Mit deinen Augen - Maddalena Fingerle - E-Book

Mit deinen Augen E-Book

Maddalena Fingerle

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Beschreibung

Gaia ist gerade verlassen worden - von der Frau, die ihre große Liebe war: Über das Aufbrechen von Lebensentwürfen und dem Spiel mit der eigenen Identität. Die literarische Entdeckung aus Italien - »Man wird noch viel von Maddalena Fingerle hören.« FAZ

Alles ist perfekt. Doch dann wird Gaia verlassen von der Frau, die ihre große Liebe war. Dank Veronica hatte Gaia das Gefühl, sich endlich lossagen zu können von ihrer Familie. Die wohlhabenden Eltern zelebrieren – seit Jahrzehnten in München lebend – ihre italienische Herkunft, laden an den Wochenenden zu ausufernden Mittagessen, mit Fleisch vom Viktualienmarkt und männlichen Gästen aus gutem Hause. Schließlich soll die Tochter wenigstens eine gute Partie machen, wo sie schon nicht studiert hat. Jetzt, nach der Trennung, fühlt Gaia sich davon eingeengter denn je und weiß nicht mehr, wer sie selbst eigentlich ist. Die Sehnsucht nach Veronicas unbeschwerter Art wird mit jedem Tag größer. Also beschließt sie, so zu werden wie ihre Exfreundin. Sie rasiert sich die Haare ab und besorgt sich eine Perücke, sie verkauft ihre Erbstücke und bestellt billigen Modeschmuck. Und als sie erfährt, dass Veronica einen Mann heiraten wird, zwingt auch sie sich, einem alten Verehrer Beachtung zu schenken. Doch: Wer wird sie sein, wenn sie fertig ist mit ihrer Verwandlung?

Mal impulsiv und wütend, mal überwältigt und obsessiv, aber immer mit ironischem Unterton – Maddalena Fingerle beweist ihr einzigartiges literarisches Talent und zeichnet das schillernde Porträt einer jungen Frau.

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Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Alles ist perfekt. Doch dann wird Gaia verlassen von der Frau, die ihre große Liebe war. Dank Veronica hatte Gaia das Gefühl, sich endlich lossagen zu können von ihrer Familie. Die wohlhabenden Eltern zelebrieren – seit Jahrzehnten in München lebend – ihre italienische Herkunft, laden an den Wochenenden zu ausufernden Mittagessen, mit Fleisch vom Viktualienmarkt und männlichen Gästen aus gutem Hause. Schließlich soll die Tochter wenigstens eine gute Partie machen, wo sie schon nicht studiert hat. Jetzt, nach der Trennung, fühlt Gaia sich davon eingeengter denn je und weiß nicht mehr, wer sie selbst eigentlich ist. Die Sehnsucht nach Veronicas unbeschwerter Art wird mit jedem Tag größer. Also beschließt sie, so zu werden wie ihre Exfreundin. Sie rasiert sich die Haare ab und besorgt sich eine Perücke, sie verkauft ihre Erbstücke und bestellt billigen Modeschmuck. Und als sie erfährt, dass Veronica einen Mann heiraten wird, zwingt auch sie sich, einem alten Verehrer Beachtung zu schenken. Doch: Wer wird sie sein, wenn sie fertig ist mit ihrer Verwandlung?

Autorin

Maddalena Fingerle, 1993 in Norditalien geboren, studierte Germanistik und Italianistik in München und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Ihr Romandebüt »Lingua madre«, auf Deutsch im kleinen Verlag Folio erschienen, gewann zahlreiche Preise. »Mit deinen Augen« ist ihr zweiter Roman, der in Italien von Presse und Publikum gefeiert wurde. Maddalena Fingerle lebt in der Nähe von München.

Übersetzerin

Viktoria von Schirach studierte Romanistik in Bari, Florenz und Rom. Sie ist Übersetzerin, Lektorin und Literaturscout und übertrug u. a. Texte von Gianrico Carofiglio, Anna Maria Ortese und Dacia Maraini ins Deutsche. Viktoria von Schirach lebt in Rom und Berlin.

MADDALENA FINGERLE

MIT DEINEN AUGEN

Roman

Aus dem Italienischen von Viktoria von Schirach

Luchterhand

Die italienische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Pudore« bei Mondadori, Mailand.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2024 Maddalena Fingerle

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung: Buxdesign | München unter Verwendung von Bildmaterial von © Laurence Philomene

