Mit dir unter dem weiten Himmel - Heidi R. Kling - E-Book

Mit dir unter dem weiten Himmel E-Book

Heidi R. Kling

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Beschreibung

Nach schrecklichen Vorfällen an ihrer Highschool zieht Paige zurück auf die Ranch ihres Vaters, aus San Francisco in die unendlichen Weiten der Wyoming Mountains. Dort trifft sie auf Jake - ein Freund aus Kindheitstagen, aus dem inzwischen ein umwerfender Cowboy geworden ist. Er nimmt sie mit auf Ausritte durch die verträumte Wildnis und zeigt ihr, was Vertrauen heißt. Und langsam beginnt Paiges Schutzwall zu bröckeln ...

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2018 Ravensburger Verlag GmbHDie englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Paint My Body Red«.Copyright © 2015 by Heidi R. KlingThis translation published by arrangement with Entangled Publishing, LLC through RightsMix LLC. All rights reserved.Umschlaggestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Fotos von © Ratana21, © Nataliia Dvukhimenna, © Rusla Ruseyn und © Julie Lubick (alle: Shutterstock)Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47873-6www.ravensburger.de

»Wenn ich sterbe, bemalt meinen Körper mit roter Farbe und taucht ihn in frisches Wasser, damit er wieder zum Leben erwacht. Sonst verwandeln sich meine Knochen im Grab zu Fels und meine Gelenke zu Feuerstein, doch so wird mein Geist aufsteigen.«

Crazy Horse

1

Jetzt

Ich habe vor zwei Wochen meinen Highschoolabschluss gemacht und bin kaum mehr als ein geisteskrankes Gespenst, als meine Mom mich am San Francisco International Airport absetzt. Das hier fühlt sich eher an wie eine Flucht als wie Urlaub.

»Du musst nicht mit reinkommen«, murmle ich.

Allein ist es leichter, in der finsteren Leere meines Lebens zu versinken.

Die perfekt manikürten Finger meiner Mutter berühren meine Schulter, als wollte sie mir mit meiner Tasche helfen, so zaghaft, als wäre ich Gefahrgut. Sie kann es gar nicht erwarten, dass ich in dieses Flugzeug steige.

»Ich bin achtzehn, Mom. Ich kann meine Tasche wirklich selbst tragen.«

»Für mich wirst du immer mein kleines Baby bleiben, Paige.«

Ihr Baby. Klar. Babys sind unschuldig, rein, harmlos. Ich bin das Gegenteil.

Offiziell verlasse ich die Stadt, um meinen kranken Vater zu besuchen – einen Mann, den ich kaum kenne, der mich kaum kennt –, aber Mom und ich wissen beide um den wahren Grund: Ich soll nicht als totes Kind Nummer sieben enden. Vielleicht kann ich noch gerettet werden.

Ich werde wegen der schmutzigen Geheimnisse weggeschickt, über die wir nicht reden. Nicht wegen des Offenkundigen, für jeden Sichtbaren. Nicht wegen des gelben Absperrbands, das Gefahr! schreit, des Bluts auf den Gleisen, der Todesfälle, sondern wegen allem dazwischen, dem, was währenddessen, davor, danach passiert ist. Diese Leerstellen tosen nachts durch meinen Kopf. Seine Stimme – verführerisch, aufregend, bedrohlich – sucht mich heim. Geisterhaft, aber beständig. Der unentrinnbare Ty.

»Ehrlich jetzt«, fauche ich, als sie zögert, eine gute Mutter sein will. »Du musst nicht mit mir warten.«

Zwischen ihren Augenbrauen bildet sich eine Falte. Sie ist verletzt. Ich habe sie verletzt. Schon wieder. Sie lässt die Hand an die Seite fallen. Einen Moment lang habe ich ein schlechtes Gewissen. Dann erinnere ich mich daran, weshalb ich hier bin. Wohin sie mich verfrachtet. Und, was am wichtigsten ist, warum. Und ich werde wieder wütend. Auf ihn. Auf sie. Auf alle. Aber besonders auf ihn.

Wut, die zweite Phase der Trauer. Wut ist besser als die unendlich tiefe Trostlosigkeit, in der ich vorher ertrunken bin.

»Wenn du dir sicher bist …« Sie tupft sich mit dem Ärmel den Augenwinkel und beschmiert den pastellgelben Kaschmir mit Mascara.

Auf der Straße rasen Taxis vorbei, Autos hupen. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Ich war nicht immer so. Ganz und gar nicht. Ich war ein unkompliziertes Kind. Ein unkomplizierter Teenager. Ich habe gemacht, was man mir gesagt hat: gute Noten bekommen, mir nette Freunde gesucht, meinen Teller abgeräumt.

Jetzt habe ich keine Ahnung mehr, wer ich bin. Die Paige, die ich mal war, hätte nichts von alldem getan.

Aber ich habe es getan. Und ich kann es nicht rückgängig machen.

Über uns rumpelt die Monorail vorüber und ich zucke zusammen. Sie sieht aus wie ein harmloses Disneyland-Fahrgeschäft, aber ich weiß, was sie anrichten kann. Ich denke an diesen Artikel über den Lokführer – wie ihn der dumpfe Schlag von vierundsechzig Tonnen Metall, die mit achtzig Sachen einen Körper von den Gleisen rammen, immer noch im Schlaf verfolgt.

Die Lautsprecherdurchsage warnt die Fahrgäste mit monotoner Stimme: »Terminal B. Nächster Halt: Terminal B. Die Türen schließen automatisch. Vorsicht bei der Abfahrt.«

Mir ist schlecht. Wenigstens bleibt der Schrei in meinem Kopf.

Mom schaut mich an, als wäre ich eine offene Wunde. »Hast du alles? Dein Ticket?«

Ich nicke.

»Deinen Ausweis?«

Ich hebe den Geldbeutel in meiner schweißnassen Hand.

»Ein Wagen holt dich in Wyoming ab. Wenn du ihn nicht sofort findest, ruf mich an. Wenn du keinen Empfang hast, benutz das Telefon im Souvenirladen.«

»Sollte ich nicht lieber eine Pferdekutsche ranwinken?« Sarkasmus. Noch so ein Verteidigungsmechanismus. Leider klingen meine Worte eher panisch.

Die Augenbrauen meiner Mom schnellen in die Höhe.

»Das war ein Witz.« Und vielleicht fühlt es sich auch irgendwann wie einer an.

Mom holt tief Luft und lässt den nebligen Bay-Area-Smog mit einem Seufzer wieder herausströmen. Diese Reaktion bin ich gewohnt. Zum Glück muss sie sich ja bald nicht mehr mit mir herumschlagen.

Die nächste Monorail kommt und hält fast geräuschlos an. Trotzdem höre ich ein heulendes Signalhorn, entfernte Schreie. Sehe nackte Füße unter einer regenjackenähnlichen gelben Plastikplane hervorragen.

Es regnet nicht.

