Raumfahrer - Lukas Rietzschel - E-Book

Raumfahrer E-Book

Lukas Rietzschel

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Beschreibung

Gebäude lassen sich abtragen und neu aufbauen, Erinnerungen nicht Jan und seine Eltern sprechen nicht viel über das Heute und erst recht nicht über das Gestern. Erst als Herr Kern auftaucht, kommt das fragile Gleichgewicht der Familie ins Wanken: Welche Beziehung führte Jans Mutter mit dem Vater von Herrn Kern? Und was haben die Kerns mit der Kunst von Georg Baselitz zu tun? Immer weiter arbeitet sich Jan durch das Schweigen mehrerer Generationen, taucht ein in die Geschichte der Baselitz-Brüder, die Geschichte seiner Eltern und begreift, dass die Gegenwart nicht nur aus der eigenen Vergangenheit besteht.  Behutsam und voller Empathie zeichnet Lukas Rietzschel ein eindrückliches Bild von Menschen, die durch große gesellschaftliche und politische Veränderungen geprägt sind -- und von Verletzungen, die sich durch Generationen hindurchziehen und scheinbar nie verheilen.

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Seitenzahl: 269

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Lukas Rietzschel

RAUMFAHRER

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion. Die vorliegende Geschichte mit ihren Figuren, ihren Handlungsorten, Zeitabläufen und ihrem Ausgang ist frei erdacht. Das betrifft insbesondere die Dialoge zwischen den Figuren, wie sie sich zueinander verhalten, was sie voneinander denken und was sie fühlen. Um es noch deutlicher zu machen: Was die Brüder Günter und Georg Kern im Roman sagen, entspringt meiner Fantasie ebenso wie die Briefe, die Günter an Georg im Laufe der hier erzählten Geschichte versendet. Sofern der Roman aufgreift oder auch nur tangiert, was es in der Realität gibt oder gab, muss es sich dabei um einen Zufall handeln.

 

L.R.

 

 

Aber noch weiß ich nicht, ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere Leben und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muss, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.

 

Günter Grass, Im Krebsgang

I

Das war eine Nacht, in der wieder nichts passieren würde. Auf der Straße war kein Auto zu hören. Die Wohnblöcke dunkel. Hin und wieder der Wind, der das Schilf bewegte, das um den kleinen Teich beim Eingang des Krankenhauses gepflanzt worden war. Die Fische darin waren an Sauerstoffmangel gestorben. Keine zwei Wochen war das her. Teure Zierkarpfen, die eines Tages an der Wasseroberfläche trieben. Ein Kind, das schrie und wie festgewachsen auf die Fische zeigte, bis der Hausmeister kam. Und gegenüber in den Wohnblöcken öffneten sich die Fenster und waren Gesichter hinter den Scheiben zu sehen. Auch im Krankenhaus gingen die Patienten, die es noch konnten, ans Fenster und staunten. Dass es sowas noch gab: ein Kind!

Jan streckte seine Füße aus und kniff die Augen zusammen. Wenn er sich anstrengte, konnte er am Nachthimmel einzelne Wolken erkennen. Immer dort, wo sich dunkle Flächen über die blassen Sterne schoben. Es war kalt unter diesem Himmel.

»Heute hat mir der Alte ein Foto gezeigt«, sagte er.

Karolina neben ihm. Ihr rechter Oberschenkel berührte seinen linken. »Was für ein Foto?«, fragte sie.

»Er hat es mir sofort wieder aus der Hand gerissen. Er hat gesagt, ich soll zu ihm nach Hause kommen, wenn ich es nochmal sehen will.«

Sie lachte. »Na dann zieh dir doch was Nettes an und nimm ne Flasche Wein mit.«

Jan lächelte und warf seine Zigarette in Richtung des Aschenbechers. Auch Karolina warf ihre daneben. Kreisrund lagen Stummel auf dem Asphalt verteilt. Noch im Sitzen streckte Karolina ihren Arm in die Luft, eine angedeutete Winkbewegung mit der Hand, links, rechts, und die Schiebetür zur Notfallambulanz öffnete sich. Sie hatte das perfektioniert. Zu wissen, ab welcher Höhe und Winkgeschwindigkeit der Bewegungsmelder reagierte.

Jan drehte sich noch einmal um. Blick über die Auffahrt und über den Parkplatz, wo sonst die Autos von Personal und Patienten standen.

Es hatte eine Zeit gegeben, da schien es in die DNA der Tiere eingeschrieben, dass sie hier jederzeit ein Krankenwagen oder der Suzuki der Nachtschwester zu Brei fahren konnte. Die Tiere wussten das, gaben es an ihre Kinder und Kindeskinder weiter und machten einen Bogen um die Rampe der Notfallambulanz und um das Krankenhaus im Allgemeinen. Neuerdings hatte Jan jedoch den Eindruck, dass selbst im Wald, auf den Feldern und Wiesen die Nachricht verbreitet wurde, dass das Krankenhaus schließen würde und im Gebäude kaum noch Menschen anzutreffen wären. Durch jedes Fenster, jede Tür, jede Ritze, jeden Spalt drängte seither die Natur. Zuletzt waren alle möglichen Tiere durch die Schiebetüren ins Gebäude gelangt. Marder, vor allem um diese Uhrzeit. Wildschweine, Rehe sowieso.