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32605-0V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Er ist nicht spitz, sieht aber trotzdem schrecklich aus. Man sieht die nackte Haut. Ich wasche den Apparat ab, schlage ihn gegen das Waschbecken in der Hoffnung, ihn kaputtzumachen. Erfolglos. Ich nehme den rosa Rasierer, den für die Beine, und entferne damit die Härchen, die noch übrig sind. Jetzt könnte ich in Panik geraten, angesichts des erbärmlichen Anblicks meiner Glatze, aber dazu habe ich keine Zeit, denn der Typ von eBay klingelt schon. Er sieht nicht aus wie ein Iwan, eher wie ein Joe. Er hat ziemlich breite Schultern und eine Gangstervisage. Er ist sehr freundlich und zieht die Schuhe an der Tür aus. Ich führe ihn durch die Wohnung, er sagt wenig, nur – mit einem Blick auf die anderen Sachen –, dass sie viel wert sein müssen. Ich solle sie ihm nicht schenken. Ich erwidere, dass ich selbst entscheiden kann, was ich damit mache. Joe gefällt meine Entschlossenheit, er öffnet seinen Rucksack und holt einen Schraubenzieher heraus. Zum Glück hat er den mitgebracht, denn ich besitze so was nicht. Er zieht sein Sweatshirt aus, er trägt jetzt nur noch ein Unterhemd, das nach Testosteron und Fitnessstudio aussieht, nicht nach Sofa und Rülpsen. Ich kann nicht anders, als die Brandnarben auf seinen Armen anzustarren. Ich liebe Brandnarben und Dehnungsstreifen. Eigentlich alle Körpermale. Wie das, was sich auf meinen Hüften abzeichnet, seit ich von zu Hause ausgezogen bin. Als ich zum ersten Mal selbst einkaufen war, entdeckte ich voller Schrecken, wie teuer Safran ist, und stellte ihn sofort wieder zurück ins Regal. Ich wollte meine Miete allein zahlen können. Ich kaufte jede Woche für zehn Euro ein und konnte immer besser einschätzen, was ich mir leisten konnte und was nicht. Ich konzentrierte mich auf No-Name-Produkte und stopfte auf dem Nachhauseweg Junkfood in mich hinein. Die Umstellung von Filomenas mediterraner Küche auf mein kulinarisches Delirium bescherte mir zehn Kilo mehr. Meine Mutter gab mir die Nummer eines Ernährungsberaters, der meinen Bruder früher einmal behandelt hatte, aber ich ging nicht hin. Ich wurde die Kilos, die ich meiner Mutter nach zu viel hatte, sehr schnell wieder los, und das bezeugt jetzt meine Haut; es ist fast wie ein Tattoo, das beweist, dass ich meine Miete immer selbst bezahlt habe.

Ich weiß, dass man das nicht tut, aber ich kann nicht aufhören, die Brandnarben anzustarren; sie glänzen und stehen ihm gut. Sie sind schön. Ich weiß nicht, was er von Beruf ist, vielleicht Klempner. Ich könnte ihn fragen, ob er mein Bad renoviert. Nein, unmöglich, er wirkt gefährlich, wie einer, der was riskiert, aber seinem eigenen Ethos dabei treu bleibt: Er zieht die Schuhe aus, bevor er die Wohnung einer fremden Person betritt, er respektiert mich, ja, ich glaube, er respektiert Frauen und Kinder. Er ist jemand mit moralischen Prinzipien. Ich glaube, er liebt und respektiert auch Tiere. Er hat allerdings keine und würde sie auch niemals in eine Stadtwohnung sperren. Vielleicht hat er mal ein kleines Mädchen oder einen Welpen aus einem brennenden Haus gerettet, vielleicht hat er davon Narben am ganzen Körper, es sind die bleibenden Zeugnisse einer heroischen Tat. Ich sehe ihn vor mir, wie er stolz durch die Flammen schreitet. Schreitet und nicht rennt, denn jemand wie Joe hat keine Eile. Er verliert keine Zeit, aber er rennt auch nicht. Er ist gut organisiert, nicht wie ich, ich bin immer zu früh dran. Nicht mal was zu trinken habe ich ihm angeboten, und eigentlich habe ich auch keine Lust dazu. Ich sitze einfach still da und sehe zu, wie er das Bett mit beeindruckender Geschwindigkeit auseinandernimmt, so als hätte er nie etwas anderes getan. Womöglich ist genau das sein Beruf: Betten zerlegen. Womöglich klaut er Betten. Die Art und Weise, wie er das Bett abbaut, zeigt, dass er sich dessen Wert durchaus bewusst ist.

Als er fertig ist, schafft er alles in die Diele: den Jugendstilschrank, den Mahagonischreibtisch mit der grünen Lederplatte, der mir noch nie gefallen hat, und den ergonomischen Bürostuhl, den mir meine Mutter aufgezwungen hat, damit ich keinen Buckel bekomme, denn eine Bucklige kriegt keinen Mann ab. Jetzt muss er alles in den Lieferwagen laden; ich will ihm helfen, aber er will keine Hilfe, und in kürzester Zeit hat er auch meine Taschen, meine Schuhe, meinen Beauty-Case und meine Kleider eingepackt. Er fragt, ob er das Bad benutzen kann, und ich sage, natürlich, aber ich hasse ihn ein bisschen dafür. Er kommt zurück, zieht seine Schuhe wieder an und lächelt mich mit seinen leuchtend blauen Augen an, die von dunkler Müdigkeit und Leben umrandet sind. Alles an seinem Körper ist wie seine Narben, auch das Gesicht ist das eines Überlebenden. Ich würde ihn jetzt am liebsten umarmen oder besser, mich von ihm umarmen lassen, er hat wirklich ziemlich breite Schultern. Joe gibt mir die Hand, und ich drücke sie fest, wie es mir mein Vater beigebracht hat, damit ich nicht wie eine Loserin wirke, er hingegen drückt nicht fest zu, obwohl er es könnte, und ich vertraue ihm. Er wäre einer der wenigen Menschen, die mich beschützen könnten. Wenn ich einen Bodyguard bräuchte, wäre er ideal. Ich spüre, wie ein Stromschlag von seinen Händen ausgeht, und lasse los. Joe ist jemand, der Angst macht, aber mir nicht.

