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Das Leben vor der Geburt ist die Blaupause für unser Leben. Hier wird nicht nur unser Körper geformt und geprägt, sondern auch unser Geist und unsere Seele. Deshalb ist die Zeit der Schwangerschaft für jede werdende Mutter eine herausragende Zeit, um eigene Wunden zu heilen und generationsübergreifende Muster zu verändern. Für die Zukunft des Kindes. Die berührenden Fallgeschichten und theoretischen Erklärungen von zehn Bindungsanalytikerinnen aus Deutschland und Österreich machen deutlich, wie eng die intrauterine Welt und unser Leben im Hier und Jetzt verknüpft sind. Echte Salutogenese und Prävention beginnen deshalb am effektivsten an genau dieser Stelle! Ein Buch für Schwangere und alle, die Mütter auf diesem Schöpfungsweg begleiten.
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Seitenzahl: 507
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Der Mutterleib als Klassenzimmer
„Wo erfahren wir zum ersten Mal Gefühle wie Liebe, Ablehnung, Angst und Glück? In der ersten Schule, die wir je besuchen - im Bauch unserer Mutter. Natürlich bringt der Schüler bestimmte genetische Voraussetzungen mit: Intelligenz, Talente und Neigungen. Doch die Persönlichkeit der Lehrerin hat starken Einfluss auf das Ergebnis. Ist sie engagiert, geduldig und kompetent? Nimmt sie sich Zeit für den Schüler? Mag sie ihn? Macht es ihr Spaß zu unterrichten? Ist sie glücklich, traurig oder zerstreut? Ist das Klassenzimmer ruhig oder voller Lärm, zu warm oder zu kalt, ein Ort der Ruhe und Konzentration oder ein Hexenkessel voller Stress?
Es ist von großer Bedeutung, ob wir in Liebe oder Hass empfangen werden, ob Angst oder Gewalt dabei eine Rolle spielen. Es macht einen Unterschied, ob die Frau schwanger sein möchte und sich auf das Kind freut oder ob das Kind ungewollt ist. Es ist wichtig, dass die Mutter sich von ihrer Familie und ihren Freunden unterstützt fühlt, in einem stabilen, stressfreien Umfeld lebt und medizinisch gut betreut wird.“
Dr. Thomas Verny,„Das Baby von morgen“
In Memoriam
Dr. Jenö Raffai(* 1954 - † 2015) und
Dr. György Hidas(* 1925 - † 2012)
Beide waren ungarische Psychoanalytiker.
Auf Konzepten von Hidas, der Jenö Raffais Lehranalytiker war, beruhen die
Forschungsrichtung und das Therapiekonzept der Mutter-Kind-Bindungsanalyse.
Ohne sie wäre dieses Buch nicht zustande gekommen, dafür sind wir beiden von
ganzem Herzen unendlich dankbar.
Wir erwähnen in dem vorliegenden Buch nur Dr. Raffai, weil wir alle von ihm
persönlich ausgebildet worden sind.
Dieses Buch widme ich meinen Söhnen,
Christophe und Sebastian,
die das Beste sind, was mir das Leben geschenkt hat.
Ich widme es auch meinen wunderbaren Enkelkindern
Luisa, Klara, Amelie und Ben
Christa Balkenhol
Ich widme dieses Buch meinen Kindern Tibor und Nina
und dem Geheimnis ihres Seins.
Christine Karrasch
Alle Autorinnen dieses Buch widmen es ebenfalls
allen Schwangeren und ihren Babys überall in aller Welt.
Möge ihnen allen Respekt, Fürsorge, Schutz, Vertrauen, Verständnis und Liebe
entgegengebracht werden.
Vorwort
von
Dr. Agnes Somkövi
Empfehlungen
von
Dagmar Mueller,
Gynäkologin, Geburtshelferin
Einleitung
von
Christa Balkenhol
, Herausgeberin
Charakterisierung der Bindungsanalyse
von
Christine Karrasch
, Herausgeberin
Kapitel 1
Förderung der vorgeburtlichen Mutter-Kind-Bindung mit Hilfe der
BINDUNGSANALYSE
nach
Dr. Jenö Raffai
Entstehung
Ablauf der Bindungsanalyse
Für wen ist die Bindungsanalyse geeignet?
Wie funktioniert der innere Dialog zwischen der werdenden Mutter und ihrem Baby?
Welche Vorteile bringt die Bindungsanalyse den werdenden Müttern?
Wie profitieren die Babys von der Bindungsanalyse?
Studien über die Bindungsanalyse und ihre Beforschung an universitären Einrichtungen
Ausbildungsmöglichkeiten
1. Fallgeschichte:
„Der Weg ins Vertrauen“ von
Maria Reiter-Horngacher
2. Fallgeschichte:
„Sie lernte, ihr Baby zu lieben“ von
Christa Balkenhol
Kapitel 2
Was bedeutet Bindung und warum ist sie überlebenswichtig für das Neugeborenene.
Was kann die Förderung der „
vorgeburtlichen
“ Bindung bewirken?
3. Fallgeschichte:
„Suche nach Bindung“ von
Maria Reiter-Horngacher
Kapitel 3
Selbstregulierungsstörungen beim Neugeborenen
Wie kann die Bindungsanalyse möglichen Selbstregulierungsstörungen entgegenwirken?
4. Fallgeschichte:
„Muss es denn ein Junge sein?“ von
Veronika Sowa
Kapitel
4
Wie wirkt sich mütterlicher Stress auf das ungeborene Kind aus?
Wie nützlich kann die Bindungsanalyse für Frauen sein, die in Stresssituationen leben?
5. Fallgeschichte:
„Wie kann ich geben, was ich selbst nie bekommen habe?“
von
Gerda
Kosnar-Dauz
Kapitel
5
Was bedeutet es für ein Baby, per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht zu werden?
6. Fallgeschichte:
„Was für Kinder! Welche Wirkung hat die Bindungsanalyse auf Kinder?“ von
Elisabeth Kurth
Kapitel
6
Die Rolle der Väter in der Bindungsanalyse oder der „pränatale“ Vater
7. Fallgeschichte:
„Meine zwei Väter“ von
Gerda Kosnar-Dauz
Kapitel 7
Das Trauma des alleingeborenen Zwillings – Es bleibt ein Loch in der Seele
8. Fallgeschichte:
„Unerwünscht(es) im Puppenheim“ von
Gerda Kosnar-Dauz
Kapitel 8
ART – Assisted Reproductive Technologies (sog. Assistierte Befruchtung) und ihre möglichen Auswirkungen auf die psychische Befindlichkeit des Babys - Kann die Bindungsanalyse hier hilfreich sein?
9. Fallgeschichte:
„Schmerz der Generationen – Wie schütze ich meine Kinder“
von
Johanna Jagoditsch
10. Fallgeschichte:
„Momente der Begegnung und Schlüsselszenen aus drei Bindungsanalysen“ von
Johanna Jagoditsch
Kapitel 9
Spiegelneurone
11. Fallgeschichte:
„Und die Schweinshaxe hat sogar geschmeckt!“ von
Christa Balkenhol
Kapitel 10
Pränatale Bindungsentwicklung aus Sicht der Gehirnforschung
12. Fallgeschichte:
„Sabine kommt seit ihrer Schwangerschaft mit ihrem Leben nicht mehr zurecht“ von
Christine Karrasch
Kapitel 11
Epigenetik – Was bedeutet sie für das ungeborene Kind?
13. Fallgeschichte:
„Meine Schwangerschaftserfahrungen ohne und
mit Bindungsanalyse“ von
Karina Bartolich
Kapitel 12
Schwangere mit frühen Erfahrungen sexueller Gewalt – Möglichkeiten der Bindungsanalyse von
Marion König
Kapitel 13
Kleine Embryologie – Wie verläuft die neunmonatige Entwicklung in der Gebärmutter?
14. Fallgeschichte:
„Das herzkranke Kind“ von
Irene Basler
15. Fallgeschichte:
„Interview mit einer Schwangeren zu ihrem Erleben der
Bindungsanalyse“ von
Irene Basler
ANHANG: BA-Ausbildungsmöglichkeiten
Glossar
Autorinnenprofile
Literaturempfehlungen
Prenatus e.V.
von Dr. Agnes Somkövi
Das vorliegende Buch führt die LeserInnen in eine geheimnisvolle Welt voller Wunder, in die Welt des vorgeburtlichen Lebens. Wer möchte wohl nicht mehr wissen über das erste Zuhause unseres Lebens, über das Leben in der Gebärmutter? Was für Gefühle und Wahrnehmungen entstehen im Fötus? Wie empfindet er die Außenwelt? Wie beeinflussen die Gedanken der Mutter ihr Baby? Viele Schwangere machen sich Gedanken darüber, und deshalb bemühen sie sich, während der neun Monate der Schwangerschaft optimalste körperliche und seelische Bedingungen zu schaffen.
Seit 1997 ist die Mutter-Kind-Bindungsanalyse, bei der die werdende Mutter mit ihrem Baby einen echten Dialog herzustellen vermag, den Schwangeren zugänglich – anfangs nur in Ungarn, seit 2008 im deutschen Sprachraum, später auch in den USA.
Es ist schicksalhaft, dass die Methode ausgerechnet von einem Mann, Jenő Raffai erträumt wurde, der die Methode mit seinem eigenen Psychoanalytiker, György Hidas, entwickelt hat. Viele Jahre später hat er gesagt, dass er auf der Suche nach dem Moment war, an dem die Seele geboren wird, an dem die Verletzungen und Traumata noch ohne Narben zu heilen sind.
Jenő Raffai bin ich erst 1993 begegnet. Damals war es sein sehnlichster Traum, ein Entbindungsheim zu gründen, in dem GebursthelferInnen, KinderärztInnen und PsychologInnen zusammen als Team den werdenden Müttern, die während der Schwangerschaft auf psychologische Hilfe angewiesen sind, beistehen würden. Bei der Geburt, der Entbindung und der Pflege des Neugeborenen würden sanfte Methoden angewendet werden, damit der Säugling die Geburt und die Mutter die Entbindung als einen natürlichen Ablauf erleben könnten.
