hatte. Immerhin war er ein guter Freund gewesen, der nur zu früh gestorben war.

Julian warf einen Blick auf seine Uhr.

»Hm, vielleicht sollten wir mal was essen. Ist schon nach drei.«

Matt verdrehte genervt die Augen.

»Schon wieder? Mann, du hast ständig Hunger.« Dabei hatten sie vor zwei Stunden Mittagspause gehalten.

»Entschuldige mal! Ich arbeite hier wie ein Verrückter, da bekomm ich halt eben Hunger! Außerdem – wo bleibt Irene überhaupt?«

Matt überlegte.

»Hm, ja, stimmt. Sie ist heute Morgen nach Pinedale zu Mel gefahren.« Er fuhr sich durch die Haare.

»Schätze, das wird wohl noch dauern. Die beiden haben sich seit Monaten nicht gesehen.«

Julian konnte ahnen, was das bedeutete.

»Oh, ja.« Frauensachen dauerten immer lange.

Matt, der scheinbar genau wusste, was Julian dachte, nickte ergeben.

»Ja, genau. Das kann noch Stunden andauern.«

Ohne etwas darauf zu entgegnen, schwang Julian sich auf den grünen Traktor.

»Na komm schon, Cowboy, lass uns das Zeugs hier in die Scheune bringen.« Er rieb sich die Hände und umfasste danach das Lenkrad.

Matt seufzte tief.

»Okay, du darfst fahren.« Er hob drohend den Finger. »Aber du fährst nur, damit das klar ist! Du weißt schon.«

Julian grinste. Matt spielte auf die Tatsache an, dass Julian gerne mit dem Traktor Gas gab, etwas, das der Rancharbeiter zutiefst hasste.

Seiner Meinung nach war ein Traktor oder auch ein Auto kein Fahrzeug für Raserei-Spielchen. Eigentlich hatte Matt ja recht damit, doch Julian fand es spaßig, Gas zu geben, auch wenn es eher dazu diente, Matt, seinen neugewonnenen, in seinen Augen auf übermäßige Sicherheit bedachten Freund, zu ärgern.

»Klar doch, Mann. Diesmal ist ja der Anhänger dran, da wollen wir nicht übertreiben.« Er startete den Motor und Matt konnte sich gerade noch neben Julian hineinzwängen, ehe dieser mit halbwegs angemessener Geschwindigkeit losfuhr.

»Hm, sollten wir Irene anrufen – sie informieren? Ich meine, wenn tatsächlich ein Schneesturm droht, sollte sie es auch erfahren«, meinte Julian gleichmütig.

Matt blickte ihn irritiert an.

»Ähm, ja, vielleicht sollten wir das, obwohl sie ja hier lebt. Sie sollte sich eigentlich klar darüber sein, dass sowas in dieser Gegend passieren kann.«

Julian hob fragend eine Augenbraue, eine weitere Geste, die Matt nervte.

»Okay.« Er seufzte schwer. »Du hast recht. Ich ruf sie lieber an.«

Julian zuckte mit den Achseln.

»Ich hab zwar nichts gesagt, aber gut – wenn du meinst.«

Während sie Richtung Außenscheune fuhren, grinste Julian still vor sich hin. Er wusste ganz genau, was Matt gerade dachte.

»Naja, ich meine, sie lebt zwar hier, aber sie neigt leider dazu – äh, du weißt schon, alles auf die leichte Schulter zu nehmen.« Matt seufzte tief.

Julian konnte nicht anders, er musste lachen.

»Oh ja, ich weiß!« Ihm fiel das Erlebnis im Frühjahr ein, als Irene das von dem Geist ‚besessene‘ Halfter einfach von der Koppel geholt hatte, um ihre Leute zu schützen. Das wäre fast ins Auge gegangen.

Als sie kurz darauf mit ihrer Heuladung die Scheune erreichten, kam Ben, ein Hilfsfarmer und Rodeo-Cowboy hinzu, um zu helfen.

»Mann, wart ihr fleißig. Wollt ihr einen Extrabonus, oder wieso habt ihr so viel eingefahren?« Amüsiert betrachtete er den riesigen Heuhaufen auf dem Anhänger, ehe er sich kopfschüttelnd daran machte, das Netz zu lösen.

»Leute, es gibt einen kleinen vorwinterlichen Einbruch. Das ist alles. Der macht noch keinen großen Ärger.« Kopfschüttelnd zog Ben den ersten Heuballen hinunter und hob ihn auf seine Schulter. »Na dann müssen wir uns wohl ranhalten, damit wir bis zum Wetterumschwung fertig werden.«

Julian betrachtete erneut den Himmel.

»Sieht aus, als hätten wir ewig Zeit«, murmelte er missmutig, bevor er sich ebenfalls einen Heuballen schnappte.

Matt verdrehte nur genervt die Augen und zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Während er sich ein paar Schritte von der Scheune entfernte, drückte er die Kurzwahltaste, um Irene anzurufen. Überraschenderweise meldete sie sich sofort.

»Hi, Cowboy, was gibts?«, tönte ihre muntere Stimme ihm entgegen.

»Hi, Irene, wann wirst du zurück sein? Heut kommt noch ein Minischneesturm, du solltest dich also besser auf den Weg machen, ich meine, falls du noch in Pinedale bist.«

Er konnte förmlich spüren, wie sie lächelte.

»Mattie, der Himmel ist blau, es ist Halbvier. Ich bin schon aus Pinedale raus auf dem Highway 93, und fahr gleich nach Stormy Mills. Hab mir gedacht, ich geh noch ins Silverdime, wenn ich schon frei hab. Heute ist Elvis angesagt.« Sie klang fröhlich. Zu fröhlich, wie Matt fand.

»Ist doch cool, hatte ich schon lange nicht mehr«, fuhr sie munter fort.

Matt unterdrückte gerade rechtzeitig einen Fluch.

»Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich meine, Askuwheteau hat gesagt, es gibt heut noch einen Sturm und du willst ins Kino?«

Inzwischen war Julian aus der Scheune zurück und musterte Matt fragend.

»Vergiss das für heute, Irene! Der Himmel ist viel zu klar auf Eagleside. Die Temperaturen fallen bereits und über dem Thunder ziehen schon Wolken auf. Es gibt heute auf jeden Fall noch Schnee!«

Irene schien nicht beeindruckt.

»Ach, der alte Askuwheteau, okay, so alt ist er auch nicht, aber ich hab schon lange nicht mehr mit ihm gesprochen. Bleib cool, heut gibt es maximal noch Regen. Ich möchte mir eine Tüte Popcorn kaufen, Cola trinken und einfach Elvis dabei zusehen, wie er die Frauen um den Verstand bringt. Ich glaube, heute steht ‚Blue Hawaii‘ auf dem Programm.« Sie machte eine kleine Pause.

»Ich hab ja meinen RAV, der bringt mich danach auch gleich heil nachhause«, fuhr sie beschwichtigend fort.

»Irene, bitte riskier nichts. Falls Schnee kommt, bekommst du Ärger. Du weißt das!«

»Ja, Mama.«

Matt ahnte, dass sie gerade genervt die Augen verdrehte.

»Hör auf, mich so zu nennen. Und falls du gerade die Augen verdrehst, LASS DAS SEIN!«

»Hey, wer sagt denn, dass ich das tue?«

»Ich sag das. Ich kenn dich.« Er holte tief Luft, da er bereits wusste, was sie antworten würde, trotzdem fragte er.