Ich schließe die Tür und gehe ins Bad. Auf der Ablage vor dem Spiegel liegen fünfzig Euro. Das war nicht nötig, ich hatte es ihm doch gesagt. Dann kaufe ich davon eben drei Bücher dieser Schriftstellerin, die du so magst, und lasse sie an deine Adresse schicken.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Joe irgendwann mal eine Frau aus einem brennenden Haus gerettet hat. Die er nicht einmal kannte, er kam nur zufällig dort vorbei und hörte sie schreien. Ohne einen Moment zu zögern, denn so ist Joe, impulsiv und selbstlos, ist er hineingegangen und hat sie gerettet. Auch deshalb bin ich froh, dass er jetzt meine Sachen hat.

Es klingelt an der Tür; als ich die Pakete sehe, bleibt mir fast das Herz stehen. Damit es schnell geht, reiße ich sie einfach auf. Es sind deine Kleider, deine Schuhe, dein Schminkzeug, deine Haare, dein Bettzeug, dein Nagellack, deine Ohrringe.

Zuallererst mache ich das Bett. Ich zerre die Matratze in die Mitte des Zimmers, spanne das Bettlaken, stecke die Kissen in die Bezüge und breite die Decke darüber. Es ist großartig, denn alles riecht nach Plastik, nach neu, nach Geschäft. Kein Vergleich mit den Laken aus Seide, die mir meine Eltern geschenkt hatten. Diese hier sind türkis mit einer riesigen grün-gelben lachenden Avocado. Obwohl die Versuchung groß ist, lege ich mich nicht hinein. Mit bloßen Händen, wie du es machen würdest, rupfe ich die Etiketten ab; ich sehe mich um, aber ich habe ja keinen Schrank mehr, meinen hat Joe mitgenommen, also lege ich alles auf den Boden neben die Matratze. Ich reiße eine der kleinen Plastiktüten auf und schiebe mir die Modeschmuck-Stecker durch die Ohrläppchen. Nach mehreren Versuchen und nicht gerade wenig Schmerzen trage ich jetzt neue Ohrringe wie deine und bin bereit, mich von meinen zu verabschieden. Ich bedaure kurz, sie nicht Joe mitgegeben zu haben, aber ich will auch nicht, dass seine Frau sie kriegt. Ich hole mir noch ein Wasser, rauche eine Zigarette und spüre, wie sich ein Juckreiz von der Brust über meine Arme ausbreitet. Ob das vom Rauchen kommt? Noch bevor ich mir die Frage stellen kann, spüre ich einen Krampf im Bauch und eine zähe Flüssigkeit, die meinen Tanga durchnässt. Ich lege die Zigarette in den Aschenbecher, gehe ins Bad und wasche mich in der Wanne mit eiskaltem Wasser. Ich führe einen Tampon ein und bin mir sehr wohl bewusst, dass du eine Tasse benutzt, aber das finde ich eklig, das kannst du vergessen. Ich ziehe einen neuen Brazil Slip aus roter Spitze an, und wo ich schon mal dabei bin, auch den dazu passenden Push-up-BH. Ich wasche mir die Hände, verlasse das Bad, die Zigarette ist so gut wie verglommen. Ich stecke mir eine neue an, ich weiß, dass du es gern hättest, dass ich mich heute um die Sache kümmere, aber ich habe gar keine Lust, aus dem Haus zu gehen. Ich checke meine App, ich bin sechs Tage zu früh dran; so was passiert mir eigentlich nie. Die App fragt mich, ob ich Stress habe, und fordert mich auf, alle Symptome einzugeben. Sie will wissen, ob meine Brust zieht, und möchte, dass ich die Bezahlversion aktiviere.

Mein Kühlschrank ist leer, und ich kann nicht mehr in Restaurants bestellen oder zu Samir gehen, sonst werde ich zu dick und sehe dir nicht mehr ähnlich, und mein ganzer Plan ist zunichte. Ich stelle das Glas in die Spülmaschine, die im Bad steht, auf der Waschmaschine, weil es in der Küche keinen Anschluss gibt. Ich habe immer noch Durst, trinke das Wasser direkt aus dem Hahn und suche dich: Ich ziehe die Jeans-Hotpants mit dem hohen Bund an, ich hoffe, sie bekommt keine Flecken, ein Top aus roter Seide, die platinblonde Bob-Perücke, die meine Haut kitzelt. Meine Haare sind jetzt glatt und seidig, sie fallen so wie bei dir. Ich streiche darüber und habe keinen Zweifel: Sie sind perfekt.