Die Wurzeln der Mutter-Kind-Bindungsanalyse gehen auf die 80er Jahre zurück. Jenő Raffai arbeitete in einer psychiatrischen Abteilung, in der Heranwachsende behandelt wurden und die Psychotherapie einen wichtigen Bestandteil der Therapie bildete. Bei der Therapie eines jungen schizophrenen Patienten hatte dieser das Gefühl, im Körper seines Therapeuten zu sein und berichtete dabei nicht nur über Gefühle, sondern auch über Körperempfindungen, über beengende, erdrückende Wahrnehmungen. Es wurde klar, dass es sich dabei um fötale Erlebnisse handelte, die das Leben des Kranken und die Entstehung seiner Krankheit wesentlich beeinflusst haben dürften. Das Auftauchen von Körperempfindungen bei der Psychoanalyse zahlreicher anderer Patienten ließ ähnliche Schlussfolgerungen zu. Der Glaube, dass das vorgeburtliche Baby im Uterus immer paradiesische Zustände erlebt, wo es vor dem Chaos der Außenwelt und vor den seelischen Stürmen seiner Mutter geschützt ist, wurde hinfällig.
Diese Erfahrungen ließen schlussfolgern, dass die frühesten präventiven Möglichkeiten des menschlichen Lebens in der fötalen Zeit im Uterus liegen. Warum könnten wir nicht auch die Methode der Mutter-Kind-Bindungsanalyse auch bei gesunden werdenden Müttern anwenden?
Aufgrund der Bindungsanalyse von nahezu 3000 werdenden Müttern haben Jenő Raffai und György Hidas auch die kurzfristigen Vorteile der Methode zusammengefasst: Im Landesdurchschnitt ging die Zahl der Kaiserschnitte zurück, Depressionen nach der Entbindung traten nur sehr selten auf. Laut Berichten der Mütter waren ihre Säuglinge auch sehr viel ruhiger.
Ich kann von Glück reden, dass ich mich selbst während meiner beiden Schwangerschaften am Programm beteiligen konnte. 1998 habe ich Zwillinge (einen Jungen und ein Mädchen), 2001 ein Mädchen erwartet. Da ich die Kinder von Jenő Raffai erwartete, war György Hidas mein Bindungsanalytiker. Meine Erlebnisse während der bindungsanalytischen Stunden habe ich zu Hause mit meinem Mann geteilt, der abends zusätzliche Vater-Baby-bindungsanalytische Stunden abgehalten hat. Infolge der Empfindungen und der auftauchenden Bilder während der Bindungsanalyse wurden wir schon vor der Geburt eine echte Familie, in der die Familienmitglieder einander kennen, akzeptieren und unterstützen.
Einerseits war ich von dieser wundervollen vorgeburtlichen Welt fasziniert, andererseits taten sich mir als homöopathischer Ärztin unabsehbare Möglichkeiten auf. Ich konnte die Prozesse, die zu verschiedenen Beschwerden und Krankheiten führen, besser verstehen, daher konnte ich sie als Homöopathin anders behandeln. Ich fühlte mich angespornt, mir diese Methode anzueignen.
Die Bindungsanalyse war schon im Leben ihrer Entwickler ein Programm, das sich ständig weiterentwickelt hat und in das fortwährend neue Erfahrungen einflossen. Die Entwickler machten sich auch viele Gedanken darüber, wie die Väter einbezogen werden konnten, was die Mutter-Vater-Kind-Beziehung nur verstärken würde.
2012 nahmen wir von György Hidas, 2015 von Jenő Raffai traurig Abschied, der an Karfreitag verstarb. Ihr geistiges Erbe wird von ihren Schülern weitergetragen. Die Erfahrungen mehren sich, immer mehr werdende Mütter beteiligen sich an dem Programm, auch die Zahl der einbezogenen Väter steigt.
Warum kann die Bindungsanalyse für eine gesunde schwangere Frau von Wichtigkeit sein? Unser Alltag, unsere Beziehungen und Bindungen werden durch unsere selten bewussten Erlebnisse in der pränatelen Lebensphase erheblich bestimmt. Unsere Erfahrungen aus dieser Lebenszeit dienen häufig als Muster für unsere körperlichen und seelischen Reaktionen und können somit sogar zu Krankheiten führen. Es gibt fast keine Mutter, die während ihrer Schwangerschaft nicht irgendeinen Konflikt zu bewältigen hat. Dieser kann mit ihren Eltern, ihrem Lebensgefährten, ihren früheren Verlusten oder aktuellen Ängsten zusammenhängen. Das kann sie daran hindern, eine harmonische, fördernde Beziehung zu ihrem Baby aufzubauen. Die Bindungsanalyse kann bei der Lösung ihrer Konflikte helfen.
Alle Mütter sind fähig, sich die Methode anzueignen. Die BindungsanalytikerInnen unterstützen den Prozess zwischen Mutter und Baby und helfen notfalls bei der Deutung der Situationen. Wir sprechen dabei über einen Dialog in der pränatalen Lebenszeit, in der Wörter noch nicht existieren, nur unser Körper empfindet sowohl Gutes als auch Schlechtes. Die im werdenden Baby entstehenden Körperempfindungen können auch in der Mutter auftauchen, und sie können auch in Gefühle und Bilder transformiert werden. Eine Mutter erzählte einige Monate nach der Entbindung, dass sie – obwohl sie und ihr Baby einander vollkommen verstanden – die wunderschönen Bilder, die sie während der Bindungsanalyse erlebt hatte, vermisste.
Neugier, aber auch Mut, sind erforderlich, diesen Weg zu durchlaufen. Unser Baby kann uns nicht nur auf Wiesen voller Blumen oder ins lauwarme Meer führen, sondern auch durch dunkle Wälder oder kalte Höhlen. Doch genauso wie im Märchen wird der Lohn nicht ausbleiben. Während wir in die Erlebnisse unserer Kinder Einblick gewinnen, betrachten wir zugleich voller Staunen unser eigenes vorgeburtliches Leben. Während dieser Erfahrung müssen wir Mütter erwachsen werden, das Kind der Mutter, das jede Frau ist, muss zur Mutter des eigenen Kindes werden. Eine unheimlich schöne Aufgabe.
Szentendre, 23.05.2017
Dr. Ágnes Somkövi
Bindungsanalytikerin
Ärztin, Homöopathin
Seitdem ich als Gynäkologin arbeite, ist es mir ein besonderes Anliegen, werdenden Menschenkindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Ja, dies war sogar eines der Motive für mich, diesen Beruf zu wählen.
Auf die Dauer befriedigte mich allerdings die medizinische Schwangerenbetreuung gemäß den Mutterschaftsrichtlinien der Ärzte und Krankenkassen nicht. Und in einer „normalen“ gynäkologischen Kassenpraxis blieb auch häufig wenig Zeit für Gespräche, Erklärungen, fürs Anhören und Durcharbeiten der Sorgen und Ängste der Schwangeren.
Deshalb war ich glücklich, Ende 2009 auf einer ISPPM-Tagung einige BindungsanalytikerInnen kennenzulernen, die mir von der „Vorgeburtlichen Bindungsförderung nach Hidas und Raffai“ (wie wir sie heute nennen) erzählten. So habe ich im Dezember meine berufsbegleitende Ausbildung begonnen. Ich bin dankbar, dass dies noch unter der Leitung von Jenö Raffai selbst, dem „Erfinder“ der Bindungsanalyse, (zusammen mit Ludwig Janus) geschah. Und ich habe die drei Jahre nicht bereut. Seither habe ich zahlreiche „normale“ Schwangerschaften bindungsanalytisch begleitet, und konnte beobachten, wie den Schwangeren Ängste genommen werden konnten, wie sich der Kontakt zum werdenden Baby intensivierte, und wie vielfach ungewöhnlich schöne und beglückende Geburten resultierten. Auch nicht wenige Frauen mit komplizierten und sehr schwierigen Schwangerschaften entschlossen sich zur Bindungsanalyse.
Beispiele sind:
Bei Franka wurde schon in der 23. Schwangerschaftswoche festgestellt, dass ihr Kind für dieses Alter zu klein war. Ursache war eine „Plazentainsuffizienz“, d.h. die Plazenta wurde nicht hinreichend durchblutet und konnte so dem Kind nicht genügend Nährstoffe liefern. Sie kam erst in der 32. Schwangerschaftswoche (SSW) zu mir, mit der Aussicht, dass ihr Kind bald geholt werden müsse, da auch Sauerstoffmangel drohte. Es gelang ihr, mental die Plazenta zu wärmen, besser zu durchbluten, zu „päppeln“ und gleichzeitig dem Kind ihre Sorgen zu erklären und es auf eine frühe Geburt vorzubereiten. Schließlich erreichten wir die 40. Schwangerschaftswoche, und Karl wurde mit 2.400 Gramm geboren.
Ähnlich, aber noch viel dramatischer erging es Kirsten: Sie war mit Zwillingen schwanger und begann in der 26. SSW mit der Bindungsanalyse. Eine Woche zuvor war das eine, extrem wachstumsretardierte Mädchen wegen einer Plazentainsuffizienz gestorben. Das Überlebende litt in etwas geringerem Ausmaß daran, aber alle paar Tage musste in der Uniklinik überwacht werden,
ob es wuchs und ob die Blutversorgung der Plazenta sich verschlechterte. Ähnlich wie Franka strebte Kirsten danach, die Plazenta besser arbeiten zu lassen. Sie selbst und das Baby konnten sich mental von der kleinen Schwester verabschieden und ihre Trauer leben und akzeptieren. Auch mit der geplanten, unvermeidlichen Frühgeburt kamen sie beide gut zurecht: Ende der 33. SSW wurde Kornelia dann per Kaiserschnitt geholt (1,350 g) Sie hat auf der Frühgeborenenstation alle durch ihr ruhiges, optimistisches und waches Wesen erstaunt, und gedieh bestens.
Ria begann in der 25. SSW mit der Bindungsanalyse, weil ihre Frauenärztin festgestellt hatte, dass der Magen des Babys hoch oberhalb des Zwerchfells lag, da wo eigentlich die Lunge Platz braucht, um sich zu entfalten. Früher starben solche Kinder sehr kurz nach der Geburt. Rias Motivation war, „das kranke Kind zu stärken“. Das ist ihr wohl auch gelungen, jedenfalls ist Martin nach seiner Geburt und Operation prächtig gediehen.
Bei Luise wurde in der 27. SSW Brustkrebs, bei Eliane in der 16. SSW Schilddrüsenkrebs diagnostiziert. Leider kamen beide erst nach der OP zur Bindungsanalyse. Dennoch konnten wir dann, wie ich meine, einen guten Kompromiss zwischen den therapeutischen Notwendigkeiten für die Mütter und den Bedürfnissen der intrauterinen Kinder erreichen und dem jeweiligen Kind vermitteln.