»Hast du wenigstens die Schneeketten dabei?«

»Nein, die brauch ich auch nicht. Der Film beginnt um fünf und ist vermutlich um Halbsieben aus. Ich hab genug Zeit, auch wenn es angeblich heute noch Schnee gibt, was ich nebenbeibemerkt, nicht glaube. Schönen Abend noch. Lass Julian grüßen. Wir sehen uns dann später.« Ehe Matt noch etwas entgegnen konnte, hatte sie aufgelegt.

Fassungslos starrte er sein Mobiltelefon an. Sie hatte einfach das Gespräch abgebrochen!

»Verdammt, verdammt, verdammt. Diese Irene, ich könnte sie erwürgen, echt.« Aufgeregt fuchtelte er mit den Händen herum.

»Sie ist so – so verdammt stur. Ausgerechnet heute, wo ein Schneesturm vor der Tür steht, will sie ins Kino. Ich fasse es nicht.«

»Was? Sie geht noch in die Stadt?« Etwas verwundert starrte Julian den aufgebrachten Freund an.

»Hm, scheint, als ob sie auch nicht daran glaubt, das heute noch ein Wetter kommt«, meinte er, nach einem erneuten Blick zum Himmel. »Oder sie nimmt wiedereinmal etwas auf die leichte Schulter«, fügte er munter hinzu.

Matt sah ihn verärgert an. Julian klang nach seinem Geschmack ein wenig zu vergnügt.

»Findest du das etwa lustig?«

Julian kratzte sich am Kopf, doch seine Mundwinkel verzogen sich nach oben.

»Ähm ja, irgendwie schon.«

Als er Matts entgeisterten Gesichtsausdruck sah, besann er sich jedoch anders.

»Okay, nein, das ist nicht lustig.« Doch, ein bisschen schon. Aber er hütete sich davor, es laut auszusprechen, und versuchte stattdessen einen zerknirschten Gesichtsausdruck zu machen, der ihm klarerweise nur teilweise gelang. Matt stöhnte genervt.

»Schon vergessen, was vor zwei Tagen passiert ist? Zwei Menschen sind nach einer Autopanne verschwunden.« Matt dachte an die beiden Parkranger, die zur Eagleside-Ranch hinaufgekommen waren, um vor wilden Tieren zu warnen. Sie hatten vereinzelte Blutspuren im Wald gefunden, doch die Menschen blieben verschwunden. Noch immer waren Suchtrupps unterwegs, doch der herbstliche Wald hatte die Spuren verwischt. Julian schüttelte den Kopf.

»Nein, hab ich nicht.« Er wusste, was Matt dachte und verstand seine Sorge. Im Laufe der Monate hatte er herausgefunden, das Matt Irene beschützen wollte, und wenn er ehrlich war, empfand er es genauso. Es war nie Julians Plan gewesen, doch so war es gekommen.

Irene machte es sich selbst und auch allen anderen nicht einfach, doch sie war durchaus fähig, diese große Ranch mitsamt allen darauf arbeitenden Personen zu leiten und dem zollte er Bewunderung.

Joanne, Irenes ältere Kusine, hatte ihnen vor ein paar Wochen im Vertrauen gesagt, dass sie sich viel besser fühlte, seit Julian und Matt auf der Ranch lebten. Nach dem Tod von Irenes Onkel Ethan war Matt hierher gekommen, um auf der Ranch zu helfen. Joanne hatte durch einen Tipp eines Holzfällerfreundes von ihm erfahren und ihn für Eagleside angeworben, obwohl sie eine eigene Farm ganz in der Nähe besaß, die genügend Arbeit verursachte. Matt hatte spontan zugesagt und Irene hatte sich nicht gegen seine Einstellung gewehrt.

Heute schien es, als wäre er immer schon hier gewesen. Seit Julian dazugestoßen war, waren sie mehr den je ein Team, auch wenn die Beiden es nie zugeben würden.

Julians prüfender Blick wanderte zum Thunder Mountain. Sofort ließ sein Optimismus nach.

»Wo sind die denn auf einmal hergekommen?« Hinter dem nebelverhangenen Gipfel türmten sich dicke, grauschwarze Wolkenmassen, die sich gemächlich zu riesigen Gebilden zusammenfügten und langsam den Berg einhüllten.

Matt schnaubte ärgerlich.

»Klar waren sie das nicht. Hast du es noch immer nicht gecheckt? Wir haben Oktober, leben in den Bergen. Hier passiert sowas schon mal.«

Erstaunt sah Julian, wie die Sonne soeben hinter einer dünnen Wolkenwand verschwand. Ein kühler Luftzug streifte ihn und bewegte die Äste der nahestehenden Bäume. Dabei hatte sich vorher noch kein Hälmchen geregt.

Ben trat mit einem Strohstängel im Mund neben Julian und wies auf den Himmel.

»Siehst du das, Stadtcowboy?« Er verzog lächelnd die Mundwinkel. »Dieses zarte Wolkenband, das so harmlos wirkt?«

Julian verdrehte die Augen.

»Jaja, ich sehe es.«

»Gut, denn sowas bedeutet Ärger, schön langsam müsstest du das wissen«, fügte Ben bedeutungsvoll hinzu.

Julian fiel ein, dass sich das angeblich bevorstehende Unwetter damals im April auch so harmlos angekündigt hatte. Dünne Wolken, leichter Wind. Im Nu war ein ausgewachsener Schneesturm daraus geworden und hatte sie auf der alten Storm-Hütte festgehalten.

»Kann es denn sein, dass das Wetter einfach weiterzieht?«, fragte Julian, nicht mehr ganz so überzeugt.

»Keine Ahnung. Kann es sein, dass die Hölle heute noch zufriert?«, beantwortete Matt die seine Frage mit einer Gegenfrage. Sarkasmus, eindeutig.

»Ähm.« Julian setzte gerade zu einer mit Garantie dummen Antwort an, als Matt ihm zuvorkam.

»Nein, du willst darauf nichts sagen«, meinte Matt kopfschüttelnd.

»Naja, mir würde da schon was einfallen. Klimawandel und so was alles«, erwiderte er breit grinsend.

»Jul.« Matt sprach nicht weiter, sondern wies warnend auf den nicht mehr so klaren Himmel. Julian folgte seufzend seinem Blick.

»Okay, gut, also wer fährt nach Stormy Mills?« Insgeheim hoffte er, das Matt fahren würde, um Irene aufzugabeln, immerhin stand der auf diese Beschützernummer, doch dieser warf ihm nur einen vielsagenden Blick zu.

»Tja, wer viel fragt.«

»Jaja, schon klar.« Julian seufzte schwer. »Gut, und wie stellst du dir das vor?«, fragte Julian. »Ich meine, wir wissen beide, dass sie vermutlich in Schwierigkeiten gerät. Sowas tut sie ja ständig, das ist nichts Neues, aber ehrlich, bist du sicher, dass sie nicht allein mit dem RAV den Berg hier hochkommt? Ich meine, so weit ist es doch gar nicht.« Julian hatte in den letzten Monaten die Gegend kennengelernt. Die Fahrstrecke von hier nach Stormy Mills war ihm inzwischen bekannt, und Irene lebte hier. Sie sollte es noch leichter schaffen als er.

»Sie kennt sich hier doch gut aus, auch wenn sie zugegebenermaßen zeitweise darauf vergisst.« Er spielte auf die Beharrlichkeit von Irene an, mit der sie ständig ihren Willen durchboxen wollte. Matt wirkte ein wenig besorgt.

»Naja, sie fährt ganz gut, aber sie hat keine Schneeketten mit.« Er fuhr sich durch die halblangen Haare.

»Ach ja, übrigens hat sie die niemals mit.« Nun klang er leicht verärgert.