Mom nimmt mein Gesicht in beide Hände, zwingt mich, sie anzuschauen, nicht die Schiene. »Hör auf, Paige. Du musst damit aufhören.«

Obwohl ihre Körpersprache deutlich macht, dass ich es gar nicht erst zu versuchen brauche, obwohl ich weiß, dass ich fliegen muss, dass es keinen anderen Weg gibt, dass ich auf keinen Fall hierbleiben kann nach allem, was passiert ist, will ich sie anflehen, mich doch bleiben zu lassen. Will zurück in ihr unerträglich nach Parfüm riechendes Auto springen, wo sie mir durchs Haar wuschelt und einen Mädelsnachmittag mit Essen und Kino vorschlägt, genau wie früher, bevor ich zu schnell erwachsen geworden bin und sie nicht länger gefragt hat. Ich will einen Resetknopf auf dem Armaturenbrett finden und dieses Jahr noch einmal von vorn beginnen, als wäre es eins von Tys Videospielen und nicht mein Leben, denn alles an diesem Moment schreit Game over.

Sie schließt mich in die Arme und ihre Miene ist so festbetoniert wie ihre Frisur. Ich winde mich heftiger aus ihrem Griff als beabsichtigt. Ich ertrage es nicht mehr, angefasst zu werden, nicht einmal von meiner Mutter.

»Tut mir leid«, sage ich und das tut es wirklich – dass sie mir nicht helfen kann, dass sie mich nicht berühren darf, dass ich ihr dieses riesige Chaos hinterlasse und vor allem, dass die vielen herumgeisternden Geheimnisse ihr makelloses Haus mit einem Schmutzfilm überziehen, den sie niemals wieder abbekommen wird.

»Schon okay.« Sie schüttelt traurig den Kopf. »Hast du deine Medikamente?«

»Ja.«

»Hast du eine Xanax genommen?« Sie schaut sich verstohlen um, ob uns jemand hört. Nicht auszudenken, wenn irgendein Tourist auf dem Weg nach Alcatraz mitkriegen würde, dass die Tochter der untadeligen Geschäftsführerin Pillen gegen ihre Panikattacken braucht.

»Ja, eine halbe«, lüge ich. Ich will meine frisch verschriebenen Medikamente nicht schlucken. Meine Familie ist suchttechnisch vorbelastet, selbst die Leute, mit denen ich rein biologisch gar nicht verwandt bin. Das würde mir jetzt gerade noch fehlen.

»Vielleicht solltest du vor dem Flug eine ganze nehmen.«

»Mir geht’s gut, Mom.«

Sie beißt sich auf die Lippe. »So siehst du aber nicht aus. Du bist blass. Und du hast heute Morgen nichts gegessen.«

»Das sind keine magischen Bohnen. Die bringen nicht wie von Zauberhand alles wieder in Ordnung.«

Ich blicke auf meine Schuhe. Meine Beine sind so dünn wie die schlaffen Glieder einer Vogelscheuche. Ich habe Gewicht verloren … danach. Ich versuche ja zu essen, wirklich, aber mein Appetit ist quasi nicht vorhanden. Ich weiß, dass ich blass bin und dass meine Haare dünn und glanzlos sind. Mom glaubt, dass ich aufgegeben habe, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil. Ich will rennen. Wegrennen. Weit weg. Diese Energie hält mich in Gang.

Deshalb habe ich eingewilligt zu fliegen.

Ich hebe den Kopf und schaue in den diesigen Himmel. Nachdem ich fast den gesamten Monat in meinem Zimmer gelegen und an die Decke gestarrt habe, ist es schon furchterregend genug, einfach draußen zu sein.

»Ehrlich, Mom, es ist alles okay. Du musst nicht mit rein.«

Sie zögert. »Also, da wäre tatsächlich dieses Meeting mit den VCs …«

Venture Capitalists. Wagniskapitalgeber. Das Silicon-Valley-Pendant zu den Börsenmaklern in New York City: das große Geld, dem meine Mom so gerne hinterherjagt.

»Die solltest du nicht warten lassen.«

Sie gestikuliert in Richtung meines nigelnagelneuen Designerrollkoffers und der dazugehörigen Laptopledertasche. »Es ist nicht für immer, mein Schatz. Nur bis …«

Ihre Worte verlieren sich.

Bis es zu Hause wieder sicher ist?

Bis ich sicher bin?

Bis ich nicht mehr an ihn denke?

Bis ich im Herbst an die Wesleyan gehe?

Um uns herum eilen geschäftige Reisende durch die Drehtüren in den Flughafen.

»Entschuldigen Sie uns«, sagt eine Frau mit einem Buggy, in dem ein rosinenkauendes Kind sitzt. Sie wirft einen Blick zurück zu ihrem Ehemann, der gerade einen Rucksack auf die Schultern eines kleinen Jungen schiebt und ihm mitteilt, dass er selbst dafür verantwortlich sei, sein Spielzeug in den Flieger zu tragen. Erst lacht der Junge über diese Vorstellung, dann nickt er ernst.

Verantwortung. Wann habe ich damit aufgehört, sie zu übernehmen?

Mein Magen krampft sich zusammen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe, aber ich bin kurz davor, auf den Bürgersteig zu kotzen.

»Ich muss los.« Ich glaube, ich sage es laut.

Eine Dame in Polyesterhose und orangefarbener Schülerlotsenweste kommt auf uns zu und gibt uns mit schwungvollen Handbewegungen zu verstehen, dass wir den schwarzen BMW wegfahren sollen, der mit laufendem Motor und Warnblinker im absoluten Halteverbot steht.

Meine Mutter, die es nicht gewohnt ist, sich von anderen etwas vorschreiben zu lassen, starrt sie über den Rand ihrer Brille hinweg an, als wollte sie rufen: Wenn Sie mich noch länger nerven, liegen Sie unter den Rädern. Anschließend hebt sie einen Finger mit spitz zugefeiltem Nagel im French-Manicure-Look, was so viel bedeutet wie: Um dich kümmere ich mich gleich noch.

»Ich hab dich lieb«, sagt sie zu mir und ihr Gesichtsausdruck taut ein bisschen auf. Ihre eisige Stimme bricht, weil ihr kaputtes Vogelbaby das Nest verlässt. Sie fühlt sich schuldig, weil sie mich hinausstößt, bevor ich flügge bin. Aber sie tut es trotzdem. »Ruf mich an, wenn irgendwas ist, ich komme sofort.«

Äh, ja. Klar. »Du hasst Wyoming. Und Dad. Außerdem kannst du Phil nicht allein lassen.«

Sie blinzelt. Eine gute Mutter würde kommen. Und die wollte sie immer sein, bloß ist sie leider viel besser darin, ein einflussreiches Start-up zu führen und ihre eigenen Pläne zu verfolgen, ob sie nun einen Großteil unseres Hauses zu neuen Büros für sich und Phil umbauen lässt, oder mich aus den Armen meines Vaters reißt, während ich Rotz und Wasser heule, wie vor all den Jahren.

Ich habe recht. Sie wird nicht kommen, doch sie will meine Aussage so nicht stehen lassen.