Viele Frauen reagieren mit vorzeitigen Wehen auf Stress und Überforderung, so auch Doro, in einem Dauerkonflikt mit ihrem Partner um den Wohnort. Krankschreibung und Reduzierung der beruflichen Anspannung halfen kaum. Nur in den Babystunden war ihr Bauch weich. Eine zusätzliche Paarberatung führte schließlich zu einem tragbaren Kompromiss und Leo wurde am errechneten Termin spontan geboren.
Gerade in diesen schwierigen Situationen ist es wichtig, im Dialog dem Kind zu erklären, warum die Mutter gestresst und voller Angst ist, dass es nicht daran schuld ist, und ihm Zuversicht zu vermitteln, dass alles gut wird. Als „Frauenärztin“ denke ich, jede Frau kann in ihrer Beziehung zum werdenden Kind von der Bindungsanalyse profitieren und besonders jene Frauen, deren Schwangerschaft durch belastende Ereignisse, sei es medizinischer, oder psychologisch / sozialer Art, erschwert wird.
Wie Bindungsanalyse geht, was es an wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu gibt und vor allem viele ausführliche lebendige Beispiele können Sie in diesem Buch lesen …
Frankfurt, 8. 6. 17 Dagmar Müller, Frauenärztin
von Christa Balkenhol
Vor einigen Wochen suchte ich mit meinem Werbematerial über die Begleitung von Schwangeren mit der Bindungsanalyse ein Babyausstattungsgeschäft auf und was ich dort erlebte, war sehr bezeichnend. Vor der Theke neben mir stand eine schwangere Frau – ich schätzte sie im fünften oder sechsten Schwangerschaftsmonat – und ich erklärte ganz kurz, wie eine Schwangerschaftsbegleitung mit der Bindungsanalyse aussieht und welchen Zweck sie hat. Bei dem Wort „vorgeburtlich“ unterbrach mich die Schwangere mit der Frage: „Was ist denn Vorgeburtlichkeit?“ Ich deutete auf ihren Bauch und erwiderte: „Die neun Monate, die Ihr Baby in Ihrem Bauch verbringt!“ Die Verkäuferin hinter der Theke warf sofort ein: „Ach so, was Esoterisches!“
Derartige Erlebnisse machen das vorliegende Buch notwendig. Seit vielen Jahrzehnten erforschen Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Fachbereichen, wie Humanbiologie, Genetik, Neurowissenschaften, Hirnforschung, Gynäkologie und pränataler Psychologie die physische und psychische Entwicklung des ungeborenen Kindes während seines neunmonatigen Lebens in der Gebärmutter. Nicht-Fachleute hingegen – und dazu gehören die meisten zukünftigen und werdenden Eltern, insbesondere die genannte schwangere Frau – haben wenig Kenntnis davon, dass das ungeborene Baby von Anfang an ein bewusstes, fühlendes, denkendes, lernendes und interaktives Lebewesen ist. Die in der Gebärmutter gemachten Erfahrungen wirken sich auf die körperlich-seelische Entwicklung des Menschen, seine Persönlichkeit und die Qualität seiner zwischenmenschlichen Beziehungen grundlegend aus.
Ein berühmter amerikanischer Zellbiologe, Bruce Lipton, hat den Begriff des sogenannten Zellgedächtnisses geprägt, was bedeutet, dass alles, was wir jemals an Erfahrungen und Emotionen erlebt haben – vor allem während unseres neunmonatigen Aufenthaltes in der Gebärmutter unserer Mütter – in jeder einzelnen unserer Zellen verankert und gespeichert wird und unser ganzes psychisches und physisches Leben bestimmt. Erstaunliche wissenschaftliche Erkenntnisse über die biochemischen Funktionen unseres Körpers zeigen, dass unser Denken und Fühlen bis in jede einzelne unserer Zellen hineinwirkt.
Ist die Schwangere beispielsweise einer immer wiederkehrenden Stresssituation ausgesetzt, wird das Ungeborene mit chemischen Stresshormonen überflutet, was unter anderem zu einer Störung der Hirnentwicklung führen kann. Es lässt sich sogar nachweisen, dass die Ursprünge der heutigen Gesellschaftsprobleme, deren Symptome sich in Gewalt, Bindungsmangel, Drogen- und Alkoholmissbrauch, sowie in immer stärker zunehmenden psychischen Erkrankungen zeigen, grundsätzlich bereits in der intrauterinen Entwicklungszeit zu finden sind. Siehe dazu im Anhang „Literaturempfehlungen“ die Werke über Psychohistorie von Ludwig Janus und Lloyd DeMause.
Ein sehr beeindrucktes Beispiel für das Zellgedächtnis beschreibt Ludwig Janus in einem seiner zahlreichen Bücher: Eine junge Frau, Mitte 30, klagte plötzlich über unerklärliche Schwindelanfälle. Sie hatte Probleme am Arbeitsplatz, denn ihr Chef wollte sie loswerden. Sie suchte verschiedene Fachärzte auf, aber niemandem gelang es, die Ursachen für die Schwindelanfälle zu finden. Der Pränatalpsychologe entdeckte im Rahmen einer Regressionsführung, dass die Mutter der jungen Frau damals versucht hatte sie abzutreiben, indem sie mehrmals täglich über einige Tage hinweg von einem hohen Tisch heftig auf die Erde sprang, in der Hoffnung, dass sich auf diese Weise der bereits eingenistete Embryo löste. Dieses Vorhaben misslang, zurück aber blieben die Spuren der überlebten Abtreibung. Denn während die Mutter der jungen Frau auf die Erde sprang, wurde der Embryo durcheinandergeschüttelt. In dem Augenblick, wo sich die junge Frau dessen bewusst wurde, hörten die Symptome auf. Sie waren aufgetreten, als sich die junge Frau in einer vergleichbaren Situation wie damals in der Gebärmutter ihrer Mutter befand: Der Chef wollte sie loswerden, wie damals ihre Mutter.
Eine zweite, ebenso beeindruckende Darstellung dessen, was bereits ein Embryo fühlen kann, selbst wenn er nicht mehr als nur aus zwei Zellen besteht, gab Rien Verdult, belgischer Entwicklungspsychologe und Babytherapeut, 2014 auf einer alle zwei Jahre stattfindenden Tagung über die Bindungsanalyse, die von Dr. Helga Blazy in Köln organisiert wird. Den ersten Schock bekäme das im Werden begriffene Menschenkind, wenn seine Zeugung nicht in einem Akt der Liebe zwischen Mann und Frau zustande komme. Der zweite Schock erfolge, wenn die Frau feststellt, dass sie schwanger ist, das Baby aber nicht haben will. Und der dritte Schock treffe das werdende Baby dann, wenn sie dem Mann mitteilt, dass sie von ihm schwanger ist, er jedoch das Baby ebenfalls ablehnt!
Alle diese Beispiele machen deutlich, dass Aufklärung aus vielen Gründen in allen Bereichen der Gesellschaft vonnöten ist. Aufklärung darüber, was das ungeborene Baby fühlt, was es erlebt, wie es das Erlebte verarbeitet, was es erleidet und wie negativen Einflüssen auf das Ungeborene entgegengewirkt werden kann. Ein neuartiges, revolutionäres Präventionskonzept ist die sogenannte BINDUNGSANALYSE, sie bedeutet „vorgeburtliche Bindungsförderung“. Die ursprüngliche Bezeichnung BINDUNGSANALYSE wird der Einfachheit halber im gesamten Buch beibehalten. Natürlich ist sie kein Allheilmittel, aber wenn sich Schwangere mit ihr begleiten lassen, fördern sie optimal die körperliche und vor allem seelische Gesundheit ihrer Babys. Sie können Selbstregulierungsstörungen des Neugeborenen, übermäßiges Schreien und Schlafproblemen vorbeugen. Ihnen werden Wege gezeigt, eine leichtere und schnellere, natürliche Geburt zu erleben. Das Zauberwort hierbei heißt Bindung, denn durch die mentale und emotionale Aufnahme der Bindung zu dem Baby bereits in der Gebärmutter kann die werdende Mutter dafür sorgen, dass sich ihr Baby als angenommen, geliebt und sicher gebunden fühlt. Das wiederum führt dazu, dass das Baby nach der Geburt ausgeglichener, emotional stabiler und tatsächlich sozial kompetenter ist.
Der Schwangeren wird aufgezeigt, wie sie vermeiden kann, dass der Stress, unter dem sie vielleicht steht, auf ihr Baby übertragen wird. In der Bindungsanalyse können auch Schwierigkeiten, die die Schwangerschaft eventuell bereitet, oder andere Probleme, die es im Leben der Schwangeren gibt, in einem geschützten Raum mit einer kompetenten Schwangerschaftsbegleitung besprochen werden.
Wir, die beiden Herausgeberinnen, Christa Balkenhol und Christine Karrasch, sowie vier weitere deutsche und vier österreichische Ko-Autorinnen des vorliegenden Buches sind Bindungsanalytikerinnen, ausgebildet und zertifiziert von Dr. Jenö Raffai, Psychoanalytiker, der die Bindungsanalyse über viele Jahrzehnte hin entwickelt hat, und Dr. Ludwig Janus, der wohl der bekannteste und kompetenteste Pränatalpsychologe Deutschlands ist. Wir sind alle von dem Wunsch beseelt, diese neuartige, revolutionäre, aber leider immer noch zu wenig bekannte Methode einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Wir schildern in dem vorliegenden Buch einige Schwangerschaftsbegleitungen, die wir sorgfältig ausgewählt und anonymisiert haben. Ihre Geschichten stehen stellvertretend für fast über 7000 Schwangere, die insgesamt seit 1997 in Ungarn, dem Ursprungsland der Bindungsanalyse, in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Belgien und den USA mit der Bindungsanalyse begleitet worden sind. Es gibt inzwischen rund 120 zertifizierte Bindungsanalytiker/innen und es laufen ständig weitere Ausbildungskurse. Mehr dazu im Kapitel über die Bindungsanalyse.
Begleitet werden unsere Fallgeschichten von einigen kurzen, zusammenfassenden Fachartikeln zu bestimmten Themen, die im Zusammenhang mit der Bindungsanalyse stehen.