»Nicht, weil es unpraktisch ist, sie im Auto herumliegen zu haben oder weil sie darauf vergisst. Nein, sie mag sie einfach nur nicht.«

Julian grinste erneut, doch er verkniff sich einen Kommentar.

Matt kam gerade richtig in Fahrt.

»Im letzten Winter zum Beispiel, da musste ich sie zweimal von der Straße aufsammeln. Wir können von Glück reden, dass sie einen RAV fährt und keinen Käfer oder sowas. Aber falls es wirklich viel Schnee gibt, wird’s Probleme geben. Wenn sie also von der Straße abkommen sollte, dann ...«

Julian nickte. Die Gegend war wild und es waren schon mehr als genug Menschen hier verschwunden, erfroren, oder verunfallt.

»Schon gut. Ich kenne die Statistiken, alles klar. Ich gable sie also nach dem Kino auf leite sie über die Berge nachhause und sie wird mir einfach so folgen?« Er zog fragend die Augenbrauen hoch, und Matt verzog missmutig den Mund.

»Möglich, dass sie deine Hilfe ablehnt, aber du sollst ja auch nur der Guide sein. Du fährst vor ihr mit dem großen Jeep , und sie folgt dir langsam und sorgfältig mit dem kleinen RAV. Sollte nichts schiefgehen.« Matt klang sicherer als er sich fühlte, doch er wollte Irene nicht allein da draußen rumfahren lassen und Julian kannte sich auf der Ranch noch nicht so gut aus, wie er. Also war es besser, wenn er hier die Arbeit mit Ben fertigmachte, während Julian nach Stormy Mills fuhr und Irene holte. Matt vertraute dessen Fahrkünsten, die herausragend gut waren, auch wenn er ihm das niemals sagen würde. Der zweifelnde Blick seines Freundes machte es ihm jedoch nicht leicht.

»Wenn sie von der Straße abkommen sollte, oder einen Unfall hat, dann ist sie auf sich alleine gestellt. Jul, das Gebiet ist riesig. Da – da kann viel passieren.«

Matt sorgte sich mehr um Irene, als er es sich eingestehen wollte. In letzter Zeit war hier viel passiert. Seit dieses Pärchen vor ein paar Tagen verschwunden war, gab es wilde Gerüchte über Grizzlys. Man munkelte, dass sie sich durch den frühen Wintereinbruch unsicher fühlten und wilderten.

Matt persönlich glaubte nicht an Bärenüberfälle, doch was wusste man schon, wie Bären tickten, wenn sie Angst vor dem Verhungern hatten? Es hatte im Laufe der Jahre immer wieder Tiere gegeben, die Menschen rissen. Und hier in der Gegend gab es genügend Wildtiere. Julian verstand Matts Sorge. Die verschwundenen Personen beschäftigten ihn genauso. Außerdem wimmelte es im Mistydew County von Bären und Pumas. Er hatte großen Respekt vor diesen Tieren, einer der Gründe, weswegen er nur ungern in der Wildnis herumstreifte. Ergeben nickte er.

»Schlüssel stecken?«

Matt nickte dankbar.

»Jep, und der Tank ist voll.«

Als Julian nach kurzem Winken davonging, blickten ihm Ben und Matt hinterher.

»Er holt unsere holde Maid also aus der Stadt. Na dabei wünsche ich ihm viel Spaß.« Er grinste. In den vier Jahren, wo er hier aushalf, hatte er Irene sehr gut kennengelernt. Einerseits gefiel ihm ihre unabhängige Art, andererseits hütete er sich davor, näher auf sie einzugehen. Sie bekam öfter Schwierigkeiten, manchesmal war es ihre eigene Schuld, ein anderes Mal wieder passierte es ihr einfach so. Doch irgendetwas gab es immer.

»Ben, bitte fang du nicht auch noch damit an! Du weißt doch, dass sie auf stur schaltet, wenn sie der Meinung ist, dass sie bevormundet wird.«

»Oh ja, schätze, Jul weiß das auch.«

Matt nickte knapp.

»Ja, und wenn sie sich so dämlich verhält, dann schnappt er sie sich einfach und schmeißt sie ins Auto«, brummelte er grimmig. Grinsend machte Ben sich daran, den Hänger weiter abzuräumen.

»Oja, ich weiß.« Ben mochte Julian, genauso wie er Matt mochte. Für ihn waren beide loyale Männer, die niemals jemandem im Stich lassen würden. Solche gab es nur mehr selten. Einer der Gründe, weswegen er ständig hierher zurückkehrte, und sich keine Arbeit bei benachbarten Ranchern suchte. Außerdem war er sich sicher, dass Julian tatsächlich nicht lange fackelte, wenn Irene auf stur schaltete.

»Dann lassen wir dem City Slicker das Vergnügen, unser Gänseblümchen nachhause zu geleiten. Wird sicher spaßig.«

Matt blickte grimmig drein.

»Gänseblümchen, von wegen«, schnaubte er unwillig. »Wohl eher eine starrsinnige, stachelige Distel«, grummelte er, ehe er Ben folgte.

2. Kapitel

Stormy Mills

Während die Übereifrigen zu den Ausgängen stürmten, ließ Irene den gesamten Nachspann über sich ergehen. Elvis war immer eine Pause wert, fand sie. Außerdem konnte sie da ungestört ihren Gedanken nachhängen.

Mel, ihre Freundin hatte ihr nämlich erzählt, dass ihr Exfreund John in Cedars in einer Kühltechnik-Firma zu arbeiten begonnen hatte. Mit dieser Neuigkeit konnte Irene nicht gut umgehen.

Melanie hatte an einem Charity-Rennen in Louisiana teilgenommen und war ihm dort zufällig begegnet. Falls es sowas wie Zufälle überhaupt gab, wenn es sich um John handelte. Irene wagte, das zu bezweifeln. Er war nicht dumm, hatte Ahnung von Computern und Recherche und hätte garantiert rausfinden können, dass Mel sich in La Fayette zu einem Charity-Pferderennen angemeldet hatte. Natürlich wollte Irene ihn nicht verdächtigen, aber seit sie ihrem Stalker in Wien, ihrer alten Heimat entkommen war, hatte ihr Misstrauen gegenüber Zufällen deutlich zugenommen. Es bestand eine geringe Wahrscheinlichkeit John in Cedars anzutreffen, denn die Stadt war riesig, dennoch hatte sich sofort ein beklommenes Gefühl in ihr breitgemacht. John war zuvor in New York gewesen, weit weg von Irene und ihrem neuen Leben, aber jetzt arbeitete er in Cedars, mitten im Mistydew County – eine Gegend, die er niemals besonders gemocht hatte.

Seufzend verließ sie den Filmsaal und trat in die Vorhalle des alten Kinos. Normalerweise hätte ein solcher Film sie entspannt, doch heute war es anders. Vermutlich lag es an den vielen Menschen, die sich hier herumtrieben.

Sie war so etwas von dem uralten Silverdime-Theatre nicht gewohnt.

Hierher verirrte man sich nur ganz selten. Es liefen immer alte Filme und das Kino, oder auch Theater war schon ziemlich abgehalftert. Irene war jedoch gerne da. Sie mochte den Charme des alten Gebäudes. Früher waren viele Künstler hier aufgetreten. Selbst William Cody, auch als Buffalo Bill bekannt, sollte irgendwann einen seiner Wildwest-Shows in diesem altehrwürdigen Gebäude veranstaltet haben. Danach hatte es als Filmtheater Verwendung gefunden.

Der Geruch der alten Mauern, von Zuckerwatte und Popcorn erinnerte Irene an ihre Kindheit. Doch heute konnte sie nicht richtig abschalten.

