MISTY DEW 3 - Agnete C. Greeley - E-Book

MISTY DEW 3 E-Book

Agnete C. Greeley

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Beschreibung

In Cedars geht das Gerücht um, ein Serientäter treibe sein Unwesen. Anlass dazu gibt das spurlose Verschwinden einiger Frauen. Dennoch lässt sich Irene von Matt überreden, Mr. Lambeck's Arbeitsauftrag anzunehmen, um endlich wieder einmal unter die Leute zu kommen. Wieso auch nicht? immerhin lässt ihr Chef zwei Karten für die "Rocky Horror Show" in Cedars springen. Kurzerhand nimmt Irene daher auch gleich ihre Freundin Melanie mit auf diesen Städtetripp. Bald schon beginnt für alle Beteiligten eine ganz eigene "Rocky Horror Show". Plötzlich sind nämlich auch Irene und Melanie spurlos verschwunden. Sofort starten Matt und Julian ihre Suche und finden sich bald inmitten eines mysteriösen Albtraumes wieder.

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Misty Dew 3 – Schattentraum

Zum Buch

Mehrere Frauen verschwinden in Cedars spurlos. Das schürt die Gerüchteküche und bald spricht jeder von einem Serientäter. Nebenbei herrscht in der Stadt gerade reges Sommertreiben und die Cedars Tribune hat alle Hände voll zu tun.

Irene lässt sich, nach ihrer langen Pause von Matt überreden, einen Auftrag ihrer Zeitung anzunehmen. Wieso auch nicht? Mr. Lambeck, ihr Chef lässt Hotel und zwei Karten für die ‚Rocky Horror Show‘ springen. Das kommt Irene natürlich sehr gelegen. Kurzerhand nimmt sie ihre Freundin Melanie mit auf diesem Städtetrip.

Julian hat unterdessen mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Nach einem Einsatz, bei dem er sich verletzt hat, wird er nämlich in einer Nacht und Nebelaktion mitsamt seinem Trailer auf einen Rastplatz ausgesetzt, wo er etwas später von einem missgelaunten Matt aufgelesen wird. Ehe Julian eine Gelegenheit findet, ihm, oder Irene seine lange Abwesenheit von der Ranch zu erklären, beginnt für alle Beteiligten eine ganz eigene ‚Rocky Horror Show‘.Denn plötzlich verschwinden auch Irene und Melanie. Fieberhaft beginnen die beiden Männer mit ihrer Suche, die sie in die dunklen Abgründe eines Ausgestoßenen führt.

Zur Autorin:

Agnete C. Greeley wurde in den Siebzigern in Dänemark geboren.

Da ihre Eltern, ein österreichischer Vater und eine dänische Mutter beschlossen, ihr Glück in Österreich zu versuchen, musste sie mit nur neun Jahren von ihrem alten Leben Abschied nehmen. Um sich von der schwierigen Situation abzulenken, begann sie damit, Geschichten zu erfinden und aufzuschreiben.

Sie verfeinerte ihre Kunst des Schreibens in Kursen und beendete 2010 ihren ersten Roman, den sie ausschließlich für ihre Familie und Freunde schrieb.

Später studierte sie Belletristik an der Hamburger Universität und veröffentlichte weitere Werke. Heute lebt die Autorin in Wien.

Unter Agnete C. Greeley erschienen:

Aus der Mistydew Romanreihe:

Misty Dew 1 - Schattenfeuer

Misty Dew 2 - Schattenwinter

Kurzgeschichten:

Kleine Schattenwelten (eBook)

Anthologien:

Bezaubernd bunte Textwelten

Telefon!

Unter Acey W. Greeley:

Roman: Nebel der Vergangenheit

Agnete C. Greeley

Misty Dew 3

Schattentraum

Impressum:

Copyright © 2016 A. C. Greeley, Wien,

http://www.aceyw-greeley.eu/

Blog: http://www.nebeltau.blogspot.co.at/

Textmitarbeit von Autorin: Sara Heinzmann

Teiltexte für Misty Dew 3 - Schattentraum wurden A. C. Greeley von Sara Heinzmann als Informationsquelle zur freien Verfügung gestellt und entsprechend an die Handlung angepasst.

Sara Heinzmann:

Blog: http://fadensommer.blogspot.co.at/

Covergestaltung © Reija T. Korpela

COPYRIGHT © 2016 A. C. Greeley

Der Titel ist bei Lektoren.ch unter Hinweis auf § 5 Abs. 3 MarkenG in allen Schreibweisen und Darstellungsformen geschützt und im Online-Titelschutz-Anzeiger veröffentlicht worden.

Das Manuskript, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrovervielfältigungen und die Einspeicherung und/oder die Verarbeitung in elektronische

Systeme.

Verlag: epubliGmbH, Berlin, www.epubli.de

Worte der Autorin zu Mistydew 3 - Schattentraum

Der Roman Mistydew 3 - Schattentraum ist ein Gemeinschaftswerk. Die Handlung ist in Co-Produktion mit meiner Autorenfreundin Sara Heinzmann entstanden.

Als die Mistydew-Welt seinerzeit erschaffen wurde, war Sara aktiv bei der Gestaltung dabei. Ihr verdanke ich den Charakter von Melanie und Trey sowie die Ortschaft Pinedale.

Deswegen beschloss ich vor gut einem Jahr, dieses Projekt auf die Beine zu stellen.

Es war eine wahre Herausforderung, denn wir mussten den verschiedenen Texten ein eigenes Gesicht geben – die Geschichte zu einer Romanhandlung zusammenschneidern, ohne die Schriftsprache der Autorinnen zu sehr zu entfremden.

Viele Texte, insbesondere die, wo Melanie auftaucht, entstammen teilweise ihren Ideen und wurden nur von mir passend abgewandelt, um den Roman zu einem geschlossenen Werk zu gestalten. Es war mein Wunsch, ihre Ideen in meine Handlung mit reinzunehmen und sie gab mir freie Hand. Es ist mir eine Ehre gewesen, mit ihren Texten, die ursprünglich aus meinem alten Forum stammten, zu experimentieren und die Handlung passend zu gestalten. Daraus entwickelte sich eine ganz besondere Geschichte, in der das Herzblut und die Leidenschaft zweier Autorinnen zusammenfließt.

Dadurch ist die Geschichte vielschichtiger, außerdem geht sie durch die Intensität der Handlung in die Tiefe und verleiht der Geschichte eine spezielle Note. Dieser Roman ist zweifellos anders, als die ersten beiden und einzigartig in ihrer Entstehung. Es war ein tolles Projekt und ich bereue keine Sekunde, diesen Schritt gewagt zu haben.

Agnete C. Greeley

Misty Dew III – Schattentraum

Speak to me,

your inner dreams will lay illusions bare,

and when the sun will rise again,

you’ll not awake,

and I take care.

Dream for me,

I’ll watch over y1ou

until eternal dreams

at last will take your lights,

and drift away with you,

into eternal nights ...

A. C. Greeley

Prolog

Niemand bemerkte die einsame Gestalt, die auf der menschenleeren Anhöhe stand und über die Lichter der Großstadt starrte. Ein weiterer Tag neigte sich dem Ende zu.

Stimmengewirr aus den belebten Gassen drang zu ihm empor. Er hörte Musik, Leute, die lachten oder sich lautstark unterhielten.

Mit leiser Wehmut dachte er an seine alte Heimat, wo Legenden noch allgegenwärtig waren, wo Menschen den Geistern und Dämonen gebührenden Respekt zollten. Doch dorthin konnte er nicht mehrzurück.

Hier war alles anders. Eine Welt voller ungeduldiger, lauter Wesen, die versuchten, Zeit zu gewinnen, die nicht vorhanden war. Ganz anders als zuhause im Paradies.

Nein, hier gefiel es ihm nicht. Düsternis und Kühle, an die er sich nicht gewöhnen konnte, der Lärm, und die grelle unnatürliche Beleuchtung.

Es gab so viele andere Plätze im Universum. Wieso nur hatte man ihn hierher geschickt? Selbst die großen Höhlen in den Bergen jenseits des großen Wassers wären besser gewesen, als dieser trostlose Ort hier.

In dieser Gegend war es ständig feucht und viel zu kalt. Es stank nach den lauten Fahrmaschinen, die sich ohne Kamele oder Dromedare fortbewegten. Hartes, kaltes Metall, das mit einer einzigen Person alleine auskam.

Mütter, wie Töchter, Väter und Söhne, alle liefen herum, hatten Pläne, mussten so viel erledigen. Keine Beschaulichkeit, keine Ruhe, nur Rastlosigkeit, wohin er auch blickte.

Verbannt aus den wunderbaren Weiten seiner Welt, trieb er durch Zeiten und Länder, die er nicht mehr verstand– nicht verstehen konnte.

Sehnsüchtig dachte er an seinen geliebten heißen Wüstenwind aus der Heimat. An die sich meilenweit erstreckenden Sanddünen von Merzouga und die schier unermesslichen Zedernwälder mit den grünen Tälern des erhabenen Atlas. Er sah die, mit Gold und Edelsteinen geschmückten Hallen seines Palastes vor sich. Tief im wilden Land zwischen der Wüste und den Bergen verborgen, am Rande alter Lehmdörfer, die sich an das Bergland schmiegten.

Prächtig schimmernde Smaragde und blutrot leuchtende Rubine schmückten die hohen Wände. Seidige Teppiche bedeckten marmorne Böden.

