Mit der Faust in die Welt schlagen - Lukas Rietzschel - E-Book
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Mit der Faust in die Welt schlagen E-Book

Lukas Rietzschel

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Beschreibung

Zwei Brüder, ein Dorf in Ostsachsen und eine Wut, die immer größer wird Philipp und Tobias wachsen in der Provinz Sachsens auf. Im Sommer flirrt hier die Luft über den Betonplatten, im Winter bricht der Frost die Straßen auf. Der Hausbau der Eltern scheint der Aufbruch in ein neues Leben zu sein. Doch hinter den Bäumen liegen vergessen die industriellen Hinterlassenschaften der DDR, schimmert die Oberfläche der Tagebauseen, hinter der Gleichförmigkeit des Alltags schwelt die Angst vor dem Verlust der Heimat. Die Perspektivlosigkeit wird für Philipp und Tobias immer bedrohlicher. Als es zu Aufmärschen in Dresden kommt und auch ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, eskaliert die Situation. Während sich der eine Bruder in sich selbst zurückzieht, sucht der andere ein Ventil für seine Wut. Und findet es. Lukas Rietzschels Roman ist eine Chronik des Zusammenbruchs. Eine hochaktuelle literarische  Auseinandersetzung mit unserem zerrissenen Land.

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Das Buch

Lukas Rietzschels Roman ist eine Chronik des Zusammenbruchs. Eine hochaktuelle literarische Auseinandersetzung mit unserem zerrissenen Land. Philipp und Tobias wachsen in der Provinz Sachsens auf. Im Sommer flirrt hier die Luft über den Betonplatten, im Winter bricht der Frost die Straßen auf. Der Hausbau der Eltern scheint den Weg in ein neues Leben zu weisen. Doch hinter den Bäumen stehen unheilvoll die Fabriken der DDR, unter der Oberfläche der Tagebauseen ist ein Geheimnis und über allem liegt die Angst, diese wächst in Philipp und Tobias immer mehr an. Als es zu Aufmärschen in Dresden kommt und auch ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, eskaliert die Situation. Während sich der eine Bruder zurückzieht, sucht der andere ein Ventil für seine Wut. Und findet es.

Der Autor

Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen, lebt in Görlitz. 2012 wurde sein erster Text im »ZEIT Magazin« veröffentlicht, seitdem folgten Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien. 2017 war er Gewinner bei poet|bewegt. Für das Manuskript seines Romandebüts wurde er 2016 mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet.

Lukas Rietzschel

MIT DER FAUST IN DIE WELT SCHLAGEN

Roman

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-1851-6

© 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: © akg-images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Elias

1. BUCH

2000–2004

1. KAPITEL

Da waren eine Grube und ein Schuttberg daneben. Mutter stand am Rand und blickte hinab auf die grauen Steine, die zu einer Mauer gestapelt worden waren. Dann hoch auf diesen Hügel aus Erde und Grasklumpen, Kies und Bruchstücken. Ihre beiden Söhne darauf. Tobi und Philipp. Bunte Jacken dreckverschmiert. Unten ihr Mann, wo der Keller entstehen würde. Sie sah hin und her, dann über das Feld, gegenüber der Straße, die zu ihrem Haus führen würde. Dort verblassten die Flachdächer der Wohnblocks. Philipp sagte ihr, dass er sich nicht erinnern könne, dort jemals gelebt zu haben, er hatte davon gehört und die Bilder eines pummeligen Babys gesehen, das er sein sollte. Dann war der Umzug gekommen, weil Tobi sich angekündigt hatte, und jetzt, fünf Jahre später, das eigene Haus. Elf Jahre nach der Wende.

Das Feld war längst abgeerntet. Im Sommer würde dort wieder Futtermais wachsen. Die Kastanie, die auf dem Nachbargrundstück stand, war bereits durchlässig gegen die Sonne. Kaum ein Blatt, das mehr an den Ästen hing. Kaum eine Kastanie mehr zu finden, die nicht matschig auf der holprigen Straße lag. Einspurig, lediglich für die Anwohner an den Rändern asphaltiert. Dadurch rutschte kein Auto in den Graben, wenn sich zwei begegnen sollten.

Aus der Grube kam Vater und stellte sich neben Mutter. Herr und Frau Zschornack. Für sie roch er wie die Buchsbaumhecken im Frühjahr, nachdem der Schnee geschmolzen war und der Duft von Katzenpisse aus der Erde stieg. Mutter atmete aus und klopfte ihm Erde vom Rücken. Der Schornstein des Schamottewerkes war zu sehen. Eine Ziegelesse, die nicht mehr rauchte, seitdem die Mauer gefallen war. Eine Zeit lang war es noch möglich gewesen, in der alten Kantine mittags essen zu gehen, aber dann schloss sie von einem Tag auf den anderen. Seitdem trafen sich die ehemaligen Arbeiter nicht mehr dort. Gelegentlich liefen einige von ihnen zum Spazierengehen über das Gelände hinüber in den angrenzenden Wald. Verrostete Überreste von Schienen. Begannen und endeten abrupt. Die Erde war durch den Kaolinabbau von Mulden übersät und eingedellt. Neschwitz lag in dieser Landschaft wie ein Steg zwischen Tongruben und Steinbrüchen.

Philipp ging zu Vater, der ihm über die dunklen Haare strich. »Halten die Steine das aus, wenn mal Schnee drauf fällt?«, fragte er. »Nass werden sollten sie nicht«, sagte Vater. Philipp streckte sich nach dem Mauerstück in der Grube, balancierte darauf. Blickte von oben hinunter. »Wann kommen die Kabel?«, fragte er. Vater lachte auf und sagte, dass zunächst die Wände isoliert würden, mit Teer gegen die Feuchtigkeit, und erst viel später die Elektrik ins Haus kommen würde. »Fall nicht runter«, sagte Mutter. Philipp winkte ab. Kalter Wind wehte über das Feld. Mutter drehte sich zu Tobi, um zu kontrollieren, ob er seine Jacke geschlossen hatte. Seine Knie braun und nass von der Erde. In seinen Haaren klebten Grashalme. Mit seinen Händen rollte er Steine und Erdklumpen den Hügel hinab und machte Geräusche von Donner nach. Philipp hatte ihm das Bild eines Vulkanes gezeigt, und Tobi hatte mit seinem Zeigefinger den Weg der Funken nachgezeichnet. Es gab nur zwei Farben auf dem Bild: Rot und Schwarz. Tobi wollte das Buch haben, aber Philipp hatte gesagt, dass man dafür in die Schule gehen müsse. Also würde er sich noch ein Jahr gedulden müssen, ein Dreivierteljahr höchstens. Wenn er etwas über Vulkane lernen würde, war die Wartezeit akzeptabel.