Eigentlich war Stormy Mills eine verschlafene, kleine Wildwest-Stadt, aber gerade jetzt war die Hölle los. Sie hatte nicht gewusst, dass dieses Dorf einen solchen Bekanntheitsgrad hatte. Beim näheren Umsehen stellte sie verwundert fest, dass sie nicht mal die Hälfte der Leute kannte.

Viele waren Anzugsträger. Damen in Abendkleidung schritten hocherhobenen Hauptes, mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen durch die Kinohalle, in der man ein Buffet aufgebaut hatte. Merkwürdig, das war ihr zuvor gar nicht aufgefallen.

»Okay, der Film ist aus, ich sollte wohl gehen«, sprach sie zu sich selbst, wie um sich zu beruhigen. Konnte es tatsächlich sein, dass sie so in Gedanken gewesen war, dass sie den Aufwand nicht bemerkt hatte?

»Oh ja, das kann sein«, beantwortete sie ihre Frage selbst. Mit grimmiger Entschlossenheit steuerte sie auf den Ausgang zu. Nichts wie raus hier.

Als sie Shelby, die Enkeltochter des Kinobesitzers beim Ausgang des Saals mit einem Tablett voller Champagnergläser vorfand, hielt sie abrupt inne.

Heute trug Shelby ein buntes Minikleid im Fetzenlook und dazu hohe Cowboystiefel. Rosafarbiger Glitzer schimmerte auf ihren Augenlidern, und ein babyblauer Cowboyhut mit einer knallig roten Feder rundete ihre schillerndes Outfit ab. Irene lächelte amüsiert. Was für ein Aufwand, und dennoch so typisch für die junge Frau.

»Sieh mal einer an! Shelby Lucas. Heut ist aber ganz schön was los, oder?« Irene wies auf die beträchtliche Menschenmenge, die sich um einen behelfsmäßig aufgebauten Tresen sammelte.

Shelby grinste frech.

»Oh, hi, Tequila-Babe, wie läufts so in der Wildnis und wie viele Holzfäller hast du diesmal unter den Tisch gesoffen?«, rief sie mit ihrem breiten Akzent quer durch den Raum. Einige der Herrschaften blickten irritiert auf.

Shelby nannte sie Tequila-Babe, seit Irene mit ihr gemeinsam bei einer Weihnachtsfeier im Pub zwei Holzfäller unter den Tisch getrunken hatte. Eigentlich hatten sie damals ein wenig geschummelt, denn Holzfäller trank man nicht so rasch unter den Tisch, jedenfalls war es eine wilde Nacht gewesen.

»Naja, ich hab‘s in der Zwischenzeit mal mit Bikern versucht«, entgegnete Irene daraufhin trocken. »Und was bringt dich dazu, hier herumzustehen und einen auf Supervisor zu machen?«

Shelby machte eine abfällige Handbewegung.

»Die Familie, Schatz, was denn sonst? Heute sind ein paar hohe Herrschaften aus Cedars zu einem Abenteuertrip hierher aufgebrochen.« Sie verdrehte die Augen.

»Natürlich haben die sich viel zu spät angemeldet, sie hätten in Shannon unterkommen sollen, so mit Rafting Tour und Minenbesichtigung.« Abfällig verzog sie ihren Mund. »Doch dort gab’s einen Wasserrohrbruch im Hotel, also wurden sie hierher umgesiedelt.« Sie grinste spitzbübisch.

Während sie das Tablett herumreichte, sprach sie weiter.

»Und nun sind wir dabei, sie zu unterhalten. Dabei wollte ich doch heute nach Kanada zum Schifahren«, sie zuckte bedauernd mit den Achseln. »Doch wie du siehst ...«

Irene lachte. Shelby war alles, doch keinesfalls eine Schifahrerin. Das war halt ihre Art von Humor.

»Okay, also ein Firmenausflug. Fantastisch. Da habt ihr wohl genügend zu tun.«

»Oh ja.« Shelby rollte vielsagend mit den Augen, ehe sie auch Irene das Tablett unter die Nase hielt.

»Na los, nimm dir auch ein Glas.«

Irene war unschlüssig.

»Na komm schon, geht heute aufs Haus.« Aufmunternd sah sie Irene an, die schließlich und endlich den Kopf schüttelte.

»Nein, danke«, sagte sie bedauernd. »Lieber nicht. Ich muss noch fahren und du weißt doch, wie es mit den Straßen hier so ist.«

Shelby nickte wissend.

»Ja, die Straßen hinauf in dein Paradies.« Das letzte Wort betonend, lächelte sie anzüglich.

»Hm, wie geht es eigentlich deinem hübschen, ewig besorgten Cowboy?«

Irene tat, als ob sie nicht genau wusste, wen Shelby damit meinte.

»Welchem denn? Den geheimnisvollen großen Kerl mit den dunklen Haaren und dem tiefgründigen Blick oder das sexy Greenhorn mit dem Knackarsch und dem James Dean Image?«

Shelby schüttelte wild mit dem Kopf.

»Ach du Scheiße, fast hätte ich’s vergessen. Du hast ja jetzt zwei im Team.«

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, vorwurfsvoll zu klingen.

»Eigentlich unfair. Ich muss hier mit Daddy und Bruderherz herumhängen, während du gleich zwei Prachtexemplare in deinem eigenen Bestand hast. Ich frage dich, wo bleibt da nur die Gerechtigkeit.«

Irene lachte.

»Schon gut, schon gut. Ich werd Matt schöne Grüße ausrichten.«

»Ja, tu das! Und er soll sich gefälligst mal wieder hier unten blicken lassen.«

»Sag ich ihm, Shelby. Alles klar.« Sie warf einen letzten Blick auf die unzähligen Menschen, die sich mittlerweile zu kleinen Grüppchen zusammengeschlossen hatten und sich gedämpft unterhielten. Höchste Zeit zu gehen.

»Viel Spaß noch«, rief sie, ehe sie rasch durch die Glastür hinaus in den kühlen Abend entschwand.

Im Freien traf sie auf die nächste unangenehme Überraschung.

Große, dicke Schneeflocken segelten leise vom inzwischen dunklen Himmel und kühler Wind ließ sie frösteln.

»So ein Mist!« Das konnte einfach nicht wahr sein! Als sie das Kino betreten hatte, war der Himmel doch klar gewesen!

Rasch stellte sie den Kragen ihrer Jacke hoch, doch der kalte Wind drang erbarmungslos durch den Stoff hindurch. Einen Moment bedauerte sie, sich nicht ihre Daunenjacke mit der kuscheligen Kapuze angezogen zu haben, doch heute bei Melanie in Pinedale hatte die Sonne vom herbstlich-milden Himmel gestrahlt. Es hatte keinerlei Anzeichen für Schnee gegeben. Nun ja, nicht direkt. Bis auf die Prophezeihung von Askuwheteau. Außerdem hatte man sich in Pinedale bereits auf Regen eingestellt. Mit einem solchen Wetterumschwung äatte sie dennoch nicht gerechnet.

»Das darf einfach nicht wahr sein«, stöhnte Irene leise, während sie in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel wühlte, der sich ausgerechnet jetzt gut versteckt hatte. Dann endlich fand sie ihn. Erleichtert zog sie ihn hervor und steuerte auf ihr Auto zu.

Wenn sie sich beeilte, konnte sie die Strecke heimwärts schaffen, ehe die Straßen unpassierbar wurden.

Eine Schneeflocke trübte kurzfristig ihre Sicht und sie wischte sie mit einer unwilligen Handbewegung weg. Die Straße schimmerte bereits feucht.