Im Geiste sah er seine Töchter vor sich, wie sie anmutig tanzten und fröhlich die Hallen bevölkerten – wie sie Feinde in ihre Fallen lockten und sie in ihren Bann zogen. Seine prächtigen Töchter, die ihm alle Ehre gemacht hatten, bis zu jenem unglückseligen Tag. Bis in alle Ewigkeit würden sie singen und tanzen, doch er würde sie niemals wieder sehen.

Er dachte an all die schönen Frauen in ihren anschmiegsamen, bunten Gewändern, die ihm stets mit Freude zu Willen gewesen waren. Alle waren so glücklich gewesen. Er war glücklich gewesen, mit ihr, deren Haare wie feingesponnenes Gold über zierliche Schultern fielen. Warm und zärtlich.

Von Liebe durchflutet und ohne Argwohn, war sie ihm in den Palast gefolgt. Entgegen alle Warnungen hatte er sich ihrer angenommen. Bis zu jenem unglückseligen Tag ...

Schmerzerfüllt dachte er an ihr Ende. Blutig, unwürdig ...

Den schwachen Erdlingen Energien zusätzlich zu entziehen, verstieß gegen die Gesetze. Er haftete für die Taten seiner Kinder, also musste er nach der schändlichen Tat seiner jüngsten Tochter seinem Reich den Rücken kehren. Der große Meister hatte ihm verboten, jemals wieder zurückzukommen. Er hatte einen Fehler begangen. Er hatte sich den Geboten des großen Marid nicht, wie vorgegeben, unterworfen und war durch seinen Ungehorsam in die Verbannung geschickt worden.

Solange er nicht wiederkehrte, würden seine Töchter jedoch leben, und sein Werk fortsetzen. Sie waren stark. Stärker als er. Sie konnten bestimmen, ob Menschen sie sehen durften. Wenn sie wollten, reichten ihre Berührungen aus, um Männer in ihren Bann zu ziehen. Auch waren all seine Töchter mit großer Schönheit gesegnet und würden allesamt bald heiraten. Sie würden prächtige Söhne gebären, die an seiner Stelle über das Reich herrschten. Doch es würde ihm verwehrt bleiben, diesen Triumph mitzuerleben. Stattdessen befand er sich hier, in einem undankbaren Land, voller Hektik und Unruhen. Die Menschen, allesamt blass und unscheinbar, konnten keinem seiner Artgenossen das Wasser reichen.

Bis auf die Eine – diejenige, die für ewig in seinem Herzen verbleiben würde.

Ein Stück Seele – verloren in der Unendlichkeit des Seins. Nur der Schmerz, der würde ewig währen.

Sie hatte mit Liebe überzeugt, niemals hätte er ihr ein Haar gekrümmt, obgleich sie eine Menschenfrau war. Im Gegensatz zu den Erdlingen dieser Zeit. Schwache, undankbare Wesen, voller Argwohn und Scheinheiligkeit. Ganz anders als sie und bei weitem anders als sein Volk jenseits des großen Wassers.

Altbekannte Bilder glitten in seine Erinnerung.

Die engen Gassen seines Dorfes, die vielen Stände im Suq, mit all den begehrenswerten Waren und den warmen, lebendigen Menschen.

Wenn er wollte, konnte er alles vor sich sehen, als ob er noch dort wäre. Fast vermeinte er, die Gewürze auf seiner Zunge zu schmecken, die vielen aromatischen Düfte wahrzunehmen. Kardamom, Safran, warmer Zimt, Muskat und Gewürznelken. Duftende Öle in anmutigen Behältnissen, geflochtene Körbe voller saftiger Datteln und Erdnüsse. Bunt geschmückte Esel und Dromedare, geführt von ihren prächtig gekleideten Besitzern. Auch konnte er, wenn er sich konzentrierte, Geräusche seiner Heimat wahrnehmen.

Stimmengewirr, Kinderlachen, schwatzende, fröhlich feilschende Frauen und Männer, die ihren Tag am Markt begannen.

Schwermütig sah er zum kühlen Nachthimmel empor. Selbst die Sterne, die dort oben leuchteten, erinnerten ihn an seine geliebte Heimat. Heimweh durchflutete jede Faser seines Körpers.

Erst als kühler Wind sein Gesicht streifte, wurde er unsanft aus seinen Erinnerungen gerissen.

Sein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, als er sich erneut in dieser fremden, ungastlichen Welt wiederfand.

Die Menschen hatten sich in den vielen Jahren seines Daseins nicht wesentlich geändert, auch wenn sie das dachten. Nur mehr wenige hatten tatsächlich den Willen zu träumen, oder nahmen sich Zeit, für andere da zu sein. Macht und Gewalt herrschten überall. Hier konnte er die Kälte spüren, die diese Menschen ausstrahlten, konnte die Angst und die Wut riechen, die dominierte. Alle wirkten unstet, als hätten sie kein bestimmtes Ziel.

Er fühlte die fremden Gedanken, las die unerfüllten Wünsche der resignierenden Männer und Frauen, die längst schon aufgehört hatten, zu hoffen – oder sogar zu leben. Ein Suhlen in Selbstmitleid und Faulheit.

Ihre Träume jedoch brannten sich in seine Seele, wie glutheiß sprühende Funken. Diesen unwirklichen Schmerz hieß er willkommen, gab sich ihm hin, verband es ihn doch mit seinem Wesen.

Ein hohles Lachen scholl zu ihm empor und riss ihn aus seiner Gedankenwelt. Der leichte Wind riss es mit sich fort und zurück blieb die Leere einer Sommernacht. Bald ...

Bald schon würde er sich unter all diese Menschen mischen, ihren Duft in sich aufnehmen und seine Wahl treffen.

Er mochte sie eigentlich nicht – hielt sich lieber von ihnen fern, doch er brauchte sie, und einige brauchten ihn. Deswegen musste er noch eine Weile warten. Erwachsene Erdenwesen konnten ihn nicht wahrnehmen, da sie nicht aufmerksam durch das Leben schritten, wie die Kleinsten ihrer Art.

Kinder gingen noch mit offenen Augen durch die Welt. Sie scheuten nicht davor zurück, alles zu entdecken. Oft sah er sie, wie sie ihn musterten. Nicht ängstlich, oder voller Hass, eher neugierig und mit einem Lächeln auf den Lippen. Dann erzählten sie etwas ihren Müttern, oder den Vätern, die einen ratlosen Blick auf ihn warfen, ohne ihn zu sehen. Kinder bewegten sich nicht verborgen durch das Leben, wie die Großen. Dadurch entdeckten sie oft Dinge, die Erwachsene anhand ihres beschränkten Horizontes nicht mehr wahrnahmen. Nur sie hatte ihn gesehen, seine Anwesenheit gespürt. Sie hatte seine Nähe gesucht, bis er sie erhörte.

Der schicksalhafte Tag, als seine Letztgeborene diese fruchtbare, aus Liebe entstandene Koalition schlagartig zerstörte, ließ nicht lange auf sich warten.

Trauer durchflutete sein Herz erneut. Es war ihm verboten gewesen, eine Menschenfrau aufzunehmen, doch er hatte sich über dieses Verbot hinweggesetzt, zu stolz, um die Gefahren dahinter zu erkennen – und damit die Frau ungewollt zum Tode verurteilt. Ohne es zu bemerken, geriet sie in die Falle. Er hätte es ahnen müssen, doch bis die Erkenntnis kam, war es zu spät gewesen. Die unermessliche Gier Seinesgleichen nach menschlicher Energie gestattete es ihnen nicht, dauerhaft unter Erdlingen zu verweilen.

Und nun irrte er inmitten dieser Wesen herum, die ihn schwächten, ihn zwangen, sein Leben zu erhalten. Welch eine Strafe! Er konnte ohne sie nicht existieren und es gab keinen anderen Ausweg.

Er würde warten, bis die Nacht hereinbrach. Da begann seine Zeit, die bis in den frühen Morgenstunden hinein andauerte. Dann waren die meisten Kinder nicht mehr auf den Straßen oder in den Gebäuden unterwegs.

Er verließ die Anhöhe und begab sich langsam hinab in die Straßen dieser Stadt im Tal der Nebel.

Er verharrte zwischen den Gassen und betrachtete das Bauwerk, in dessen Kellerräumlichkeiten er sich tagsüber verkroch. Es war nicht riesig, wie sein Palast, aber weitläufig genug, um unentdeckt zu bleiben.

Vor dem hellerleuchteten Gebäude aus den Zwanzigern herrschte reges Treiben.

Die Menschen liebten es, hierher zu kommen. Sie sahen die Pracht des alten Hauses, genossen es, sich darin und rundherum aufzuhalten, doch sie wussten nichts von den feuchten Tiefen seines, unter der Erde liegenden dunklen Reiches. Längst schon hatten sie vergessen, wie es früher hier gewesen war. Keiner konnte sich vorstellen, dass dort unten jemand wohnen konnte. Wieso auch? Die Erwachsenen hatten keine Zeit mehr, um zu sehen, was außerhalb ihrer Welt existierte. Ein flüchtiger Blick nur, eine mitleidige Geste oder ein hastiges Vorübereilen. Schon war der Augenblick der Wahrnehmung vorbei, einzig und allein der alte, verwahrloste Mann im Keller hatte ihn gesehen. Doch dessen Worte waren wirr, sein Aussehen lumpig und seine Gestiken unkoordiniert. Eine verirrte Seele in den Fängen der Reichen und Mächtigen. Er war keine Gefahr für ihn.

Müde zog er sich in die Schatten der hohen Häuser zurück.

Ein paar Menschen eilten vorbei, eine Frau, einsam und tief in Gedanken versunken, bog versonnen in ein kleines Gässchen ein.