In den Nachbarhäusern brannten erste Lampen. Die abendliche Luft voll Feuchtigkeit. »Ich nehme die beiden mit und fahre dann auf Arbeit«, sagte Mutter. »Mach nicht so lange.« Sie ging zu Vater und küsste ihn flüchtig auf die Wange. Vater packte Philipp unter den Armen und reichte ihn von der Mauer an den Grubenrand. Wie ein Werkzeug oder einen Sandsack. Früher war das leichter gewesen, war Philipp leichter gewesen.

Tobi musste seine dreckige Hose ausziehen, bevor er in den Wagen stieg. Er zitterte. Beim Wenden platzten noch einzelne Kastanien unter den Reifen. Das Feld sah aus wie ein schwarzes Loch. Der Trichter eines Vulkans. Eingang und Ausgang zum Inneren der Welt. Tobi gefiel der Gedanke, dass man den Rauch und das Feuer bis zum nächsten Dorf würde sehen können. Wie Dresden, als es brannte. Wann auch immer Dresden derart gebrannt haben mochte. Das hatte er nicht verstanden. Der blaue Renault bog auf die Hauptstraße. Philipp und Tobi blickten nach den Flutlichtmasten des Sportplatzes. In dünnen gelben Leibchen rannten Männer am Zaun entlang und hauchten in die Luft. Sie sahen vergnügt aus. In der angrenzenden Gaststätte mit Kegelbahn saßen Leute hinter Spitzengardinen und tranken Bier. Selbst im Vorbeifahren waren ihre Bäuche zu sehen, die gegen die Tischkanten drückten. Blechschilder an der holzgetäfelten Wand. Wimpel und Fußballtrikots. Nur jede zweite Straßenlaterne bis an den Ortsrand, wo der Wald anfing, eingeschaltet.

2. KAPITEL

In den Wochen darauf fiel das erste Mal Schnee in diesem Jahr. Der Erdhaufen neben der Baugrube glich einem Iglu. Die grauen Steine der Mauern verschwommen mit der durchgehenden Schneedecke. Philipp rührte mit dem nassen Pinsel so lange in den Wasserfarben, bis sich kleine Bläschen bildeten. Aus Ocker und Braun malte er den ersten Vogelkörper wie eine Birne mit Flügeln. Tauchte den Pinsel wieder in die Farben und malte zwei rundere Birnen daneben. Drei Spatzen in einem leeren Haselstrauch. Die Lehrerin hatte das Gedicht an die Tafel geschrieben. Dann braunes Papier verteilt. Darauf waren die Schneeflocken aus Deckweiß besser zu sehen. Philipp malte den Spatzen Mützen und kleine Schals. Schlitze als Augen. »Die schlafen wohl?«, fragte die Lehrerin. »Ja«, sagte Philipp. »Machen die Winterschlaf?« »Nein, die frieren.« Sie sah sich die Spatzen der anderen Kinder an. Die dünnen Haselzweige und dicken Schneeflocken. Dann kam sie wieder zu Philipp und hockte sich neben seinen Tisch. »Ich habe gehört, dass ihr ein Haus baut«, sagte sie. »Ja.« »Was arbeiten deine Eltern noch mal?« Die gleiche Frage von unterschiedlichen Leuten. Philipp antwortete darauf, wie er es für richtig hielt. »Elektriker und Krankenschwester.« Vater, der schlauer war, sowieso, sagte, dass das niemanden etwas angehen würde. Vor allem nicht diese ganzen Lehrer, Ärzte, Beamten, Bonzen und Politiker.

Vater lief neben seinem Chef die schmale Straße entlang, die zur Baustelle führte. In den Nachbarhäusern noch Licht. Gardinen wurden durch die warme Luft der Heizkörper bewegt. Bald die ersten Schwibbögen und Herrnhuter Sterne. Der Duft von Weihrauch aus den geschnitzten Schornsteinfegern und Bergmännern.

»Was ist aus den Offizieren geworden?«, fragte der Chef.

»Die wohnen hier noch«, sagte Vater. »Die meisten kriegen Rente, manche arbeiten.« Sie gingen an einem Haus mit Metallzaun vorbei. »Der hier guckt die ganze Zeit aus dem Fenster«, sagte er. »Im Sommer ist er im Garten und gießt Blumen. Frühs und abends.« Er drehte sich um und zeigte auf zwei Häuser. Beide hatten den gleichen braunen Putz. Den Grundstücken gegenüberliegend je zwei Garagen. Im Schnee waren Reifenspuren. »Der dort ist Fahrprüfer.«

»Fahrlehrer?«

»Nein, der sitzt bei der Prüfung hinten und schreibt die Fehler auf. Mierisch heißt der«, sagte Vater, »ekelhafter Typ.« In dem Haus nebenan, sagte er weiter, lebte ein ehemaliger Lehrer, der jetzt Direktor an einer Schule war.

»Schön ruhig hier«, sagte der Chef, wechselte das Thema. Eine Frau lief vorbei, nickte den beiden Männern zu und verschwand in einem der Häuser. Die Männer wandten sich ab. Liefen über die dünne Schneeschicht zur Baugrube. »Helfen euch eure Eltern?«, fragte der Chef. Er setzte seine Füße fest auf, das Gewicht verlagert, und versuchte, ein wenig auf der Straße zu rutschen. In den Knien abgefedert, als wollte er Schlittschuh laufen. Vater sagte, dass sein Vater später beim Streichen helfen würde. Sein Bruder auch. »Der wohnt noch zu Hause. Ist nie rausgekommen.« Der Vater seiner Frau sei zu krank, um zu helfen.

»Was hat er?«

»Diabetes. Und vor zwei Jahren einen Schlaganfall.«

»Scheiße«, sagte der Chef.

Vater nickte. »Hat seitdem Probleme mit dem Sprechen. Autofahren geht auch nicht mehr.«

Einzelne Steine, die aus der Erde und dem Schnee ragten, stießen sie in die Grube. Sie spürten sie nicht durch die Stahlkappen in ihren Schuhen. In den Jackentaschen ballte der Chef seine Hände zu Fäusten.

»Ich versteh nicht, wie die sich das vorgestellt haben«, sagte er. »Was uns alles versprochen wurde.«

Vater beobachtete, wie sein Atem in der Luft aufstieg, und antwortete nicht. Abschluss aberkannt, Umschulung, Umschulung, Weiterbildung. Zwischendurch hatte er durchgerechnet, ob er die Familie kurzzeitig vom Arbeitslosengeld hätte ernähren können. Sein Bruder war jetzt Altenpfleger, er Elektriker. Beide hatten ursprünglich Kupplungen gebaut.

»Guck dir Uwe an«, sagte der Chef. »Der sitzt allein zu Hause, weil seine Frau drüben ein besseres Gehalt bekommt.« Er zog ein Feuerzeug aus seiner Tasche, rieb aus Gewohnheit am Plastik, schüttelte es und zündete sich schließlich eine Zigarette an. »Gestern kam er betrunken auf Arbeit.«

Vater schüttelte den Kopf und drehte sich vom Zigarettenrauch weg.