Karolina schaltete den Bewegungsmelder aus. Damit war zumindest die Schiebetür zur Rampe verschlossen. Über ihren Pieper wurde sie informiert, wenn der Rettungsdienst kam. Dann würde sie aufstehen und die Tür wieder öffnen. Das Abrollen ihrer Crocs auf dem Linoleumboden. Flüchtige Blicke in die Behandlungsräume und den Warteraum. Dann drehte sie sich nach Jan um. »Pause?«, fragte sie und konnte es nicht sagen, ohne dabei ein Lachen zu unterdrücken.

Im Gegensatz zu ihm hatte Karolina ein eigenes Zimmer für die Nacht. Mit Einzelbett und eigener Nasszelle. Als Ärztin stand ihr das zu. Den Bettbezug hatte sie von zu Hause mitgebracht, irgendein Aldi- oder Tchiboangebot, in verschiedenen Schriftarten stand »Vintage« auf dem Stoff, außerdem waren Uhren darauf abgebildet, allesamt mit römischem Ziffernblatt, die Uhrzeit dreiviertel sieben. Karolina legte ihre Socken auf das Buch, das sie gerade las, und den Pieper darauf. Hose und Poloshirt daneben. Jan lehnte an der Wand und sah ihr dabei zu. Er hatte die Jalousie noch ein wenig heruntergelassen, dann prüfte er, ob die Tür verschlossen war. Der Wecker gestellt.

Karolina konnte einschlafen, noch während er seine Schuhe von den Füßen streifte. Die Decke bis zum Kinn gezogen, der ganze Körper wie eingewickelt. Er legte sich neben sie und schloss die Augen. Das Brummen der Geräte nebenan, über ihnen, unter ihnen. Der Kühlschrank im sogenannten Schwesternzimmer, der Getränkeautomat im Warteraum. Nur hier, neben ihr, die Augen geschlossen, waren sogar die Neonröhren im Gang zu hören und der Wind zwischen den Lamellen der Jalousie. Eine Nacht, in der wieder nichts passieren würde. Keine Notfälle, keine Patienten. Oft, wenn Jan am nächsten Tag erwachte, hatte Karolina ihn in die Decke gehüllt, wie er es von Mutter kannte. So viele Jahre war das her. So viele gespielte Polarexpeditionen. Die Bettdecke unter den Körper gestopft, damit nichts seine Haut berühren konnte. Kein Schnee, kein Frost. Wie in einem Schlafsack hatte er auf seinem Bett gelegen. Der Wecker klingelte. Karolina stand neben ihm, die erste Tasse Kaffee schon in der Hand. Die Schicht war vorbei.

II

Zwei Mal die Woche wartete der Alte im Foyer. Er musste um die Sechzig sein und war längst nicht so alt und gebrechlich, wie es sein Spitzname, den er unter den Angestellten des Krankenhauses hatte, vermuten ließ. Das Personal rief sich den Namen zu, wie Kinder auf der Straße, die auf keinen Fall »Vati« oder »Vater« sagen wollten: »Ich darf nicht länger draußen bleiben. Mein Alter will, dass ich nach Hause komme.«

Wie ein riesiges Uhrwerk lag die Drehtür im Rücken des Alten. Der blaue Teppich war verblasst und durch all die Schuhsohlen ergraut. Zwei Linien waren in die Fasern gedrückt, parallel verlaufend, eine Loipe, vom Eingang bis hierher. Er hatte seine Hände in den Schoß gelegt. Das Hemd wie immer zu weit und nicht in die Hose gesteckt. So wartete er. Eigentlich kannte der Alte den Weg, er konnte den Fahrstuhl nutzen, die Türen automatisch öffnen lassen. Er brauchte Jan also gar nicht. Brauchte niemanden. Er war ja auch alleine hergekommen.

Jan beobachtete ihn. Durch die Glaseinsätze der Stationstüren. Blick ins Foyer, in den Eingangsbereich. Drehtür, Empfangstresen, Durchgang zur Cafeteria. Wie der Alte Peggy am Empfang und auch Karolina grüßte, als sie an ihm vorbeilief. Die Hoffnung auf ein persönliches Gespräch, der Wunsch, erkannt zu werden wie sonst nur Stammgäste in Hotels oder Gaststätten. Vielleicht hoffte er, dass ein anderer Patient das sah und sich darüber beeindruckt zeigte. Der da kennt die Ärztin, Donnerwetter! Das muss ja ein wichtiger Mensch sein!

Jan öffnete die Tür und ging auf den Alten zu. Der sah ihn schon von Weitem kommen: »Es geht wieder los«, sagte er und lächelte Jan an. Die Fahrt im Fahrstuhl, eine Station. Jans »Wir sind da!«, als er den Alten in die Umkleide schob.

Der Alte betrachtete sich im Spiegel neben der Garderobe, während Jan ihm das Hemd aufknöpfte. Das eingenähte Etikett »knitterfrei«. Einzelne weiße Brusthaare, die durch das Unterhemd drückten. Der kleine Kreis gespannten, glatten Stoffes, unter dem sein Bauchnabel war.

»Mögen Sie Ihren Beruf?«, fragte er.

»Schlecht ist er nicht«, sagte Jan, faltete das Hemd mit den abgewetzten Flicken an den Ellbogen zusammen und legte es in das Regal zu den Schuhen.