Da Irene kaum auf den schmierigen Bürgersteig achtete, passierte das Unvermeidliche. Die glatten Sohlen ihrer Cowboystiefel rutschten unter ihr weg.

Es gelang Irene nicht mehr, den Sturz zu verhindern. Hart plumpste sie auf ihren Po.

»Au, das hat sicher wehgetan.«

Überrascht hob Irene den Kopf und starrte auf die Gestalt in Jeans und Lederjacke, die sich schwungvoll von einem großen Jeep abstieß und auf sie zuschlenderte.

Julian in Stormy Mills – fantastisch.

»Was zum Teufel machst du denn hier?«, blaffte sie. Der hatte ihr noch gefehlt!

»Glücklicherweise hab ich mit dem schon lange nichts mehr am Hut«, antwortete er lässig. »Na komm. Hoch mit dir.«

Ehe Irene es sich versah, hatte er seine Hände unter ihre Achseln geschoben und sie auf die Beine gehievt.

Noch etwas wackelig hielt sie sich an ihm fest, während sie versuchte, ihr Gleichgewicht komplett wiederzuerlangen.

»Ich brauche keinen Babysitter«, murrte sie verdrossen.

»Danke, Julian, gern geschehen – wie schön das du da bist, um mich nachhause zu begleiten«, säuselte er mit übertriebener Stimme.

Irene atmete hörbar aus.

»Okay, Julian. Danke, aber was soll das? Ich dachte, ihr bleibt auf der lauschigen Ranch und wartet darauf, dass ich mich in Schwierigkeiten begebe.«

Julian grinste.

»Ach, Matt dachte, einer von uns solle lieber hierherkommen, bevor du dich in Schwierigkeiten begibst«, antwortete er, von ihrem Tonfall unbeeindruckt.

»Ach, der«, hastig wischte sie sich hinten über die feuchte Jeans. Schmerzverzerrt zuckte sie zusammen.

»Aua.« Das würde Morgen bestimmt einen anständigen blauen Fleck geben. Als sie endgültig ihre Balance wiedergefunden hatte, stemmte sie die Hände demonstrativ in die Hüften.

»Okay, und was hast du jetzt vor, du Angeber?«

Die Schneeflocken lieferten sich in der Zwischenzeit ein herrliches Intermezzo mit dem kalten Wind. Irenes Gesicht wurde schon taub von der Kälte, doch um nichts in der Welt würde sie das zugeben.

»Ganz einfach. Ich bin hier um dich nachhause zu begleiten. Schmeiß dich in deinen RAV und nichts wie heimwärts. Ich fahre vor und du folgst mir.«

»Glaubst du tatsächlich, dass ich einen Guide zurück zu meiner Ranch brauche?«, erwiderte sie erbost.

»Hör zu.« Julian hatte keine Lust auf Diskussionen. »Du wolltest in die Stadt, obwohl du genau gewusst hast, dass ein Unwetter kommt, und dann wäre da noch die Sache mit den Schneeketten.« Er zuckte mit den Schultern.

»Klar könntest du auch alleine zurück, aber das wird nicht passieren, wenn du von der Straße abkommst, also sei ruhig und steig endlich ein.« Er dachte wieder an das verschwundene Pärchen, doch erwähnte es nicht.

»Na gut.« Irene seufzte ergeben. Sie war auf einmal nicht mehr in der Stimmung zu diskutieren. Die Geschichten von Mel über ihren Ex, das übervolle Kino. Nein, eigentlich wollte sie nur mehr nachhause.

»Schon gut« sie nickte ergeben.

»Dann lass uns mal losfahren. Eigentlich freu ich mich schon auf ein warmes Bad und ein Glas Rotwein.« Julian musterte sie abwartend, also sprach sie weiter.

»Der Tag war einfach blöd. Ich hab wieder Neuigkeiten wegen meines Ex, die mich nicht gerade glücklich machen. Er hat ja Mel in Lafayette aufgelauert, oder wie auch immer man das nennen kann.« Sie seufzte schwer. »Na, jedenfalls hat sie mir heute die ganze Story von ihrem unglücklichen Aufeinandertreffen geschildert und jetzt bin ich wütend.«, sie winkte verächtlich ab.

»Gut, ich geb‘s zu, ich kann es nicht ausstehen, wenn er auf meine Freunde trifft. Außerdem glaube ich, dass er absichtlich dort aufgetaucht ist, nur um mich auf die Palme zu bringen. Also bin ich eben ins Kino gehüpft, um mich abzulenken. John macht immer Ärger, ganz besonders wenn er auf meine Freunde trifft.« Als ihr bewusst wurde, wem sie hier ihre Probleme erzählte, beschloss sie, das Thema zu wechseln.

»Egal, wir sollten fahren, ehe es schlimmer wird«, sie vermied tunlichst, Julian anzusehen. Sich über John so auszulassen, war ihr unangenehm.

»Matt wird sicher nervös, wenn wir nicht bald auf Eagleside sind.«

Julian zog die Augenbrauen hoch. Ihre Absicht abzulenken, hatte er sofort durchschaut, doch er ging nicht weiter darauf ein.

»Okay, dann mal los.«

Erleichtert ließ Irene sich auf ihren Fahrersitz nieder, während Julian in den großen Jeep stieg.

Kurz darauf verließen sie mit mäßiger Geschwindigkeit das Städtchen.

Julian fuhr mit geringem Tempo. Er wollte nicht riskieren, dass sie in Schwierigkeiten gerieten, denn die Straßen begannen, rutschig zu werden. Außerdem wurde es dunkel. Die Kombination hatte schon vielen Menschen Ärger bereitet.

Das Schneegestöber hatte an Stärke zugenommen und die angrenzenden Felder funkelten verräterisch weiß. Nicht mehr lange, und der Schnee würde das Mistydew County komplett in eine Winterlandschaft verwandelt haben.

Kaum hatten sie die beleuchtete Mainstreet hinter sich gelassen, empfing sie der dunkle, nassschimmernde Highway.

Irene verlangsamte automatisch ihr Tempo, während Julian gleichmäßig weiterfuhr. Die Rücklichter des großen Jeeps verschwammen vor ihr in dicht wirbelnden Schneeflocken. Bald konnte sie sie nicht mehr erkennen und beschleunigte unruhig. Leichte Panik ergriff von ihr Besitz.

Verdammt noch mal, konnte Julian nicht ein bisschen langsamer fahren?

Um nicht alleine in dieser Einöde zurückzubleiben, beschleunigte Irene ein wenig.

»Bitte, bitte warte auf mich«, flehte sie leise, doch sie nahm nur mehr schemenhaft die roten Lichter vor ihr wahr.

Ihr Tempo weiterhin erhöhend, versuchte sie, den Abstand zu dem Jeep zu verringern. Sofort spürte sie ein Rutschen der Reifen. Nein, bitte nicht ... Irene hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, und zwang sich dazu, nicht noch schneller zu werden.

Der Wagen schlenkerte ein bisschen, doch es gelang ihr, ihn auf der Straße zu halten.

Ruhig, Irene, sprach sie sich in Gedanken Mut zu – du kennst dich hier aus, nchts wird passieren.

Erleichtert nahm sie erneut die Rücklichter des Jeeps vor ihr wahr, und atmete auf. Gott sei Dank.

Aus Angst alleine in der Wildnis zurückzubleiben, klebte sie eine Zeitlang förmlich an seiner Stoßstange. Inzwischen war sie heilfroh darüber, nicht alleine unterwegs zu sein. Sie wusste nicht, weshalb sie so empfand, denn sie war schon so oft auf dieser Strecke gewesen. Ob es daran lag, dass zwei Menschen spurlos verschwunden waren? Immerhin war so etwas schon länger nicht passiert.