»Der bringt sich um, wenn ich den feuere.«

Der Schneepflug fuhr an ihnen vorbei. Ein kleines oranges Auto. Schob Erde vom Wegesrand auf die Straße. Die gestreuten Salzkörner bildeten Kreise auf dem feuchten Asphalt. Erhebungen in der Mitte wie kleine Mitesser.

»Hat ein ganz aufgedunsenes Gesicht und stinkt«, sagte der Chef. »Letztens hat sich eine Kundin bei mir über ihn beschwert, weil sie so erschrocken war. Ich kam zu spät, steckte bei Räckelwitz fest. Die eine Baustelle dort. Die dachte, dass er ein Penner ist. Oder einer von den Zigeunern, weil er so über ihr Grundstück geschlichen ist.« Er hustete, dann ließ er den Zigarettenstummel in den Schnee fallen.

Vater bemerkte einen Fuchs, der geduckt über die Wiese rannte. »Was hat Uwe gelernt?«, fragte er.

»VEB in Bautzen«, sagte der Chef, »Waggonbau, oder was die dort gemacht haben.«

Der Fuchs lief am Gartenzaun des Nachbarn vorbei. Der alte Offizier hatte ihn sicherlich längst bemerkt. Vielleicht besaß er ein Gewehr, wahrscheinlich sogar, dann könnte er ihn erschießen.

»Hat dann lange bei seinen Eltern gewohnt, dort geholfen und sie gepflegt. So genau weiß ich das nicht. Ist dann Elektriker geworden, also was ganz anderes«, sagte der Chef. »So ähnlich wie du.«

»Vielleicht kann er mir ja helfen«, sagte Vater und deutete auf die Mauern, die aus der Grube ragten. Ganz unverbindlich. Hauptsache, er würde rauskommen und seine abgehauene Frau vergessen. Bisschen Geld verdienen, Gesellschaft haben.

Der Chef drehte sich zu ihm und sah Vater an. Erst die gerötete Nase und die Ohren, die Stirn und das schmale Kinn. Dann lange in die Augen. Er steckte seine Hände in die Taschen und rieb sie am Innenfutter. »Uwe ist ein guter Mann«, sagte er.

3. KAPITEL

Vater lief an den Gärten der Nachbarn vorbei und auf die Baustelle zu. Schnee, der die Beete verdeckte. Das Erdgeschoss war fertiggestellt worden. Es gab eine provisorische Eingangstür. Er trat in Pfützen aus Streusalz und Schneematsch und wich ihnen schließlich aus, nachdem sein Hosenbein nass geworden war. Den Mann, der auf einem Mauerabsatz saß und seine Hacken gegen die Steine schlug, bemerkte er zunächst gar nicht. Hagere Gestalt, offene Jacke. Die Schuhe zu dünn für den Winter und eine Baustelle. Vater blieb vor ihm stehen.

»Hab gehört, du brauchst Hilfe«, sagte Uwe und richtete sich auf. Er streckte Vater die Hand entgegen und drückte sie fest. »Der Chef hat’s mir erzählt«, sagte er.

Vater sah ihn an und hielt seine Arme eng am Körper. »Ja«, sagte er. Stockte. »Ich wollte dich eigentlich fragen.« Er hatte Uwe eine Weile nicht gesehen. Nicht auf Arbeit und nicht auf der Straße.

»Musst bloß sagen, dann geh ich wieder«, sagte Uwe. Er trug seine alte Arbeitskleidung und hatte einen Eimer dabei, eine Schaufel und eine Trittleiter aus Holz. An der Mauer lehnte eine schwarze Sporttasche.

»Nur, wenn du Zeit hast«, sagte Vater. Er ging an Uwe vorbei und öffnete die Eingangstür. Es klang wie ein Glockenspiel, als Uwe die Sporttasche nahm und sie auf dem nackten Betonboden absetzte. Er öffnete sie und schob das lose Werkzeug darin zur Seite. Legte Pakete mit Schrauben, Nägeln und Dübeln an den Rand und fand zwei Bierflaschen. Beide stellte er auf den Boden. Dann folgte er Vater, der ihn durch die Räume im Erdgeschoss führte.

Dort sollte das Wohnzimmer entstehen, da die Küche und hier das kleine Bad mit Dusche. Oben die Kinderzimmer, das Schlafzimmer und ein Bad mit Wanne. Es war dunkel in den Räumen und kalt. Schutt in den Ecken und Staub in der Luft. Vater lehnte sich gegen eine Wand und strich mit der flachen Hand darüber. Durch die Öffnungen in den Zimmern, wo später die Fenster eingebaut würden, wehte kalter Wind. »Warst lange nicht auf Arbeit«, sagte Vater. Seine Stimme hallte. Uwe blickte durch das rechteckige Loch in der Wand nach draußen. Das Feld war schneebedeckt. Der Himmel darüber und der Horizont waren diesig. »Wurde nach Hause geschickt«, sagte er. Vater sah ihn an und erwiderte nichts. Er hörte, wie ein Auto auf der Straße fuhr. Es hielt in der Nähe. Schließlich waren Schritte zu hören. Dann Klopfen an der Metalltür. Vater ging zum Eingang, gefolgt von Uwe, der sich vor die Sporttasche stellte. So, dass er die Bierflaschen verdeckte.

Tobi erschrak, als er den Mann in der Ecke stehen sah. Uwes Gesicht war im Schatten. Nur die Nasenspitze wurde durch das Licht angestrahlt, das von draußen kam. »Uwe, das ist mein Jüngster, Tobi«, sagte Vater. Uwe reichte Tobi die Hand. »Oh, hallo«, sagte Mutter überrascht. Sie trug einen Stoffbeutel. Drei Klappstühle lehnten am Auto. Vater stellte Uwe als seinen Arbeitskollegen vor, der vorbeigekommen war, um ihm zu helfen. »Ich habe nur drei Stühle dabei«, sagte Mutter, »das wusste ich nicht.« Den Beutel legte sie ab, dann gab sie Uwe die Hand. Tobi lief durch die Räume und strich, wie sein Vater, über die nackten Wände. Seine Füße hob er nicht an, wenn er durch die Zimmer ging. Das Geräusch, als klebte Sandpapier an seinen Schuhsohlen.

Vater stellte die drei Campingstühle in der Mitte des Raumes zu einem Halbkreis auf, der später das Wohnzimmer werden sollte. Ausgerichtet zum Fenster, obwohl es draußen längst dunkel war. Uwe sah ihm dabei zu. Blieb zunächst weiter stehen, als Vater und Mutter sich setzten und ihm den dritten Platz anboten. Er wollte lieber arbeiten. Dafür war er hergekommen. Früher hatte er oft mit Vater zusammengearbeitet. Still und effektiv. Dann mit dem Chef. Dann nur noch allein. Nicht mehr bei Kunden. Nicht mehr am Telefon. Zuletzt hatte er die Kabeltrommeln im Lager sortiert.