»Ich hasse deinen Vater nicht. Ich finde es nur leicht ironisch, dass er an ALS leidet statt an alkoholbedingtem Leberversagen. Aber am wichtigsten ist, dass ich dich liebe. Richte ihm aus …« Irgendetwas – Schuld? – überzieht ihr Gesicht wie ein Spinnennetz, während sie mit den Worten ringt, überlegt, was ich meinem Vater sagen soll, ihrem Exmann, den sie auf ziemlich hässliche Art und Weise verlassen und seit Jahren nicht mehr gesehen hat. »Grüß ihn von mir.«

Ich kann nicht anders, als ihn zu verteidigen. »Er ist seit Jahren trocken, aber okay.«

Ihre Augen weiten sich und mir ist klar, was sie denkt: Willst du jetzt wirklich damit anfangen? Nein, will ich nicht. Eigentlich wäre mir jedes andere Thema lieber. Ich bin nicht länger in der Position, Moralpredigten zu halten. Weder wegen meines Vaters noch wegen sonst etwas. Und obwohl wir es nicht laut aussprechen, wissen wir es beide. Ich liebe und verachte sie gleichermaßen. Paradoxerweise empfinde ich dasselbe für ihren Stiefsohn.

Als sie sich zu mir beugt, mir unbeholfen den Rücken tätschelt und einen Kuss auf die Wange drückt, der sich eher wie ein Stich anfühlt, rieche ich Taxiabgase und irgendetwas anderes, das ich nicht erkenne. Sie sieht aus wie meine Mom, aber sie riecht wie eine Fremde. Wahrscheinlich geht es ihr mit mir genauso.

2

In Jackson Holes Nadelöhr von einem Flughafen angekommen, wanke ich die schmale Metalltreppe hinunter und sofort schlägt sie mir entgegen, flutet meine Sinne – so trockene, nach Kiefern duftende Luft, dass sie einen eigenen Werbespot verdient hätte. Nachdem ich monatelang den Atem angehalten und mit flauem Magen auf die nächste Katastrophe gewartet habe, inhaliere ich sie in stiller Verzweiflung, fülle meine Lunge mit dem einst so vertrauten Geruch. Vielleicht hatte Mom recht. Vielleicht ist ein Neustart wirklich genau das, was ich brauche. Niemand, um den ich mir Sorgen machen muss, dessen Leben ich durch meine bloße Existenz gefährde, keine Todesfälle, keine Verantwortung, nur ein paar Monate ein- und ausatmen.

Das schaffe ich.

Wenn ich denn Luft bekomme. Nach Jahren auf Meereshöhe fühlt es sich hier oben an, als würde ich durch einen Strohhalm atmen.

Ich merke gar nicht, dass ich stehen geblieben bin, bis mein Koffer mir in die Waden rollt und umkippt. Die Grand Tetons ragen vor mir auf, zerklüftet und Ehrfurcht gebietend wie eine steinerne Löwin, die ihr Territorium verteidigt. Mir gefällt, wie klein ich im Vergleich bin. Da wird es leichter zu verschwinden, so zu tun, als wäre ich gar nicht da. Der Sommer wird einfach vorüberhuschen, und wenn ich im September noch hier bin, husche ich ins College und verschwinde dort wieder.

Und der Himmel erst, der saphirblaue, wolkenlose Himmel … Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue und schaue.

Touristen strömen an mir vorbei und plaudern fröhlich auf ihrem Weg zu den Ranches und Nationalparks. Niemand beachtet mich und auch das gefällt mir. Obwohl Koffein meine Angstzustände noch schlimmer macht, kaufe ich mir, als ich mich endlich vom Himmel losgerissen habe, an einem kleinen Stand in der Flughafenhalle einen Latte macchiato. Eigentlich will ich ihn trinken, während ich auf meine Mitfahrgelegenheit warte, doch bevor ich auch nur einen Schluck nehmen kann, rempelt mich eine Frau mit drei Koffern an und verteilt den heißen Kaffee auf meinem schwarzen Oberteil. Genervt zerre ich ein paar Feuchttücher aus meiner Handtasche und tupfe an dem Fleck herum, aber das T-Shirt ist völlig ruiniert. So kann ich meinem Dad nach all der Zeit nicht gegenübertreten, also stolpere ich in den winzigen Souvenirladen und durchstöbere die Sonderangebote.

Wie erwartet, gibt es nur kitschigen Touristenscheiß. Ich grenze die Auswahl ein auf ein blaues T-Shirt in XL mit einem Elch darauf, der Willkommen im Elchstaat sagt und eine Lichterkette ums Geweih geschlungen hat, und ein rosafarbenes Tanktop in XS, auf dem in silbernen Glitzerbuchstaben Cowgirl steht. Ich mag die Ironie des Tanktops, denn ein Cowgirl bin ich ungefähr genauso wenig wie ein leuchtendes Beispiel geistiger Gesundheit, deshalb werfe ich es auf die Theke.

Der ältere Mann in Bluejeans mit dem dicken Wanst und der noch dickeren Gürtelschnalle dahinter macht Small Talk, während er mir mein Wechselgeld reicht. »Geht’s auch rauf zum Old Faithful?«

»Eher nicht. Ich besuche jemanden«, antworte ich vage.

»Ach, wen denn?«

Eigentlich will ich ihm keine Details aus meinem Privatleben verraten, aber er fixiert mich erwartungsvoll. »Meinen Vater«, sage ich schließlich.

»Ah, und wer ist dein alter Herr?«

»Den kennen Sie wahrscheinlich nicht. Gus Mason?«

Sein Gesicht nimmt einen Ausdruck an, den ich schon zu oft gesehen habe: die Beerdigungsmiene. Ich bin verwirrt, als er nur »Richte ihm einen schönen Gruß von mir aus« erwidert und dann seine Aufmerksamkeit der nächsten Kundin zuwendet, die sich nach dem Old Faithful oben im Yellowstone-Nationalpark erkundigt. Sie befürchtet, dass der Geysir verrücktspielt und alle in der Nähe umbringt. Anscheinend kann man sich nicht einmal mehr auf den guten Old Faithful verlassen. Da kann man ja direkt wieder nach Hause fahren.

In der Toilettenkabine schlüpfe ich aus meinem nassen T-Shirt. Am liebsten würde ich mir auch die weiße Jeans vom Leib reißen – und die Unterwäsche gleich mit –, aber für die habe ich noch keinen Ersatz. Ich denke über den seltsamen Blick des Verkäufers nach, als ich meinen Vater erwähnt habe. Was ist sein Problem? Eine alte Fehde? Oder geht es Dad nicht gut? Das hätte Mom mir doch sicher gesagt, oder?

Beim Händewaschen schaue ich kurz in den Spiegel. Das Gesicht darin passt genauso wenig zu mir wie das Cowgirl-Top. Meine ehemals strahlenden Augen sind wässrig und trüb wie fettfreie Milch und das früher so glänzende Haar ist stumpf wie Stroh. Ich kneife mir in die Wangen und beiße mir auf die Lippe, um wenigstens ein bisschen lebendiger auszusehen.

Eine halbe Stunde später stehe ich noch immer vor dem Flughafen und warte. Die Gebirgssonne verbrennt mir die Arme. Den Nebel vermisse ich nicht, aber an die trockene Hitze muss man sich gewöhnen. Mittlerweile bin ich schweißgebadet und will gerade aufgeben und meinen Dad anrufen, als ich einen Jeep mit der Aufschrift Eight Hands Ranch in dicken schwarzen Westernstil-Lettern in der Mitte des Parkplatzes bemerke.