Als die Parkranger vor ein paar Tagen zur Ranch hochgekommen waren, um eine Warnung gegen eventuelle Tierangriffe auszusprechen, hatte sie es kaum glauben können. Selbst die Ranger schienen ob der ungewohnten Situation unsicher, doch scheinbar hatten sie Spuren gefunden, die auf Wildtiere hindeuteten. Während sie darüber nachgrübelte, wann zum letzten Mal die Rede von einem Wildtierangriff gewesen war, folgte sie dem Jeep in das erste Waldstück auf der Strecke. Von einem Moment auf den anderen wurde sie förmlich von der Dunkelheit verschluckt.

Die Umrisse der Bäume links und rechts neben der Straße, hoben sich nurmehr schemenhaft gegen das weiße Gestöber ab. Mit einem Mal wirkte die Fahrbahn zu schmal. Zu schmal und gewunden.

Als der Jeep sich erneut von Irene entfernte, wuchs ihre Panik an.

Nein, bloß nicht Julian aus den Augen verlieren! Ängstlich stieg sie aufs Gas.

Zuviel; dachte sie noch. Da war es bereits zu spät.

Sie fühlte, wie die Reifen durchdrehten und beging einen weiteren Fehler. Instinktiv trat sie auf die Bremse. Zu spät – schrie sie innerlich. Zu spät.

Der Wagen schlitterte wild über die schmale Straße. Hektisch versuchte die Frau gegenzusteuern, doch die Reifen griffen nicht mehr auf der rutschigen Fahrbahn und der Toyota drehte sich unkontrolliert um seine Achse.

Irene verlor vollends die Kontrolle über den Wagen und schleuderte seitlich von der Straße in den Graben am Rand des Waldes. Erschrocken schrie sie auf und kniff die Augen zu.

Lass da kein Baum sein, bitte, bitte lass da kein Baum sein, betete sie im Stillen.

Knirschend ratterte das Auto durch Schnee und Laub, ehe es mit einem kräftigen Ruck stehenblieb.

Irene stieß mit dem Kopf unsanft gegen das Lenkrad und dann war es endlich vorbei.

Das Nächste, was sie wahrnahm, waren ihre zittrigen Hände, die noch auf dem Lenkrad ruhten. Ihr Kopf dröhnte und das Blut rauschte in den Ohren. Vorsichtig atmete sie ein und aus, um die kleinen schwarzen Punkte vor ihren Augen zu vertreiben.

Bis auf die Scheinwerfer, deren trübes Licht einige Bäume unweit vor ihr erhellten, war es um sie herum stockfinster.

Irene konnte das Rütteln des Windes spüren, während sie wie betäubt auf die dichten Schneeflocken starrte, die um den RAV herumwirbelten.

Ich lebe noch, dache sie. Benommen versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Wieso war sie bloß in die Stadt gefahren? Es hätte ihr bewusst sein sollen, dass Askuwheteau Recht behalten würde. Das tat er eigentlich immer.

Erst als jemand am Türgriff rüttelte, hob sie den Kopf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie realisierte, dass es Julian war. Gleich darauf hörte sie das kalte Knirschen des Schnees, als er endlich die Tür aufstemmte.

So viel Schnee in so kurzer Zeit.

»Irene, bist du verletzt?« Die Eindringlichkeit seiner Worte riss sie aus ihrer Benommenheit.

»Ich – glaube nicht.«

Mit zittrigen Fingern fummelte sie an ihrem Gurt herum, doch sie bekam den Schalter, der ihn lösen sollte, nicht richtig zu fassen.

»Verflixter Gurt. Er – ich kann ihn nicht ...«

Julian beugte sich über sie und löste die Sperre mit einem Handgriff. Behutsam zog er sie hoch und half ihr aus den Wagen. Erst als sie im Schnee stand, konnte sie seine Hände spüren, die ihre Schultern fest umklammerten.

»Hey, sieh mich an.« Seine Stimme klang eindringlich und er hob ihr Kinn an.

»Irene, sieh mich an, ist alles in Ordnung?«

»Ja, ich denke schon«, krächzte sie endlich. Ihre Knie drohten unter ihr nachzugeben und sie verspürte eine leichte Übelkeit, doch irgendwie wusste sie, dass sie nicht verletzt war. Zumindest nicht schwer.

»Ich hab nichts«, versicherte sie Julian schwach.

Er berührte behutsam ihre Stirn, auf der sich bereits der Ansatz einer Beule abzeichnete.

»Du hast dir den Kopf gestoßen.«

Irene zuckte leicht zusammen.

»Oh, hab ich – gar nicht bemerkt.« Verwirrt starrte sie in seine grünen Augen, in denen sich seine Sorge widerspiegelte.

»Ja, das seh ich.«

Er wandte sich ab und zog den Schlüssel aus dem Schloss ihres RAV, ehe er nach ihrer Tasche griff und sie ihr hinhielt. Automatisch nahm sie die Tasche entgegen und hängte sie sich um.

»Komm, dein Auto bleibt erstmal hier.« Er schloss die Fahrertür und sperrte zu. Die Ruhe, die er dabei ausstrahlte, griff auf Irene über und sie nickte nur. Das klang irgendwie vernünftig.

Dann hörten beide gleichzeitig dieses Geräusch. Es fiel ihnen deswegen auf, weil es nicht hierher passte. Zuerst klang es wie das Jaulen eines verletzten Tieres, ehe es in ein hohles Knurren überging. In diesem Ton verbarg sich rohe Wildheit.

»Was – ist das?« Ihre Stimme zitterte und übertrug sich auf ihren Körper. Immer noch vom Unfall benommen, stierte sie entsetzt in die Dunkelheit der Baumgruppe hinter ihr. Eine frostig kalte Klammer legte sich um ihr Herz. Bewegte sich da etwas zwischen den Bäumen?

Ja, jemand – etwas starrte sie an. Irene konnte förmlich die Gegenwart eines fremden Wesens spüren. Im Dunkeln lauernd – gefährlich – Ein Jäger.

Die Luft um sie herum wirkte mit einem Mal eingefroren. Eine unheilvolle Atmosphäre ruhte über der gesamten Gegend.

Bis auf das hohle Jaulen und dem eisigen Wind schienen sämtliche natürlichen Geräusche um sie herum verstummt.

»Was zum Teufel«, Julian fuhr herum und durchbohrte mit seinem Blick die nähere Umgebung. Auch er konnte die Stimmung wahrnehmen, die sich über den einsamen Ort inmitten dem Mistydew Forest gelegt hatte und sie gefiel ihm nicht. Durch den dichten Schnee konnte er schemenhaft die hohen Bäume erkennen, die in einiger Entfernung eine undurchdringliche Wand bildeten. Bewegte sich dort zwischen den Bäumen etwas?

An der Stelle auf seinen Oberarm, wo sich das Tattoo befand, konnte er ein leichtes Brennen wahrnehmen. Das drohende Unheil war greifbar. Da draußen lauerte etwas. Etwas, dessen kalte Bösartigkeit sämtliche Lebewesen, auch die größten, vor Furcht erstarren ließ.

Ein kalter Lufthauch strich über Irene hinweg. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Gefahr, dachte sie. Der Ort schien von etwas Unnatürlichem beherrscht. Instinktiv klammerte sie sich an Julians Arm.