Tobi lief umher und kam gelegentlich bei den Erwachsenen vorbei. »Willst du ein Würstchen?«, fragte ihn Mutter. Tobi winkte ab. Mutter nahm zwei Tassen aus dem Beutel, eine Thermoskanne und eine Plastikpackung mit Wienern. Uwes Kaffee mit Sahne und Zucker. Umgerührt durch das Schwenken der Tasse. Die Straßenlaterne ging an. Mutter blickte auf Uwes Füße und, wenn sie glaubte, dass er es nicht mitbekam, in sein Gesicht. Dann zu Vater, der neben ihr saß und sich mit ihr die zweite Kaffeetasse teilte. Ein Würstchen wie einen Kaugummi kaute.

»Wir wollten auch gleich wieder fahren«, sagte sie, »wenn Sie wollen, nehmen wir Sie mit.« Und zu Vater: »Oder wollt ihr noch viel machen?«

»Nein, eigentlich nicht«, sagte Vater und lächelte, »haben schon genug gemacht heute.«

Draußen fuhren Autos in die Garagen der Nachbarhäuser. »Du«, sagte Uwe und hielt inne. Vater und Mutter, die ihn anstarrten. Sowieso die ganze Zeit schon. Ebenso die Nachbarn aus ihren Fenstern. Ihre Gesichter rot und verschwitzt von der Heizungsluft. »Bitte nicht siezen«, sagte er. Tobi ging zum Beutel und nahm sich aus der Plastikverpackung ein Würstchen. »Ich kann laufen«, sagte Uwe, »ich wohn hier sowieso in der Nähe. Beim Sportplatz.«

»Dort fahren wir vorbei«, sagte Vater.

Uwe saß neben ihm im Wagen. Seine Tasche im Kofferraum verstaut. Er zuckte bei jedem Schlagloch, das die Flaschen klimpern ließ, und bei jeder regelmäßig wiederkehrenden Rille in der Straße aus Betonplatten. Er schloss die Augen und kniff sie trotzdem immer wieder zusammen. Hinter Kabeltrommeln ließen sich keine Flaschen verstecken. Hinter den großen vielleicht, aber die sollte er nicht anrühren. Dann war er mit dem Fuß dagegengestoßen. Wie traurig das Bier an der Isolierung der Kabel leckte.

Vater hielt den Wagen vorm Vereinshaus. Uwe stieg aus und nahm seine Tasche. Er griff nach ihr, bevor Vater sie ihm reichen konnte. »Danke«, sagte er und schüttelte Vater die Hand. »Ich hab zu danken«, sagte Vater und schloss die Kofferraumklappe. Der Motor sprang nicht gleich wieder an. Vater antwortete nicht auf Tobis Fragen. Wer war das? Warum war er da? Vater sah Uwe hinterher, der in einen Weg einbog und im dunklen Fleck zwischen den Straßenlaternen verschwand. Die Sporttasche geschultert. Die dünne Jacke offen, sodass der Wind sie am Rücken aufblähte.

4. KAPITEL

In den Pausen konnte Philipp den Direktor beobachten. Der stand auf dem Schulhof am alten Fahnenmast, an den der Hausmeister einen Basketballkorb gehängt hatte. Philipp sah, wie Herr von Stein seine Schuhe nicht anhob, wenn er über den Schotter ging. Wie er eine Zigarette aus seiner Tasche nahm, sie zwischen den dünnen, langen Fingern drehte und sich gegen den Fahnenmast lehnte. Philipp versuchte, sich hinter der Gardine zu verstecken, und biss in die Schnitte aus seiner Brotbüchse. Je nachdem, wie stark der Wind wehte oder wie kalt die Luft war, war der Zigarettenrauch mal besser oder schlechter zu sehen. Er stieg langsam auf und schien sich dann im grauen Haar von Herrn von Stein zu verfangen. »Philipp, geh vom Fenster weg«, sagte die Lehrerin. Zog an einer Gardine und schob eine andere vors Fenster. Philipp sah sich um, da saßen die anderen Kinder längst und hatten ihre Bücher aufgeschlagen.

Am Samstag saß Uwe wieder vor der Tür. Er lächelte, als er Vater sah. »Ich habe Kaffee dabei«, sagte er. Er schlug die Seiten seiner Jacke um und zog eine Thermosflasche aus der Innentasche. Ein Werbegeschenk. Bis dahin hatte sie die rechte Seite seines Körpers warm gehalten. Die beiden setzten sich auf die Klappstühle im Wohnzimmer, wieder mitten in den kahlen Raum. Ihre Atemluft stieg mit dem Dampf des Kaffees an die Decke, das Wettrennen zweier Geister. Becher hatten sie keine. Sie reichten sich abwechselnd den Deckel der Thermoskanne. »Gibt wieder Lieferschwierigkeiten«, sagte Vater.

Uwe pustete in den Kaffee. »Was ist das für ’ne Firma?«, fragte er.

»Käbisch«, sagte Vater.

Uwe nickte. Dann schwiegen sie. Ein Auto fuhr vorbei, beide horchten auf, aber es fuhr weiter. »Warum kommst du her, wenn es nichts zu tun gibt?«, fragte Uwe.

Vater zuckte mit den Achseln. Weil er sein Haus sehen wollte. Weil er allein sein wollte. »Weiß nicht«, sagte er.

Es hatte seit Wochen nicht geschneit und nicht geregnet. Der Boden gefror, taute auf, wurde matschig und gefror erneut. An manchen Morgen ließen die Nachbarn die Motoren ihrer Autos eine halbe Stunde laufen, bevor sie einstiegen und wegfuhren.

»Hast du meine Frau mal kennengelernt?«, fragte Uwe.

Vater schüttelte den Kopf. Natürlich nicht.

»Hatte immer so rote Backen wie die Steine beim Schamottewerk. Egal, ob es warm war oder kalt. Immer rot. Als ob sie sich für was schämen würde. Hat sich aber nie geschämt.« Die Thermoskanne war leer. Uwe stellte sie auf den Boden.

»Weißt du, wo sie jetzt ist?«, fragte Vater. Vielleicht sollte er das nicht fragen.

»Nein«, sagte Uwe. »Hab nichts mehr von ihr gehört. Hat auch kaum was mitgenommen. Liegt alles noch so rum von ihr.«

Vater sah ihn an und zog die Augenbrauen hoch. Uwe blickte durch das Loch in der Wand nach draußen.

»Ich bin ihr hinterhergerannt«, sagte er. Wartete. »Und hab sie fest am Arm gepackt, aber sie hat sich losgemacht. Hat richtig gekämpft. Da bin ich auf die Knie gefallen und hab gebettelt und gefleht.«

»Und sie hat nichts gesagt?«, fragte Vater.