Unsere Ranch heißt Six Hands Ranch. Ob jemand den Namen abgekupfert hat? Ich könnte hingehen und nachsehen, ich habe ja sonst nichts zu tun. Meine Knie zittern wie eine Limoflasche in den Händen eines Kleinkinds. Das Six wurde übermalt. Panik schießt mir durch die Adern, ein instinktives Signal, dass eine vermeintliche Kleinigkeit eine sehr viel größere Bedeutung hat – das gleiche Gefühl hatte ich auch bei der Beerdigungsmiene des Souvenirverkäufers. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Alles ist so reglos und ruhig, dass ich schon glaube, der Jeep sei leer. Der Fahrersitz ist ganz zurückgelehnt und ich zucke zusammen, als ich einen schlaksigen Cowboy in Arbeiterjeans entdecke. Über dem offenen Kragen des abgetragenen Hemds lässt ein tief in die Augen gezogener brauner Hut nur das glatte, kantige Kinn eines Typen erkennen, der vielleicht ein paar Jahre älter ist als ich. Mein Blick wandert erneut zur Autotür. Eight Hands Ranch und unser Logo, eindeutig – der Umriss eines sich aufbäumenden Mustangs vor den Grand Tetons.

»Entschuldigung?«, sage ich vorsichtig. Meine Stimme schleppt sich durch meinen wüstentrockenen Hals.

Statt erschrocken zusammenzufahren wie ich eben, hebt der Cowboy gemächlich die Hand und schiebt ebenso gemächlich den Hut zurück. Darunter kommt, genau wie vermutet, das Gesicht eines Neunzehn- oder Zwanzigjährigen zum Vorschein. Seine Züge sind nicht besonders ebenmäßig, aber die leuchtend blauen Augen nehmen mich unwillkürlich gefangen, sogar in meinem völlig betäubten Zustand, und das will etwas heißen.

»Da bist du ja«, sagt er mit dem typischen silbenverschleifenden Akzent, als wäre ich zu guter Letzt doch noch in der Fundtruhe aufgetaucht.

Es ist schon lange her, dass ich einem Cowboy und seinem angeborenen lässigen Selbstvertrauen live und in Farbe gegenübergestanden habe.

»Da bin ich«, erwidere ich tonlos. Ich meide männliche Aufmerksamkeit wie die Pest. »Du bist also meine Mitfahrgelegenheit?«

Er reibt sich mit den schmutzigen Knöcheln die Augen und blinzelt gegen die Müdigkeit an. »Tut mir leid mit dem Nickerchen, Paige. War ’ne lange Nacht. Und ’n noch längerer Tag.« Er grinst, als würde er an etwas zurückdenken. Dann streckt er die Hand aus und sagt, als sollte ich ihn wiedererkennen: »Ich bin’s, Jake.«

Bei diesem Namen klingelt nichts, auch wenn er die Glocken anscheinend laut und deutlich hört.

Mittlerweile ist er hellwach und lächelt strahlend, obwohl ich seine Hand nicht schüttle. Er wirkt fröhlich. Gesund. Körperlich und geistig. Das alles weiß ich nach einer einminütigen Begrüßung. Was sieht er bei mir? Hoffentlich nur das, was ich zeigen will. Ich schaue auf mein kitschiges neues Top hinunter, die zu weite, gebügelte Zweihundert-Dollar-Jeans, und erinnere mich an die dunklen Ringe unter meinen Augen. Was für eine Geschichte erzählt mein Äußeres? Sein neugieriger Blick deutet nicht mehr an, als dass ich Gus’ Tochter bin, die über die Sommerferien zu Besuch kommt. Wenn Mom Dad irgendetwas gesagt hat, dann hat er es diesem Jake entweder nicht verraten oder der ist ein richtig guter Schauspieler. Ich bin ein bisschen erleichtert.

»Wie war dein Flug?«, fragt Jake und lässt die Hand wieder sinken, ohne eine Bemerkung darüber zu verlieren. Dafür bin ich ihm dankbar.

»Ganz okay«, antworte ich und reibe mir die sonnenverbrannten Arme, die aus dem Tanktop hängen wie schlaffe Nudeln. Warum habe ich ein so freizügiges Oberteil gekauft? Ich hätte das XL-Shirt mit dem Comic-Elch nehmen sollen. Mit gerunzelter Stirn starre ich auf den Boden. Ich hasse es, so dünn zu sein. Früher habe ich Essen geliebt. Ich hatte immer Hunger wie ein Bär.

Schau mich nicht an, Cowboy Jake.

»Ein paar Turbulenzen?«, fragt er, gleichbleibend freundlich. Vielleicht gehört es zum Job, auch zu unhöflichen Touristen nett zu sein.

»Ja.«

»Sommergewitter. Die kommen jeden Nachmittag. Zuverlässig wie der Old Faithful.« Er nickt mit zusammengekniffenen Augen, versucht, mir ein Lächeln zu entlocken.

Und es funktioniert. Ich kann es nicht verhindern. »Das ist witzig.«

Er hebt eine Augenbraue. »Warum?«

»Eben im Souvenirladen meinte eine Frau, sie hätte gehört, der Old Faithful würde irgendwann in die Luft gehen und alle umbringen.«

Jake lehnt sich zurück und lacht schallend. »Touristen … Die finden immer irgendwas, über das sie sich Sorgen machen können. Gerade haben die Bisons die Nase vorn. Die spießen anscheinend im Moment mehr Touristen auf als sonst. Erst letztens wieder. Einen Austauschschüler, der ihnen zu nahe gekommen ist. Die kapieren einfach nicht, dass das wilde Tiere sind. Schön, dass die Gute kreativer war.« Er grinst und schüttelt den Kopf, als fände er die Aufspießgeschichte urkomisch. »Der Old Faithful geht in die Luft. So weit kommt’s noch!«

Ich lächle ebenfalls. Je normaler ich wirke, desto eher lassen mich alle in Ruhe. Außerdem ist es schwer, bei diesem warmherzigen Cowboy kalt zu bleiben. Als würde man versuchen, einen Hundewelpen zu ignorieren. »Du arbeitest für meinen Dad?«

»Jep. Was hat mich verraten? Der Jeep?« Er grinst wieder, dieses Mal neckend.

Ich zucke verlegen mit den Achseln und meine Ohren werden heiß. Du bist echt süß, aber süße Cowboys ertrage ich diesen Sommer nicht, also hör auf, mit mir zu flirten.

Ich muss endlich ankommen, auspacken, duschen und mit dem Mich-verkriechen-Teil des Sommers anfangen.

Als könnte er meine Gedanken lesen – oder meinen Gesichtsausdruck interpretieren –, nickt er einmal. »Okay, dann machen wir uns mal auf den Weg, bevor Gus mir die Kavallerie auf den Hals hetzt.«

Er ist wirklich selbstbewusst. Und seine Freundlichkeit fühlt sich an wie ein Geschenk.

Zwei lange Beine schwingen sich aus dem Jeep und plötzlich ist mein Koffer weg, die Heckklappe wird zugeworfen und ich sitze auf dem Beifahrersitz neben Jake.

Ich hatte ganz vergessen, wie schnell sich das Energielevel eines Cowboys ändern kann. In der einen Sekunde noch im Tiefschlaf, in der nächsten ein Wirbelwind aus Tatendrang. Jake erinnert mich an meinen Dad. Neben den beiden wirkt meine Mom, eigentlich ein Energiebündel, wie ein Faultier.