Auf ein wichtiges Thema, bei dem auch die Bindungsanalyse eine hilfreiche Unterstützung bieten kann, sind wir nicht eingegangen: Den Problemkreis des unerfüllten Kinderwunsches. Wir verweisen diesbezüglich an Dr. Auhagen-Stephanos (www.auhagen-stephanos.de) und ihr Buch: „Damit mein Baby bleibt“. In ihrem neuesten Buch „Der Mutter-Embryo-Dialog“ schildert sie ihre spezifische psychoanalytische Therapie zur Bearbeitung der psychischen und psychosomatischen Komponenten von ungewollter Kinderlosigkeit.
Wir bitten besonders die Schwangeren sehr achtsam mit sich umzugehen, wenn sie die Fallgeschichten lesen. Es kann durchaus sein, dass beim Lesen eigene pränatale Geschehnisse in Erinnerung und Bewusstsein drängen. In der Bindungsanalyse hat jede Schwangere nach einer BA-Sitzung eine Woche Zeit, das in der Sitzung Erlebte zu verarbeiten. Zuweilen braucht ein derartiger Entwicklungsprozess viele Wochen, bei dem die behutsame Begleitung der BindungsanalytikerInnnen unterstützend wirkt.
Wir wünschen uns, dass die Bindungsanalyse eines Tages so bekannt und beliebt sein wird, wie die sanfte Geburt von Leboyer. Sie wird inzwischen an verschiedenen Universitäten beforscht und es gibt Bemühungen, die Krankenkassen davon zu überzeugen, sie als Präventivmaßnahme in den gesetzlichen Leistungskatalog aufzunehmen.
Es sind Übersetzungen des vorliegenden Buches in andere Sprachen, wie zum Beispiel Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Russisch, Arabisch geplant, denn wir sind der Auffassung, dass so viele Frauen wie möglich weltweit in den Genuss dieser wunderbaren Methode kommen sollten, die dazu beitragen kann, dass psychisch gesündere Babys geboren werden.
Jenö Raffai hat ein Buch über die Bindungsanalyse verfasst. Es trägt den Titel „Nabelschnur der Seele“ und es ist die Seele des ungeborenen Babys, die berührt, wahrgenommen und angenommen wird, schon lange vor der Geburt.
von Christine Karrasch
Die Bindungsanalyse ist ein noch sehr junges, äußerst komplexes und sehr wirkungsvolles Verfahren, das vielfältige präventive und unterstützende Möglichkeiten der Anwendung beinhaltet. Sie hat zum Ziel, zwischen der Mutter und ihrem ungeborenen Baby einen emotional bedeutsamen wechselseitigen Kontakt aufzubauen und zwischen beiden einen dialogischen Austausch zu ermöglichen.
Das Besondere an der Bindungsanalyse ist, dass sich die Mutter und ihr ungeborenes Baby auf eine sehr tiefgreifende Weise kennen lernen und immer differenzierter miteinander kommunizieren können. Dieser frühe Bindungsaufbau bildet die Grundlage für eine sehr kooperative und reife nachgeburtliche Mutter-Kind-Beziehung. Babys aus Bindungsanalysen sind in der Regel emotional sehr ausgeglichen, der Welt zugewandt und lernbegierig. Sie schlafen meistens früh durch und haben die Fähigkeit, sich emotional zu verständigen. Mütter entwickeln nach einer Bindungsanalyse sehr selten Wochenbettdepression, da sie während einer Bindungsanalyse einen intensiven Reifeprozess durchlaufen, der sie befähigt, sich als Mutter kompetent und sicher zu fühlen und das Leben mit ihrem Baby als erfüllend zu erleben.
Es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen, die den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit der Mutter und dem Verhalten des Kindes zeigen: Gleich nach der Geburt untersuchte man 1312 Mütter, die während der Schwangerschaft an Depressionen litten, zusammen mit ihren Kindern. Die Babys weinten in den ersten Tagen untröstlich und unstillbar und erreichten auf der Depressionsskala die gleichen Werte wie ihre Mütter.
Ein Baby, dessen Vater von der Mutter seines Kindes sehr vehement, aggressiv und vorwurfsvoll dessen Abtreibung verlangt hatte und die Mutter für das Austragen des Babys mit Kontaktabbruch oder sich wiederholenden Vorwürfen bestrafte, zeigt ganz andere psychische Reaktionsmuster als ein Baby, dessen Vater glücklich über seine Zeugung ist und die Mutter während der Schwangerschaft unterstützt. Babys reagieren emotional sehr differenziert auf ihr soziales Umfeld: Psychische Annahme oder Ablehnung erreicht sie mittelbar und unmittelbar und beeinflusst ihr Bild von der Sicherheit und Geborgenheit in der Welt, von seinen Bezugspersonen und von sich selbst.
In der Bindungsanalyse werden psychische Reaktionen aufgrund von emotionalen Belastungen ganz deutlich erkennbar. Ungeborene Babys können eigene psychische Belastungen während ihrer Schwangerschaft mit Hilfe der Bindungsanalyse in einem beziehungsorientierten Kontakt zeigen, mitteilen und bewältigen, sodass diese Belastungen ganz verschwinden oder an schädigendem Potential zumindest stark verlieren.
Bindungs- und Säuglingsforscher wenden ihre Aufmerksamkeit immer früheren Beziehungs- und Bindungsprozessen zu. Während man noch vor wenigen Jahrzehnten annahm, dass die psychische Entwicklung erst nach der Geburt beginnt, ist in den letzten Jahrzehnten das Verständnis und die Sensibilität darin gewachsen, dass die psychische, geistige und körperliche Entwicklung schon lange vor der Geburt beginnt, wozu auch die wachsenden Erkenntnisse der Neurobiologie beitragen: Inzwischen ist hinreichend erforscht, dass die Intelligenzentwicklung eines Menschen schon vor seiner Geburt wesentlichen Einflüssen unterliegt und insgesamt deutlich mehr von Umwelteinflüssen als von der genetischen Veranlagung abhängt.
Die Bedeutung von eigenen Schwangerschafts- und Geburtserfahrungen der Mutter für das vorgeburtliche Baby
Zu den unbewussten Erfahrungen, die jede Mutter an ihr Baby weitergibt, gehören demnach auch ihre eigenen Schwangerschafts- und Geburtserfahrungen. Wenn die Großmutter während der Schwangerschaft oder der Geburt großen Stress erlebt hat und es dabei zu einer traumatischen Überflutung der Mutter gekommen ist, zeigt sich das in der Bindungsanalyse häufig in Form von sich aufdrängenden traumatischen Erinnerungen, in starken körperlichen Empfindungen und körperlichen Reaktionen und in Form von Flashbackerlebnissen der Mutter.
Diese traumatischen und unbewältigten Erlebnisse der Mutter können mit Hilfe und während einer Bindungsanalyse unmittelbar identifiziert werden. Im schützenden Kontakt zur BindungsanalytikerIn kann die Mutter sich diesen Erfahrungen nähern und sie so bewältigen und in ihr psychisches Erleben integrieren. Auf diese Weise kann das Baby vor ihnen geschützt werden. Das ist mit einer der Gründe, warum Früh- und Fehlgeburten bei Bindungsanalyse deutlich seltener auftreten, als das bei sonstigen Schwangerschaften der Fall ist.
Die Entwicklung von der Tochter zur Mutter
Jede Frau, die selber Mutter wird, durchläuft einen intensiven Entwicklungs- und Reifungsprozess. Das ist ein sehr komplizierter Prozess, der sehr störungsanfällig ist. Die Tochter der Mutter muss zur Mutter ihres eigenen Kindes reifen. Sie muss ihre eigene kindliche Abhängigkeit aufgeben, damit ein anderes Wesen von ihr abhängig werden kann. In diesem Prozess spielt die Beziehung der Mutter zu ihrer eigenen Mutter eine große Rolle.
Wie wir inzwischen erfahren haben, können schon die Schwangerschafts- und Geburtserfahrungen der Mutter schwierig und konflikthaft gewesen sein. Aber auch alle späteren Konflikte in der Beziehung zwischen der Mutter und ihrer eigenen Mutter werden durch die Schwangerschaft aktualisiert und müssen überwunden und auf eine reifere Art bewältigt werden, damit aus der kindlich abhängigen Tochter eine erwachsene unabhängige Mutter werden kann.
Dieser Prozess ist oft mit sehr schwierigen Gefühlen verbunden und führt zu einer großen seelischen Verletzlichkeit der werdenden Mutter. Was auch immer in der Beziehung zu ihrer eigenen Mutter schwierig war und ist, wird nun wieder aktuell. In der Bindungsanalyse sagen wir deshalb, dass die Gebärmutter mehr ein ganzer Generationenraum ist: Hier werden die Beziehungserfahrungen und die Beziehungsmuster von mehreren Generationen aktualisiert und beeinflussen den Kontakt der Mutter zu ihrem Kind. Eine noch sehr unreife und abhängige Mutter kann keine reife emotionale Beziehung zu ihrem Baby aufnehmen. Sie lebt dann häufig im Schatten ihrer eigenen Mutter und den eigenen unbewältigten Problemen, sowie denen vergangener Generationen und gibt diese an ihr Baby weiter.
Zu einer Bindungsanalyse gehören vier teilnehmende Personen: Die Schwangere, ihr Baby, die Bindungsanalytikerin und die Gebärmutter. Die Gebärmutter wird also als eine eigene Person betrachtet, sie wird personifiziert. Bevor die Mutter Kontakt zu ihrem Baby aufnehmen kann, muss sie die Gebärmutter um Genehmigung bitten, sie eintreten zu lassen. Wenn die Gebärmutter die Genehmigung verweigert, wissen wir, dass im Hintergrund ein psychisches Problem ist, das gelöst werden muss.
Die pränatalen Erfahrungen eines jeden Menschen prägen sein ganzes Leben und müssen in ihrer Bedeutung für und der Wirkung auf die gesamte weitere Entwicklung verstanden werden.
von Christa Balkenhol
Die Bindungsanalyse, die von dem verstorbenen Dr. Jenö Raffai, einem bekannten ungarischen Psychoanalytiker, entwickelt wurde, ist immer noch eine neue, ja sogar revolutionäre Methode der Begleitung von Schwangeren während der neun Monate ihrer Schwangerschaft. Raffai hat klare Anweisungen ausgearbeitet, die es den schwangeren Frauen ermöglichen, mentalen und emotionalen Kontakt zu ihren ungeborenen Babys aufzunehmen. Das vordringlichste Ziel der Bindungsanalyse ist die Förderung der Bindungsfähigkeit der künftigen Mutter und folglich die Befriedigung des ureigenen, primären Bedürfnisses des ungeborenen Babys nach Annahme, Sicherheit, Schutz und vor allem nach tiefer emotionaler Zuneigung.