»Hat mich nicht mal angeguckt«, sagte Uwe. »Ich weiß gar nicht, ob sie geweint hat.«

Uwe trug die dünne Jacke, deren Druckknöpfe er nie verschloss. Manchmal eine Baseballkappe. Erst im Januar konnte wieder gebaut werden. Solange saßen er und Vater auf den Klappstühlen im Wohnzimmer. Tranken Kaffee und aßen Brote. Der Nachbar, der gegenüber wohnte, kam gelegentlich vorbei und erkundigte sich durch die Fensteröffnung, warum nichts passierte mit der Baustelle. Er hatte sich nach der Größe des Hauses erkundigt. Der Zimmeranzahl, den Quadratmetern. »Wird schon noch«, sagte Vater. Und patzig hinterher: »Keine Angst.« Der Nachbar ging weg, und Uwe lachte. »Können es nicht lassen, diese Leute«, sagte er. »Die wollen alle wissen, ob ich irgendwo einen Goldesel habe, oder so.«

»Woher kennt ihr euch?«, fragte Mutter. Der Fernseher lief. Vater lag auf dem Sofa. Frisch geduscht. Mit nackten Füßen und nassem Haar. »Von Arbeit«, sagte er und stellte den Fernseher leiser. Tobi und Philipp schliefen im Zimmer nebenan.

»Hast du ihn gefragt, ob er dir helfen kann?«

»Er kam von alleine«, sagte Vater. Keine Ahnung, was und ob er ihr alles erzählen sollte. Er richtete sich auf. Das Kissen roch nach seinem Shampoo.

»Er muss ja gewusst haben, dass wir ein Haus bauen«, sagte Mutter.

»Bestimmt vom Chef«, sagte er.

Mutter zog ihre Füße auf das Sofa. Nah an ihren Körper heran.

»Uwe redet nicht viel«, sagte Vater. »Ich hör immer nur von den Kollegen über ihn. Da gibt es allerhand Geschichten.« Er trank Apfelschorle aus seinem Glas und stellte es vorsichtig auf den Tisch zurück. Das Glas konnte sonst sehr laut auf die Fliesen stoßen. Einen Untersetzer wollte er nicht. »Was halt so erzählt wird«, sagte er. Vom Abendbrot war Gurkensalat übrig geblieben. Er ging in die Küche, aß die Gurken, die Gabel mittig hineingespießt, und trank das Gurken- und Essigwasser aus der Plastikschüssel.

Mutter beobachtete ihn dabei. »Er lebt allein, oder?«, sagte sie.

Vater sah sie verwundert an. »Ja«, sagte er zögerlich.

»Hat er dir gesagt, warum seine Frau weg ist?«, fragte sie.

Vater schüttelte den Kopf. Er trank einen Schluck Apfelschorle, um den Essiggeschmack loszuwerden.

»Dass er sie bespitzelt hat?«, fragte sie. Woher auch immer sie das wusste.

»Ich glaub nicht, dass das stimmt«, sagte er.

5. KAPITEL

Zu Tobis Einschulung war das Haus fertig. Einfahrt und Terrasse mussten noch gepflastert werden. Tobi stellte sich mit seiner Zuckertüte im Garten vor die niedrige Hecke. Auf das blasse, frische Gras. Grinste in die Fotoapparate. Auf den Fotos reichte ihm die Hecke bis zu den Waden. Seine Haare waren ihm ins Gesicht gekämmt. Er sagte kein Wort, drehte sich und lächelte, wie es seine Verwandten wünschten. Beide Großeltern, der Onkel. In der Turnhalle, während der offiziellen Einschulung, hatten ihm Mutter und Vater zugewinkt. Er hielt seine Zuckertüte fest umklammert. Rührte sich nicht. Mutter und Vater hatten auf den Sportbänken gesessen, in der Nähe der Kletterstangen, die bis unter die Decke reichten. Sie saßen so tief, dass sich ihre Knie auf Brusthöhe befanden. Die Großeltern und Philipp standen am Eingang. In der Turnhalle hingen bunte Wimpel an den Wänden. Neben dem Mikrofon eine junge Birke in einem mit Sand gefüllten Plastikeimer. An den Ästen kleine Zuckertüten. Außerdem Bilder der neuen Schüler. Darunter eines von Tobi. Er sah es und verlor es wieder aus den Augen. Hinter ihm stand ein Junge, der gegen die Bilder pustete, sodass sie leicht schaukelten, sich die Schnüre verdrehten und verhedderten. Jemand flüsterte, dass er damit aufhören sollte. Eines der Kinder. Aus dem Publikum zeigten Leute auf ihn. Tobi spürte wie der kalte Wind seinen Nacken streifte. Das fühlte sich gut an.

Der Dachstuhl, der im Frühjahr fertig geworden war, hatte ausgesehen wie ein Walskelett, das man auf die Mauern gelegt hatte. Mit Philipp war er auf dem Baugerüst herumgeklettert. Sie stiegen aus einem Fenster und gingen über das Gerüst zu einem anderen. So erreichten sie jeden Raum, ohne durch das Haus laufen zu müssen. Drinnen strichen die Großeltern und der Onkel die Wände. In den Räumen, in denen die Farbe getrocknet war, befestigte Uwe Lampen an der Decke. Wie schmächtig und blass dieser Mann aussah. Das Gesicht eingefallen, als hätte jemand das Fleisch aus den Wangen geschnitten. Philipp verzog sein Gesicht, und Tobi lachte darüber. Dann duckten sie sich. Hielten sich ihre Hände vor den Mund und gingen zu einem anderen Fenster. Irgendwo waren Mutter und Vater. Der Garten war ein brauner Fleck, matschig und mit Brettern ausgelegt. Der Vulkan war noch da, sollte aber demnächst abtransportiert werden.

Tobi drehte sich zur nächsten Kamera und lächelte. Seine Wangen zitterten ein wenig. Je breiter er grinste, desto stärker wurde das Zittern. Die Fassade war hellgrün, und wenn die Sonne mittags hoch stand, sahen die Außenwände fast weiß aus. In seinem Zimmer saß Großmutter auf dem Bett und strich über den Stoff des Überzuges. »Gefällt es dir?«, fragte sie. Tobi ging zu ihr und sah sich um, als würde er den Raum das erste Mal betreten. »Ja«, sagte er. Der Teppich gelb mit dunklen Dreiecken darauf. An Tobis Hosenbein ein Streifen Erde. »Endlich hast du dein eigenes Zimmer und ein eigenes Bett«, sagte Großmutter. Endlich raus aus diesen Wohnblöcken. Wahrscheinlich wollte sie das sagen. Tobi setzte sich an seinen neuen Schreibtisch, auf den neuen Schreibtischstuhl und drehte sich ein wenig hin und her. Großmutter ging zum neuen Kleiderschrank, öffnete ihn. »So viel Platz«, sagte sie erstaunt. Wenn Tobi aus dem Fenster sah, konnte er die Kastanie sehen, die vorm Haus stand. »Alles so hell und freundlich«, sagte Großmutter, »das musst du natürlich alles sauber halten, damit es so bleibt.« Dann ging sie in Philipps Zimmer nebenan. Philipp hatte einen grünen Teppich und ebenso eine Dachschräge mit Dachfenster. Sein Zimmer war ein wenig kleiner und grenzte an das Schlafzimmer der Eltern.