Ich öffne die Packung mit den grünen Kontaktlinsen, auf der Spitze meines Zeigefingers balanciere ich einen schleimigen, farbigen Kreis, den ich mehrmals versuche, in mein Auge zu drücken, aber etwas in mir wehrt sich. Die Augen sind wie die inneren Organe: Man darf sie nicht anfassen, sie sollten dort bleiben, wo sie sind. Nach dem x-ten Anlauf springt die Linse mir davon, ich finde sie im Waschbecken wieder, reinige sie in meiner Handfläche mit ihrer widerlichen Flüssigkeit. Ich bin genervt, und das spürt sie offensichtlich, denn im nächsten Moment breitet sich Feuchtigkeit in meinem Auge aus. Die Iris ist jetzt plötzlich smaragdgrün. Ich bringe die Sache auch im anderen Auge zu Ende und schminke mich. Ich grundiere die Leinwand mit einem leichten Primer, dann trage ich immer dickere Schichten auf, bedecke das Gesicht mit einer Farbe, die ganz mit mir verschmilzt. Mit dem grünen eiförmigen Schwämmchen tupfe ich noch eine Schicht helle Foundation auf das Gesicht, das nicht mehr meins ist, aber auch noch nicht deines: Es ist alles so wunderbar ebenmäßig.

Ich übertünche noch ein paar dunklere Stellen und trage den Puder mit kreisförmigen Bewegungen auf, ich streichle zärtlich ein Gesicht, das sich wandelt und verwandelt, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob es so richtig ist. Ich suche ein Foto von dir auf dem Handy heraus, von unserem Besuch in Novaglie bei deinen Eltern. Ich studiere die Form deines Gesichts und übertrage sie auf meins, ich spiele mit den Farben, verblende sie, korrigiere, schattiere, male hier heller, hier dunkler, ziehe Linien nach, ich gleiche dir immer mehr, und das berührt mich. Ich gehe in kleinen Schritten vor, ich zeichne eine braune Drei vom Wangenknochen bis zum Kiefer, verblende den Übergang. Dann kommt eine neue Schicht, ich drücke immer fester auf, bis ich es übertreibe, ich sehe aus wie eine Karikatur. Mit einem sauberen Pinsel entferne ich den Überschuss, jetzt bin ich wieder glaubwürdig, ich passe auf, dass ich das Maß nicht überspanne, ich darf jetzt nichts mehr falsch machen. Ich tupfe Highlighter unter die Augenbrauen; das Licht, ich brauche dein Licht: Ich tupfe auch etwas davon auf die Wangenknochen, ich hebe sie an, ziehe sie in die Höhe, und ein wenig auf die Nase, ich verwische die Ränder, so, das reicht. Ich male weitere Schatten, einen Mond auf die Stirn, die Drei auf den Wangen ist nur noch schwach zu sehen, und ich ziehe sie nach, bis zum Kinn, verblende alles mit einem sauberen Pinsel. Mein Gesicht ist glaubwürdig. Es sieht vielleicht nicht aus wie Porzellan wie bei dir, aber es fehlt ja auch noch der Rest. Ich zeichne die Augenbrauen, kopiere sie vom Foto: Sie sind dunkel, deutlich, klar umrissen. Ich fixiere sie mit Gel, sie gefallen mir, ich erkenne sie wieder. Sie wirken bei mir allerdings anders als bei dir: zu stark, übertrieben, fast ordinär. Ich beschließe, sie etwas abzuschwächen. Ich wasche die Augen mit warmem Wasser ab, meine Lider sind rot und leicht violett, ich trage noch einmal Grundierung auf, Make-up und Puder, meine Augen brennen. Ich ziehe eine deutliche Linie mit dem Eyeliner, die am Ende nach oben schwingt, wie auf dem Foto, wie bei dir, präzise, dramatisch. Wenn ich jetzt danebenmale, wird es scheußlich. Ich sperre meine Wimpern in einen Metallkäfig, in dem sie sich krümmen. Ich konzentriere mich, lese die Gebrauchsanweisung auf der Plastikverpackung, ich zittere etwas, zur Sicherheit schaue ich mir noch einmal ein Video an, das ich schon tausendmal gesehen habe. Ich öffne die Schachtel, nehme deine Wimpern, bestreiche den Rand mit einer blauen Flüssigkeit und klebe sie vorsichtig auf meine, die zu kurz und zu spärlich sind, um deine zu sein. Einen Moment lang verschwimmt mein Blick, ich kneife die Augen zu, warte. Tränen, noch etwas Warten, dann ist es zum Glück vorbei. Als ich die Augen wieder aufmache, sind sie richtig, verdammt richtig, perfekt: Die Länge stimmt genau. Mit Concealer und Puder überdecke ich die Spur, die die Träne hinterlassen hat, und führe am anderen Auge dieselbe Prozedur durch, aber diesmal ohne Tränen. Ich trage ganz behutsam etwas Mascara auf, damit die falschen Wimpern, die sich ganz echt anfühlen, nicht abgehen. Das Ergebnis bist du, dein Teint und deine großen Augen, geschafft. Ich ziehe noch eine butterfarbene Linie den inneren Augenrand entlang, prüfe ein letztes Mal das Foto, die Proportionen, mein Blick springt zwischen dem Handy und dem Spiegel hin und her, die Wimpern werfen einen Schatten, der mich stört, aber mir vielleicht auch gefällt, ich nehme Maß, berechne, weiche zurück, lehne mich vor. Ich betrachte die Form deiner vollen Lippen, male daneben, korrigiere, umrahme, male aus, färbe die Lippen mit einem matten Rot.