Die Ursprünge dieses neuen Konzepts gehen zurück auf Dr. Raffais therapeutische Arbeit mit psychotischen jungen Leuten in Ungarn in den achtziger Jahren. Er entdeckte, dass sich ihre psychischen Störungen während der gesamten Zeitspanne entwickelt hatten, die sie in der Gebärmutter ihrer Mütter verbracht hatten. Was ihnen vollkommen fehlte, war das Bewusstsein und das bewusste Empfinden ihrer eigenen Körpergrenzen, was es ihnen unmöglich machte, sich selbst als autonome, unabhängige Wesen zu erfahren und ein eigenes Selbst zu entwickeln. Raffai fand einen eindeutigen Beweis für den Zusammenhang zwischen der Bindungsunfähigkeit ihrer Mütter - aus welchen Gründen auch immer - und dem Fehlen eines Selbstbewusstseins bei den jungen psychotischen Patienten.
Wie andere vor oder mit ihm, zum Beispiel Lloyd DeMause, Ludwig Janus, Thomas Verny, Otto Rank, David Chamberlain, Michel Odent, um nur einige zu nennen (siehe Literaturempfehlungen) hatte Jenö Raffai verstanden, dass die emotionale und mentale Befindlichkeit der Schwangeren während der Schwangerschaft mit besonderem Fokus auf die Bindungsfähigkeit der werdenden Mutter und deren Auswirkungen auf das ungeborene Baby von allergrößter Bedeutung sind.
Auf dieser Grundlage entwickelte Raffai eine Präventivmethode, mit deren Hilfe zuerst die Bindungsfähigkeit analysiert wird. Anschließend wird daran gearbeitet, sie zu verbessern und zu stärken oder die Gründe bestehender Bindungsprobleme aufzudecken, damit es anschließend den werdenden Müttern ermöglicht wird, eine gesunde, stabile, schützende und unterstützende Bindungsbeziehung zu ihren ungeborenen Baby aufzubauen. Das hat zur Folge, dass sicher gebundene Babys ein eigenes Selbst und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln können, was sie befähigt im späteren Leben, außerhalb der schützenden Gebärmutter ihrer Mütter, sozial und emotional stabile Beziehungen einzugehen.
Inwieweit Mütter und natürlich auch Väter emotionale Geborgenheit, Schutz und Sicherheit von Anfang an ihren Kind vermitteln können, hängt natürlich weitgehend mit ihrer eigenen Biografie zusammen, die in der Anamnese zusammengestellt, analysiert und falls erforderlich bearbeitet wird.
Zusammen mit seinem Kollegen György Hidas hatte Jenö Raffai in den vergangenen 30 Jahren rund 4350 schwangere Frauen mit der Bindungsanalyse begleitet. Weltweit werden es inzwischen circa 7000 sein. Im Verlaufe dieser Jahre hat Rafai die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und pränataler Psychologie ständig in seine Methode einfließen lassen.
Einer der bedeutendsten Entdeckungen war das sogenannte Zellgedächtnis oder das vorsprachliche Bewusstsein, das entsteht aufgrund der Erfahrungen des Babys in der Gebärmutter, welche die werdende Mutter auf ihr Baby über chemische und biologische Prozesse übermittelt. Alle negativen und positiven Gefühle der Schwangeren werden auf das Baby übertragen: Stress, Ausbrüche von Gewalt ihr gegenüber, Depressionen, aber auch Gefühle von Freude, Harmonie und Stärke.
Verliert beispielsweise die Schwangere während ihrer Schwangerschaft Vater oder Mutter und sie trauert darüber übermäßig, wird das ungeborene Baby mit den Stresshormonen der Mutter überflutet. Im Rahmen der Bindungsanalyse helfen in einem solchen Fall die von Raffai ausgearbeiteten Instruktionen, dem Baby zu versichern, dass die empfundene Trauer die der werdenden Mutter ist und nicht die des Babys. Die Bindungsanalyse kann, wie Raffai es ausdrückt, verhindern, dass „die Psychopathologie der Mutter in die Seele des ungeborenen Babys einfließt“.
Später, ab 2008, knüpfte Raffai Kontakte nach Deutschland, zu Dr. Ludwig Janus, der Koryphäe auf dem Gebiet der pränatalen Psychologie und Psychohistorie. Gemeinsam mit Janus hat Raffai bis zu seinem Tod in Deutschland, Österreich, in der Schweiz und in Belgien circa 120 BindungsanalytikerInnen ausgebildet.
Die Teilnehmer an diesen Ausbildungskursen kommen aus den unterschiedlichsten beruflichen Bereichen: Gynäkologen, Allgemeinmediziner, Körpertherapeuten, Familientherapeuten, Doulas, Psychologen, Psychotherapeuten, Heilpraktiker und natürlich in vorderster Front Hebammen. Raffai und Janus wurden sich rasch der Tatsache bewusst, dass Hebammen für eine erfolgreiche Bindungsanalyse prädestiniert sind, sind sie doch die Personen, die den Schwangeren – neben ihren Familien – am nächsten stehen.
Bei dem Erstgespräch der Schwangeren mit ihrer Bindungsanalytikerin wird die Schwangere nach den Gründen gefragt, warum sie zur Bindungsanalyse kommt, welche Erwartungen sie hat und welchen Zweck die Bindungsanalyse erfüllen soll. Anschließend werden Fragen über die bestehende Schwangerschaft gestellt: Erwartet sie ihr erstes Kind oder das zweite oder dritte? Ist das Baby geplant, zufällig gezeugt oder gar ungewollt und welches sind die ersten Empfindungen, die die Schwangere verspürt?
Das nächste Thema ist die Beziehung zum Partner, zum Vater des Kindes. Die Schwangere wird gebeten, ihren Partner und seine Einstellung zum Baby zu beschreiben. Im Anschluss daran werden eventuell in der Schwangerschaft auftretende Probleme besprochen, wie Schwangerschaftsübelkeit oder vorzeitige Kontraktionen. Dann wird erfragt, ob es in der eigenen Schwangerschaft zu Problemen kam und welcher Art sie waren.
Die folgende Frage betrifft erlebte Verluste oder Trennungen von gefühlsmäßig bedeutsamen Personen im Leben der Schwangeren. Weitere Fragen befassen sich mit vorangegangenen Schwangerschaften, eventuellen Fehlgeburten oder Abtreibungen.
Danach kommen die wichtigen Fragen nach der eigenen Mutter und dem eigenen Vater und die Schwangere wird gebeten, ihre Beziehung zu beiden näher zu schildern. War sie selber geplant, gewollt oder ungewollt? Gab es Verluste während ihrer Schwangerschaft, vorangegangene Fehlgeburten oder Abtreibungen? Wie verlief ihre eigene Geburt? Wurden geburtshilfliche Eingriffe angewandt wie Anästhesie, Zange, Dammschnitt, Kaiserschnitt?
Die meisten Schwangeren werden wahrscheinlich diese Informationen über den Verlauf ihrer eigenen Schwangerschaft und Geburt bei ihren Müttern einholen müssen. Dasselbe gilt für den Vater des Babys. Gab es Besonderheiten während seiner Schwangerschaft und Geburt? Anschließend wird die Schwangere gefragt, ob sie allgemein mit ihrem Leben, ihrer Partnerschaft und ihrem Beruf zufrieden ist. Sie wird gebeten, ihren Tagesablauf zu schildern und wie sie beispielsweise die Wochenenden verbringt. Kann sie sich erholen, hat sie Zeit für das Zusammensein mit ihrem Mann?
Der darauffolgende Fragenkatalog betrifft die Schwiegereltern. Wie ist die Beziehung zu ihnen geartet und natürlich auch wie ist die Beziehung ihres Mannes zu seinen Eltern? Zum Schluss wird kurz die Wohnsituation angesprochen: Steht eventuell ein Umzug bevor oder sind später irgendwelche wohnlichen Veränderungen geplant? Diese ausführliche Anamnese ist wichtig, damit sich die Bindungsanalytikerin ein Rundumbild von den verschiedenen Beziehungssituationen der Schwangeren machen kann.
Dann folgen die Babystunden. Üblicherweise treffen sich Schwangere und Bindungsanalytikerin einmal pro Woche, möglichst am selben Tag zur selben Zeit, damit sich das Baby an diese Gleichmäßigkeit und Regelmäßigkeit gewöhnt. Mit der Bindungsanalyse kann ab der zwölften Woche begonnen werden, aber auch früher oder später. Bei assistierter Befruchtung oder vorangegangen frühen Stillgeburten ist sogar ein früherer Beginn sinnvoll, da in diesen Fällen meistens der Wunsch besteht, sehr früh zu dem Baby Kontakt aufzunehmen und weil möglicherweise noch Trauerarbeit zu bewältigen ist. Die einzelne Babystunde kann zwischen 45 und 60 Minuten dauern. Zuerst erzählt die Schwangere, was sie in der Woche zuvor erlebt hat, aufgetauchte Schwierigkeiten werden erörtert, anschließend wird sie von der Bindungsanalytikerin in einen Zustand der Tiefenentspannung begleitet, währenddessen sie ihre Körperempfindungen und auftauchende Gefühle wahrnehmen kann. Es folgen bestimmte Instruktionen zur Kontaktaufnahme mit dem Baby.
Zum Schluss verabschiedet sich die Schwangere von ihrem Baby und versichert ihm, dass sie sich bald wieder treffen werden. Nach den Babystunden geht es zu den Geburtsvorbereitungen, die zwischen 5 und 9 Sitzungen in Anspruch nehmen können, je nach Situation der Schwangerschaft und der Schwangeren. Bei diesen Geburtsvorbereitungen werden Mutter und Baby auf die bevorstehende körperliche Trennung und den Ablauf der Geburt vorbereitet, die sie gemeinsam bewältigen. Raffai hat auch hierzu ganz bestimmte Instruktionen ausgearbeitet, die die Mutter ihrem Baby vermittelt.