Jan schob ihn von der Umkleide in den Behandlungsraum und dort vor das Fenster. Die Jalousie war zur Hälfte heruntergelassen.

»Herr Kretschmer kommt gleich«, sagte er.

»Immer mit der Ruhe.« Auch so ein Satz von Stammgästen.

Jan klopfte an die Tür des Aufenthaltsraums. Klopfte noch einmal, bis er ein Rascheln hörte: »Was gibt’s?«

»Herr Kern ist da.«

»Komme.«

Das Wasser im Aquagymnastikbecken war abgelassen, jetzt lagerten dort die schlaffen Hüllen der Gymnastikbälle. Dutzende Gummimulden über die hellblauen Fliesen verteilt. Vertrocknete Yucca-Palmen in jeder Ecke des Raumes. Dazwischen die Silhouette eines Delfins, lang wie die Wand, an die sie gemalt worden war. Noch vor allen anderen Stationen des Krankenhauses war das Untergeschoss, in dem sich die Physiotherapie befand, in eine Art Sparmodus versetzt worden. Kretsches Reich.

Aus dem Holzregal, wo die Klamotten des Alten lagen, strömte der Duft von Axe Alaska. Die Tür zwischen Umkleide und Behandlungsraum war einen Spalt breit offengeblieben, Jan lehnte sich an den Türrahmen, rührte sich nicht, versuchte sogar, seinen Atem zu beruhigen, um nicht aufzufallen.

Kretsche hatte einen Stuhl neben den Rollstuhl des Alten gestellt. Dort stützte er sich mit einem Bein ab, der Arm vom Alten auf seinem Oberschenkel abgelegt, und bewegte den Kopf, den er in beiden Händen hielt, hin und her. Nur ein leises Knacken war zu hören. Die Sonne auf den grauen Socken. Das Linoleum unter dem Rollstuhl ausgeblichen. Der Alte ließ seine Arme kreisen und breitete sie aus wie Schwingen. Kretsche umfasste sie und zog daran. Drückte. Gerade so stark, dass der Rollstuhl nicht zur Seite kippte. Kein Wort zwischen den beiden. Kein nervöses Wettergespräch, wie Jan es so oft gehört hatte. Alle Bewegungen wie einstudiert.

Der Alte wechselte seine Haltung, saß aufrecht, gerader Rücken, und dann wie zusammengesunken, jede Spannung verloren. Kretsche hinter ihm, umklammerte die Brust und hob ihn an. Der Alte stützte sich auf den Armlehnen ab, hielt die Position, hielt sich und sein ganzes Gewicht, eine ungeheure Kraft musste das sein. Seine Arme, die zu zittern begannen, bevor er sich stöhnend wieder fallen ließ. Dann drückte Kretsche seine Daumen in die Oberarme des Alten, in die Schultern und in den Nacken wie in ein rohes Stück Fleisch. Jan konnte die roten Punkte sehen, die übrigblieben, kurz, und sich selbst aufzusaugen schienen, bis sie wieder verschwunden waren. Irgendwann klopfte Kretsche dem Alten auf die Schulter. Gut gekämpft, so wirkte das. Kretsche nahm die Keile mit, die er unter die Räder des Rollstuhls gesteckt hatte. Ein Griff, eine fließende Bewegung vom Boden nach oben und in die Hosentasche.

Jan wich zurück. Er stützte seinen Arm in die Hüfte und ließ das wieder sein, verschränkte seine Arme und lockerte sie wieder. Kretsche blieb stehen, als er den Raum betrat und Jan so stehen sah, die Klinke noch in der Hand. Die weißen Tennissocken in den Kunstlederschlappen.

»Fertig«, sagte er.

Jan nickte, er wartete noch. Der Alte blickte unverändert in Richtung Fenster und auf die Jalousie, als spielte sich das Leben in dem dünnen Streifen Licht zwischen den Aluminiumlamellen ab. Das Fenster war bodentief, aber alles, was er sehen konnte, war der zugewucherte Lichtschacht. Hin und wieder verirrten sich Frösche dorthin und hüpften gegen die Scheibe.

Es war noch gar nicht so lange her, vor der letzten oder vorletzten Behandlung, da hatte der Alte ihn gefragt, ob Jan mit seinem Vater noch in dem Haus beim Dänischen Bettenlager wohnen würde. Jan hatte »Ja«, gesagt, nach kurzem Zögern. Mehr wie eine Frage als eine Aussage betont. Und gehofft, dass noch etwas folgen würde. Eine anschließende Frage oder dass sich der Alte darüber lustig machen würde, wie so manch anderer. Aber es kam nichts. Nicht in diesem Moment und nicht seither.

Jan räusperte sich, wie er es immer tat in den Krankenhausgängen. Er pfiff auch hin und wieder oder schnipste mit den Fingern. Er wollte sich ja ankündigen, zumindest akustisch, und niemanden erschrecken, wenn er um eine Ecke bog oder ein Wartezimmer betrat. Der Alte bewegte sich nicht, als Jan auf ihn zuging, drehte auch den Kopf nicht nach ihm. Zwei Mal die Woche sahen sie sich, wie lange schon, konnte Jan gar nicht sagen. Sie redeten nicht viel, wenn überhaupt, über das Wetter oder die Schließung des Krankenhauses. So still und stumm aber kannte Jan den Alten nicht.