Konzentriert rufe ich mir deine dunkle Stimme in Erinnerung, ich mache ein paar Versuche, dann stelle ich auf Aufnahme und tippe auf die rote Taste, die Zeit läuft, ich gerate in Panik und spreche los, aber es klingt nicht richtig, und ich wiederhole das Ganze, die Zeit läuft, ich verspreche mich und fange wieder von vorne an, so geht es sechsundvierzig Versuche lang, bis ich kapiere, dass ich nicht versuchen muss, deinen Akzent nachzumachen, das gelingt mir sowieso nicht, es wirkt, als mache ich mich über dich lustig. Also spreche ich mit meinem eigenen, jetzt treffe ich endlich deine Tonlage, und ich verliere den Boden unter den Füßen. Ich speichere und nenne es: Deine Stimme.

Während ich dich im Loop anhöre, bearbeite ich die Fingernägel mit einem Unterlack, zwei Schichten, die schnell trocknen. Ich trage den Lack auf, dabei zittere ich ein wenig, aber sobald die Farbe auf dem Nagel ist, beruhigt sich meine Hand, der Strich ist kräftig und sicher, er füllt alles mit einem glänzenden Bordeaux, ein Nagel nach dem anderen, bis alle dran waren. Meine Mutter, die sich in einem Kosmetikstudio die Nägel machen lässt, wäre stolz auf mich. Während die Fingernägel trocknen, lackiere ich gleich noch die Zehennägel, aber das ist schwieriger, und ich male über den Rand hinaus, versuche, es mit dem Zeigefinger zu korrigieren, der dabei selbst verschmiert. Langsam werde ich nervös. Natürlich habe ich keinen Nagellackentferner gekauft, weil ich gedacht habe: Den brauche ich nicht. Ich male die Zehennägel fertig, aber sie sind mir nicht so wichtig wie die Hände, weil ich mich vor Füßen ekle, immer schon, vor allem vor Männerfüßen, aber es ekelt mich auch vor meinen eigenen, und vielleicht ist es mir deshalb misslungen, weil ich mich davor ekle, sie auch nur zu berühren. Ich versuche, wenigstens die Hände einigermaßen hinzukriegen, und muss drei Schichten auftragen, bis es stimmt, ich hasse das Warten, aber die Hände sind mir wichtig, und deshalb halte ich still und warte.

Endlich ist der Lack getrocknet, und ich trage noch einen Top-Coat auf, der die Farbe versiegelt und den Glanz durch eine Schutzschicht erhält. Es ist herrlich anzusehen, wie das durchsichtige Gel eine Patina bildet, die sich auf meine Nägel legt und kleine Luftblasen wirft. Ich betrachte sie, und sie gefallen mir, und ich kann gar nicht mehr anders, als sie anzustarren. Sie sehen aus wie deine, nur dass sie kürzer sind. Dann hast du sie eben kurz geschnitten, wo ist das Problem? Eigentlich stehen sie dir gut so, weißt du? Deine sehen allerdings künstlicher aus, als wären sie aus Knete.

Ich lächle den Spiegel an, zeige Zähne, nur dass meine im Gegensatz zu deinen nicht aussehen wie die Milchzähne eines kleinen Mädchens. Meine Milchzähne hat die Zahnfee mitgenommen. Die Deutschen bewahren sie in grässlichen runden Holzdöschen auf, ich könnte sie einem Kollegen klauen, aber ich fürchte, ich würde mich davor ekeln. Und ich kann auch kein Gebiss einsetzen, jetzt, wo ich endlich deine Stimme getroffen habe. Die Stimme ist wichtiger als die Zähne. Jetzt spricht sie: Du weißt schon, dass du auch nicht ganz korrekt bist? Nicht nur mir gegenüber, schau mal, wie du dich bei dem Typen mit den Möbeln benommen hast. Wenn er Iwan heißt, warum musst du ihn dann Joe nennen? Du hast mit ihm genau dasselbe gemacht wie mit mir, mit Ale und allen anderen, und nein, es ist mir vollkommen egal, ob ich aussehe wie eine Veronica, du entscheidest nicht über die Identität der anderen, okay? Du kannst die Leute nicht in dein mentales Schema zwingen. Nicht mit mir. Und weißt du, was ich jetzt vorhabe? Ich gehe mir eine Menstruationstasse kaufen, auch wenn es mich anwidert. Ein Leben lang habe ich drauf geachtet, kein toxisches Schocksyndrom zu bekommen, aber dir geht das am Arsch vorbei. Die nächste Apotheke ist vierzig Minuten zu Fuß entfernt, was ist das schon. Ein bisschen Bewegung, nach der vielen Zeit in der Wohnung, das kann nur guttun. Nein, ich rufe nicht an, um zu fragen, ob sie so was dahaben, so was hat jede Apotheke vorrätig.