Dann wird die Schwangere mit der Hausaufgabe entlassen, die Geburtsvorbereitungsübungen jeden Tag bis zur Geburt mit dem Baby gemeinsam zu wiederholen. Ein erster Termin mit der Schwangeren und ihrem Baby wird für ca. 4-6 Wochen nach der Geburt vereinbart und ein zweiter Termin nach circa sechs Monaten. Beide Termine dienen der Information über den Verlauf der Geburt und der Entwicklung des Babys: Liegen eventuell Selbstregulierungsstörungen vor, wie entwickelt sich das Baby und wie haben beide die Geburt verkraftet.
Die LeserInnen werden beim Lesen der einzelnen Fallbeispiele eine genauere Vorstellung vom Ablauf der Bindungsanalyse erhalten.
Selbstverständlich für jede Schwangere, gleich ob sie nun Bindungsprobleme oder andere Probleme hat oder nicht. Der Kontakt zum Baby ist das Essentielle. Des Weiteren:
Für jede Frau, die eine dramatische Geburt erlebt oder nach einer Geburt unter einer Wochenbett Depression gelitten hat.
Für Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten haben und die Trauer darüber vielleicht noch nicht ganz verarbeitet wurde. (Verabschiedung eines in der Gebärmutter verstorbenen Kindes)
Für Frauen, die nur schwer schwanger werden können, aus welchen Gründen auch immer. (als Vorbereitung auf eine Schwangerschaft)
Als Begleitung nach einer künstlichen Befruchtung.
Für Erstgebärende, die große Angst vor der Geburt haben.
− Für Frauen, die vielleicht entdeckt haben, dass sie zu Beginn ihrer Schwangerschaft Zwillinge oder sogar Mehrlinge in ihrer Gebärmutter hatten, von denen aber einer oder mehrere im ersten Trimester oder später zu einem konkreten Zeitpunkt gestorben ist oder sich langsam aufgelöst haben.
Als Vorbereitung eines Kindes auf einen anstehenden Kaiserschnitt.
In all diesen Fällen ist es wichtig, dass die begleitende Bindungsanalytikerin empathisch und wertfrei mit der Schwangeren umgeht. Sie wird dazu ermutigen, Körperempfindungen und Gefühle intensiv wahrzunehmen. Sie wird versichern, dass sie die Frau bei der Wahrnehmung und der Verarbeitung aufsteigender tiefer, zuweilen auch beunruhigender Gefühle begleitet, und dass sie immer präsent und bereit ist, einen begonnenen Heilungsprozess bis zum Ende zu begleiten.
Sollten unter der Bindungsanalyse schwerwiegende psychische Probleme auftauchen, wird sich die Bindungsanalytikerin verpflichtet fühlen, die Schwangere an einen Facharzt für Psychotherapie oder Psychoanalyse zu verweisen. Die Begleitung einer Schwangeren mit der Bindungsanalyse ist kein Ersatz für eine fortlaufende und intensive Betreuung der Schwangerschaft durch einen Facharzt und/ oder Geburtshelfer. Die Bindungsanalyse ist keine Psychotherapie, obgleich sie häufig geprägt ist von psychotherapeutischen und speziell pränatal-psychologischen Elementen.
Es gibt mehrere Kommunikationswege, auf denen die Schwangere und ihr Baby in mentalen und emotionalen Kontakt treten können. Diese inneren Kommunikationswege beschreibt Raffai als „die Nabelschnur der beiden Seelen“.
Ein wichtiges Kommunikationsmittel ist die Ausschüttung der mütterlichen Hormone, die das Baby über die Plazenta erreichen. Das Baby ist in gewisser Weise an die Gefühlswelt der Mutter angeschlossen. Bei ihr können heftige Emotionen hormonelle Veränderungen im Blut hervorrufen, die Sauerstoffzufuhr ändern oder auch die Herzfrequenz beschleunigen. Die beiden letzteren Veränderungen machen sich dann auch beim Baby bemerkbar und sie sind messbar. Die Entwicklung der einzelnen Sinnesorgane führt dann zu der Bildung weiterer Kommunikationskanäle, über die auf das Baby eine Vielzahl von Eindrücken aus dem mütterlichen Organismus übertragen wird. Es wurde zum Beispiel mithilfe von Ultraschalluntersuchungen festgestellt, dass das vorgeburtliche Kind schon allein auf belastende Gedanken der Mutter eine eindeutige körperliche Reaktion zeigt.
So hat man bei einem Versuch, bei dem Schwangere einige Tage das Rauchen vollkommen einstellen sollten, festgestellt, dass sich in dem Moment, in dem den Frauen gesagt wurde, sie dürften in zwei Stunden wieder eine Zigarette rauchen, die Atem- und Herzfrequenz des ungeborenen Babys rapide beschleunigte. Ursache dafür war die Vorfreude der Schwangeren auf das Rauchen, die das Baby allerdings nicht teilte. Denn wir wissen natürlich inzwischen um die schädlichen Auswirkungen auf das Baby, wenn die Schwangere raucht. Im schlimmsten Fall wird neben den schädigenden Einflüssen auf die körperliche Entwicklung des Babys eine gewisse Suchtproblematik von der Mutter auf das Baby übertragen.
Der wichtigste Kanal jedoch ist der mentale und hier findet die Kommunikation zwischen der werdenden Mutter und ihrem Baby über den Austausch von Bildern und Gefühlen statt, der sich hin zu worthaften Dialogen entwickeln kann.
Mit Hilfe der von Raffai ausgearbeiteten Instruktionen werden die Schwangeren in einen Zustand der Meditation versetzt, vergleichbar mit einer Tiefenentspannung. Die Körperwahrnehmungsübungen werden auf die Gebärmutter konzentriert, sowie auf das dort befindliche Baby. Die Meditation nach Raffai soll zu einer gedanklichen Verschmelzung der Schwangeren mit dem Kind im Mutterleib führen.
Die meisten Mütter spüren während dieser Meditationsphase wohltuende Wärme, ihre Gebärmutter entspannt sich und wird weich. Zuweilen können die Mütter gedanklich ihr Kind in Richtung ihres Herzens lenken und sogar dazu bewegen, die Gebärmutterwand zu streicheln.
Es gibt unzählige Forschungen über das Verhalten der Hirnwellen im Zustand der Meditation. Die sogenannten Alphawellen, die sich in einem Frequenzbereich zwischen 14 und acht Herz bewegen, sind sozusagen das Tor zur Meditation und unterstützen das Visualisieren innerer Bilder. Gehen wir tiefer in die Meditation, schaltet unser Hirn um auf Thetawellen. In diesem Bereich befinden sich unsere unbewussten seelischen Anteile. Es ist also durchaus vorstellbar, dass die höheren Wellen des Babys in gleicher Weise reagieren und dass sich Mutter und Kind auf dieser Ebene begegnen.
Raffai selbst formuliert die Kommunikation folgendermaßen: „Zum Ausbau der Bindung und des Dialogs benutzen wir das Ich der Mutter. Die Mutter wird fähig, mit ihrem Ich den psychischen Bereich des Babys zu betreten und ihn wahrzunehmen. Die von dort kommenden Nachrichten erscheinen auf dem gleichen inneren Bildschirm wie ihre Träume und Fantasien. Diese Empfindungen können sich in der Mutter in Bildern und Gedanken umformen und verschiedene Fantasien und Gefühle mobilisieren. Dieser Kommunikationsweg funktioniert auch umgekehrt. Das Baby ist fähig, die von der Mutter in Form von Bildern, Gedanken und Fantasien geschickten Nachrichten zu dekodieren und darauf zu antworten. In dem gemeinsamen Bindungsraum teilen sie ihre Seeleninhalte einander auf ganz natürliche Weise mit.“
Die Bindungsanalyse fördert das positive Erleben der Mutter während der Schwangerschaft, der Geburt und in der Stillzeit.
Sie festigt die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind.
− Sie hat einen positiven Einfluss auf das Stillverhalten.
Eine postpartale Depression tritt so gut wie nie auf (unter ein Prozent, im Vergleich zu durchschnittlich 19 Prozent).
Die Kaiserschnittrate ist auffallend niedrig.
Die Frühgeburtlichkeit liegt bei nur 0,2 Prozent im Vergleich zu den üblichen 9,2 Prozent, in den USA sogar 12 Prozent.
Die Geburten verlaufen im Durchschnitt sehr viel leichter und schneller, sind weniger schmerzhaft und erfordern seltener eine Anästhesie oder die Zuhilfenahme geburtsunterstützender Mittel.
Erwiesenermaßen weisen die mit der Bindungsanalyse begleiteten Babys weniger Kopfverformungen durch die Geburt auf. Diese Verformungen des kindlichen Schädels zeugen von der Kraft, die bei der Geburt auf ein Baby einwirkt. BA-Babys unterliegen einer viel geringeren geburtstraumatischen Belastung, was sich eben in den geringeren Schädelverformungen oder dem sehr schnellem Rückgang etwaiger Verformungen zeigt.
Bauchkoliken und Schreiattacken treten deutlich seltener auf.
Dasselbe gilt für Schlafstörungen. Die BA-Babys schlafen schnell die ganze Nacht durch und wirken insgesamt viel ausgeglichener und in sich ruhender.
Die psychomotorische Entwicklung schreitet bei den BA-Babys schneller voran.
Die BA-Babys weisen tatsächlich eine stärkere Sozialkompetenz auf.
Ihre Affektregulierung scheint ebenso besser zu funktionieren.
Durch die Bindung, die das vorgeburtliche Kind bereits im Mutterleib erlebt hat, hat es ein starkes Selbstvertrauen entwickelt. Es erkundet seine Umgebung neugierig und geht auf andere Menschen unbefangener zu.
Inzwischen wird die Bindungsanalyse an einigen Universitäten beforscht. Es fehlen leider noch Langzeitstudien, die aber unbedingt durchgeführt werden sollten.
Im Folgenden wird beispielhaft kurz von einer Studie berichtet, die 2016 von Dr. Sabine Buchebner-Ferstl und Dr. Christine Geserick vom Österreichischen Institut für Familienforschung an der Universität Wien durchgeführt wurde und den Titel trägt: „Vorgeburtliche Beziehungsförderung, Dokumentation von Erfahrungen mit der Methode der Bindungsanalyse“. Im Mittelpunkt stand bei dieser Studie die Frage, wie Frauen, die mit der Bindungsanalyse begleitet werden, diese Zeit erleben, sie für sich interpretieren und bewerten. Im Vordergrund stand die subjektive Sichtweise der Klientinnen.