Der Tisch war mit dem Goldrandservice eingedeckt. Fünf Kuchen standen unregelmäßig verteilt neben Kaffeekannen und Limoflaschen. Mutter hatte Namensschilder aus buntem Tonpapier gebastelt und kleine Zuckertüten darauf geklebt. Tobi saß an der Stirnseite des Tisches und lächelte, wenn jemand sein Zimmer oder die Einschulungsveranstaltung in der Turnhalle ansprach. Die Leute freuten sich, also musste er sich auch freuen. Dabei fuhr er mit seiner Fingerkuppe langsam und gleichmäßig die Kante seines Namensschildchens nach. Vielleicht würde ja ein Ton entstehen wie bei dünnwandigen Weingläsern, die halb gefüllt waren. »Herr von Stein hat ein ganz graues Gesicht«, sagte Großmutter. »Er hatte doch den Schlaganfall«, sagte Mutter. »Als er dein Lehrer war, sah er aber auch schon so schlecht aus.« Dann nahm sich Großmutter ein Stück von dem Kuchen, den sie gebacken und mitgebracht hatte. Gabeln quietschten auf Tellern. Tassen klirrten auf den Untertassen. Löffel wurden darauf abgelegt. Die Sonne und die weißen Gardinen. Alles neu, man konnte es riechen.

Dann klopfte es an der Haustür. Die Klingel war noch nicht angeschlossen. Vater rutschte mit seinem Stuhl auf den Fliesen zurück, die im ganzen Erdgeschoss verlegt worden waren, stand auf und ging in den Flur. Die anderen am Tisch beobachteten ihn und unterbrachen ihre Gespräche. Im Flur wurde es heller, als er die Haustür öffnete. Das konnte man durch die Glaseinsätze der Wohnzimmertür sehen. »Nein, komm ruhig rein«, sagte Vater. »Nein, gar kein Problem.« Dann schloss er die Haustür. Jemand zog sich die Schuhe aus und streifte eine Jacke vom Körper, Tobi erkannte das Geräusch. Kein Reißverschluss. Tobi hielt seine Kuchengabel fest in der Hand und blickte zur Tür. Am Rand seines Glases stiegen die Luftbläschen der Apfelschorle nach oben.

Vater kam ins Wohnzimmer zurück, und Uwe folgte ihm. Er hielt ein kleines Geschenk in der Hand, eingepackt in buntes Papier. Er trug eine Jeans, in die ein kurzärmeliges Hemd gesteckt war. Es schien, als berührte der Stoff nirgends seinen Körper, so dünn war Uwe. »Hallo«, sagte er und stand vor dem gedeckten Tisch. Die Verwandten daran, die ihn musterten. Vater holte einen Stuhl aus der Küche und stellte ihn an den Tisch. Da, wo der Onkel und die Großmutter saßen. Großvater reichte Uwe die Hand. Dann beugte Uwe sich über die Teller und gab Tobi das Geschenk. »Viel Spaß in der Schule«, sagte er. Grinste. Schien zu überlegen, einen Witz zu erzählen. »Danke«, sagte Tobi und legte das Päckchen neben seinen Teller. »Kaffee?«, fragte Vater. »Ja, bitte.«

Der Onkel redete nicht und aß ein Stück Kuchen nach dem anderen, bis er alle fünf probiert hatte. Gelegentlich stieß er mit seinem Ellbogen an Uwes Ellbogen. Der entschuldigte sich und legte seine Oberarme eng an den Körper. Uwe hatte kurz in die Runde geschaut und versucht, die Großeltern dem jeweiligen Elternteil zuzuordnen. Dann blickte er an die Decke. Betrachtete die Wände von oben bis unten. »Ist viel passiert«, sagte Vater, dem das auffiel.

»Ja, ist schön«, sagte Uwe.

»Was haben Sie gelernt?«, fragte Großvater.

»In Bautzen beim Waggonbau.«

»Die haben doch Fernsehantennen gebaut«, sagte Großvater.

»Ja«, sagte Uwe, »und Campinganhänger. Bis ’80 ungefähr.«

»Waren Sie da schon dort?«, fragte Großvater.

»Nein, das hab ich nicht mehr mitbekommen.«

Tobi stand auf und ging mit dem Päckchen nach nebenan, wo er sich aufs Sofa setzte. Er hörte, wie Großvater noch etwas über seinen alten Betrieb sagte. Dass er zur Arbeit laufen konnte, oder mit dem Motorrad gefahren war. Vor der neuen Schrankwand waren die Geschenke aufgereiht. Die große Zuckertüte lag auf dem Boden mit leicht abgeknickter Spitze, weil Tobi sie für Fotos häufig abgestellt hatte. Er öffnete die obere Schleife und zog ein paar Süßigkeiten heraus. Einzelne Buntstifte lösten sich unter dem Netz, das über die Öffnung gespannt war, und fielen auf die Fliesen. »Noch nicht«, sagte Mutter, »die anderen wollen doch sehen, wie du sie auspackst.« Sie hob die Stifte auf und steckte sie wieder in die Zuckertüte. Sie stellte einen Stuhl in die Mitte des Raumes, zwischen Schrankwand und Sofa, und sagte, dass er sich dort hinsetzen solle. »Aber warte noch kurz mit dem Auspacken.« Dann ging sie wieder an den Tisch zurück und trank den letzten Schluck Kaffee.

Tobi setzte sich auf den Stuhl und hielt seine Zuckertüte umklammert. Zuerst setzte sich Großmutter auf das Sofa. Sie staunte über die Größe der Geschenke. Über das bunte Papier. Die Farben und Formen. Die lustigen Motive. Großvater und die anderen Großeltern folgten, dann der Onkel, der sich einen Stuhl von der Kaffeetafel mitgenommen hatte und sich an den Rand setzte. Mutter lehnte sich an die Sessellehne. Philipp hockte sich auf den Boden. Tobi beobachtete sie, wie sie näher kamen, wie sie seine Geschenke anfassten, sich hinsetzten und ihn musterten. Seine Füße baumelten in der Luft. Die Zuckertüte hatte er abgestellt, nur kurz. »Die Spitze, Tobi, pass auf«, hatte Mutter gerufen. Ihm schien, als würden sie näher heranrücken. Sie bildeten einen Halbkreis um ihn. Wie im Zirkus. Er in der Manege. Es fehlten die festgetretenen Holzspäne und der Geruch von Pferden. Die Clowns und Artisten. Ein Mann, der Tobis Nummer ankündigte. Kinder, die auf ihn zeigten. Eine Zeltplane, die vom Zugwind bewegt wurde.