Ihr Haar wie gesponnenes Gold. Er erzitterte bei ihrem Anblick. Sog ihren Duft tief in sich ein.

Ihr Duft, so zart, Maiglöckchen gleich, mit dem Bouquet einer Zitrusfrucht. Ja, sie roch richtig ... Sein Herz schmerzte. Erinnerungen an die Andere gerieten erneut an die Oberfläche.

Er schwelgte in den Duft der Fremden, ertastete sorgfältig ihr Wesen. Er konnte einen Blick in ihre Gedanken werfen, spürte ihre Wünsche. Sie war eine von denen, die nach Erfüllung unerwiderter Träume lechzten, ohne sie erzwingen zu wollen. Ahnungslos eilte sie dahin, auf dem Weg zu einem Termin, einem Treffen, oder etwas anderes, dass ihre Zeit stahl.

Ungesehen von dem Rest der Welt folgte er ihr, denn sie brauchte ihn, brauchte Träume.

Die mickrige Menschheit wusste es nicht, nahm das Leben zu wichtig, doch Leben war nicht mehr als ein Staubkorn im Universum. Träume jedoch könnten sich anfühlen, als ob sie niemals endeten.

Langsam schlich er ihr in der Dunkelheit nach.

Er konnte ihr helfen, denn er konnte Träume schenken. Und sie würde ihm helfen, am Leben zu bleiben, wie die anderen.

1. Kapitel

Casper – Wyoming

Der Privatdetektiv Will Sawyer bremste vor einem schönen, alten Haus.

»Das ist die Adresse, Jul.«

Julian Weston betrachtete das Gebäude missmutig. Es war zwar alt, doch sah auch ausgesprochen teuer aus.

»Stinkt förmlich nach Geld«, murmelte er. Will nickte.

»Oh ja, der Superstar hat es vor einem Jahr gekauft. Hoffen wir, dass unsere Verschwundene wirklich hier ist.« Wills grimmigem Tonfall war zu entnehmen, dass ihm der Besitzer des Hauses aufs Äußerste missfiel.

Seit einer Woche durchkämmten sie Wyoming nach der sechzehnjährigen Lorrie Fellner, die von zuhause ausgerissen war, um ihrer Lieblingsband ‚Hell Of Panic‘ zu folgen. Die Eltern des Mädchens, angesehene Bürger aus Casper, hatten Will Sawyer beauftragt, sie zu suchen, nachdem sie einen Brief gefunden hatten, indem ihre Tochter ihnen mitteilte, dass der Leadsänger Collin, sie geschwängert hatte.

Dennoch war es nur der Aufmerksamkeit einer Kellnerin zu verdanken, dass sie Lorrie endlich aufspüren konnten. Sie hatte dem Mädchen am Vortag ein Taxi gerufen und der Taxifahrer, ein netter Inder, erinnerte sich an die Adresse, die das Mädchen angegeben hatte.

Und nun waren sie in Newcastle vor dem Haus, in dem der Rocksänger sich aufhielt, wenn er nicht gerade auf Tour war.

»Wieso sucht sich so einer nicht einfach eines von diesen dürren Models?«

Julian war sauer. Die Eltern schienen nicht genügend Zeit für ihre Tochter zu haben und der Leadsänger war entfleucht, nachdem er Lorrie verführt und geschwängert hatte. Das verzweifelte Mädchen hatte scheinbar keinen anderen Ausweg gesehen, als abzuhauen, um diesem arroganten Mistkerl zu folgen.

»Und wieso zum Teufel redet von diesen Herrschaften keiner miteinander?«, knurrte Julian.

Will zog eine Augenbraue hoch.

»Hm, tja, das frag ich mich schon seit vergangenem Herbst«, brummelte er.

Julian tat, als hätte er nicht verstanden, worauf Will anspielte. Er wusste genau, dass es um seinen überstürzten Aufbruch im Vorjahr ging, als er sein neues Zuhause, die Eagleside Ranch im Mistydew County verlassen hatte, um, wie er sagte, mit Will über den Tod seiner Eltern und Schwester zu sprechen. Er war seitdem nicht wieder zu seinen Freunden Irene und Matt zurückgekehrt, obwohl er oft daran dachte. Doch noch konnte er sich nicht dazu überwinden. Er hatte Will verschwiegen, dass er und Irene sich näher gekommen waren, als beabsichtigt. Nun wusste er nicht, was er tun sollte. Um diesem Gespräch erneut auszuweichen, zeigte er auf das Haus.

»Schau mal da!«

Die Veranda war, bis auf eine Hollywoodschaukel leer und die Haustür stand einen Spalt offen, dennoch stand damit noch nicht fest, ob sich jemand im Haus befand.

»Da oben brennt Licht«, raunte Julian, während er auf ein offenes Fenster im Obergeschoss zeigte. Nun erkannte auch Will das diffuse Schimmern einer Lampe.

»Gut, lass uns nachsehen, ob sie hier ist«, der ältere Mann stieß die Autotür auf und stieg aus. Julian tat es ihm gleich und betrat noch vor Will die Veranda. Trotz der offenen Eingangstür klopfte er. Der Druck seiner Hand ließ die Tür noch ein bisschen aufgleiten.

»Hallo! Jemand zuhause?« Julian trat vorsichtig über die Schwelle.

Keine Antwort. Er rief nochmal, diesmal etwas lauter. Erneut meldete sich niemand.

»Hm, das gefällt mir nicht.« Er sah sich in der schattigen Diele um. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn.

Will, der ihm gefolgt war, nickte unbehaglich.

»Komisch ist es schon.« Er lauschte in den Raum. Das Haus schien ausgestorben.

»Hallo?« Keine Geräusche drangen aus dem Inneren zu ihnen. Sie hörten nur die Vögel im Garten und entfernte Verkehrsgeräusche vom Highway.

Kein Radio, kein Fernsehen oder Klappern von Geschirr. Nichts wies auf die Anwesenheit einer anderen Person hin.

Will kratzte sich den Kopf.

»Irgendwie unheimlich. Ich meine, vielleicht ist der Arsch nicht da, aber sie muss irgendwo hier sein.« Stirnrunzelnd musterte er die Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Seit ein paar Tagen litt Will an seinen altbekannten Rückenschmerzen. Stufensteigen fand er deswegen nicht besonders verlockend.

»Okay, ich seh mich hier unten um und du gehst nach oben«, entschied er grimmig.

Julian verkniff sich eine seiner üblichen Bemerkungen über Wills Alter und nickte stattdessen.

»Gut, ruf einfach, wenn du etwas entdeckst.« Nach einem prüfenden Blick zum Obergeschoss stieg er rasch die Treppe hinauf.

Oben begrüßte ihn erstmal diffuses Grau.

Aus einer halboffenen Tür am Ende des Ganges fiel ein zarter Lichtschimmer hinaus auf den Holzboden.

Nun vernahm Julian einen schwach surrenden Ton, wie ein leises Brausen, doch er konnte nicht erkennen, woher es kam oder was es war. Mehrere Türen führten hinaus auf die Galerie, wo er sich befand, doch die Zimmer dahinter interessierten ihn nicht. Schritt für Schritt näherte er sich dem Zimmer, woraus das Licht sickerte. Das könnte durchaus ihre Unterkunft sein. Falls nicht, hielt sich jemand anderer hier oben auf, der ihnen womöglich auch Auskunft geben könnte. Genaueres wusste Julian nicht, aber immerhin bot das Haus genügend Räume für Gäste.

»HALLO? LORRIE?« Da er wieder keine Antwort erhielt, betrat er einfach den Raum und sah sich darin um.

Das Fenster stand sperrangelweitoffen und die abgekühlte Abendluft des frühsommerlichen Tages drang ungestört ins Zimmer. Es roch nach frisch gemähtem Rasen und feuchter Erde. Ein warmer Tag lag hinter ihnen, doch der Hochsommer ließ noch auf sich warten. Neben dem Bett stand eine bunte Reisetasche, aus der Kleidungsstücke quollen. Die Decke auf dem Bett war unachtsam zurückgeschlagen und das Kissen lag schief. Das helle Leintuch war zerknittert, als ob jemand gerade erst darin gelegen hatte.

Er entdeckte eine Musikzeitschrift und ein aufgeschlagenes Modemagazin. Eine brünette Frau in einem luftigen Sommerkleid lächelte ihn fröhlich aus dem Bild entgegen.

Er ging langsam durch den Raum und horchte. Noch immer konnte er das Brausen wahrnehmen. Es schien lauter zu werden, oder war das nur Einbildung? Nein, es klang wie – er ging zurück zur Tür und spähte auf die Galerie. Dann erkannte er endlich, woher das Geräusch kam!

Ein kleines Rinnsal Wasser sickerte unter einer geschlossenen Tür hervor und hinterließ einen glänzenden Teich auf dem Parkettboden.

Und jetzt hörte er auch das Geräusch. Es war fließendes Wasser! Rauschend wie ein Wasserfall zerstörte es die Stille von zuvor und Julian sprintete los.

Er riss an der Klinke, doch die Tür war versperrt, also warf er sich dagegen.

»WILL!« Er schrie so laut, er konnte, und warf sich abermals gegen die Tür, doch sie gab nicht nach.

Ruhig, du musst ruhig bleiben.

Wie aus weiter Ferne hörte er schwere Schritte die Stufen hochpoltern, doch darauf achtete Julian nicht. Er ging ein paar Schritte rückwärts um den nötigen Schwung zu bekommen.

Genau dort, wo der Widerstand der Tür am geringsten war, trat er zu. Zwei Tritte, drei– beim vierten Tritt krachte das Holz und die Tür schwang auf.