Als hätte er mir wieder direkt in den Kopf geguckt, sagt Jake: »Übrigens, deine Mom hat seit heute Mittag schon fünfmal angerufen. Du solltest dich vielleicht bei ihr melden, wenn wir da sind.« Seine lächerlich blauen Augen mustern mich einen Tick zu lange, bevor sich Fältchen um sie herum bilden, als würde er über einen Scherz lachen, den nur er versteht.

»Ja, das klingt nach ihr.«

Er verengt die Augen wieder, versucht, mich zu durchschauen. »Komisch, dass sie dich den ganzen Sommer lang weglässt«, sagt er bedeutungsvoll, fast wie eine Frage, während er den Motor startet.

»Ach, na ja, ich bin ein nerviger Teenager. Die wollen doch alle Mütter loswerden.«

Er zuckt mit den Schultern und schürzt auf diese witzig-süße Art die Unterlippe. »Auf mich wirkst du nicht nervig.«

Ich werde wieder rot. An so nette Jungs bin ich nicht gewöhnt. Oder an Jungs, die sich wie selbstsichere Männer benehmen und nicht wie aufmerksamkeitssüchtige Arschlöcher.

»Ein bisschen neben der Spur, aber nicht nervig.«

Neben der Spur? Mein Magen krampft sich zusammen. Ich will nicht über meine Mutter oder zu Hause reden, also antworte ich nur mit einem nichtssagenden Schulterzucken, was er zu akzeptieren scheint.

Diese erfrischende Art der Cowboykommunikation hatte ich schon fast vergessen. Bemerkungen, die einfach in den Wind gesprochen werden und dort bereithängen, falls man anbeißen will. Oder nicht. Dann drängt einen auch keiner. Vielleicht funktioniert das hier ja doch. Vielleicht ist Wyoming der perfekte Ort, um allem aus dem Weg zu gehen und mich zu verkriechen, bis ich an die Wesleyan flüchte.

»Hast du Durst?« Bevor ich antworten kann, streckt Jake einen langen Arm hinter den Sitz, zieht eine Dr-Pepper-Dose aus einer roten Kühlbox und öffnet sie für mich. Ich habe seit Jahren keine Limo mehr getrunken, aber ich schätze seine Ritterlichkeit. Wann hat mir das letzte Mal ein Junge ein Getränk aufgemacht? Für ihn ist es eine ganz selbstverständliche Geste, er denkt nicht, dass ich sie nicht selbst aufbekomme oder so. Er ist einfach nur nett. Ich unterdrücke ein Grinsen. Wyoming mag nur ein paar Staaten von Kalifornien entfernt liegen, aber es kam mir schon immer vor wie ein anderer Stern.

Wieder erinnert Jake mich an meinen Dad und plötzlich freue ich mich darauf, ihn zu sehen. Die Ranch zu besuchen. Die saubere Luft zu atmen, die nach Kiefern und Pferden und Kindheit riecht.

Nach nur zwei Minuten mit Jake fühle ich mich lebendiger als seit einer Ewigkeit.

Ich nehme vorsichtig einen Schluck, während er ausparkt. »Achtung«, warnt er. »Gleich wird’s ziemlich holprig.«

Die Kohlensäurebläschen sprudeln in meinen Mund und stürzen meinen Hals hinunter wie Löschwasser. Wir biegen auf den einsamen Highway, der sich von Jackson zum Yellowstone-Nationalpark hinaufwindet.

»Und, wer sind die neuen Hände?«, frage ich nach ein paar Minuten Schweigen. Zucker und Koffein machen mich mutig.

Jake wirft mir einen Blick von der Seite zu und zieht die sonnenverbrannte Nase kraus. »Wann hast du das letzte Mal mit deinem Daddy gesprochen?«

»Ist ’ne Weile her.«

»Und du warst auch länger nicht mehr hier.«

»Stimmt«, gebe ich schuldbewusst zu. Zuletzt mit dreizehn. Da war ich schon zu alt für den Kleines-Mädchen-macht-sich-die-Hände-dreckig-Ranchhelferkram. Ich wollte den Sommer lieber in Kalifornien verbringen oder mit Mom in Europa oder Australien oder auf Hawaii. Am Anfang habe ich Dad zwar schrecklich vermisst, aber irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Er und die Ranch wurden das Unbekannte, das Fremde, das Kuriose.

»Hm.« Jakes Kiefer spannt sich an.

»Was soll das heißen?«

Er schaut mich scharf an. »In ’nem halben Jahrzehnt kann sich viel ändern.«

Der Satz klingt nicht wie der Anfang einer Geschichte, sondern wie das Ende.

Ich runzle die Stirn. Mir gefallen weder sein Ton noch seine Bemerkung. Ich mag keine Veränderungen. Ich bin hier, um mich vor dem Leben zu verstecken. Punkt. Und obwohl Jake süß ist und ich mich in seiner Gegenwart so wohl fühle wie lange nicht mehr, brauche ich keinen altklugen Cowboy, der vor sich hin orakelt, als wäre er ein Prophet. Vielleicht hatte ich unrecht. Vielleicht lässt er mich doch nicht in Ruhe und kümmert sich um seinen eigenen Kram. Ich mustere ihn aus dem Augenwinkel. Seine Nase hat einen kleinen Höcker, als wäre sie schon ein-, zweimal gebrochen gewesen. Wie alt ist er eigentlich?

Das ist bei Cowboys immer schwer zu sagen. Auf dem Land werden Jungs viel früher zum Mann als in der Stadt. Ein Blick auf seine wettergegerbten Hände, seine reife, souveräne Haltung verrät, dass er für Geld arbeitet, seit er zwölf war oder so.

Er taxiert mich ebenfalls. Dabei trommelt er mit den Daumen auf dem Lenkrad herum, zum Takt eines Lieds, das nur er hört. Ich würde ihn gern fragen, woher er mich kennt, aber ich will nicht unhöflich sein oder ihm noch mehr Einblick in meine Gedanken geben. Ich will nicht über diesen eigenartig faszinierenden Cowboy nachgrübeln.

Der heiße Wind peitscht mir das Haar ins Gesicht, deshalb binde ich mir mit dem Gummi von meinem Handgelenk einen Zopf. Meine Körpersprache macht hoffentlich deutlich, dass ich seine Aufmerksamkeit nicht brauche. Oder seine Fragen. Oder seine blöde Dr Pepper. Von der werde ich ganz hibbelig und muss jetzt auch noch pinkeln. Ich unterdrücke den Drang, denn ihn zu bitten anzuhalten, wäre viel zu peinlich und intim, also konzentriere ich mich auf die endlosen Reihen von Kiefern, die den silbernen Fluss säumen. Eine Minute vergeht. Dann fünf. Jake macht Musik an – natürlich Country –, während wir in einen Schotterweg einbiegen.

Von hier aus dauert es noch ungefähr eine Stunde bis zur Ranch.

Dank der Limo, dem unermesslichen Himmel und der grellen Sonne habe ich Hummeln im Hintern und klebe am Sitz. Um mich abzulenken, spiele ich mit meiner Sonnenbrille herum, dem Lipgloss mit Lichtschutzfaktor 30 – Mit der Gebirgssonne ist nicht zu spaßen, Paige, hat Mom mich gewarnt – und winzigen Papierschnipseln vom Boden meiner Handtasche.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus.

»Kannst du mal kurz rechts ranfahren?«

»Klar.« Er fragt nicht, warum. Stattdessen holt er eine Packung Taschentücher aus dem Handschuhfach und reicht sie mir. Ich muss lachen.