Er fluchte leise. Das war nicht gut. Ganz und gar nicht. Hier lief etwas völlig falsch. Die gesamte Atmosphäre war erfüllt von erdrückender, bösartiger Kraft. Unbewusst tastete er nach seinem Colt, den er seit geraumer Zeit wieder mit sich herumtrug. Das Gefühl des schweren Metalls an seiner Hüfte trug dazu bei, seine Gedanken zu klären. In dem Moment wich das durchdringende Jaulen einem sanften Gesang. Worte einer unbekannten Sprache drangen von allen Seiten auf die beiden Menschen ein und durchfloss zart ihre Seelen.

Die Ahnung eines Grauens erfasste Irene mit weicher, dunkler Intensität. Es war überall um sie herum. In der Luft, in der gesamten Atmosphäre – es war ein Teil des Ganzen und tastete sich an sie heran.

Wie versteinert starrte sie in den, vom wilden Tanz der Schneeflocken getrübten Wald. Dort lauerte es. Etwas Mächtiges, Grausames – ganz in ihrer Nähe. Flüchtige Bilder zweier junger Menschen schlichen sich in ihr Bewusstsein. Die beiden Vermissten. Hier bei Bitteroot Creek hatte die Polizei den Wagen gefunden. Dumpfe Angst machte sich in ihrem Inneren breit.

Sie ließ zu, dass das Grauen ihre Seele durchfloss, spürte die übermächtige Gier, die ihr aus der Düsternis des Waldes entgegenschlug.

Lange genug war sie in der Wildnis zuhause gewesen, genügend Zeit um eine reale Bedrohung instinktiv zu erkennen.

Es jagt uns, dachte sie. Wir sind Beute.

Unfähig sich zu widersetzen, ließ sie sich von der Angst einhüllen.

Irenes Griff um Julians Arm verstärkte sich unmerklich. Wir müssen hier weg.

Julian dachte ähnlich. Seine Sinne liefen auf Hochtouren. Das war nicht normal. All seine Instinkte rieten zur Flucht. Das Tattoo auf seinem Oberarm prickelte, als würden sich hauchdünne Nadeln in seine Haut bohren.

Das Böse. Er kannte das Gefühl. Auch ohne sein Tattoo wusste er um die Bedrohung.

Schemenhaft erhob sich etwas zwischen den Bäumen. Es schwankte, ungelenk, schlaksig, fast wie ein Betrunkener, doch Julian wusste, das hier war kein Mensch. Innerlich wurde er eiskalt und hochkonzentriert.

»Es will töten«, flüsterte Irene. Sie vermochte sich kaum zu rühren.

Eigenartig, wieso sagte sie sowas? Der Unfall, sicher, der war schuld daran. Sie war verwirrt, stand unter Schock.

Ja, ich stehe unter Schock, bestimmt.

»Okay, komm, ich bring dich zum Jeep.« Die Worte kamen tonlos, von kalter Ruhe erfüllt. Doch Julian hatte alle Mühe ruhig zu bleiben.

Irene nickte benommen.

Kurzerhand schloss Julian seinen Arm um ihre Hüfte und trieb sie vorsichtig an.

»Los, lass uns von hier verschwinden.« Er wusste nicht, was da auf sie lauerte, doch er spürte, dass sie sich beeilen mussten. Falls die Kreatur sich dazu entschloss, sich auf sie zu stürzen, würden sie keine Zeit haben, zu verschwinden. Eisige Schauer rieselten über seinen Rücken, als der Singsang erneut zu einem Jaulen überwechselte. Näherte es sich?

Wir müssen schnell sein, aber wir können nicht laufen, schoss es ihm durch den Kopf.

Würden sie losrennen, was anhand Irenes Zustand sowieso nicht funktionierte, wären sie die flüchtenden Opfer und würden den Jagdtrieb dieser Kreatur vermutlich steigern.

Irene war benommen. Vermutlich hatte sie mehr abbekommen, als sie dachten, also durfte sie im Augenblick nicht erkennen, womit sie es hier zu tun hatten. Denn eines war sich Julian gewiss: Das hier war kein blutrünstiger Bär, es war auf keinen Fall ein normales Tier.

Sein Tattoo kribbelte erneut und all seine Sinne waren hellwach. Wenn Irene jetzt hysterisch wurde, waren sie verloren.

»Okay, Kleines, komm. Wir gehen zum Jeep zurück. Ich helfe dir«, sagte er so sanft, wie möglich. Irene traute im Augenblick ihrer Stimme und ihren Sinnen nicht genug, um zu sprechen, also nickte sie stumm.

»Es ist besser, wenn wir wieder in die Stadt fahren.« Er sah sich rasch um, während er Irene vorsichtig zurück Richtung Straße geleitete.

»Schön langsam.«

Julians gefasste Art besänftigte sie eigenartigerweise.

Das Schneetreiben schien indes zuzunehmen. Julian wagte erneut einen kurzen Blick zurück, doch die dichten Flocken nahmen ihm die Sicht.

War es näher gekommen? Für einen Sekundenbruchteil schloss er die Augen. Nein, nur nicht daran denken – einfach weitergehen.

Es war nicht weit, dennoch kam Julian die Strecke wie eine Ewigkeit vor. Es kostete ihn alle Mühe, nicht loszustürmen. Diese Kreatur würde sofort zuschlagen, wenn sie losrannten. Opfer rannten immer, Raubtiere jagten stets fliehendes Wild.

Er atmete vorsichtig aus. In wenigen Sekunden nur würden sie da sein. Die Straße war gleich hier. Der Jeep stand oben, und der Motor lief noch.

Gut, dachte er. Sehr gut. Wir schaffen das.

Irene lehnte mit ihrem gesamten Gewicht auf ihn, während er ihr über die Böschung durch den tiefen Schnee hinauf auf die nasse Straße half. Er hielt sie so fest, er konnte. Wenn sie ihm entglitt, oder wenn der Schrecken des Unfalls, der sie garantiert noch in ihrem Bann hielt, verging, dann würde sie realisieren, dass hier etwas passierte, was nichts mit Normalität zu tun hatte und sie würde durchdrehen.

Nur ruhig bleiben. Keine hastigen Bewegungen, keine Panik.

Entfernt spürte Irene die Kälte, die durch alle Schichten ihrer Kleidung drang. In ihrem Hinterkopf bildete sich der logische Gedanke, das ihr Adrenalin nach dem Unfall langsam verpuffte, weswegen sie zu frieren begann. Komisch, wie klar ihr Bewusstsein auf einmal war.

Ich denke, aber ich bin nicht wirklich hier.

Erleichtert erkannte Julian den Jeep. Die Scheinwerfer durchdrangen die unmittelbare Düsternis der Straße.

Nur noch ein paar Schritte. Das seltsame Jaulen war verstummt, oder verschluckte der erneut aufkommende Wind sämtliche Geräusche? Julian wollte es nicht wirklich wissen.

Als er endlich die Beifahrertür für Irene öffnen konnte, ließ sie sich apathisch auf den Sitz sinken.

Sie ließ zu, dass Julian ihr den Gurt anlegte und ihr eine Jacke, die er vom Rücksitz klaubte, über die Beine breitete. Rasch warf er die Tür zu. Julian wagte einen weiteren Blick über die Schulter zurück in die düstere Schneelandschaft, ehe er blitzartig um das Auto herum fegte und die Fahrertür aufriss. Rasch warf er sich auf den Sitz und verriegelte die Türen von innen.

Julian nahm sich nicht die Zeit, sich anzugurten, sondern legte sofort den Gang ein. Keinen Moment zu früh!

Ein hässliches Schleifen direkt neben der Beifahrertür riss Irene aus ihrer Lethargie und sie fuhr heftig zusammen.