Das Bad war von Wasser und Blut überschwemmt.

Will schrie etwas, doch Julian achtete nicht auf ihn. Er rutschte auf dem nassen Boden aus, knallte auf die Fliesen und spürte den scharfen Schmerz, der durch seinen Ellenbogen in die Schulter jagte. Keine Zeit, dachte Julian.

Er hatte nicht genügend Zeit.

Sofort rappelte er sich wieder hoch. Der Schmerz war vorhanden, doch er fühlte sich nicht an, als wäre es sein eigener. Seine helle Jeans färbte sich dunkel unter dem Blut, und das Wasser strömte weiter über den Wannenrand.

Darin saß Lorrie. Ob die Augen geschlossen waren, oder offen, konnte Julian nicht erkennen, doch er sah ihr weißes Gesicht und ihren Hals aus dem roten Meer ragen. Wie auf blankem Eis glitt er zu ihr, bückte sich und zog die schlaffe Gestalt aus der Wanne. Sie war schwer, schwerer als man denken würde, doch Julian ließ sie nicht los. Er spürte helfende Hände, die sich neben ihm unter den leblosen Körper der Frau schoben, und machte automatisch Platz.

Auf den dumpfen Schmerz in seinem Arm nahm er keine Rücksicht, sondern hob mit Wills Hilfe das Mädchen aus der Badewanne.

Später ...

Im Motelzimmer sah er noch immer den überfluteten Boden vor sich.

Das weiße Gesicht des Mädchens– der nackte Körper, leblos und kalt, während er nach seinem Handy suchte. Er hatte es nicht gefunden, aber Will hatte seines hervorgeholt und den Notruf gewählt. Im Flur hatte Julian automatisch mit seinem Gürtel und einem Handtuch ihre Handgelenke umwickelt. Sie hatte sich nicht gerührt, nicht aus eigener Kraft. Er hatte sie mit Mund-zu-Mund-Beatmung ins Leben zurückgerufen – nach anderen Wunden gesucht – alles getan, was er konnte, bis er endlich die Sirenen der Ambulanz durch das offene Fenster hörte.

Jetzt saß er wie betäubt auf seinem Bett im Motel, den verletzten Arm eingebunden und in einer Schlinge.

»Hier, trink das.« Will hielt ihm einen Plastikbecher mit Whisky hin. Julian nahm ihn anstandslos und trank einen großen Schluck. Er spürte, wie sich die Wärme des Alkohols in seinem Körper ausbreitete, zuerst in seinem Kopf, dann im Magen und auch in seinem schmerzenden Arm. Er trank weiter.

»Du hättest im Krankenhaus bleiben sollen. Dein Arm sollte nochmal kontrolliert werden«, murmelte Will. Normalerweise gab er nicht so viel auf Krankenhäuser und deren Ärzte, doch Julians Arm war ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Und das ist nicht alles, dachte er besorgt.

»Ich war zu langsam, Will.«

Der ältere Mann schüttelte den Kopf.

»Nein, wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre sie tot. Du hast ihr das Leben gerettet.« Er fuhr sich durch das stellenweise ergraute Haar. Das heutige Erlebnis hatte beide mitgenommen.

Julian reagierte nicht auf die Worte seines väterlichen Freundes. Noch war er zu sehr von dem Erlebten betäubt. Will wusste ja nicht, dass Julian nicht alleine von diesem einen Mädchen sprach. Er konnte nicht wissen, dass er von all den Menschen sprach, denen er hatte helfen wollen, die dennoch gestorben waren.

»Komm, du musst schlafen.« Der ältere Mann klang sanfter als sonst.

Julian ließ sich von ihm hochhelfen, ehe er auf sein Bett sank, und dank Schmerz – und Beruhigungsmittel rasch einschlief.

Seufzend zog Will die dünne Decke über ihn. Danach ließ er sich schwerfällig auf einen Sessel nieder. Er sorgte sich um den jüngeren Mann. Nach so vielen Monaten sollte Julian nicht mehr hier in Wyoming herumhängen, sondern wieder auf der Eagleside Ranch in Montana sein, und Irene, sowie Matt in den Wahnsinn treiben. Will verstand nicht, was ihn noch in Wyoming festhielt.

Nachdem Julian im Herbst bei ihm aufgetaucht war, hatte sich vieles geändert.

Zum ersten Mal seit langer Zeit hatten sie geredet. Ein Wunder, da beide kein glückliches Händchen für tiefschürfende Gespräche hatten, doch es war ihnen gelungen, eine Gesprächsbasis zu finden, mit der beide zurechtkamen.

Vor Jahren waren Julians Mutter und seine Schwester von einem angeblichen Grizzly getötet worden, doch die Erinnerungen, die Julian sich im Laufe seiner Jahre als Schutzschild angedichtet hatte, waren falsch. Es war nicht so, dass er nicht wusste, was tatsächlich passiert war. Seine Familie hatte sich mit Dingen herumgeschlagen, die normale Familien nicht ansatzweise verstanden, dennoch hatte er mit der Grizzlygeschichte den wahren Sachverhalt betäubt, wie Will es nannte.

Der Schleier hatte sich gelüftet, als Julian im Mistydew County in Montana auf dasselbe Monster traf, das seinerzeit seine Mutter und Schwester erwischt hatte. Der Schock hatte ihn aus der Bahn geworfen. Es war ihnen gelungen, das Wesen zu besiegen, doch diesmal war es für die Eagleside-Crew sehr knapp geworden und ein Mensch hatte sogar sein Leben dabei verloren.

Danach wurde Julian bewusst, dass Will über all die Jahre nicht einmal versucht hatte, ihm die Wahrheit näher zu bringen, und das, obwohl Will der beste Freund von Julians verstorbenen Vater Liam gewesen war.

Es hatte dem alten Mann viel Geduld und Mut gekostet, Julian, seinem Adoptivsohn, nach all den Jahren die ungeschminkte Wahrheit zu erzählen. Nach seiner anfänglichen Wut verstand Julian, warum Will seinerzeit so gehandelt hatte und sie schlossen abermals Frieden. Danach war der jüngere Mann bei ihm geblieben, um ihm bei seinen Fällen zu helfen, wie er meinte.

Er sprach nicht viel über die Eagleside Ranch, doch Will wusste, dass Julian zu Weihnachten mit Matt, dem jungen Vorarbeiter telefoniert hatte. Scheinbar vermied er es aber, mit Irene zu sprechen. Bisher hatte Will sich nicht eingemischt. Stattdessen hoffte er, Julian würde von alleine zur Ranch zurückkehren. Denn auch wenn es dem Jungen noch nicht bewusst war, er gehörte dort hin. Seine Verletzung würde ihn sowieso eine Zeitlang zur Ruhe verdammen, da war das Mistydew County genau das Richtige. Will musste ihn nur dazu bringen, zurückzukehren. Die Frage lautete nur, wie?

2. Kapitel

Eagleside Ranch

Der Regen plätscherte gegen die Scheiben des Arbeitszimmers und Irene legte müde ihren Bericht zur Seite.

Eigentlich sollte sie das Wichtigste für das große Ranchertreffen in der Stadt fertig haben, doch sie schweifte viel lieber ab, als sich auf langweilige Rancherproblematiken zu konzentrieren, außerdem war sie müde.

In der vergangenen Nacht hatte sie kaum ein Auge zugetan. Die Albträume waren zurückgekehrt, diesmal in veränderter Form. Sie rannte vor einem Wesen davon, das sie durch eine Wüstenlandschaft jagte. Ehe er sie erreichte, war sie aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Wieso sie ausgerechnet in einer Wüste herumrannte, konnte sie nicht verstehen, denn der Wendigo hatte sie durch das kalte Mistydew Gebirge gejagt, dennoch kam ihr die Handlung vertraut vor. Irgendwann gegen fünf Uhr früh war sie in ihr Arbeitszimmer gegangen, um an dem Bericht zu arbeiten.

Ihr Job als freie Journalistin bei der großen Zeitung Cedars Tribune, gefiel ihr normalerweise, doch im Augenblick wollte sie sich lieber vergraben und sich von der übrigen Welt zurückziehen. Die Arbeit auf der Ranch hätte ausgereicht, um zu überleben. Auch hatte ihr verstorbener Onkel Ethan ihr genug vererbt, damit sie auch in schweren Zeiten über die Runden kam.

Ihr Job war es in erster Linie, traumatisierten Pferden zu helfen. Sie war eine Pferdeflüsterin, zumindest nannten die Pferdebesitzer der Gegend sie so. Egal wie problematisch ein Pferd war, sie hatte noch keines im Stich gelassen, auch wenn sie sich mehrmals dadurch in Gefahr begeben hatte.

Zurzeit war es ruhig auf Eagleside. Im Augenblick gab es keine großen Problemfälle, dennoch gab es genug zu tun. Sie hatten ein paar Felder, die sie selbst bestellten. Mais, Karotten, Kartoffel, allgemeines Gemüse, wie Salat, Kohl oder Kohlrüben, dass man selbst gut gebrauchen konnte, und die Wiesen, die sie für das Heu der Pferde brauchten. Dadurch gab es Arbeit in Hülle und Fülle, aber mit Hilfe der beiden Cowboys und Farmhelfer Ben Clay und Nick Wilder, gelang es ihr meistens, mit allem fertig zu werden.

Im Zimmer war es kühl, fast schon kalt, fand Irene.

Ob es an der inneren Kälte lag, die sie seit jenem schrecklichen Erlebnis im Herbst begleitete? Sorgfältig zog sie ihre Strickjacke enger um den Körper. Vermutlich hatte sie deswegen von der Wüste geträumt, um dieser Kälte zu entgehen.