Ohne ihn anzuschauen, schlüpfe ich aus dem Jeep, und nachdem ich den Boden nach Schlangen und anderem Getier abgesucht habe, hocke ich mich hinter einen halbwegs anständigen Baum. Das benutzte Taschentuch klemme ich unter einen Stein.

Jake verliert kein Wort darüber, als ich zurückkomme. Er startet nur den Motor und wir fahren weiter.

Vielleicht liegt es an der Erleichterung, vielleicht an der Dr Pepper, jedenfalls habe ich auf einmal Lust zu reden. »Eine Ranch, die plötzlich umbenannt wird? Das ist doch komisch«, sage ich mit einem Schulterzucken, als hätte unser Gespräch über dieses Thema nicht schon vor vielen Meilen geendet.

Er hält den Blick auf die Straße gerichtet, schiebt sich nur den Hut tiefer in die Stirn, um seine Augen vor der gleißenden Sonne abzuschirmen. Meine Frage scheint ihm unangenehm zu sein. Aber er ist zu höflich, um mich zu ignorieren, also warte ich schweigend. Er wird mir irgendwann antworten, auch wenn er es nicht für seine Aufgabe hält, diese Sache mit mir zu besprechen.

»Gus hat ein paar Hände hinzugefügt. Warum, erklärt er dir bestimmt selbst.« Er schaut mich kurz an und sein Griff ums Lenkrad wird fester. »Das ist was anderes, als den Namen ganz zu ändern.«

Seine Lippen ziehen die Vokale lang.

Ich vergesse versehentlich, wieder wegzusehen. Sein kantiger Kiefer bewegt sich, wenn er schluckt. Er hat ein schönes, starkes Profil. Seine rechte Hand hält das Lenkrad, während die linke auf dem heruntergekurbelten Fenster ruht. Das aufgekrempelte rote Karohemd setzt den braunen Unterarm noch mehr Sonne aus.

Hör auf, Paige.

Schnell gucke ich wieder geradeaus. Ich würde gern mein Handy rausholen, aber mein Akku ist tot und hier draußen habe ich sowieso keinen Empfang. Es ist so ruhig. Zu Hause spiele ich ständig mit irgendeinem Elektrogerät herum und jetzt haben meine Hände plötzlich nichts zu tun: keinen Twitter- oder Instagramaccount, den sie updaten müssen. Kein Facebook, das sie checken können. Keine Nachrichten und Emojis von meinen Freunden.

Nur dieser süße Cowboy und ich.

Ich wippe mit den Füßen und beobachte den Staub, der links und rechts aufwirbelt und in den offenen Jeep weht, während wir weiterholpern. Am Ende dieser Straße wartet mein Vater – der Mann, der mir früher alles bedeutet hat.

Das ist der Hauptgrund, warum ich hierher wollte anstatt in irgendein Sanatorium für launische Teenager oder wo Mom und Phil mich sonst hingeschickt hätten. Und da mein Dad krank ist und er seine Nase nicht in meine Angelegenheiten stecken wird, ist die Ranch die beste Option. Nach den tausend Terminen bei Psychiatern und Psychologen und Peer-Beratern und sogar bei irgendeinem Priester (wir waren nicht mehr in der Kirche, seit ich klein war und wir noch in Jackson gewohnt haben), habe ich echt genug davon, darüber zu sprechen.

Ich habe sowieso nie die ganze Wahrheit erzählt. Ich habe die unangenehmen Themen ausgespart, bin so vage wie möglich geblieben. Vielleicht, weil ich hier aufgewachsen bin, an einem Ort, an dem deine Privatsphäre respektiert wird und man dich ermutigt, Dinge unter staubige Teppiche zu kehren. Oder weil ich Angst hatte, der Wahrheit ins Auge zu blicken, meine Rolle in all dem Chaos und Leid zu akzeptieren. Angst, dass die finsteren Geheimnisse mich auffressen, unzerkaut verschlingen. Oder dass er mir irgendwie hierher folgt. In meinen Albträumen. In der Dunkelheit.

Selbst mitten im Nirgendwo könnte mein Stiefbruder mich noch finden.

Ich verdränge diesen unheimlichen Gedanken und schlinge die Arme fester um meinen Oberkörper. Konzentriere mich auf den Wind in meinem Haar, auf meiner Haut. Heiße die Sonne willkommen. Höre Jake zu, der mich über die Besonderheiten der Steppenlandschaft aufklärt, durch die wir fahren, bevor er zum Bisonproblem und dem sterbenden Wolfbestand übergeht. Es ist offensichtlich, wie sehr er diesen Ort liebt. Ich lausche nickend. Was er erzählt, ist interessant, und seine Stimme klingt beruhigend. Er spricht langsam und ernsthaft, genau wie mein Dad.

»Es gibt hier aber keine Züge, oder?«

»Eine funktionierende Eisenbahn? Nö. Der einzige Zug in der Gegend fährt durch Cody. Außer du meinst einen Planwagenzug, so einen haben wir. Aber der ist nur für Touristen, die Wilder Westen spielen wollen.«

»Gut.«

»Hast du was gegen Züge, Cowgirl?«

»Ja.«

»Hm. Ich bin auch kein großer Freund davon. Mein alter Jeep ist mir lieber.«

»Warum?«

Er zuckt gutmütig mit den Schultern. »Ich sitz gern selber hinterm Steuer.«

Ich muss lachen. »Kontrollfreak?«

»Ich mag es einfach.«

»Du bist auf jeden Fall ein guter Fahrer«, sage ich.

»Ach, findest du?« Grinsend reißt er das Lenkrad nach links. Ich falle gegen seine Schulter. Er lacht, als ich mich quiekend wieder aufrichte.

»Ich nehm alles zurück«, rufe ich und er lacht noch lauter und fährt durch einen Graben am Straßenrand. Mein Kopf prallt gegen den Sitzbezug, der nach einem staubbedeckten Reiter in einer Senfblumenwiese riecht. Früher habe ich diese Blumen gepflückt und den zitronigen Saft ausgesaugt, bis mir irgendwer verraten hat, dass der süßsaure Geschmack vom Tierurin kommt. Danach habe ich sie nie wieder angerührt.

»Sorry, Cowgirl«, sagt Jake verschmitzt. »Ich hab dich ja gewarnt, dass es holprig werden kann.«

»Sehr witzig. Okay – du bist ein schrecklicher Fahrer. Zufrieden?« Er kichert. Dann frage ich: »Cowgirl? Das schlechteste Cowgirl der Welt vielleicht. Ich weiß nicht mal mehr, wie man auf ein Pferd steigt.«

»Ach, das kriegen wir schnell wieder hin.«

»Tun wir das? Du bist dir da ja ganz schön sicher.«

»Du hast bloß vergessen, wer du bist, das ist alles.« Er sucht meinen Blick, bevor er die Augen zurück auf die unebene Straße richtet. »Aber es fällt dir bestimmt bald wieder ein.«

»Ich bin einiges«, bemerke ich sarkastisch, »aber kein Cowgirl – und ich werde auch nie wieder eins.«

»Sag niemals nie.«

Seine Worte klingen lange nach und ich habe den Verdacht, dass er mehr über mich weiß, als er zugibt.