Ich setze Kopfhörer auf, höre Musik, die weder mir noch dir gefällt, die einen jedoch so laufen lässt, als würde man die Welt erobern. Mit meinen Sandalen mit den Glitzersteinen laufe ich im Rhythmus der Musik zur Apotheke. Ich brauche dafür weniger als vierzig Minuten, als ich ankomme, bin ich außer Atem und frage den Apotheker nach einer Menstruationstasse. Ich hoffe, dass sie wenigstens nicht durchsichtig ist. Er verschwindet für eine Weile, und als er zurückkommt, überreicht er mir eine, die natürlich durchsichtig ist. Ich bezahle, drehe die Musik wieder auf dröhnende Lautstärke und renne nach Hause. Die Leute sehen mich an, und es ist klar, dass sie mich attraktiv finden. Sogar der Apotheker hat mich angeschaut, als denke er ammazza quanto è bona questa.

Ich weiß schon, er ist Deutscher, aber für mich sind Komplimente von Männern auf Deutsch unvorstellbar. Vielleicht, weil die Deutschen keine Komplimente machen. Ich war eine Woche in Rom mit meiner Familie. Meine Eltern hatten panische Angst, dass mein Bruder und ich unser Italienisch verlernen würden, wenn wir so lange in München blieben. Mein Vater verbrachte die Tage an der Uni und meine Mutter im Rinascente, mein Bruder und ich gingen immer denselben Weg zur Engelsburg, wo er ein Mädchen traf, mit dem er stundenlang herumknutschte, während ich mich zu Tode langweilte. Dann kam endlich mein Cousin, und der Ägypter von der Bar mit seiner schwarzen Haarpracht und seinen grünen Augen, die aussahen, als seien sie geschminkt, rief mir zu ahó ma che mortiplichi i pesci, mó? Ich musste lachen, auch wenn ich nicht verstand, was er damit meinte. Ob ich jetzt die Fische vermehrte? Was ich damit sagen will, ist, dass Männer, die Komplimente machen wollen, sie mit römischem Akzent aussprechen müssen. Ich erinnere mich, dass ich fasziniert war von dem Essen in den Aluschalen, den Semmeln mit Lammfleisch und den Supplì, die man auf der Straße im Gehen aß, den Plastikflaschen und den Coladosen, dem Durcheinandergerufe der Kickerspieler und dem Geschlurfe der Einheimischen. Wir aßen natürlich im Sitzen, in Sternerestaurants, wo man in die Cacio-e-Pepe-Pasta Kaffeebohnen mischte, und meine Mutter sagte: Genial, einfach genial.

Als ich wieder zu Hause bin, nehme ich die Perücke ab, meine Augen brennen, und ich versuche, die Kontaktlinsen mit Daumen und Zeigefinger aus dem Auge zu pulen, aber ich ekle mich so und habe solche Angst, dass mir beinahe schlecht wird. Was, wenn ich die Iris mitabreiße? Mit dem Zeigefinger schiebe ich die Linse nach außen, aber das ändert nichts, außer dass mir noch übler wird. Schließlich spuckt das mittlerweile rote Auge die Linse aus, das andere macht es ihm nach, und ich bin sie los. Ich suche im Internet, wie man diese blöde Tasse benutzt, ich konnte noch nie Blut sehen.

Meine Familie veranstaltete ein riesiges, peinliches Fest zu meiner Menarche, mit vielen Gästen, Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen, den aufdringlichen Freundinnen meiner Mutter. Sie trug ein extra für die Gelegenheit angefertigtes Kleid, und vor der Torte stehend, eine Champagnerflöte in der Hand, hörte sie gar nicht mehr auf, zum x-ten Mal vom Wunder der Geburt zu erzählen, während sie mir viele glückliche Geburten wünschte. Sie hat zwei Kinder bekommen, aber in ihren Augen ist die meines Bruders die einzige richtige Geburt. Sie sagt, für ihn würde sie es wieder tun. Bei mir war es anders, weil sie sich für einen Kaiserschnitt entschieden hat. Als meine Mutter außer Hörweite ist, sagt mein Bruder, dass das ein Fall von unbewusstem Machismus ist, aber ich glaube das nicht, sie hat einfach etwas gegen mich. Ihr rivalisiert eben, meint mein Bruder, der das nicht verstehen will. Meine Mutter erzählt widerliche Details, die niemand wissen will. Mein Vater rügt sie – nicht vor den Kindern! –, doch ihr sind die Kinder, damit sind wir gemeint, scheißegal. Die Wehen waren noch einigermaßen erträglich, doch der Druck des Kopfes, wollen wir über den Druck des Kopfes sprechen? Mein mittlerweile rot angelaufener Vater stopft sich Kuchen in den Mund, während meine Mutter weiter von der Geburt meines Bruders erzählt, er wirkte wie ein Tier mit vier Beinen, die sich bewegten, sie fühlte sich plötzlich wie ausgeleert, zerrissen, aber ihm zuliebe hat sie das gern gemacht, ein Sohn ist die letzte große Liebe im Leben einer Frau. Ach, das Wunder des Lebens, ruft meine Mutter aus und macht sich komplett lächerlich. Von meiner Geburt wird hingegen so gut wie nie gesprochen. Ein Kaiserschnitt, na ja, sie war eben zu groß, antwortet meine Mutter, wenn sie gefragt wird.