An dieser Studie nahmen neun Frauen aus Österreich teil, Schwangere und junge Mütter. Die Erhebung fand mithilfe eines teilweise strukturierten Interviews statt, in dem es aber Raum für persönliche Kommentare gab, die den interviewten Frauen wichtig waren. Hinzu kam, dass auch mit drei Bindungsanalytikerinnen mit langjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Bindungsanalyse ausführliche Gespräche geführt wurden, die zwar nicht eingehend analysiert, aber dennoch an vielen Stellen zitiert wurden.
Die Studie behandelt die folgenden Themen: Vorgeburtliche Erfahrungen und ihre Auswirkungen, Beschreibung der Methode der Bindungsanalyse, ihre Geschichte, ihren Ablauf, bisherige Erfahrungen mit dieser Methode, sowie die Bedeutung des Vaters in der Bindungsanalyse. Danach folgt die Wiedergabe von Zitaten aus den Interviews mit den entsprechenden Kommentaren.
Der wichtigste Teil dieser Studie ist die Bewertung der Bindungsanalyse durch die Klientinnen. Insgesamt bewerteten die Frauen, die ihr BA-Baby bereits bekommen hatten, die Bindungsanalyse als ausgesprochen positiv. Sie betonten alle, dass sie eine stärkere Vertrautheit zum ungeborenen und geborenen Kind spürten, sich in ihrer persönlichen Weiterentwicklung sehr unterstützt sahen und sie gaben an, dass die Persönlichkeit und die Kompetenz der Bindungsanalytikerin ausschlaggebend dafür waren, dass sie sich wohl gefühlt hatten und die BA gelingen konnte.
Die interviewten Frauen betonten auch, dass der geschützte Raum, den die Bindungsanalyse bietet, für sie sehr wichtig war. Er vermittelte ihnen Sicherheit, Konstanz und Ruhe und schuf eine Atmosphäre des Vertrauens. Alle interviewten Frauen berichteten von einer unmittelbaren und ganzheitlich positiven Wirkungsweise der Bindungsanalyse. Sie begrüßten die Möglichkeit der Verarbeitung vorangegangener belastender Ereignisse, wie zum Beispiel Fehlgeburten, und sahen in der Auseinandersetzung mit eigenen Lebensthemen oder Problemen eine wertvolle Unterstützung. Sie spürten, dass sie im Verlauf der Bindungsanalyse eine größere Reife, innere Stärke und mehr Selbstbewusstsein erlangt hatten.
Als einzigen kritischen Punkt merkten die Klientinnen an, dass der Zugang zur Bindungsanalyse prinzipiell schwierig ist, weil diese Methode immer noch nicht ausreichend bekannt ist. Weiterhin wurde kritisch vermerkt, dass sich offensichtlich nicht jede Schwangere eine Begleitung mit der Bindungsanalyse während der gesamten Zeit der Schwangerschaft finanziell leisten kann. Geht man von durchschnittlich ca. 30 Sitzungen aus, wird leicht ein Betrag erreicht, der manches Portemonnaie überfordern könnte.
Die Bindungsanalyse darf auf keinen Fall eine elitäre Begleitung sein. Wie eingangs erwähnt, gibt es inzwischen intensive Bemühungen, bei den Krankenkassen zu erwirken, dass die Bindungsanalyse als Präventivmaßnahme in deren Leistungskatalog aufgenommen wird. Die Empfehlung, die beide Forscherinnen am Ende ihrer Studie aussprechen und ihre Anregung, die Ausbildungsangebote zum Erlernen der Methode der Bindungsanalyse zu erweitern, wird später noch einmal aufgegriffen.
Die zweite, sehr erwähnenswerte Arbeit wurde von einer Hebamme verfasst unter dem Titel „Die Mutter-Kind Bindungsanalyse nach Raffai und Hidas als Element der Hebammenarbeit“. Brunhild Schmid schrieb ihre Abschlussarbeit zur Erlangung des akademischen Grades „Master of Science“ in Midwifery 2015 an der Fachhochschule Salzburg.
Darin beschreibt sie das „salutophysiologische Betreuungsmodell von Verena Schmid“ und setzt es in Zusammenhang mit der Bindungsanalyse. Schmid kommt zu dem Schluss, dass die Bindungsanalyse die Anpassung der Frau an die Schwangerschaft verändert und die Mutter-Kind-Bindung stärkt. Das Wahrnehmen des Trennungs- und Lösungsprozesses der Geburt, sowie das Visualisieren des Geburtsweges in der Abschlussphase unterstützt eine physiologische Geburt und das Annehmen des Kindes. Somit „stellt die Bindungsanalyse eine sinnvolle Ergänzung für das salutophysiologische Betreuungsmodell dar“.
Schmid geht in ihrer Arbeit auf die Geschichte der pränatalen und pränatalen Psychologie ein, sie berichtet über den heutigen Kenntnisstand bezüglich der psychischen Entwicklung des ungeborenen Kindes, sein Erleben und seine Erfahrungen in der Gebärmutter, sie beschreibt das Konzept der Bindungsanalyse in deren Funktion als Präventionsmaßnahme, schildert das Konzept der Salutophysiologie und erläutert die von ihr angewandte Methodik der Befragung.
Auch hier dienen Interviews als Forschungsgrundlage. Ziel dieser Forschungsarbeit war die Frage, wie die Anwendung der Bindungsanalyse durch Hebammen den erfolgreichen Übergang von der Schwangerschaft zur Geburt unterstützen kann.
Die Interviews wiesen zwei Themenschwerpunkte auf. Der erste befasste sich mit der Struktur der Bindungsanalyse, also wie viele Stunden aufgewendet und wie diese Stunden erlebt wurden, wie sich der Austausch mit dem Kind gestaltete und was als Stärken oder Belastungen empfunden wurde. Der zweite Themenschwerpunkt konzentrierte sich auf die Abschlussphase der Bindungsanalyse, die Geburtsvorbereitungen.
In ihrer Schlussfolgerung hebt auch Schmid hervor, dass eine gute Mutter-Kind-Bindung vor und nach der Geburt einen positiven Einfluss auf die Entwicklung des Kindes und die Elternschaft hat. Die Bindungsanalyse ist ein Modell, das ein besseres Verständnis der Entwicklungsprozesse der Mutterschaft insgesamt ermöglicht und die praktische Hebammenarbeit wunderbar ergänzt. „Eine gelungene pränatale Zeit ist die beste Primärprävention für das Kind“, ist ihre klare Aussage und sie spricht die eindeutige Empfehlung aus, dass Hebammen sich mit den theoretischen Konzepten der pränatalen und perinatalen Psychologie auseinandersetzen sollen, um auf dieser Grundlage hebammenspezifische Angebote ausarbeiten zu können.
Die Bindungsanalyse bietet den Hebammen neue Handlungsmöglichkeiten. Schmid fordert sogar, dass die Erkenntnisse aus der pränatalen Psychologie in die Hebammenweiterbildung einfließen müssen und zum festen Bestandteil der gesamten Hebammenausbildung werden sollen. Konkret sagt sie: „Geburt, Gebären und Geborenwerden im medizinischen Modell müssen sich den Aspekten der pränatalen Psychologie zuwenden.“
Die Autorinnen des vorliegenden Buches unterstützen die Aussagen und Empfehlungen dieser Hebamme voll und ganz.
Eine weitere vehemente Unterstützung erfahren die Hebammen in einer Stellungnahme von Dr. Ludwig Janus über die Bedeutung des Berufs der Hebammen und der Geburtskultur. Er schreibt: „Aus der Sicht eines Pränatalpsychologen ist der staatliche Umgang mit der Versicherungsproblematik bei den freiberuflichen Hebammen unverantwortlich. Für eine humane und mit den Menschenrechten vereinbare Geburtskultur ist sie eher destruktiv.“
Und weiter führt er aus: „Bei der Geburt handelt es sich eben nicht um ein Ereignis, das allein in die Selbstverwaltung der Akteure im Gesundheitswesen gehört. Hingegen erfüllt die Hebamme eine staats- und gesellschaftserhaltende unverzichtbare Aufgabe, dem Kind auf seinem Weg in die Welt den seelischen, sozialen und praktischen Rückhalt zu geben, auf den es elementar angewiesen ist, und der Mutter die Unterstützung zu geben, die sie für die volle Entfaltung ihres Potenzials zu gebären braucht.“
Er prangert die derzeitige Notsituation an, in der ca. 60 % der freiberuflichen Hebammen wegen unzumutbarer Rahmenbedingungen ihre Tätigkeit aufgeben müssen, und dass in Krankenhäusern arbeitende Hebammen oft unter dem Druck stehen, mehrere Gebärende gleichzeitig betreuen zu müssen.
Die Autorinnen dieses Buches setzen sich dafür ein, dass die Bindungsanalyse integrierter Bestandteil der elementaren und fortgeschrittenen Hebammenausbildung wird, da sie den Hebammenberuf nicht nur enorm aufwerten wird und eine zusätzliche, dringend benötigte Einnahmequelle bilden kann, sondern auch eine große Bereicherung ihrer Professionalität und ihrer Erfahrungswelt bedeutet.
von Maria Reiter-Horngacher
Beginn der Zusammenarbeit
Andrea kam in der 12. Woche ihrer zweiten Schwangerschaft zu mir und wollte die Bindungsanalyse kennenlernen. Die erste Schwangerschaft endete ein halbes Jahr zuvor in der siebten Woche aufgrund einer Blutung mit einem Abgang. Diese Erinnerung war noch präsent. Die Angst, dass es wieder so enden könnte, war deutlich spürbar. Ich besprach mit ihr den Ablauf und die Technik der Bindungsanalyse.
Das Erstinterview
Wir starteten mit der Erhebung aller Daten zur Mutter, zum Kind und zu ihrem Tagesablauf. Andrea lebt in einer glücklichen Beziehung. Der Mann unterstützte die Bindungsanalyse, indem er immer mit offenen Ohren zuhörte, was sie von den neuen Erfahrungen berichtete.
Sie arbeitet als selbständige Physiotherapeutin in einer eigenen Praxis. Der Abschluss ihrer Osteopathie-Ausbildung mit einer umfangreichen Prüfung sollte noch vor der Geburt stattfinden.
Sie ist das erste Kind ihrer Mutter, selber hatte diese eine unkomplizierte Schwangerschaft und Geburt. Sie hat eine sechs Jahre jüngere Schwester. Der Kontakt zu ihren Eltern ist harmonisch, sie sind miteinander in guter Verbindung.