»Herr Kretschmer hat mir gesagt, dass er heute sehr zufrieden mit Ihnen war.«

Der Alte schmunzelte.

»Möchten Sie noch eine Weile hierbleiben, oder darf ich Sie nach oben begleiten?« Es war wichtig, vom Begleiten zu sprechen und nicht vom Hinbringen oder Wegbringen.

»Dieser Ausblick macht mich fertig«, sagte der Alte. »Ich will nach Hause.«

Jan zog ihm die Schuhe an und legte das Hemd erstmal nur über die Schultern des Alten. So hatten sie es abgemacht. Der Schweiß, die Anstrengung. Duschen wollte der Alte nicht, nur ein bisschen akklimatisieren. Oben, im Foyer dann, bevor er durch den Ausgang neben der Drehtür verschwand, sollte Jan ihm das Hemd wieder anziehen und zuknöpfen. Und auch das, obwohl der Alte es noch selbst konnte. Wie er sich auf den Armlehnen abstützte und sein Gewicht halten konnte. Das Zittern der Muskeln, die sich dadurch erst zeigten, an den Unter- und Oberarmen, Brust und Schultern. Leberflecke dick wie vollgesogene Zecken.

Jan wollte den Alten gerade aus der Umkleide begleiten, da hielt der ein Passbild hoch und vor Jans Gesicht. Das Portemonnaie noch offen, aus dem er es gezogen hatte.

»Sie kennen den Mann, oder?«

Jan streckte seine Hand danach aus. Die Lachfalten, die dunklen Haare, die Augenbrauen wie mit dem Filzstift gemalt. Da zog der Alte das Bild weg.

»Nicht anfassen!«

»Aber ich habe es ja kaum sehen können.«

Der Alte hielt ihm das Passbild noch einmal hin.

»Und?«

»Tut mir leid, ich kann darauf niemanden erkennen.«

Der Alte wendete den Rollstuhl und sah Jan ins Gesicht. Er schien etwas sagen zu wollen, spitzte seine Lippen. Atmete hörbar aus. Vielleicht gehörte er zu der Sorte Mensch, die Lügen sofort erkannte.

»Kommen Sie mich mal besuchen«, sagte er. Es klang netter, als Jan erwartet hatte. »Zu Hause zeige ich es Ihnen in Ruhe.« Dann gab er ihm einen gelben Klebezettel mit der Adresse darauf. Lessingplatz 7. Bei Kern klingeln. Fussel und Haare auf dem Leimstrich. Der Alte drehte sich erneut, Gesicht jetzt zur Tür. Jan wollte noch hinterherlaufen. Den Zettel in der Hand. Ein einziger Schritt. Da rief ihm der Alte zu: »Danke, ich finde selber nach draußen!«

III

Als die Wohnung von Mutter geräumt wurde, war er nicht dabei gewesen. Im Internet kursierten immer mal wieder Bilder solcher Wohnungsauflösungen. Mitunter stand ein separater Glascontainer für all die Bierflaschen bereit, die entsorgt werden mussten. Oder die Männer vom Räumdienst gingen nach der Schicht mit dem Geld, das sie für die gefundenen Pfandflaschen erhalten hatten, noch essen. So schlimm war es bei Mutter, glaubte er, nicht gewesen. Trotzdem wollte er nicht dabei sein.

Wann immer Jan sie besuchte, versuchte er, sie für einen Spaziergang zu begeistern. Oder er lud sie ins Café beim Klosterplatz ein.

»Das brauchst du doch nicht, wirklich nicht.«

»Mutti, ist doch gut. Ich verdiene mein eigenes Geld.«

»Aber das musst du nicht.« Sie wiederholte es immer wieder. Jan wusste, dass ihr das peinlich war. Von ihm eingeladen zu werden, am Café gesehen zu werden, dort gar zu sitzen. Das einzige Café in der Stadt. Die Schule gleich daneben. Der Briefmarkenautomat an der leerstehenden Post. So viele Leute, die hier umherliefen.

»Und wenn ich uns nur was zum Mitnehmen hole?«

»Okay.«

»Kaffee?«

»Ja, gerne.«

Mutter wartete abseits an dem Brunnen, ein schulterhoher Granitpfeiler, der im Zuge der Innenstadtsanierung aufgestellt worden war. Aus der Spitze plätscherte das Wasser wie aus einem abgedrehten Gartenschlauch. Mutter hielt ihre Finger in die kleinen Rinnsale und ließ das Wasser über ihre Handfläche fließen. Dann presste sie ihre Hände, rechts, links, abwechselnd auf ihren Nacken. Alles mit dem Rücken zum Café, zum Außenbereich, zum Straßeneisverkauf.

Nachdem Jan den Kaffee besorgt hatte, lief er zunächst an ihr vorbei. So, dass sie es sehen konnte. Pfiff sogar. Im Augenwinkel beobachtete er, ob Mutter ihm folgte. Sie ging hinter ihm, hielt Abstand, und nach einer Kurve, in der er auf sie wartete und wo niemand sie sehen konnte, gab er ihr den Pappbecher.