Vater holte noch Stühle und schob sie auf dem Fliesenboden umher. Er bot sie seinen Eltern an, damit sie auf dem Sofa nicht so eingeengt sitzen mussten. Dann kam Uwe in den Raum. Tobi sah ihn an, ohne seinen Kopf zu bewegen. Uwe lehnte sich an die Wand, seine Hände hinter dem Rücken verschränkt. Diese seltsamen Augen. Im Flur schloss jemand die Tür zum Bad ab. In der Küche klirrte das Geschirr, das Mutter jetzt in die Spülmaschine räumte.

»Warum wartest du?«, fragte Großvater. »Ich soll warten, bis alle da sind«, sagte Tobi und blickte zu Vater. »Wer kommt noch?«, fragte Philipp. »Kathrin und Andreas«, sagte Vater. Mutter kam aus der Küche zurück und nickte Tobi zu. Also öffnete er die Schleife erneut und zog die eingeklemmten Buntstifte heraus. Er legte sie auf den Boden vor sich. Philipp nahm sie und sagte, dass er die auch bekommen habe. Tobi legte eine Federmappe, Hefte, Spitzer, Radiergummis und immer wieder Süßigkeiten auf den Boden. Jemand hob die Sachen auf und reichte sie an die anderen weiter. Bis sie wieder vor Tobi auf dem Boden lagen. Wie beim Hochwasser griff eine Hand in die nächste. Sandsäcke, die weitergereicht wurden. An Uwe, der vor der Wand stand, gingen die Sachen vorbei. »In meiner Zuckertüte war bis zur Hälfte Zeitungspapier drin«, sagte Großmutter, »aber auf den Bildern sah sie immer am vollsten von allen aus.« Sie lachte und öffnete den Reißverschluss der Federmappe. »Musst dir nur mal angucken, was es heute für tausend Motive auf den Zuckertüten gibt«, sagte Vater. »Ich hatte die von meiner Schwester«, sagte Großvater, »und die durfte ich nicht auf den Boden abstellen. Wegen der Spitze, damit die nicht abknickt. Hätte ja sein können, dass noch ein Kind kommt und die Zuckertüte braucht.«

Um einen Ranzen, der vor der Schrankwand stand, war eine Schleife gebunden und im Ranzen der dazu passende Turnbeutel: dunkelgrün mit großen Dinosauriern darauf. Die hatten starre Augen und ihre Mäuler aufgerissen. Hielten ihre Klauen in die Luft und sollten im Dunkeln leuchten. Tobi öffnete den Ranzen, nahm den Turnbeutel heraus und steckte ihn wieder rein. Er ging an Uwe vorbei aus der Stube in den Flur. Dann die Treppen hinauf in sein Zimmer. Es fiel gar nicht auf, dass er nicht mehr auf dem Stuhl saß.

6. KAPITEL

Philipps dicke Spatzen saßen auch im Frühjahr noch auf ihrem Ast. Der Schnee auf ihren Körpern schmolz nicht. Die Flocken wurden weder dicker noch dünner noch zu ersten Regentropfen. Neben ihnen tauchten Ostereier auf. Tulpen, die aus zerknülltem Papier bestanden und auf angemalte Pappe geklebt wurden. Außerdem hohe Himmel über einem fingerdicken Strich Rasen. Die Ostereier sollten so aussehen wie die sorbischen, aber das war schwer hinzubekommen. Die Spatzen hielten sich gegenseitig warm, egal, wie kalt es im Schulhaus auch wurde.

»Philipp, du hast doch so schöne Spatzen gemalt«, sagte Frau Wenzer. »Willst du die an das Garagentor malen?« Die Klasse drehte sich um und sah ihn an. Philipp zuckte mit den Achseln. »Kann ich machen«, sagte er. Auf dem Schulhof stand eine Garage, in der der Hausmeister bislang seine Geräte aufbewahrt hatte. Das Tor war neu eingesetzt. Das Dach vermutlich aus Asbest. Sie stand bei den Fahrradständern, die mit gelbem Wellplastik überdacht waren, und wurde in der Pause als Torwand benutzt. Der Direktor hatte entschieden, sie als Aufbewahrung für Spielzeuge zu verwenden. Für Bälle, die regelmäßig auf die Nachbargrundstücke fielen. Für alte Holzkästen, für Schaufeln und Gummibänder, die die Mädchen zwischen ihren Füßen spannten. Nur die Lehrer durften das Tor öffnen, Spielzeuge herausholen und ausgeben.

Philipp wollte etwas Großes malen. Keine Blumen oder Sonnen, oder irgendwelche bunten Punkte. Nichts von dem Mädchenzeug. Er stellte sich vor die untere linke Ecke und sah den anderen Kindern zu. Die Marienkäfer und Wolken tropften auf den Schotter wie Kerzenwachs. Es bildeten sich Rinnsale aus Farbe, die auf dem Weg zum Boden immer bunter wurden. Philipp nahm einen Pinsel, tauchte ihn in die braune Farbe, hockte sich vor die freigelassene Fläche und begann zu malen. »Malst du einen Baum?«, fragte die Lehrerin. Die anderen Kinder sahen kurz zu Philipp, bevor sie versuchten, die verlaufende Farbe, die aus ihren Wolken tropfte, zu verstreichen. »Ich male einen Feuerberg«, sagte Philipp und machte den Kegelstumpf noch breiter. »Aber willst du nicht lieber einen Baum malen?« Die Lehrerin zeigte auf die Bilder der anderen. »Guck mal, oder eine Wolke. Hier, die Blume ist auch schön geworden.« »Das sieht scheiße aus«, sagte ein Junge. »Paul, so was sagt man nicht.« »Ja, Philipp macht das ganze Bild kaputt«, sagte ein Mädchen.

Philipp setzte den Pinsel wieder auf das Garagentor. Malte noch mal und noch mal über den braunen Berg. Er drückte fest auf. Nahm den Pinsel, als ballte er eine Faust. Die Farbe tropfte auf den Schotter. Philipps Bild war am unteren Rand, knapp über dem Boden, sodass sich auf dem Kies eine braune Linie bildete, wo er mit dem Pinsel vom Tor abgerutscht war.

»Ich hab meinem Bruder von einem Vulkan erzählt«, sagte Philipp. Irgendwie wollte er sich erklären.

»Aber du machst das doch nicht für deinen Bruder«, sagte die Lehrerin. »Die Garage gehört ja der Schule.«

Philipp ging zum Eimer mit der roten Farbe, tauchte seinen braunen Pinsel ein und schleuderte ihn gegen den Kegelstumpf. Jetzt sah es wie eine Explosion aus. Als würde das Feuer wirklich aus dem Berg kommen.