3

Das hatte ich nicht erwartet.

Die Ranch, an die ich mich erinnere, mit den Horden von Kindern, die herumwuseln und sich im Schlamm balgen, dem Duft von über dem offenen Feuer gebratenem Fleisch und Menschen, überall Menschen, die scherzen und toben – das ist nicht dieser Ort hier. Als wir vor dem Haus anhalten, höre ich nur das verklingende Dröhnen des Motors, den trockenen, milden Wind und das Wiehern eines einsamen Pferds in einem heruntergekommenen Pferch. Die Stille ist so seltsam und unheimlich, dass ich fast damit rechne, gleich einen Steppenläufer vorbeirollen zu sehen.

»Wo sind alle?«, frage ich Jake, der blitzschnell um den Jeep herummarschiert ist und mir die Tür öffnet.

Seine Schultern versteifen sich und er runzelt die Stirn.

»Wo sind die ganzen Angestellten? Und die Gäste?«, frage ich. »Machen sie einen Übernachtungsausflug?« Einmal pro Aufenthalt nehmen ein paar von den Cowboys die Gäste mit auf eine Planwagenfahrt zum Aussichtspunkt oben auf dem Berg, wo sie gemeinsam Kühe treiben und unter den Sternen schlafen.

Jake streckt eine schmutzige Hand aus, um mir aus dem Wagen zu helfen. Seine Finger sind lang und rau, stark und gleichzeitig sanft. Sie schmiegen sich wie ein Kokon um die meinen. Ich lasse los, sobald meine Flipflops auf dem Boden stehen.

So lange hat mich niemand mehr berührt seit Ty.

Mit einem amüsierten Gesichtsausdruck beobachtet Jake, wie sich der Staub auf meine frisch lackierten Zehennägel legt. Das Abschiedsgeschenk meiner Mom: eine Mutter-Tochter-Mani-Pediküre. Ein kühles Eukalyptushandtuch und eine frische Schicht roter Nagellack können schließlich alles in Ordnung bringen, oder? Besonders, wenn dazu Zen-Musik spielt.

»Ich habe keine anderen Schuhe«, murmle ich.

»Ich hab nichts gesagt«, erwidert er. »Darum können wir uns später kümmern.« Er schaut mir ein wenig zu lange in die Augen und mir wird wieder heiß. Er blinzelt. Hat er es auch gespürt?

Ich schiebe den Gedanken beiseite.

»Okay.« Er räuspert sich. »Wir gehen besser mal rein.« Damit holt er meinen Koffer aus dem Auto und klemmt ihn sich unter den Arm, als würde er nicht mehr wiegen als eine Taschentuchbox. Als hätte er keine Rollen und keinen Griff und könnte nicht auch gezogen werden.

Trotzdem … Ich kann mich nicht erinnern, dass mir zu Hause schon mal irgendwer angeboten hätte, meinen Koffer zu tragen. Geschweige denn, es einfach so getan hat.

Das ist beinahe zu süß.

»Danke«, sage ich, »aber das schaffe ich schon.« Ich greife nach dem Koffer und unsere Finger berühren sich. Nervös zucke ich zurück. Oh Mann, Jake muss mich für einen totalen Psycho halten.

Er wirft noch einen Blick auf meine staubigen Füße und grinst. »Wir können doch nicht riskieren, dass deine hübschen Zehen dreckig werden.«

Hübsche Zehen. Macht er sich über mich lustig oder meint er das ernst?

Dann bemerke ich, worauf ich stehe.

Sechs Kreise aus Mosaikzement führen von der Auffahrt bis zur Veranda. Der erste davon ist mein eigener. Der Handabdruck eines kleinen Mädchens, blau mit einer gelben Taube in der Mitte. PAIGE, 6 JAHRE. Mich überkommt eine unerklärliche Angst, ihn kaputtzumachen, deswegen gehe ich um die anderen herum, stakse über die rissigen, in runden Stein gedrückten Hände hinweg: Grandpas, Grandmas, Onkel Joes, Dads. Bei Moms halte ich inne, überrascht, dass ihre langen, gelb bemalten Finger mit den Gänseblümchenblättern in der Handfläche noch hier sind. Ich erinnere mich, wie sie an jenem Tag gelacht hat, das Haar zu Zöpfen geflochten, gelbe Farbe an der Wange. Wie Dad sie aufgezogen hat, weil sie sich nicht gern schmutzig macht, und wie sie, statt ihn wütend anzufauchen wie später immer, seine Bemerkung lächelnd abtat.

»Sorry, dass sie so aussehen«, sagt Jake. »Bin noch nicht dazu gekommen.«

Ich drücke meine Hand in Moms. Sie sind mittlerweile gleich groß und plötzlich vermisse ich diese Version meiner Mutter so sehr, dass mein Herz sich zusammenkrampft und mir Tränen in die Augen schießen. Ich schlucke. »Du richtest sie wieder her?«, frage ich und blicke zu diesem Cowboy auf, der sich meinen Koffer inzwischen wie einen Sattel über die Schulter geworfen hat.

»Klar. Jedes Jahr, wenn der Schnee geschmolzen ist.«

Ich blinzle.

Er nicht.

»Warum?«, frage ich.

»Du erinnerst dich nicht an mich, oder?«

Ich suche seine strahlend blauen Augen nach Hinweisen ab, als die schwere Holztür aufgeht und ein fremder Mann, noch dünner, noch blasser als ich, auf die Veranda gefahren kommt. Ein Hebel unter seiner rechten Hand steuert den Rollstuhl.

Zwei wie Mikrofone geformte schwarze Schaumstoffstücke halten seinen Kopf aufrecht. Plastikschläuche schlängeln sich von seinem Hals zu seinem Oberkörper, wo noch mehr Schläuche entspringen, dünnere Röhrchen, die unter den Perlmuttknöpfen seines rot-blau-karierten Hemds verschwinden. Am meisten erschrecken mich jedoch seine Beine. In der viel zu großen grauen Jogginghose sehen sie aus wie zwei schlaffe Seehunde auf metallenen Fußstützen.

Ich keuche auf. Das ist kein Fremder. Das ist … mein Dad.

Dieser Mann, dessen Züge denen meines Vaters ähneln, wenn man alles Blut und jeden Muskel unter der Haut absaugen würde, wenn man das Blau seiner Augen verwässern und aufhellen würde, bis sie verlassenen Vogeltränken im Winter ähneln, wenn man alles wegnähme, was er einmal war, murmelt etwas Unverständliches.

Ich hatte keine Ahnung, dass es ihm so schlecht geht.

Jakes Hände liegen auf Dads Schultern. »Er sagt, dass alles gut ist, Paige. Dass du keine Angst haben sollst.«

Antworte irgendwas. Geh auf ihn zu.

Ich kann mich nicht bewegen. Nicht reden. Ich stehe wie erstarrt auf Moms gelbem Handabdruck, als wäre ich diejenige, deren Körper nicht mehr gehorcht.

»Hi … Daddy«, würge ich schließlich hervor. Ich schaue Jake an und plötzlich ergibt alles Sinn: der Gesichtsausdruck des Verkäufers im Souvenirladen, Jakes Bemerkungen über die Ranch, warum sie wie ausgestorben ist und warum Mom mich unbedingt herschicken wollte. »Deswegen schreibt er nur noch Mails und ruft nie an? Er kann nicht mehr …«

Sprechen.