»Mit Sahne und Zucker, richtig?«

»Na klar!«

Sie trank so schnell, als wäre es eine Erfrischung. Jan durfte sie währenddessen nichts fragen, durfte nichts sagen, so hatten sie es einmal abgemacht. So einen Kaffee, sagte sie, müsse man ganz und gar genießen. Das sei man allein schon den Leuten schuldig, die diese riesigen Kaffeeautomaten warteten. Ob er sich vorstellen könne, was das für eine Arbeit sei? Und die Schläuche für den Milchschaum reinigen? Eben! Für zu Hause kaufte sie nur Instant-Kaffee, weil die Maschine kaputtgegangen war, und das, was sie im Kiosk am alten Stadtbad zu trinken bekam, sagte sie, würde schmecken, als hätte Manni, der Besitzer, tagelang seine Zähne nicht geputzt und dann in den Becher gespuckt.

Jan hatte ihre Wohnung nie mehr betreten. Er bat die Sekretärin des Räumungsdienstes, ihm eine Kiste zusammenzustellen mit persönlichen Gegenständen. »Irgendwas Bestimmtes?«

»Wenn Ihre Leute etwas finden«, sagte er, »wovon sie denken, dass sie es nicht einfach wegschmeißen können.«

Die Kiste, die er später im Büro abholte, ein Amazon-Paket, war gerade so groß gewesen, dass er sie unter seinen Arm geklemmt nach Hause tragen konnte. Darin waren Schlüssel, ohne Bund und Etikett. Außerdem drei Fotoalben und ein gerahmtes Bild.

Das Foto in dem Rahmen kannte er. Nachdem er Mutter den Fernseher angeschlossen hatte, das Schlafsofa aufgebaut und die Waschmaschine angeschlossen, sollte er es ihr in den Flur hängen. In dieser Reihenfolge. Im Flur, sagte sie, sei sie, unterm Strich, die meiste Zeit des Tages. Er solle es nur mal recht bedenken. All das Kommen und Gehen. Wenn man sich die Schuhe auszöge, die Jacke überstreifte. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel. Die Wechsel zwischen den Zimmern. Immer läge der Flur dazwischen, immer sei er wie ein neuer Raum, der plötzlich auftauchen würde. An alle anderen Räume würde man sich gewöhnen, aber an diesen nicht, weil man ihn immer aus einer neuen Perspektive beträte. Die üblichen Zimmer nur aus einer, der des Flures. Daher hatte Jan das Bild dort aufzuhängen. Neben dem Spiegel, über dem Schuhschrank und so, dass Mutter es sehen konnte, egal aus welcher Tür, aus welchem Raum sie gerade in ihrer 1,5-Zimmer-Wohnung trat.

Auf dem Foto war das Meer zu sehen, zumindest glaubte er das. Genauso gut konnte es ein See sein. Dessen Größe war nicht auszumachen, ein Ufer nicht zu erkennen. Auch waren darauf keine Menschen zu sehen. Niemand, nichts. Nur Wasser und das Gegenlicht.

In den Fotoalben waren Bilder von Jan und Vater gewesen. Allesamt eingesteckt in Folien. Manchmal zwei, drei Bilder hintereinander. Ihre gemeinsamen Ausflüge. Ein Urlaub in Oberhof, an den Jan sich nicht mehr erinnern konnte. Vor allem aber gab es Fotos von ihr, daneben wirkten die Familienfotos wie Lückenfüller. Auf vielen saß Mutter auf einem Klappstuhl mit gelb-weiß gestreiftem Sitzkissen, in einem Garten, vor einer Laube. Sie war jung, vielleicht zwanzig Jahre alt, und trug einen Bikini, dessen Verschlussenden links und rechts ihres Brustkorbes baumelten. Es sah aus, als würde sie schlafen. Die Tür zur Laube stand offen. Unscharf, im Schatten eines Sonnenschirms, konnte Jan ein Radio entdecken und eine Liege. Eine Decke lag darauf, in Falten geworfen, und Kissen kreuz und quer verteilt. Auf einem lag sie nackt auf genau dieser Liege. Die Beine gespreizt, die Brüste mit den Händen bedeckt. Sie musste in die Linse der Kamera gesehen haben, ganz direkt, fast gestarrt. Der Versuch, die Person hinter der Kamera zu fokussieren. Ein Blick, der nicht ihm, nicht dem Sohn gelten konnte. Jan legte das Foto sofort zur Seite, umgedreht.

Jans Eltern hatten ihre Hochzeitsreise nach der Wende in Griechenland nachgeholt. Auch davon fand er Bilder. Eselreiten. Vater, der auf die Akropolis zeigte. Zwei Fotos jedes Hotelzimmers, einmal beim Betreten des Zimmers, einmal beim Verlassen. Auch hier gab es Bilder von Mutter. Am Strand, im Bikini. Aber es war ein anderes Modell. Auch trug sie ihre Haare länger. Die Bilder in der Laube mussten vorher entstanden sein. Dass die Familie eine besessen hatte, hatte Jan bis dahin nicht gewusst.