Die Herausforderung am Anfang
Als Andrea und ihr Mann nach der Fehlgeburt wieder offen für die Familienplanung waren, wurde sie gleich schwanger. Die ersten Wochen der zweiten Schwangerschaft verliefen gut, bis sie in der achten Woche eine Blutung hatte. Es wurde ein Hämatom diagnostiziert und ihr wurde Bettruhe verordnet. Da dies der Zeitraum war, in dem sie in der ersten Schwangerschaft einen Abgang hatte, war sie voller Sorge, dass es wieder zu einer Fehlgeburt kommen könnte. Sie verstand den Grund der Blutung nicht und stellte sich die Frage, warum die Emotionen wieder hochkamen. Sie wollte in der Bindungsanalyse lernen, sich selber zu fühlen und das Baby losgelöst von ihren eigenen Gefühlen wahrzunehmen.
In den ersten Stunden ging es um die Kontaktaufnahme zum Baby. Andrea lag auf der Liege, ich begleitete sie mit meinen Anleitungen in die Entspannung und über die bewusste Atmung konnte sie ihren Körper gut fühlen. Sie versuchte ihr Baby zu spüren, innerlich zu berühren und kennenzulernen. Sie baute einen Dialog zu ihrem Kind auf, der über innere Bilder, Bewegungen und Gedanken ablief. Gemeinsam gelang es uns, sie für ihre innere Unruhe, aber auch für ihr Vertrauen zu sensibilisieren.
Andrea konnte das Baby wahrnehmen und fühlte, dass es sich ruhig in der Gebärmutter verhielt. Bei der Konzentration auf das Hämatom bemerkte sie Angst, aber sie spürte gleichzeitig, dass dies keine ernste Bedrohung für das Baby werden würde. Sie versuchte in ihr Vertrauen zu gehen und dieses Gefühl mit ihrem Baby zu teilen. In der 15. Woche bekam sie vom behandelnden Gynäkologen die gute Nachricht, dass sich das Hämatom aufgelöst hatte und laut Ultraschalluntersuchungen alles Bestens war.
Junge oder Mädchen?
Nun konnte Andrea sich sicherer fühlen und die Schwangerschaft mehr genießen. Die inneren Reisen wurden herzlicher, sie konnte einen Dialog mit ihrem Baby führen. Mit der Zeit arbeiteten wir heraus, dass für sie das Geschlecht eine Wichtigkeit hatte. Aus tiefstem Herzen war es ihr egal, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Aber in der Familie ihrer Großmutter gab es einige Schwangerschaftsverluste und das waren immer männliche Föten gewesen. Dadurch spürte sie eine Angst, dass die Schwangerschaft mit einem Buben ein Problem werden könnte. Im Gespräch mit mir konnte Andrea annehmen, dass die Geschichte der Großmutter mit den verlorenen Jungen zu ihrer Herkunft gehörte. Es gelang ihr, all ihre Sorgen in ihrem Herzen zu spüren und ihr Baby unabhängig davon wahrzunehmen.
In ihren inneren Gesprächen mit ihrem Kind erkannte sie ein Mädchen, was der Gynäkologe auch mit dem Ultraschall bestätigte.
Die Schwangerschaft wird sichtbar
Als ihr Babybauch zu wachsen begann, erlebte Andrea ambivalente Gefühle. Im Gespräch stellten wir fest, dass sie ihr „Wachstum“ auf zwei unterschiedlichen Ebenen betrachten konnte. Auf der einen Seite empfand sie große Freude und den Wunsch, den Schwangerschaftsbauch stolz herzuzeigen. Auf der anderen Seite fühlte sie sich unsicher, ob sie mit Freude „runder“ werden durfte, weil ihre beste Freundin zur selben Zeit wegen einer Magersucht in Behandlung war. Darf sie selber Freude über die Veränderungen ihres Körpers zeigen, während ihre Freundin, die ausgewählte Taufpatin des Kindes, auf gar keinen Fall selber zunehmen möchte?
Diese Frage war für Andrea ein Thema in den Bindungsanalysestunden und ich unterstützte sie, unterschiedliche Antworten darauf zu finden. Im Laufe der Zeit wurde ihr die Krankheit ihrer Freundin und deren Hilflosigkeit immer bewusster und mit meinen Interventionen lernte sie, diese Geschichte mit den damit verbundenen Gefühlen von ihrer Schwangerschaft getrennt zu betrachten.
Es beginnt etwas Neues
Zur Halbzeit der Schwangerschaft spürte sie, dass sich in ihrem Körper viel zu verändern begann. Sie konnte in den Babystunden ihre Tochter immer klarer wahrnehmen und baute einen verbindenden Dialog mit ihr auf.
Ich motivierte Andrea, sich ihren zukünftigen Weg und das Leben als Mutter vorzustellen.
Die neue Situation wurde ihr immer bewusster. Als Mama vom ersten Kind entwickelt man sich selbst von der Tochter zur Mutter. Dadurch hat man beide Rollen und es entsteht somit eine neue Ebene mit der eigenen Mutter und eine neue Ebene mit dem Baby. Andrea sah sich auf einer Brücke stehend. Schaute sie auf die eine Seite, von der sie auf die Brücke gegangen war, war sie Tochter ihrer Mutter, sobald sie auf die andere Seite schaute, zu der sie hinging, wurde sie zur Mutter ihrer Tochter. Mit diesem Bild und den Gefühlen aus ihrer Kindheit reflektierte Andrea die Beziehung zu ihren Eltern.
In unseren Gesprächen wuchs in ihr der Wunsch, dass sie ein komplett neues Leben mit ihrem Partner starten wollte. Es wurde für sie mehr und mehr spürbar, dass sie sich zu einer eigenen Familie entwickelten. Innerlich konnte die Erlaubnis wachsen, dass sich ihr Leben zu etwas Besonderem entwickeln durfte. Und dieses Glück konnte sie in der Entspannung fühlen, unabhängig von ihrer eng verbundenen Herkunftsfamilie. Sie feierten in dieser Zeit ihre Hochzeit und dies war ein ganz neuer Start als Familie.
Eine innere Dynamik wird zur Unruhe
In der 28. Woche bekam die werdende Mutter nachts Schlafstörungen, was mit der näher rückenden Abschlussprüfung der Osteopathie zusammenhing. Die Freude am Lernen war nicht groß, aber die Vernunft überwog und deshalb wollte sie die Prüfung noch vor der Geburt hinter sich bringen. Andrea ist bereits von Natur aus ein aktiver Typ, jedoch wurde es für sie zur Belastung, als sich diese Dynamik in der Nacht zu einer inneren Anspannung entwickelte.
Sie konnte mit mir gut über ihre Unruhe sprechen und versuchte, dies auch ihrem Baby im Dialog mitzuteilen. In dieser Zeit fiel es ihr schwer, im Kontakt zu bleiben, da sie mit ihren Prüfungsvorbereitungen beschäftigt war.
Die Geburt kommt näher
Im Verlaufe der Wochen kam das Thema Geburt verstärkt in den Fokus. Die Erinnerungen an den Verlust der ersten Schwangerschaft in der siebten Woche kamen wieder hoch. Andrea hatte das gut verarbeitet, und trotzdem war bei dem Gedanken an die Geburt des neuen Lebens die Trauer über den Verlust wieder da. Leben und Tod liegen manchmal sehr nahe beieinander. Beide Gefühle durften sein: Die Erinnerung an den Frühschwangerschaftsabgang in der Vergangenheit und die Freude auf das Baby nach der Geburt in der Zukunft.
Die Lage des Babys
In der 32. Woche stellte sich beim Ultraschall heraus, dass sich das Baby noch sitzend in der Steißlage befand. Gemeinsam erarbeiteten wir, wie sich ihre innere Spannung auch auf die Kindeslage auswirkte.
Andrea startete alle Versuche, um dem Baby zu „erklären“ und zu „zeigen“, dass es sich in die Schädellage drehen sollte. Von der Moxa-Therapie, bis hin zur indischen Brücke wurden viele Techniken angewandt. Beim Spiegelspiel konnte sie ihren Körper und den des Babys wahrnehmen. Auch meine Empfehlungen, dies öfters zu wiederholen, führte sie durch, aber die Lage des Babys änderte sich nicht. Andrea wurde immer unsicherer, da sie absolut gegen einen Kaiserschnitt war und auch keine Wendung versuchen wollte. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum es sich nicht in die Schädellage drehte und über die Botschaften vom Baby bekam sie für sich auch keine klärende Antwort.
Mit den Wochen wurde Andrea unruhiger und in ihrer Hilflosigkeit realisierte sie, dass sie im Leben bislang immer anstrebte, alles unter Kontrolle zu haben. Diese Situation war für sie eine völlig neue Erfahrung. Die Annahme, dass alles einen tieferen Sinn haben sollte, war kein wirklicher Trost für sie.
Die Abschlussprüfung hatte sie gut hinter sich gebracht. Alles hätte sich gut entwickelt, wenn da nicht die Steißlage gewesen wäre. Mittlerweile in der 36. Woche angekommen, wurde sie immer angespannter. Andrea hatte geplant, gemeinsam mit einer Hebamme ihrer Wahl ins Krankenhaus zu gehen. Bei einer Kaiserschnittentbindung wäre das nicht möglich gewesen. So stellte sich die Frage, ob sie nicht doch eine äußere Wendung versuchen sollte.
Ihre innere Ablehnung der möglichen Gefahren dieser Technik klärte sie ab und so wurde sie offener für diese Möglichkeit. In unseren Gesprächen erkannte sie, dass eine äußere Wendung unterschiedlich betrachtet werden kann. Für sie war es am Anfang eine Gewalt von außen, aber es entwickelte sich in ihr der Blickwinkel, dass eine äußere Wendung auch eine Möglichkeit sein kann, dem Baby einen Weg vorzugeben.
Mit dieser neuen Vorstellung vereinbarte sie für die 37. Woche einen Wendungstermin im Krankenhaus. Von da an war sie entspannter, da sie wusste, alles versucht zu haben, um einen Kaiserschnitt zu vermeiden. Jetzt konnte sie wieder einen offenen Kontakt zu ihrem Baby aufnehmen und immer wieder stellte sie ihrer Tochter die Frage, was sie denn noch brauche, um sich selber nach unten zu drehen.