Automatisch blickte sie zum Fenster hinaus. Sie konnte gar nicht anders. Es war wie ein innerer Zwang.

Die Seitenscheibe beschlug sich, doch Irene vermeinte, einen schemenhaften hohen Schatten dahinter zu erkennen.

Eine verschwommene Fratze, verzerrt durch den kalten Dunst aus Schnee und Nebel, schien sie für den Bruchteil einer Sekunde anzustarren.

Eine Kälte, die von innen her rührte, ließ sie frösteln.

Hastig rieb sie sich über die Augen, blinzelte.

Nein, ist nicht richtig. Kann nicht sein.

Ihre Fantasie hatte ihr sicher einen Streich gespielt. Sie war gerade mit dem Auto von der Straße abgekommen. Sie hatte sich den Kopf angeschlagen.

Ich hab mir den Kopf gestoßen, daran liegt es,dachte sie.

Sie öffnete erneut die Augen, starrte auf die beschlagene Scheibe. Nichts – da war gar nichts.

Nur Schnee. Es stürmt, das ist ganz normal.

Sie atmete hastig und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Nur nicht nachdenken, du stehst noch unter Schock. Alles ist in Ordnung.

Plötzlich prasselte hartes Eis gegen die Scheibe und etwas Schweres traf die Beifahrerseite. Das Auto wurde heftig durchgerüttelt, und Irene schrie auf, während sie sich auf dem Armaturenbrett abstützte.

»Verfluchte Scheiße!« Julian nahm sich nicht die Zeit, in den Rückspiegel zu sehen.

Wie eine Masse aus Eis und Schnee wischte etwas Schweres an dem Auto vorbei.

Was es genau war, würden sie nicht mehr herausfinden, denn Julian stieg aufs Gas.

Die Reifen drehten sofort auf dem schmierigen Asphalt durch, der Motor heulte laut auf, doch Julian ließ nicht nach! Er betätigte weiterhin dosiert das Gas, bis er spürte, dass die Reifen endlich griffen. Im gleichen Atemzug schlug Julian mit dem Lenkrad ein, und ergriff die Handbremse. Irene schrie vor Schreck, als der Wagen sich um hundertachtzig Grad drehte und über die schmierige Straße driftete. Panisch klammerte sie sich an den Sitz und schloss die Augen.

Erst als ihr bewusst wurde, dass sie nicht irgendwo gegen einen Baum gekracht – oder über die Böschung gestürzt waren, öffnete sie die Augen wieder.

Sie war kaum in der Lage, Erleichterung zu empfinden, denn ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Was passierte gerade? Oder besser gesagt, was WAR gerade passiert?

Julian lenkte das Auto trotz des beträchtlichen Schneefalls sicher über die inzwischen gefährlich glatte Straße.

Nach einer Weile bemerkte Irene, wie die Spannung endlich von ihm abfiel. Er warf ihr einen kurzen Blick von der Seite her zu, ehe er tief durchatmete.

»Wir fahren zurück nach Stormy Mills.« Er sagte es mit ruhiger, monotoner Stimme. Das hatte er vorher schon erwähnt und es klang richtig.

»Gut«, krächzte Irene mühsam und ließ sich erschöpft in den Sitz zurückfallen.

Ein Anflug von Schuldbewusstsein meldete sich in ihr. Es ist wegen mir passiert. Ohne ihren unnötigen Abstecher in die Stadt wären sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Auf einmal war sie heilfroh, Julian an ihrer Seite zu haben.

3. Kapitel

Zurück in Stormy Mills

Julian fuhr vorsichtig, aber sicher über den 93er Highway zurück. Insgeheim bewunderte Irene ihn dafür, denn sie hätte nicht mehr so fahren können.

In der Ferne nahm sie unscharf die Umrisse der ersten Häuser von Stormy Mills wahr, und atmete erstmal durch. So war es sicher besser, außerdem hatte der Schneefall an Intensität zugenommen.

Irene wurde nicht bewusst, dass sie im Augenblick das Entsetzen, das sie erlebt hatte, verdrängte. Stattdessen kreisten ihre Gedanken um Belangloses. John, Melanie, der blöde Kinofilm.

Das war ja wieder mal typisch für sie. Wieso hatte sie sich auch eingebildet, unbedingt ins Silverdime Theatre zu gehen? Entgegen jeder Vernunft und ohne an das Risiko zu denken, wie immer.

Nicht wie immer, flüsterte eine Stimme.

Es ist wegen John. Er ist schuld – er bringt dich dazu, solche Blödheiten zu machen. Du bist einfach dämlich, wenn es um ihn geht.

Ob ihre Kusine doch recht gehabt hatte? Brauchte sie tatsächlich Matt und Julian?

Im Moment sah es fast danach aus. Fröstelnd zog sie den dicken Anorak, den Matt vermutlich aus purer Gewohnheit im Auto gelassen hatte, enger um ihren Oberkörper. Obwohl Julian die Heizung auf Hochtouren laufen hatte, wurde ihr nicht richtig warm. Immer wieder durchzogen kleine Schauer ihren Körper. Sie spürte, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen.

Als die Lichter der Stadt sie endlich milchig empfingen, reichte die Sicht nur mehr bis zur Windschutzscheibe. Alles ringsherum verschwamm in einem grauweißen Dunst aus unzähligen, kleinen Schneeflocken.

Julian lenkte den Jeep auf den handtuchgroßen Parkplatz des Oldtime Motels und stellte den Motor ab.

»Hey, ich geh mal rein und versuche, ein Zimmer zu bekommen. Schaffst du es hier alleine?« Seine grünen Augen musterte sie besorgt. Sie versuchte ein Nicken.

»J – ja, iich, ich komm klar.«

»Okay, ich bin sofort wieder da.«

Er stieg rasch aus und lief auf die trüb beleuchtete Eingangstür des Motels zu. Irenes Zustand war besorgniserregend. Sie hatte sich den Kopf gestoßen, stand noch immer unter Schock. Und was zur Hölle war nur im Wald los gewesen? Sein Tattoo hatte geprickelt, das war schon sehr lange nicht mehr passiert und es bedeutete nichts Gutes. Hastig drückte er die Tür zur Rezeption auf und betrat den warmen Raum.

Während Julian sich um ein Zimmer kümmerte, zog Irene den Anorak enger um ihren Körper. Wieso konnte ihr einfach nicht warm werden? Was war los?

Ihre verworrenen Gedankenströme gaben ihr keine Antwort darauf.

Nach einiger Zeit wurde sie unruhig. Bilder von verzerrten Fratzen, Schneestürme und Geister, die sie bedrohten, vermischten sich mit dem soeben Erlebten. Wo blieb Julian nur? Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, öffnete jemand die Beifahrertür.

»Komm, wir hatten Glück, oder anders gesagt, es gibt ein Zimmer für uns.«

Verwirrt starrte sie Julian an.

»Okay, wir, wir haben also – ein Zimmer.« Noch konnte sie mit dem Gesagten nichts anfangen.

Julian atmete tief durch.

»Ja, es gibt ein Zimmer für uns beide, alle anderen sind ausgebucht. Irgendeine Firma hat sich hier überall einquartiert.«

»Du meinst, wir – wir müssen?« Der Gedanke allein mit Julian in einem Motelzimmer zu sein, löste Unbehagen in ihr aus. Es war schwer genug, mit zwei so heißen Typen wie Matt und Julian zusammenzuleben. Doch allein mit einem von ihnen in einem Zimmer zusammengepfercht zu sein, erschien ihr schlichtweg unmöglich.