Mr. Lambeck, ihr Big Boss von der Cedars Tribune hatte ihr in den Mails garantiert alle Infos geschickt, doch sie fühlte sich noch nicht bereit, ihren Bericht abzugeben, zumindest redete sie sich das ein.

Eigentlich wollte sie gar nicht nach Cedars. Die große Stadt erschien ihr nach dem schrecklichen Erlebnis im Herbst, fremd und unendlich weit weg. In Wahrheit hatte sie nur Angst davor, sich gehen zu lassen und ein wenig Abstand von der Einsamkeit der Ranch zu bekommen.

Eine Menge Gedanken störten ihre Konzentration, dabei hatte sie bereits alle wichtigen Fakten für den bevorstehenden Vortragstag beisammen. Es gab bereits eine komplette Liste der einflussreichsten Rancher aus dem Mistydew County. Außerdem hatte sie sich ein paar Randnotizen gemacht, die sie im Bericht mit einfließen lassen konnte.

Irene war geübt darin, alte Infos mit neuen Geschehnissen zu einem nigelnagelneuen Artikel zusammenzufassen, sollte es notwendig sein. Außerdem verfügte sie über persönliche und berufliche Informationen zu allen bekannten Ranchern des Mistydew County. Bei einigen war sie beliebt, bei anderen verhasst, doch niemand zweifelte ihre Integrität an. Das machte sie bei ihrem Boss Mr. Lambeck unersetzbar, doch sie war nicht besonders erfreut über diese Tage, an denen sie sich in Schale werfen, und schon am Vormittag Smalltalk führen musste. Scheinheiligkeiten, langweiliges Blabla, dumme, manchmal auch geschmacklose Scherze, scheinbare Nettigkeiten, die bei genauerem Betrachten eher das Gegenteil waren. Ja, Irene wusste, wie es lief, sie wusste, wie es funktionierte, aber sie konnte es nicht ausstehen und im Augenblick waren ihre Gedanken nicht so kontrolliert, wie üblich. Sie würde in der Stadt höllisch achtgeben müssen, um nicht in diverse Gesprächsfallen zu stolpern. Ihr einziger Lichtblick war Peter Lewis, der Vortragende. Er war unter Paint-Züchtern sehr bekannt und geschätzt. Irene hatte schon zwei seiner Seminare besucht.

Ohne den Bericht erneut in die Hände zu nehmen, schlenderte sie zum Fenster und starrte hinaus.

Der Platz vor der Hausweide lag verlassen da. Der Regen hatte inzwischen die Erde aufgeweicht und das im Frühling neu gewachsene Gras flach auf den Boden gedrückt. Sie konnte vor ihrem geistigen Auge nach wie vor den alten, rotangestrichenen Trailer von Julian sehen. Julian, der hier ein neues Zuhause gefunden hatte und trotzdem wieder gegangen war.

Nach dem Schrecken war alles noch verworren. Zuviel Grausames war passiert und hatte tiefe Wunden bei allen hinterlassen.

Eine indianische Legende hatte Menschen entführt, und sie in einer Mine als Nahrung gehortet. Irene war in die Fänge dieses Wesens geraten, doch Askuwheteau, ein bekannter Indianer aus dem Indianerrat des County hatte sich geopfert, um sie zu retten. Sowohl er wie auch Julian waren durch das Böse mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert worden.

Die Polizei, die Ranger, alle waren auf den Plan getreten, um die Sache zu klären. Danach hatte Irene für die Cedars Tribune einen Bericht über einen Killergrizzly verfasst, der dank eines bekannten, mutigen Indianers aus Stormy Mills zur Strecke gebracht wurde. Es war der schwerste Bericht ihres Lebens gewesen, doch besser sie machte es, als irgendjemand anders, der keine Ahnung davon hatte.

Ein paar Tage füllte das Thema sämtliche örtliche Zeitungen, bis erneut der Alltag ins Land einkehrte.

Als Matt aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war und der Trubel sich legte, hatte Julian sich verabschiedet, um, wie er meinte, einiges mit seinem alten Freund Will zu klären, der in Wyoming eine Detektei betrieb.

Ob ihm das inzwischen gelungen war? Hatte er alles verarbeitet? Konnte er ruhig schlafen, ohne von Albträumen geplagt zu werden, so wie sie?

»Wohl eher nicht«, sprach Irene zu sich selbst. Er war auch nur ein Mensch und sie hatte gespürt, wie tief das Erlebte an ihm nagte. Verständlich, wenn man bedachte, dass er seine Mutter und seine Schwester an einem Monster verloren hatte.

Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals und Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Abschied war nicht gut verlaufen. Zu verworren, zu viele nicht geklärte Einzelheiten und jetzt war es zu spät. Sie blinzelte die Tränen weg. Eigentlich wollte sie nicht ständig an ihn denken, doch er fehlte ihr.

Als der Sommer mit all seiner bunten Vielfältigkeit den Winter ausradiert, und ein Paradies im Mistydew County gezaubert hatte, schien die Welt wieder in Ordnung.

Zumindest für die Meisten aus der Gegend. Aber Julian war fort und Askuwheteau würde niemals wiederkommen.

Das letzte Jahr hatte ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt und es schien noch lange nicht vorüber. Ständig hatte sie das Gefühl, dass das Böse, in welcher Gestalt auch immer, zurückkehren würde.

Askuwheteaus Haus stand leer und verlassen da. Die Parkranger hatten es zwar als ein weiteres Schutzhaus in den Bergen in ihre Obsorge genommen, doch sie brachten es nicht übers Herz, etwas daran zu verändern.

Gleich einem inneren Zwang zog es Irene immer wieder dort hin. Der Platz hatte etwas Tröstliches, so als ob der Indianer noch immer vor Ort war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Natürlich war es Schwachsinn, so zu denken, aber sie wollte sich nicht von diesem Gefühl distanzieren.

Unwillig wischte sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln.

Ein dezentes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.

»Ist offen.«

Sie wusste, dass es Matt war. Er schien ein Gespür für ihre Stimmungen zu haben, und tauchte immer in den richtigen, oder wenn man es so wollte, falschen Augenblicken auf.

Ein dunkler Haarschopf erschien in der Tür, besorgte Augen musterten sie.

»Ich dachte mir, du könntest einen Kaffee gebrauchen.«

Sie nickte gedankenverloren, während er eine große Tasse auf ihrem Schreibtisch abstellte.

Flüchtig registrierte sie, dass es ihre geliebte Betty Boop-Tasse war. Eine von vielen Comictassen, für die sie ein Faible hatte.

Irene bedankte sich, während sie versuchte, ihre Traurigkeit vor ihm zu verbergen.

Nach Julians Flucht war eine harte Zeit für die Eagleside Ranch angebrochen.

Matt war lange außer Gefecht gesetzt gewesen und eine Zeitlang bestand der Verdacht, dass er nie wieder aufs Pferd steigen konnte. Gottlob hatte sich das als falsch rausgestellt, obwohl noch lange nicht alles überstanden war.

Bedingt durch die Verletzungen, die das Monster Matt zugefügt hatte, litt er noch zeitweise an Rückenschmerzen und zog sein rechtes Bein nach, auch wenn er bereits ohne Krücken ging.

In Seattle gab es eine gute Klinik mit einem hervorragenden Reha–Plan, doch Matt wollte Irene nicht auf der Ranch allein lassen. Deshalb kam Doc Whitewater jede Woche einmal hoch, um ihn zu untersuchen und ihn mit den Heilsalben aus seiner Indianerapotheke zu versorgen. Außerdem hatte er ihm ein eigenes Reha–Programm erstellt, dass der Cowboy konsequent nutzte. Nebenbei fuhr Matt zweimal in der Woche nach Shannon zu einem Physiotherapeuten.

Irene bedankte sich für den Kaffee, doch blieb beim Fenster stehen.

»Wie gehts dir?«, fragte er leise, ohne näher zu kommen.

Sie drehte sich noch immer nicht um.

»Ist heut noch viel zu tun?«, fragte sie indessen, ohne näher auf seine Frage einzugehen.

Matt runzelte die Stirn.

»Du beantwortest meine Frage mit einer Gegenfrage. Ich will wissen, wie es dir geht.«

»Gut, soweit. Ich – ach, ich kann mich nur nicht konzentrieren.«

Sie schluckte, ehe sie sich endlich zu ihm umwandte.

Klarerweise sah er, in welcher Stimmung sie sich befand, doch er fragte nicht. Sie würde sich sonst sofort verschließen. Das tat sie in letzter Zeit öfter.

»Okay, es geht mir nicht gut, aber was solls?« Sie zuckte mit den Schultern.

»War auch schon mal schlimmer. Ich laufe eben einfach hier rum und bringe nichts zustande.«

Matt erkannte die dunklen Schatten unter ihren Augen. Sie hatte nicht gut geschlafen. Vermutlich waren die Albträume wieder zurückgekehrt.

»Ich mach gerade Waffeln. Du musst noch etwas essen. Ich bring dir welche her.«

»Nein, schon gut, ich komm mal lieber mit in die Küche.«

»Okay, dann hau ich gleich noch mal ein paar Eier in die Pfanne und mach ein paar Bagels. Es gibt auch massenhaft Ahornsirup. Die Sugaring-off-Party in Quebec ist seit Wochen vorbei, also hab ich gleich mal einen Karton bestellt.«

»Nicht so viel. Ich meine, ich kann doch nicht so viel essen«, protestierte sie leise. Matt nickte entschlossen.