Zuerst muss ich die Tasse in einem Topf mit Deckel mindestens drei, wenn nicht vier Minuten lang auskochen. Ich spüre es ziehen und ärgere mich darüber, dass du Watte eklig findest. Ich werfe den Tampon in den Abfalleimer, fische die Tasse aus dem Topf, verbrenne mich, schreie auf, lasse kaltes Wasser darüberlaufen, wasche mir sorgfältig die Hände, das hätte ich eigentlich vorher tun sollen, aber dazu ist es jetzt zu spät, ich fang nicht noch mal von vorn an, das kannst du vergessen, ich singe ganz langsam Happy Birthday, um zwanzig Sekunden abzuschätzen, wasche die Tasse mit Seife aus, setze mich bequem hin. Das Internet sagt, dass ich ein Bein heben soll, aber das ist mir zu unbequem. Es sagt auch, dass ich nichts überstürzen soll, dass ich mir die Zeit nehmen soll, die ich brauche, und mich nicht aufregen soll, aber ich spüre schon, wie die Panik in mir aufsteigt und die Hitze und das Jucken, und überhaupt werde ich sofort nervös, wenn man mir sagt, dass ich nicht nervös werden soll. Wie zu erwarten, bekomme ich sie nicht rein. Ich wasche mir noch mal die Hände und auch die Tasse, atme durch und versuche es noch einmal. Da steht, dass man die Prozedur auch während des Duschens durchführen kann, damit man sich entspannt. Prozedur erscheint mir eine übertriebene Bezeichnung, und ich mag mir das Ding nicht unter der Dusche einführen. Ich drücke auf die Tasse und biege sie zu einem C, wie in der Anleitung. Ich muss tief durchatmen, denn wenn ich nervös werde, versteife ich mich. Gut, ich atme jetzt mit dem Bauch, wenn sie nur aufhören würden, mir zu sagen, dass ich mich nicht versteifen oder nervös werden soll, wäre ich der ruhigste Mensch der Welt. Ich befolge die Ratschläge meines Handys und versuche, meine Vaginalmuskeln anzuspannen und wieder locker zu lassen. Ich drücke die Tasse noch einmal rein, zum Steißbein hin gebogen, während die andere Hand die Schamlippen weitet, ich lasse los, spüre, wie sie sich öffnet und ein Vakuum entsteht, sie macht ein Geräusch wie ein Sektkorken: Plopp. Mit den Fingern drehe ich sie, kontrolliere, mir scheint, sie sitzt jetzt gut, ich glaube, der Vaginalkanal ist jetzt perfekt versiegelt.

Hauptsache, du bist zufrieden!

Endlich habe ich einen Termin mit Emilio auf Skype. Ich will nicht, dass er mich so abgekämpft sieht, also wasche und schminke ich mich, aber ich weiß nicht, ob ich die Perücke aufsetzen soll. Ich befürchte, dass er versuchen könnte, meine wahre Identität herauszufinden, indem er sich idiotische Sachen ausdenkt, also lasse ich es, bleibe ohne Haare, was ist schon dabei? Er weiß sowieso nicht, wie ich vorher ausgesehen habe. Aber zuallererst muss ich ihm sagen, dass er für mich Emilio heißt, ich muss von Anfang an die Dinge klarstellen zwischen uns. Ihm das mit den Glatzköpfen erklären.

Er glaubt anscheinend, dass ich geistig umnachtet bin, denn er fragt mich, ob ich mit Skype umgehen kann, ich sage, natürlich kann ich mit Skype umgehen, er sagt, das ist ja prima, Gaia.

Noch zwei Minuten, und ich würde eher vom Balkon springen, als das hier zu tun, ich tue es nur, weil du darauf bestehst. Und weil ich will, dass das Jucken endlich aufhört. Ich stecke mir eine Zigarette an. Ich hasse es, wenn man mich so nennt, ich würde am liebsten alle Namen abschaffen, die einen irgendwie festlegen: Serena, Letizia, Gaia. Gelassen, heiter, froh. Ich bin ganz und gar nicht froh und will es auch nicht sein. Er schreibt, dass wir anfangen können, wenn ich so weit bin, und mir gefällt, dass wir erst anfangen, wenn ich so weit bin, und dann nehme ich noch einen tiefen Zug, presse den ganzen Rauch aus meinen Lungen und drücke die Zigarette aus, denn ich will nicht, dass Emilio mich rauchen sieht, dann würde er mir sagen, dass ich in der oralen Phase stecken geblieben bin, und ich müsste ihm sagen, dass ich im Gegensatz zu meinem Bruder nicht gestillt worden bin, und vielleicht ist es mir auch peinlich, vor ihm zu rauchen, das wirkt hysterisch und ordinär.