»Frau Wenzer, können Sie Philipp sagen, dass er aufhören soll?«

»Hörst du das, Philipp? Den anderen gefällt das nicht.«

Philipp hielt den Pinsel vom Körper weg und sah sich den Vulkan an. Er ging ein paar Schritte zurück und bemerkte, dass sich das Rot mit dem Braun vermischte. Dicke Tropfen hingen am unteren Torrand wie von einer undichten Regenrinne. Die anderen Kinder standen bei Frau Wenzer, nahe der Garage. Jetzt gab es weder einen Berg noch eine Explosion. Kein Feuer, keine Erde. Philipp konnte sehen, wie sich die Farben vermischten. Wie eine rostige Wunde sah das aus. Ein dreckiges braunes Loch. »Siehst du, das ist gar kein Vulkan«, sagte ein Junge und an die Lehrerin gerichtet: »Frau Wenzer, dürfen wir das übermalen?«

Sie ging zu Philipp und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Stellte sich so vor ihn, dass er das Tor nicht sehen konnte. »Warum wolltest du das unbedingt malen?«, fragte sie. Philipp sah zu ihr auf. Das hatte er ihr doch erklärt. Für Tobi. Der sollte den Vulkan sehen und sich erinnern. An den Moment auf dem Dreckhügel, an das Buch, von dem Philipp ihm erzählt hatte. An ihn. Er wollte, dass Tobi sich an ihn erinnerte, wenn er das Garagentor sah. »Ist doch egal jetzt«, sagte er. »Dürfen die anderen das Bild übermalen?« Philipp scharrte mit seinen Füßen im Schotter. Von der roten Farbe waren Spritzer auf seinen Schuhen. Wenn er »Nein« sagen würde, könnte sie nichts dagegen tun. Niemand konnte ihn zwingen, das Bild übermalen zu lassen. Es war sein Bild, sein Vulkan. »Ja«, sagte er leise. Frau Wenzer hob den Kopf. Philipp hörte, wie sie aufatmete. »Und das ist auch okay für dich?«, fragte sie. Philipp nickte. »Dann geh jetzt bitte zurück in die Klasse. Die anderen kommen gleich nach.«

Es dauerte vier Tage, bis die Farbe von Philipps Vulkan am Garagentor getrocknet war, damit sie abgespachtelt werden konnte. Philipp beobachtete in der Pause, die Gardine halb vor seinem Gesicht, wie Herr von Stein die Farbschicht berührte und seinen Finger dann an einem Stofftaschentuch abwischte. Jeden Tag aufs Neue. Schließlich zündete er sich eine Zigarette an, blickte zum Fenster hoch, zur Gardine, die halb über die Scheibe gezogen war. Philipps Schatten dahinter. Und ging am Fahnenmast vorbei hinter die Garage.

7. KAPITEL

Mutter half Tobi dabei, den Ranzen aufzusetzen. Philipp stand daneben und sah ihr zu. Wie sie an den Schnallen zog und etwas verstellte. Sie winkte vom Auto aus und fuhr die schmale Zufahrt entlang auf die Hauptstraße. »Beim Klettergerüst musst du aufpassen«, sagte Philipp, »da rutscht man runter, wenn es geregnet hat.« »Und Bälle und so kriegst du nur, wenn du fragst.« Philipp gefiel sich in dieser Rolle. War jetzt eindeutig der Größere, Ältere. An Tobi rannten Kinder vorbei. Er hörte eine Trillerpfeife. Schrill und laut. Die Kinder drehten sich um und gingen langsamer. Die meisten waren größer als er. Er wunderte sich über den alten Mann mit dem grauen Gesicht, der vor dem Eingang stand. »Das ist Herr von Stein«, sagte Philipp.

Tobi setzte sich im Klassenraum ganz hinten in die letzte Reihe und lehnte sich an die Wand. Der untere Teil war glatt und wie mit Lack überstrichen. Rutschig und kalt. Während der obere Teil rau war, eine ganz normale Wand. Zwei Holzleisten waren dort befestigt, an denen laminierte Blätter hingen. Niemand redete. Es war ruhig bis auf einzelne Stimmen, die vom Gang her kamen. Das Licht ausgeschaltet. Ein Junge mit dunklen Haaren setzte sich neben Tobi. Er vergrub sein Gesicht in den Armen. Tobi versuchte, ihn von der Seite zu erkennen, die meisten Kinder mussten aus Neschwitz und der Umgebung kommen. Vielleicht hatte er ihn schon einmal gesehen. Vielleicht war er ein Sorbe.

Das Licht wurde eingeschaltet. Zwei der Neonröhren ganz vorn flackerten und blieben schließlich dunkel. Die Lehrerin stellte sich vor die Tafel. Eine Frau, so alt wie Mutter, jünger. Hellbraune Haare bis zu den Schultern. »Steht erst mal auf«, sagte sie und wartete, bis die Kinder sich hingestellt hatten. Tobi stand unsicher und wacklig und hielt sich an seiner Stuhllehne fest. »Guten Morgen«, sagte die Lehrerin. Ein paar Kinder machten es ihr nach. »Gut, setzt euch.« Sie hatte eine Handpuppe dabei. Eine weiße Katze mit orangen Streifen. »Ich bin Frau Wenzer«, sagte sie, »und das ist Mimi.« Einige der Kinder begrüßten die Katze. »Hallo, Mimi!« Tobi sagte nichts. Er wollte noch näher an die Wand rücken. Sich klein machen. Kleiner, als er ohnehin schon war. Der Raum roch eigenartig nass. Das Gebäude war alt und dunkel. Bilder an der Wand. Eines davon musste von Philipp sein. In den Sommerferien waren sie Uwe nachgelaufen. Hatten sich lachend hinter Hecken versteckt. Der erbärmlichste Wohnblock von allen.

Der Junge neben ihm richtete sich auf, sah die Katze und wandte sich an Tobi. »Wo kommt die Katze her?«, fragte er. Er flüsterte nicht. Er wusste wohl nicht, dass er in der Schule flüstern musste. Jungs und Mädchen drehten sich nach ihm und Tobi um. Die Lehrerin unterbrach, was sie sagen wollte. »Das ist Mimi«, sagte sie, »und wie heißt du?« Der Junge bemerkte ganz vorn die flackernden Neonröhren und sah sie eine Weile an. »Felix«, sagte er schließlich. »Okay, Felix«, sagte die Lehrerin. »Dann bekommst du jetzt die Mimi und sagst ein bisschen was über dich. Und dann gibst du sie weiter, und derjenige erzählt dann auch was.« Tobi wollte die Katze nicht. Weder, dass sie auf einmal vor ihm lag, noch seine Hand hineinstecken. Vor allem nicht darüber reden, wer er war.

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