Zwischen zwei Fotos waren Passbilder gesteckt. Beim Umblättern ragte eine Ecke hervor. Jan nahm die Bilder und legte sie vor sich auf den Boden. Im Schneidersitz, den Kopf mit den Händen abgestützt. Auf dem ersten trug ein Mann eine Uniform, die Augen im Schatten der Mütze. Ein anderer lächelte wie ein Sonntagskind, obwohl oder weil er seine Krawatte falsch gebunden hatte. Dunkle Haare, dicke Augenbrauen, deutlich älter als die anderen. Zwei sahen sich ähnlich, vielleicht waren es Brüder. Einer, immerhin den erkannte Jan, war Vater. Auch der, wie die anderen, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Wenige Jahre vor oder nach Jans Geburt.

Jan stellte die Alben in das Bücherregal neben dem Schreibtisch und nahm sie auch mit, als er und Vater später in das neue Haus im Schatten der Wohnblöcke zogen. Petra, Vaters damalige Freundin, half ihm dabei, die Kisten in sein Zimmer zu tragen. Als es auf einmal still im Raum geworden war, blickte er auf und sah, dass Petra die Kiste abgestellt hatte und ein Foto vom Boden aufhob. Sie drehte es, als wäre es ein Wackelbild oder der Winkel ungünstig.

»Das ist deine Mutti, oder?«

Jan nickte. Er konnte sehen, wie sie vom Foto weg und zur Kiste blickte und dann sein Gesicht mit jenem auf dem Bild abzugleichen schien. Petra lächelte und sagte: »Deine Mutti war ne schöne Frau.«

Und als hätte er sie nie betrachtet und als würde er das Album nicht kennen, sagte Jan: »Kann sein.«

IV

Die Adresse auf dem Zettel führte Jan zum Lessingplatz. Die Kamenzer nannten diese Gegend nicht etwa Altstadt oder historisches Zentrum, sondern schlicht »Stadt«. Damit war klar, dass die alten Blöcke und die Einfamilienhaussiedlung davon ausgeschlossen waren. Diese zählten, wenn überhaupt, zum sogenannten Stadtgebiet. Zum Rand. Wohnen konnte man da mehr schlecht als recht. Vor allem konnte man dort ins Kaufland gehen und, einmal im Jahr, wenn die Sitzkissen für Gartenmöbel im Angebot waren, vielleicht noch ins Dänische Bettenlager. In der Stadt hingegen war die Lebensqualität. Da gab es ein Café mit Eiskarte und ein Stadttheater, in dem zwei Mal im Jahr die Hip-Hop-Tanzgruppe auftrat.

Die zweigeschossigen Gründerzeithäuser am Lessingplatz waren um einen kleinen Park arrangiert, die meisten Wohnungen standen leer. Eine Zeit lang hatten in dem Park eine Rutsche gestanden, Schaukeln und Klettergerüste. Jetzt wuchsen zwei Ginko-Bäume da, wo der Sandkasten gewesen war. Jan glich die Zahl auf dem gelben Klebezettel mit der Hausnummer ab und klingelte schließlich.

»Ja?«

»Ich bins«, sagte er. »Aus dem Krankenhaus.«

Dann das Summen des Türöffners und der Hinweis des Alten: »Erdgeschoss, gleich um die Ecke.«

Der Alte wartete im Türrahmen. Die Hände am Greifreifen seines Rollstuhls. Die Jogginghose, die er trug, legte mehr frei, als sie verdeckte. »Schön«, sagte er und schüttelte Jan die Hand. »Kommen Sie rein. Aber bitte nicht zu genau umgucken, ich räume gerade ein wenig um.« Er deutete auf ein weißes Sofa in einer Art Arbeitsraum oder Wohnzimmer.

Weiße Wände, orangener PVC-Boden. Stühle standen unter gerahmten Zeichnungen, die vielleicht von den Kindern oder Enkeln des Alten gemalt worden waren, allerdings war das Papier vergilbt und die Bleistiftstriche dadurch kaum mehr zu erkennen. Eine Flasche Fanta stand auf dem Couchtisch, mehrere Fernbedienungen ringsum. Türen gab es keine. Kisten überall. Jan setzte sich. Der Alte positionierte sich mit dem Rollstuhl ihm genau gegenüber. Ihre Knie berührten sich fast.

»Das war mal eine Arztpraxis«, sagte der Alte. »Die meisten Räume sind gefliest, sie können sich ja vorstellen, wie wenig wohnlich das ist.«

Konnte er sich nicht, nein. Jan nickte.

»Bis vor Kurzem hat meine Mutter noch hier gewohnt.« Er drehte sich um und wurde leiser: »Ich schaffe es erst jetzt, ihre Sachen auszumisten. Sie kennen nicht zufällig jemanden, der eine Wohnung sucht?«

»Nein, tut mir leid.«

»Eine Frau wäre toll.«

Darauf wollte Jan nicht antworten.

»Die Räume da hinten«, sagte der Alte, »habe ich nämlich schon leergeräumt. So viel Platz brauche ich ja gar nicht.« Dann sah er auf seine Füße. In einem der Zimmer tickte eine Uhr.