»Doch, kannst du. Sonst bekommst du deinen Bericht niemals fertig und kippst um. Hast du überhaupt deine Mails kontrolliert?«

»Äh, nein, noch nicht, also nicht alle, aber ich will den blöden Bericht abschließen, bevor ich Lambecks Mails beantworte.«

»Du hast die Mails nicht mal gelesen, stimmt‘s?«

»Ähm«, sie strich sich eine ihrer widerspenstigen, blonden Haarsträhnen hinter dem Ohr zurück, vermied es jedoch, ihn anzusehen.

Matt, der diese Gestik schon kannte, schüttelte den Kopf.

»Irene, so geht das nicht. Du kannst nicht einfach die Mails von deinem Chef ignorieren. Du hast dich für diese Woche freiwillig gemeldet, also musst du auch seine Nachrichten lesen. Außerdem musst du in die Stadt. Du weißt das. Der Bericht ist ja nur Vorbereitung. Sicher hat er dir wieder ein Bestechungsangebot geschickt.«

Irene seufzte. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Ihr Boss Mr. Lambeck ließ sich immer etwas einfallen, um sie bei einem bevorstehenden langweiligen Auftrag in die große Stadt zu locken.

»Oh, ja, das kann sein.« Es klang nicht sehr überzeugend.

»Hör zu, schau dir deine Mails an, ich zaubere uns etwas in der Küche und du kommst einfach, wenn du die Nachrichten deines Bosses gelesen hast.« Er verließ das Zimmer rasch, um weiteren Ausflüchten zu entgehen.

»Na gut, dann mach ich das halt«, nicht sehr motiviert, begab sie sich an den Computer und startete das Outlook.

Er hatte ja recht. Sie wusste, dass sie längst schon hätte reinsehen sollen, immerhin hatte Lambeck sie bereits zweimal angerufen und sie sicherheitshalber vorgewarnt. Dennoch hoffte sie, dass das Internet sie im Stich lassen würde, doch leider klappte es diesmal sofort.

Nachdem sie sich in letzter Zeit nicht wirklich um ihre Nachrichten gekümmert hatte, hagelte es eine Menge Mails.

Sie überflog die meisten rasch, bis sie zwei von der ‚Cedars Tribune‘ erkannte, die Mr. Lambecks Assistentin Jane White mit dem Vermerk ‚Wichtig‘ markiert hatte.

Resigniert sank sie auf ihrem Stuhl zurück. Jetzt war es also so weit! Sie musste zu einem feinen Treffen in die große Stadt.

Missmutig klickte sie auf die erste Mail und las schon, was sie insgeheim befürchtet hatte.

Ihr Auftrag war endgültig fällig. Der Pferdeausbildner aus Montana, Peter Lewis hielt einen Vortrag über die Qualifizierung junger Paints und darüber musste sie einen Bericht für das Ranch–Gold–Magazin schreiben. Das bedeutete mindestens drei Tage Aufenthalt in Cedars. Eine nervige Angelegenheit, wie sie fand.

Peter Lewis war ein gutaussehender Mann Mitte vierzig. Irene hatte schon zwei Bücher von ihm gelesen. ‚Mustangs – Legenden der Rockies‘ und ‚Spotted Fever – Ein Leben mit Paints‘. Seine Vorträge waren meistens sehr gut besucht. So würde es wohl auch diesmal sein. Dennoch hatte Irene ein komisches Gefühl bei der Sache. War sie schon bereit dazu, in die Stadt unter Menschen zu gehen? Konnte sie es nach all dem Schrecken ertragen? Sie war sich nicht sicher.

Obwohl die Stadt sehr schön war, fand sie diese im Augenblick zu groß, zu laut und viel zu anstrengend. Früher hatte sie die Geschäfte genossen. Sie war oft in eines der vielen netten Lokale, Clubs oder Cafés gegangen, aber im Augenblick fühlte es sich an, als würde sie eine völlig andere Welt betreten.

Klar musste sie ab und zu in den sauren Apfel beißen. Das gehörte nun mal dazu, auch wenn ihr Boss Jonathan Lambeck wusste, wie wenig sie Aufträge wie diese mochte, doch das Gefühl, sich schutzlos der Stadt auszuliefern, ließ sie diesmal zögern.

Entmutigt von der ersten Nachricht öffnete sie die zweite Mail, indem er sie wiedereinmal persönlich anschrieb. Sein Angebot war wirklich großzügig.

»Das ist eine Option«, murmelte sie. Ihr Chef war nicht gerade knausrig, wenn es darum ging, sie zu bestechen.

Diesmal gab es Karten für zwei Personen zu dem in Cedars laufenden Musical ‚The Rocky Horror Show‘ sowie eine Reservierung für zwei Kingsize-Zimmer im Fairmont Inn. Dieses Hotel zählte zwar zu der gehobenen Klasse in der Stadt, war dennoch nicht so anstrengend wie zum Beispiel das Crowne Palace Hotel. Diesmal fuhr er echt schweres Geschütz auf, um sie zu ködern.

»Zwei Kingsize-Zimmer – Mann oh Mann, der Kerl ist echt nicht geizig.« Misstrauisch las sie sich das Angebot noch ein weiteres Mal durch. Da war sicher ein Haken dabei– und wen sollte sie außer ihrer Freundin Melanie überhaupt mitnehmen?

Immer, wenn ihr Boss Irene in die Stadt lockte, profitierte Irenes beste Freundin davon.

Klarerweise ein gut durchdachter Schachzug von Mr. Lambeck.

Mit Mel im Schlepptau arbeitete Irene viel lieber in der Stadt, und das wusste er. Doch weshalb hatte er diesmal gleich zwei Zimmer auf die Lockliste gesetzt? Ob er sich tatsächlich Gedanken um sie machte? Wusste er, wie nervös sie sich fühlte? Wusste er, wie sehr der Schrecken im Herbst sie noch immer bis in ihre Träume verfolgte? Sie schüttelte den Kopf. Nein, woher sollte er das wissen? Er dachte nur an einen Killergrizzly, außerdem hatte sie nicht näher mit ihm darüber gesprochen. Dennoch wäre es möglich, dass er verstand, wie schwer es war, ein solches, oder besser gesagt, ähnliches Erlebnis hinter sich zu lassen. Seine Frau war im Vorjahr gestorben und seitdem stand seine Stadtvilla mit Ausblick auf den See leer. Konnte durchaus sein, dass auch er dieses schwere, dumpfe Gefühl der Trauer kannte.

Ihr Blick fiel auf eine Nachricht von Ken Larsson, ein bekannter Rancher aus Moosecreek, der wunderschöne Paints züchtete. Irene wollte seit Jahren ein weiteres Painthorse und hatte auf ein Angebot von ihm geantwortet. Seine Frau und er hatten sich vor über einem Jahr getrennt, weswegen Irene vermutlich nichts von ihm gehört hatte. Doch im Frühling hatte er ihr zurückgeschrieben und sie auf seine Ranch zur Begutachtung eines seiner Pferde eingeladen. Sie hatte sich einen Einjährigen angesehen, der ihr gefiel, und hatte zugesagt, ihn zu nehmen, sobald Ken ihn hergeben wollte. Seine sanfte, geduldige Art mit Pferden umzugehen, hatte ihm den Ruf, eines der besten Pferdeausbildner des County eingebracht.

Seit ihrer netten Begegnung schrieben sie sich gelegentlich. Einmal waren sie gemeinsam essen gewesen, ein normales, gemütliches Geschäftsessen, bei dem sie Details des Pferdehandels besprochen hatten. Nur Melanie hatte durchklingen lassen, dass er ziemlich gut aussah und scheinbar ein Interesse an Irene hegte. Fast wäre es ihm gelungen, Irene zu einem Ausflug nach Moosecreek zu überreden, wo jährlich ein bekannter Pferdemarkt stattfand, doch Irene hatte dankend abgelehnt. Für Rendezvous war sie nicht bereit, und das sichere Gefühl, sich auf ein solches einzulassen, hatte sie davon abgehalten, sein Angebot anzunehmen.

Beiläufig überflog sie die Nachricht, in der er ihr mitteilte, dass er sich geschäftlich in Cedars aufhielt, und sie sich wohl beim Vortrag von Peter Lewis sehen würden. Er wusste also, dass sie ebenso anwesend sein würde. Kopfschüttelnd schloss sie die Nachricht wieder. Vermutlich reichten seine Beziehungen aus, um einen Blick auf die Gästeliste zu ergattern. Sie ärgerte sich nicht darüber, denn auch wenn Irene auf keinen Fall einen neuen Freund wollte, war er ein kluger, hilfsbereiter Mensch, mit dem sie sich unterhalten konnte, ohne verzweifeln zu müssen. So könnte der lange Vormittag bei diesem Vortrag vermutlich doch noch ganz annehmbar werden.

Seufzend griff sie zum Telefon. Erstmal würde sie Melanie anrufen, danach konnte sie sich über die Details dieses Vortrags Gedanken machen.

Mel war wie so oft, nicht erreichbar, also hinterließ sie ihr eine Nachricht, ehe sie zu Matt in die Küche ging.

Das reichhaltige Frühstück half Irene tatsächlich, zu entspannen. Es war seit langem das erste gemeinsame Frühstück mit Matt und sie erkannte, wie sehr sie das vermisst hatte.

Matt stützte sich auf den Küchentresen, während er mit einem Kochlöffel die Eier aus der Pfanne auf zwei Teller verteilte.