Ich rufe ihn an. Das Gedudel nervt heute nicht, sondern macht mich unruhig, und ich stinke sowieso schon vor Schweiß und Angst, ich weiß natürlich, dass er das nicht riechen kann, aber vielleicht sieht man es mir an. Mir wird flau im Magen, als Emilios Glatzkopf sich plötzlich auf dem Bildschirm ausbreitet. Er sagt, ciao. Instinktiv will ich mit: Wie geht’s antworten, aber ich habe kein Recht, ihn zu fragen, wie es ihm geht, hier geht es um mich und nicht um ihn, ich bezahle ihn, damit er mich fragt, wie es mir geht, er bezahlt mich nicht dafür, dass ich ihn frage, wie es ihm geht. Ich verschwende kein Geld, verwechsle nicht die Rollen und frage ihn nicht und erfahre deshalb auch nicht, wie es ihm geht. Glücklicherweise fängt er jetzt an zu reden. Mir fällt ein, dass das ja eine Probestunde ist, ich muss gar nichts bezahlen und hätte ihn also doch fragen können, aber das hatte ich vergessen, und jetzt ist es zu spät. Hinter ihm ist Gott sei Dank keine Bücherwand zu sehen. Keine Nachschlagewerke, die seinen Fleiß und seine Erfolge bezeugen. Keine Zeugnisse, Studienabschlüsse oder Diplome in Goldrahmen. Oder, falls sie doch da sind, sehe ich sie nicht. Ich sehe nur eine Uhr, die bei 10:32 stehen geblieben ist, eine warm leuchtende Lampe, auch wenn es taghell ist, und eine halb tote Zimmerpflanze. Er möchte unbedingt, dass ich mich wohlfühle, und ich muss zugeben, dass ihm das auch gelingt. Er fragt mich Dinge, die seiner Meinung nach ganz einfach sind, was sie in Wirklichkeit überhaupt nicht sind. Vielleicht weiß er das aber auch selbst, aber er möchte keine große Sache draus machen. So was wie: Möchtest du mir erzählen, warum du mich kontaktiert hast? Ich mag die Art, wie er mich fragt, weil ich auch Nein sagen könnte, oder: Ich will dir nicht erklären, warum ich hier bin, ich will dir überhaupt nichts erklären, aber ich glaube, dass es dumm wäre, so zu antworten, und deshalb sage ich, dass es deinetwegen ist, und wenn er mich jetzt zu einem Psychiater schickt, bin ich sofort weg, ich will keine Medikamente nehmen, auch wenn ich in Wirklichkeit Beruhigungstropfen nehme, aber das darf er nicht wissen, denn sonst müsste ich ihm erklären, wie ich sie mir beschaffe, und dann würde ich sofort im Knast landen, wo die Verbrecher echte Verbrecher sind, nicht solche wie Joe. Was den Rest angeht, bin ich sehr klar und auch ehrlich. Ich weiß nicht, ob es ein gutes Zeichen ist, dass er Energie verschwendet, indem er unnötigerweise eine Lampe brennen lässt, dass er Pflanzen sterben lässt und zu faul ist, die Batterien der Uhr auszuwechseln, aber ich will ihm daraus keinen Vorwurf machen. Vielleicht steckt er die Energie und die Zeit, die er so einspart, in seine Arbeit, ich nehme gern in Kauf, dass er tote Pflanzen, bei Tageslicht brennende Lampen und kaputte Uhren hat, wenn er gut ist. Ich sage, dass ich ihm erzählen muss, wie ich ihn ausgewählt habe. Ich lasse ihm keine Chance, das abzuwehren, aber er scheint einverstanden zu sein, denn er nickt mehrmals, während ich spreche. Er scheint sehr genau zuzuhören, als wären die Dinge, die ich sage, sehr bedeutsam, auch wenn sie das nicht sind.

Mein Therapeut muss unbedingt breite Schultern haben, das ist etwas Instinktives, etwas Animalisches, und es ärgert mich maßlos, dass ausgerechnet ich einen Mann mit breiten Schultern brauche; es ist einfach lächerlich. Emilio will etwas sagen, aber ich unterbreche ihn: Es ist etwas Triebhaftes, Sexuelles, auch wenn es natürlich nichts mit Sex zu tun hat. Ich hoffe bloß, er kommt jetzt nicht mit Archetypen an, aber zum Glück tut er das nicht. Außerdem sollte er ein schönes Italienisch sprechen, mit ausgeprägtem Akzent, sonst hätte ich gleich zugemacht, wie du sagen würdest. Ich wollte, dass er blaue Augen hat und auf jeden Fall eine Glatze.