»So eine Wohngemeinschaft wäre toll, wissen Sie? Das mögen die Leute doch heute und die jungen Frauen. Vielleicht kann man da eine Vereinbarung treffen, kostenlose Miete gegen Pflege. Und es soll ja vorkommen, dass man sich auch sonst in solchen WGs hin und wieder annähert.«

Der Alte lächelte ihn an. »Könnten Sie im Krankenhaus nicht einen Aushang machen? Oder mal direkt eine Schwester oder die nette Ärztin ansprechen? Sie haben doch die Kontakte.«

»Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte Jan, »wurde das Schwarze Brett schon abgebaut.« Er hoffte, das Thema damit beenden zu können. Wenn das so weiterging, würde er sich einen Vorwand überlegen müssen, um aufzubrechen. Hätte ihn sich schon vorher zurechtlegen müssen. Denn der Alte war schnell:

»Wollen Sie was trinken?«

»Nein, danke.«

»Oder etwas essen? Ich habe von gestern noch gebratene Jagdwurstscheiben.«

»Danke, aber ich bin heute Abend noch zum Essen verabredet.«

»Mit Ihrem Vater?«

Der Alte hatte sich nach vorn gebeugt. Sein Körper, seine Augen starr. Er schien genau darauf zu achten, was Jan als Nächstes sagen würde.

»Ich«, setzte Jan an, zu zögerlich, schon verloren, »das muss ich Ihnen nicht sagen.«

Der Alte lehnte sich zurück. Irgendwo schien ein Fenster geöffnet zu sein. Der kalte Luftzug in Jans Nacken. Leises Aufheulen von Wind, der, einmal durch die gekippten Fenster gelangt, in den Zimmern gefangen war.

»Sie haben den Mann auf dem Foto schon mal gesehen, nicht wahr?«

Jan nickte. Er wollte dazu nichts sagen. Konnte es auch nicht. So ein Allerweltsgesicht. Das kam schon mal vor, dass es irgendwo auftauchte. Auf Fotos, in der Erinnerung. Das musste nichts bedeuten. Der Alte nahm einen Schluck aus der Fantaflasche und ließ sie danach offen stehen. Keine Bläschen, die aufstiegen und leise platzten.

»Das war mein Vater«, sagte der Alte und schwieg. Er schien auf eine Reaktion von Jan zu warten. Auf irgendein Anzeichen, dass ihn das vielleicht beeindruckte oder schockierte. »Woher kannten Sie ihn?«, schob der Alte hinterher.

»Ich kenne Ihren Vater nicht«, sagte Jan, und das stimmte ja auch. »Ich hab ihn nie persönlich getroffen. Das Foto sieht aus wie eins, das ich mal bei einer Wohnungsauflösung gefunden habe. Keine Ahnung, wie es dort hinkam und ob es überhaupt das gleiche ist.«

Der Alte fuhr ein Stück zurück und dann an Jan vorbei in den Flur. Jan richtete sich gerade auf. Wollte noch fragen, ob alles in Ordnung sei, ob der Alte Hilfe benötigen würde. Da rief der schon: »Bleiben Sie sitzen!«

Eine Tür fiel ins Schloss, was den Luftzug und das Pfeifen des Windes unterbrach. Jans Knie fühlte sich kalt an, als hätte ihm jemand eine Decke weggezogen. So warm konnten Knie also werden, so nah war der Alte ihm also gekommen.

Der Alte kam zurück, fuhr aber nicht gleich in den Raum und an seinen Platz zurück. Er wartete im Türrahmen, als wollte er sichergehen, dass die Aufmerksamkeit wieder ganz ihm galt. »Das habe ich beim Ausräumen gefunden«, sagte er. Ein Schuhkarton war auf seinen Oberschenkeln, im Vorbeirollen legte er ihn Jan vor die Füße. »Mein Vater scheint das gesammelt zu haben.«

Jan nahm die Schachtel, öffnete sie, sah lose Papiere und fuhr mit dem Finger über den Aufkleber an der Seite des Schuhkartons. Die Buchstaben waren mit Kugelschreiber mehr eingedrückt als geschrieben worden. Erst jetzt erkannte er es: Da stand sein Name.

»Das sind Sie, oder?«, fragte der Alte.

»Ja, aber …« Jan zog eines der Papiere hervor, strich darüber. Rissig, gelb. Manches dünn und durchsichtig wie Pergament. »Was ist das? Warum steht da mein Name drauf?«

Achselzucken des Alten.

»Also haben Sie es sich nicht angesehen?«

»Ich will mich da nicht einmischen.« Er betrachtete seine Füße, die grauen Socken, vielleicht noch die vom Tag der Therapie, und dann die Zimmerdecke. »Sie können die Sachen gern mitnehmen«, sagte er, »Sie müssen sie nicht hier anschauen.«

»Ich weiß doch gar nicht, was ich überhaupt damit soll.«

Wieder Achselzucken. Der Alte atmete mit einer verstopften Nase. Es hätte jedes andere Geräusch sein können, aber gerade dieses, genau jetzt, war unerträglich.

»Sie wissen, wer mein Vater war, oder?«, sagte der Alte.

»Nein.«

»Der Bruder von Georg Baselitz.«

»Warum ist das wichtig?«

»Vielleicht hilft es Ihnen als Hintergrundinformation. Kennen Sie Baselitz?«

Jan hob die Schachtel an, spürte ihr Gewicht. Hielt sie dem Alten entgegen. »Ihr Vater muss dazu doch irgendwas gesagt haben.«

»Ich schlage vor«, sagte der Alte und lächelte, »Sie nehmen die Sachen erstmal mit, und wenn Sie Fragen haben sollten, melden Sie sich bei mir. Sie wissen ja jetzt, wo ich wohne.« Er fuhr in den Flur, wo er auf Jan wartete, und streckte ihm die Hand entgegen. Jan schüttelte sie, fühlte sich wie rausgeworfen, ein ungebetener Gast, drehte sich nach dem Flur und dem Wohnzimmer um, die Fanta im sonst weißen Raum, schließlich das Gesicht des Alten, freundlich sah das nicht aus. »Ach, und könnten Sie mir noch einen Gefallen tun?«, sagte der Alte.