»Hier, iss nur, und du solltest echt mal versuchen, deinen Job zu machen. Und damit meine ich nicht die Pferdeausbildung. Die gelingt dir von allein. Es geht um deine Journalistentätigkeit. Du musst einen Abschluss finden.«

Irene biss sich auf die Lippen. Matt hatte recht, sie wollte diesen Job machen, doch seit dem Erlebten fand sie es nicht mehr so wichtig, Reportagen für die Rancher zu schreiben.

»Was nimmt Lambeck denn diesmal, um dich zu überzeugen?«, fragte er interessiert.

»Zwei Hotelzimmer im Fairmont Inn, Kingsizebetten, und zwei Karten für die Rocky Horror Show, mit anschließendem Clubbesuch im ‚NoMad‘, wo wir einen Drink spendiert bekommen.« Unsicher sah sie Matt an. »Ich weiß nicht. Irgendwie fühlt es sich seltsam an. Ken Larsson kommt auch.«

»Hör mal, ich kapier’s ja, okay? Ich bin genauso wenig bereit, jetzt schon alles hinter mir zu lassen. Aber du musst nach Cedars zu deinem Chef und du weißt das! Die monatliche Besprechung steht an, dein Bericht ist fast fertig, und dann hast du auch noch die Gelegenheit, Ken Larsson zu treffen.«

Schuldbewusst schob sich Irene einen Bissen Rührei in den Mund und kaute eifrig, doch Matt sah sie mit seinem ‚Seelendurchleuchtblick‘ an, wie sie ihn nannte.

»Mein Ernst. Du musst weitertun, und das wirst du auch. Ken Larsson, Lambeck, all diese Menschen werden auf deiner Seite sein. Da gibt es nichts zu meckern und schon gar keine Ausreden.«

Irene murmelte etwas von einer Diktatur, doch Matt drehte sich zum Küchentresen um und tat, als hätte er nichts gehört.

»Noch einen Bagel?«

Sie nickte ergeben.

»Ja, gut.«

Aus ihr unerfindlichen Gründen hatte sie wirklich Hunger.

Während Matt den Toaster bestückte, warf sie einen Blick auf den Denver-Observer und die Cedars -Daily News.

Irgendwann hatten sie sich darauf geeinigt, neben den örtlichen Zeitungen auch eine außenstehende zu abonnieren, damit es nicht zu einseitig wurde. Also überflog Irene erstmal die Schlagzeilen der Daily News, während sie auf den Bagel wartete. Die Colorado–Zeitung musste halt noch warten.

Eine Familie aus Moosecreek war bei dem letzten Unwetter ums Leben gekommen. Als Ursache wurde ein Murenabgang angegeben.

In Shannon war eine Tankstelle überfallen worden und die beiden Täter waren noch flüchtig.

Irene besah sich eines der Phantombilder und verzog das Gesicht.

»Wenn ich so aussehen müsste, würde ich garantiert auch kriminell werden«, murmelte sie.

Eine weitere Frau aus Cedars wurde vermisst, und die Behörden baten die Öffentlichkeit um Mithilfe.

Karen Beal, vierundzwanzig Jahre alt, hatte am siebenundzwanzigsten Mai die Wohnung ihrer Kusine in der Perkins Road im Theater-District verlassen, um einen Arzttermin wahrzunehmen. Seitdem war sie nicht mehr gesehen worden.

Stirnrunzelnd betrachtete Irene das Bild. Die vierte Abgängige in den letzten Wochen. Wilde, blonde Locken, fröhliche Augen. Die vermissten Personen waren allesamt Frauen und sie glichen sich auf bestimmte Art und Weise. Die Gesichtszüge gleichermaßen schmal, alle etwa Mitte zwanzig mit längeren Haaren. Bis auf eine waren sämtliche verschwundenen Frauen blond.

Gedankenverloren griff sie nach ihre eigenen Haaren.

Ein mulmiges Gefühl beschlich sie und beschwor ungewollte Bilder auf.

Eine dunkle Mine, leblose Körper ...

Zitternd legte sie die Zeitung zur Seite. Nein, das hier war etwas anderes. Diesmal war nichts Übernatürliches im Spiel.

Sie versuchte, durchzuatmen, doch alles drehte sich vor ihren Augen.

Hastig schob sie den Hocker zurück und stand auf. Ihre Knie drohten unter ihr nachzugeben.

»Ich – ich brauch mal frische Luft«, japste sie, ehe sie wankend die Küche verließ.

Matt warf einen überraschten Blick auf die aufgeschlagene Zeitung, dann ließ er das Buttermesser fallen und eilte ihr nach.

Er fand sie auf der Bank neben der Eingangstür. Sie hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, ihr Gesicht war leichenblass.

Er hockte sich vor sie hin und musterte sie besorgt.

»Hey, was ist los?«

»Diese Frauen – sie sind einfach verschwunden. So wie ...« Sie unterbrach sich, doch Matt wusste, woran sie dachte. Er seufzte schwer und drückte ihre Hand.

»Hey, das hier hat nichts mit – mit dem Wendigo zu tun, okay?« Dennoch rann ihm ein Schauer über den Rücken.

»Es gibt eben Kriminelle auf der Welt. Nicht alles, was seltsam wirkt, muss auch seltsam sein. Die Polizei vermutet, dass ein Menschenhändlerring sich in Cedars niedergelassen hat.«

Irene nickte zögernd. Matt hatte vermutlich recht, doch das beklemmende Gefühl ließ sich nicht abstellen.

Matt seufzte.

»Iry, wir haben Dinge erlebt – Sachen gesehen, die man nicht erklären kann, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es auch das ganz normale Böse gibt. Menschenhändler, Mörder, Diebe.«

»Ja, ich weiß das«, raunte sie und schloss die Augen für einen Moment.

»In dieser Mine, du weißt schon, da waren Überreste von Menschen. Viele unschuldige Menschen, die ebenso wie diese Frauen einfach verschwunden sind. Niemand hat sie gefunden, bis ich ... « Sie schluchzte, leise auf. Die Erinnerung überwältigte sie erneut.

Matt zog sie tröstend an sich.

»Ich weiß, Irene, ich weiß.« Das Erlebnis hatte Spuren hinterlassen, die niemals ganz vergehen würden.

Eine Weile saßen sie nur so da, bis Irene sich beruhigte.

»Entschuldige, ich – ich hatte heut wieder mal Albträume.« Sie verlieh ihrer Stimme einen festeren Klang und richtete sich auf.

»Matt, ich weiß, dass du nicht gerne in der Stadt bist, aber bitte komm mit. Wir haben zwei Tage Zeit, um alles vorzubereiten. Lambeck will mich am Freitagabend bei diesem Vortrag dabei haben. Du könntest ein wenig einkaufen, in einer Bar etwas trinken. Ich meine, ich hab diesmal zwei Zimmerreservierungen. Lambeck hat – hat sicher an dich gedacht«, und auch an Julian, dachte sie, doch sie sprach es nicht aus.

Matt seufzte.

»Ich wusste, dass da ein Haken dabei ist. Aber zwei Tage sind etwas knapp.« Mr. Lambeck wollte Irene garantiert aus ihrem Versteck auf der Ranch hervorlocken und zog alle Register, dennoch hätte er sich gewünscht, etwas mehr Zeit zur Vorbereitung zu haben.

Er dachte an vergangene Erlebnisse, wo er Irene und Melanie in die Stadt gebracht hatte. Es war nicht immer leicht gewesen.

Vor zwei Jahren hatten Mel und Irene das zweifelhafte Vergnügen gehabt, stundenlang in der alten Stadtoper zu sitzen, um ‚Carmen‘ zu lauschen. Danach waren sie in eine Disco geflohen, um, wie sie meinten, vernünftige Musik zu genießen. Er hatte sie irgendwann unter Protesten rausgeholt, nachdem sie sich in einen Tanzkäfig gezwängt, und wilde Verrenkungen gemacht hatten. Und im Sommer danach, als er gemeinsam mit Luke, dem Vorarbeiter von Irenes Kusine, die Frauen in die Stadt begleitet hatte, waren diese aus einem– wie sie sich später ausdrückten– schrecklichen Musical verschwunden. Still und heimlich hatten sie sich verdrückt, um im gleichen Haus die Ballettaufführung einer Amateurgruppe anzusehen. Ein gelungener Abend, bis auf die Tatsache, dass sie vereinbart hatten, sich nach dem Musical im Foyer zu treffen. Als sie nicht, wie ausgemacht, auftauchten, hatten Matt und Luke sie verzweifelt gesucht. Beide Frauen hatten komplett darauf vergessen und waren viel zu spät dort aufgetaucht.

»Ihr werdet diesmal aber nicht dieselbe Nummer abziehen, oder?«, fragte Matt sogleich.

»Ich meine, einfach zu verschwinden, oder so was.« Dennoch musste er bei der Erinnerung an den Abend lächeln. Damals war alles anders gewesen. So normal.

»Nein, Matt. Sicher nicht«, versicherte Irene ihm ernsthaft. Die Erinnerung entlockte auch ihr ein Lächeln.

»Natürlich kann ich nicht für Mel sprechen, denn die macht sowieso, was sie will, aber ich denke, diesmal klappt es. Sie wird die Rocky Horror Show genießen.« Dessen war sie sich sicher. Die Rocky Horror Show war genau Mels Ding. Sich schrill zu verkleiden, furchtbare Schuhe zu tragen, ja, dafür konnte ihre Freundin sich begeistern, auch wenn sie sonst eher nicht auf Trubel stand und Musicals nicht ausstehen konnte.

Matt stimmte zögerlich zu.