Keine Antwort. Das brachte hier nichts.

»Könnten Sie eventuell noch meinen Bio-Müll mit rausnehmen?«

Jan wartete, bis die Wohnungstür hinter ihm geschlossen war. In einer Hand die Mülltüte, unter den Arm geklemmt den Karton. Er überlegte kurz, den Müll ein paar Stufen höher ins Treppenhaus zu stellen. Wo der Alte ihn riechen, aber nicht beseitigen konnte. Schließlich warf er ihn vorm Haus in die Tonne. Kurz davor, den Schuhkarton gleich mit zu entsorgen, was er dann aber doch unterließ. Der Alte hätte alles mitbekommen. Er saß hinter der Fensterscheibe, die Gardine halb vor seinem Gesicht, und gab sich nicht einmal Mühe, zu kaschieren, dass er wie aus einem Versteck heraus Straße, Lessingplatz und Jan beobachtete.

Draußen war es noch hell, die Sonne würde bald untergehen. Die Kondensstreifen der Flugzeuge als rot-orangene Linien am Himmel.

V

Die Einfamilienhaussiedlung, in der Jan und Vater wohnten, war dort entstanden, wo zuvor die Wohnblöcke gebaut und die meisten davon schließlich abgerissen worden waren. In den neuen Gärten ragten die Gullideckel des alten Abwassersystems der Blöcke noch aus dem Boden. An Samstagen lenkten Familienväter ihre Rasenmäher drum herum. Blumentöpfe wurden darauf abgestellt, Kräuterbeete kreisrund angelegt. Einige Häuser mit ihren Einfahrten und Carports, die Koniferen und Kirschlorbeersträucher links und rechts neben der Haustür, standen vor den zwei übriggebliebenen Blöcken, der eine leer, der andere noch spärlich bewohnt, wie Wärterhäuschen. All die vanillegelben, sonnengelben und zitronengelben Fassaden. Die Gärten mehr Kieselsteine als Gras. Und dahinter und gegen die Sonne gerichtet die beiden Blöcke, in denen der Wind immer wieder Türen und Fenster zuschlug. Wo Jans Schule gestanden hatte, war jetzt ein Dänisches Bettenlager, aus dem Sportplatz mit Fußballfeld, Kampfbahn und Weitsprunganlage war das Kaufland geworden.

Die Siedlung lag am Stadtrand. Hinter dem alten Fernwärmekraftwerk begannen die Felder. Wenn im Frühjahr der Raps blühte, befestigten die Nachbarn Stoffbahnen und Planen mit Reißzwecken an ihren Carports. Auf die herabhängenden Enden legten sie Granitbrocken, die beim Graben der Keller aus der Erde geholt worden waren. Aber es gab diese Nächte im Frühling. Wind aus dem Osten, den kein Vulkangestein und erst recht keine Reißzwecke aufhalten konnte. Am Morgen darauf lagen die Planen in der Siedlung verteilt. Auf den Rasenflächen, Einfahrten, Rabatten, Beeten. Hatten sich in Hecken, Baumkronen und Maschendrahtzäunen verfangen. Und all der Staub und all die Pollen, die sie zuvor hatten abfangen sollen, waren aufs Neue in der Luft. Die Autos wie nach einem Vulkanausbruch bedeckt. Jahr für Jahr wurden die Garagentore zahlreicher.

Vater musste Jan vom Küchenfenster aus gesehen haben. Er öffnete die Haustür und sagte: »Du hättest mir doch sagen können, dass es länger dauert.«

Jan ging an ihm vorbei in den Flur. Legte den Karton ab. Stellte seine Schuhe daneben. Die Küchentür war angelehnt, er konnte sehen, dass der Tisch gedeckt war.

»Bier?«, fragte Vater.

»Ja, gerne.«

Das Radio war leise gestellt. Vater wischte mit einem Blatt von der Küchenrolle das Kondenswasser im Inneren der Käsepackung ab. Er tupfte auch die Bierschinkenscheiben trocken, bevor er sie auf seine Schnitte legte.

»Was ist das für ein Karton?«, fragte er.

»Keine Ahnung.«

Auf der Arbeitsplatte lag noch Kuchen. Wie zur Präsentation auf der fleckigen Backshop-Tüte. Vater liebte das Kaffeetrinken. Ein richtiger Sachse eben. Seitdem er nicht mehr arbeitete, ging er täglich zum Backshop. Das war die einzige Strecke, die er nicht mit dem Auto zurücklegte. Diese Stunde am Tag hatte sich zu einem Ritual entwickelt.

»Von wem hast du die bekommen?«

»Von dem Sohn vom Bruder von Baselitz«, sagte Jan. »Behauptet er jedenfalls.« Keine Ahnung, wie er das erklären sollte. »Der Alte im Rollstuhl, der oben am Lessingplatz wohnt. Kern heißt der.«