»Na gut, ich – ich ruf gleich Nick an. Der ist in Stormy Mills bei seiner Mutter. Vielleicht kann er schon früher herkommen. Wollte ihn sowieso über den Sommer herholen. Ich muss auch wirklich mal wieder einen Großeinkauf machen.«

Erleichtert nickte Irene. Einer Eingebung folgend, legte sie ihm die Hand auf den Unterarm.

»Ich bin froh, wenn du mitkommst. Ehrlich.« Sie schluckte, ehe sie fortfuhr.

»Ich – ich meine, ich fühl mich wohler, wenn du auch – dort bist.«

Er nickte knapp.

»Ja, klar. Keine Sorge.« Er dachte wieder an die verschwundenen Frauen. Für einen winzigen Moment wünschte er sich Julian an seine Seite, doch der hatte sich seit Weihnachten nicht mehr gemeldet. Matt hoffte, dass ihr Freund sich bald dazu aufraffen konnte, zurückzukehren um alle Missverständnisse, sofern es die gab, aus dem Weg zu räumen.

Manchmal mussten die Menschen einfach nur miteinander reden, es war an der Zeit, dass auch Julian das begriff, doch er, Matt war nicht der Richtige, um es dem sturen City Slicker begreiflich zu machen.

Matt beschloss, dass es eine gute Idee war, Irene in die Stadt zu begleiten. So konnte er zumindest die Frauen im Auge behalten. Ken Larsson bei diesem Vortrag zu wissen, beruhigte ihn zusätzlich, obwohl er nicht wusste, inwieweit Irene erkannte, dass der Rancher ein Auge auf sie geworfen hatte.

3. Kapitel

In der Nähe von Shannon, zwei Tage später

Julian schreckte hoch. Er brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass er sich in seinem Wohnwagen befand.

Wie war er hier rein gekommen? Er konnte sich nicht erinnern. In seinem Arm pochte ein dumpfer Schmerz und sein Kopf dröhnte.

Er setzte sich auf und blickte auf den Radiowecker, den er auf dem kleinen Küchentresen platziert hatte. Die grünen digitalen Leuchtziffern zeigten ihm, dass es kurz nach zwölf Uhr Mittags war.

Hastig stand er auf und bereute es sofort, denn der Innenraum seines Wohnwagens begann sich, um ihn zu drehen.

Stöhnend ließ er sich auf sein Bett zurückfallen.

Was zum Teufel hatte er gestern gemacht? Oder besser gesagt, was hatte er bloß getrunken?

Mühsam rief er sich die Ereignisse des Vortages in Erinnerung. Sie waren gestern am Nachmittag wieder bei Will zuhause in Sheridan gewesen. Nachdem sie eine Pizza bestellt und Bier geöffnet hatten, hatte Will mit ihm über Eagleside gesprochen.

Der ältere Mann war der Meinung, dass Julian sich selbst im Weg stand. Er hatte Julian nicht gefragt, weshalb er die Rückkehr so lange hinauszögerte, aber er hatte klargestellt, dass Julian sich der Verantwortung stellen sollte, die eine ‚Familie‘ wie er es ausdrückte, mit sich brachte. Ganz besonders nach dem Schrecken und dem Leid, dass der Wendigo über ihn und seine Freunde gebracht hatte. Eindringlich hatte er ihn darauf hingewiesen, dass er auf Eagleside gebraucht wurde – und dass er auch Matt und Irene brauchte, und nicht so stur sein sollte.

Julian, der nicht wusste, wie er Will begreiflich machen sollte, dass er Probleme hatte, Irene nach dem schrecklichen Erlebnis gegenüberzutreten, hatte versucht, einer Antwort auszuweichen. Dass Will sich damit nicht abspeisen ließ, war von vorneherein absehbar gewesen, doch das änderte nichts an Julians Problemen mit Irene.

Als sie nach dem Schrecken mit der indianischen Legende endlich zuhause auf Eagleside gewesen waren, hatte Irene Julian in seinem Wohnwagen aufgesucht, um mit ihm zu sprechen. Sie war durcheinander gewesen, und hatte jemanden zum reden gebraucht. Matt war zu der Zeit noch im Krankenhaus, und sie mutterseelenallein im großen Rancherhaus. Deswegen hatte sie versucht, ihn dazu zu überreden, im Haus zu schlafen. Dabei waren sie sich näher gekommen, als je zuvor. Doch ehe sie die Dinge klären konnten, hatte er sich von ihr abgewandt und war wenige Tage danach abgereist. Verwirrt, von der Vergangenheit eingeholt und nicht sicher, wie es weitergehen sollte, war er zu Will gefahren, ohne sich näher mit Irenes Gefühlen und Matts Verletzung zu beschäftigen. Irene hatte ihm zwar gesagt, dass er die Wahl hatte. Dass er einfach mit der Vergangenheit abschließen sollte, damit er die Gegenwart willkommen heißen konnte, doch er hatte den Spieß umgedreht, und sie mit ihren eigenen Ängsten und unerledigten Dingen konfrontiert. Eine schäbige Aktion von ihm, doch anders hätte er die Ranch nicht verlassen können. Es stimmte nämlich. Er war dort zuhause, zumindest fühlte es sich annähernd wie ein Zuhause an, aber nun hatte er Angst, dorthin zurückzukehren.

»Du bist ein Feigling«, sprach er zu sich selbst, während er Kaffee in den Filter seiner kleinen Kaffeemaschine füllte. Will hatte recht. Er stand sich selbst im Weg.

Der ältere Mann hatte versucht, ihm väterlich zuzureden, doch Julian war auf seine Argumente nicht eingegangen. Irgendwann hatte Will einen seiner besten Whiskys hervorgeholt und ihm eingeschenkt. Ein Glas nach dem anderen war geleert worden, während sie diskutierten.

Julian erinnerte sich noch daran, wie Will meinte, es wäre an der Zeit, ins Bett zu gehen, doch danach verschwamm alles.

»Verflucht noch mal.« Ihm fiel ein, dass er neben dem Alkohol auch starke Medikamente gegen die Schmerzen eingenommen hatte. Dieser Mix hatte ihn schachmatt gesetzt. Wie hatte er so blöd sein können?

Aber weshalb hatte Will ihn nicht, wie gewohnt, aus dem Bett geworfen? Ob er selbst noch schlief?

»Nein, auf keinen Fall.« Will war normalerweise ein Frühaufsteher, einer der schon um fünf Uhr seinen ersten Kaffee trank und in seinem Haus herumwerkelte.

Stirnrunzelnd warf er einen Blick zum Fenster hinaus und erstarrte.

»Was zum Teufel?«

Vor dem Fenster erstreckten sich hohe Bäume in den Himmel. Hohes Gras wog sanft im Wind und die Strahlen der Sonne fielen schräg durch das dichte Geäst und zauberten helle Muster auf einer mit unzähligen Blumen übersäten Wiese.

Nichts was er vor seinem Fenster aus sah, hatte mit Wills Grundstück auch nur im entferntesten, Ähnlichkeit.

Hastig riss er die Tür von seinem Wohnwagen auf und sprang, den dumpfen Schmerz in seinem Kopf ignorierend, hinaus.

Das Erste, was er sah, war ein gemauertes Toilettenhäuschen.

»Fantastisch«, murmelte er.

In einiger Entfernung erkannte er zwei Picknicktische mit dazugehörigen Bänken. Er befand sich auf einem Rastplatz irgendwo im Nirgendwo.

Was war passiert? Weshalb war er hier gelandet und wo trieb Will sich herum?

»WILL!«, brüllte er so laut, dass seine Stimme über den Rastplatz hallte. Doch der ältere Mann tauchte nicht auf.

Was zum Teufel war hier los? Verwirrt suchte er die Umgebung nach Wills altem Ford ab, doch auf dem kleinen Parkplatz befand sich, neben seinem Wohnwagen nur mehr ein riesenhafter blauer Truck.

Ein kräftiger Mann mit einem gewaltigen Bart stieß die Tür des Sattelschleppers auf und stieg über das Trittbrett hinunter. Er nickte Julian zu.

»Na, ausgeschlafen? Du hast Glück, heute ist keiner von der Highway Patrol unterwegs um uns Reisenden das Leben schwer zu machen.«

Der Trucker klopfte sich eine Zigarette aus einem zerknautschten Päckchen und kramte umständlich in seinem Overall nach einem Feuerzeug. Kurz darauf zog er ein Zippo hervor und zündete sich den Glimmstängel an. Genüsslich zog er den Rauch in seine Lunge, ehe er die blaue Dunstwolke durch seine Nase ausblies.

»Ich hab– ich hab Glück? Aber wieso? Ich meine ... «, Julian hatte keine Ahnung, wovon der Trucker sprach.

»Der Kerl hat dich vor etwa einer Stunde hier abgesetzt.«

»WAS?« Julian kapierte nicht, was der Trucker ihm da erzählte.

»Was? Aber wieso sollte er ...?« Dann kapierte er es endlich.

»Nein! Das hat er nicht getan!«

»Doch.« Der Fremde nickte nur gelassen. Scheinbar war die Situation für ihn nicht besonders ereignisreich.

»Soll dir ausrichten, dass du endlich deinen Arsch zurück nach Eagleside schaffen sollst.« Er zuckte mit den Schultern.»Er hat noch gemeint, du sollst dich zusammenreißen und dich wie ein Mann benehmen.«

Nun begriff Julian, was los war, und erstarrte augenblicklich.

»Wo sind wir hier?«

Der Trucker lachte dröhnend auf.

»Schätze, der hat dich ganz schön hängen lassen.«

Julian hob den Kopf und funkelte den Mann an.