Ich wusste, dass er krank ist, aber ALS schreitet langsam voran. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, konnte er noch gehen und reden. Seine Hand hat leicht gezittert, das war’s. Und wieso trägt er keine Jeans? Dad hatte bloß ein einziges Mal etwas anderes an als Jeans und das war bei Grandpas Beerdigung. Ich klammere mich an dieses Bild, ringe verzweifelt nach Worten.

Ich spüre Jakes Blick auf mir. Er will nicht, dass ich noch mehr sage. Ich habe schon genug gesagt. Ich wende mich wieder zu meinem Dad. »Danke für deine Mails. Ich bin … Es ist so schön, hier zu sein.«

Mag sein, dass meine Mom recht hat mit allem, was sie über ihn behauptet: dass er ein egoistischer, alkoholkranker Rabenvater und -ehemann ist. Aber jetzt, wo ich hier vor ihm stehe, auf diesem bescheuerten Handabdruck, wird mir eins völlig klar – egal, was er ist oder war, ich bin eine Rabentochter.

»Paige.« Jakes Blick zerrt an mir, als wäre ich ein widerspenstiger Fisch, den er einzuholen versucht. Ich weiche zurück, will die Wahrheit in seinen Augen nicht sehen. Nicht dieses Gespenst anerkennen, das früher mein Dad war, oder die Geister, die mich hergetrieben haben. Ich will verschwinden. Zurück in den Jeep steigen, in irgendein Flugzeug, Hauptsache weg. Aber Jake lässt mich nicht.

Ich folge ihnen ins Wohnzimmer, wo der vertraute riesige Elchkopf namens Freddie über dem Flusskieselkamin hängt. Dicke Balken, stark genug, um jeden Winter tonnenweise Schnee standzuhalten, stützen die gewölbte Decke über der L-förmigen Couch, deren bestickter Bezug längst vergangene Geschichten von amerikanischen Ureinwohnern und einer durch die goldene Prärie stampfenden Büffelherde erzählt. Über der Lehne hängt immer noch die alte erbsengrüne Häkeldecke.

Ich lasse mich verlegen auf den äußersten Rand des Sofapolsters sinken, ganz in der Nähe der Tür. Früher hat es hier nach Staub und Zigarren gerochen, aber die brummende Maschine, die mein Dad neben sich herzieht, verrät mir, dass er nicht mehr raucht. Ein Hauch Erdbeere ersetzt den Zigarrengeruch und keimfreier Zitronenreiniger, mit dem der aus einem Baumstumpf gefertigte Couchtisch bearbeitet wurde, den Staub.

Jake spricht leise und sanft mit meinem Vater, während er ihn neben dem Lehnstuhl vor dem Kamin parkt, ihn aus dem Rollstuhl hebt und auf das abgewetzte Leder setzt, als wäre er ein kleines Kind. Er ist so leicht, dass sich die Muskeln in Jakes Arm nicht einmal wölben. Er muss noch weniger wiegen als ich.

Ich schiebe nervös den Ring an meinem Mittelfinger hoch und runter. Unter dem Silber hebt sich ein modrig grünes Band gegen meine blasse Haut ab. Mom hat mich davor gewarnt, billigen Schmuck zu kaufen, aber ich konnte einfach nicht widerstehen, als ich letztes Jahr mit meinen Freundinnen an der Küste shoppen war. Das scheint eine Ewigkeit her zu sein.

Ich schaue verstohlen zu meinem Dad hinüber, der in den unangezündeten Kamin starrt. Jake kniet neben ihm und hantiert wie selbstverständlich an den Schläuchen und Kabeln herum. Er sagt etwas zu ihm, allerdings zu leise, als dass ich es verstehen könnte. Dann richtet er sich auf. »Kommst du mit in die Küche und hilfst mir beim Tee?«

Ich springe auf, als hätten mich die Sofafedern hochkatapultiert.

Auf halbem Weg durch den schummerigen Flur hält Jake plötzlich an und ich laufe in ihn hinein. Unwillkommene Hitze schießt mir durch die Arme. Jake greift mit einer starken Hand stützend nach meinem Ellbogen und flüstert eindringlich: »Rede mit ihm, Paige. Er hört dich genauso gut wie ich. Sein Körper welkt dahin, aber sein Gehirn funktioniert noch bestens. Er darf nicht denken, dass du Angst vor ihm hast, vor seinem Aussehen.« Er wendet den Blick ab, bevor er hinzufügt: »Angst hat er selbst schon genug.«

Er liebt ihn. Jake liebt meinen Vater, das ist offensichtlich. Wieso kann ich mich nicht an diesen süßen Cowboy erinnern? Als wäre alles Gute in meinem Kopf ausgelöscht worden durch alles Schlechte zu Hause.

Ich kämpfe mit den Tränen. »Tut mir leid. Es ist bloß … ich kenne ihn nicht einmal mehr. Nicht richtig.«

Jake wischt meine Worte weg, als wären sie lächerlich. »Er ist dein Vater. Natürlich kennst du ihn.« Seine Augen geben mir Halt. Warum müssen sie so blau sein? Es kommt mir vor, als könnte er mir direkt in die Seele gucken und wollte die kläglichen Überreste retten.

Ich atme scharf ein. Er steht viel zu dicht neben mir. Der beruhigende Klang seiner Stimme lässt Empfindungen in mir aufwallen, die ich schon lange nicht mehr hatte. Ich fühle mich sicher. Verstanden.

Wieso ist es hier so dunkel?

Er holt tief Luft, als würde ihn meine Nähe ebenfalls nicht kaltlassen. »Hör auf, dich zu entschuldigen, Cowgirl.« Seine Worte sind barsch, aber sein Ton ist freundlich. »Und red dich nicht raus. Nicht mir und auch nicht dir selbst gegenüber. Ausreden funktionieren hier draußen nicht, das weißt du doch. Mach’s einfach besser.«

Das weißt du doch?

Er kennt mich. Von früher.

Plötzlich macht es klick und es fällt mir wieder ein …

An der Flussbiegung wimmelte es vor Kindern. Ein paar planschten am sandigen Ufer, andere ließen Steine über das silbrige Wasser hüpfen. Einige der älteren Jungs warfen Fliegenruten aus, in fließenden Bewegungen, die mich an Ballett erinnerten. Ich kletterte über die Felsen, um ihnen zuzusehen. Einen von ihnen kannte ich. Sein Vater arbeitete auf der Ranch, deswegen half er oft mit, die Heuballen von der Ladefläche des grünen Pick-ups in die Scheune zu tragen.

Sonst bewegte er sich nicht anders als alle Ranchhelfer, doch die Anmut, mit der er die Fliegenrute über die linke Schulter schwang und in Richtung Fluss schnellen ließ, war etwas Besonderes. Ich war zehn Jahre alt und sagte es ihm.

»Ballett?« Er starrte mich an, als hätte ich verlangt, dass er ein rosafarbenes Tutu anzieht und Pirouetten dreht. Dabei hatte ich ihm nur ein Kompliment machen wollen. Jetzt wand ich mich und knibbelte verlegen wie nie an einem verschorften Kratzer herum.

»Es sieht einfach so hübsch aus.«

Er musterte mich prüfend. »Und du bist wirklich eine Mason?«

Ich nickte. »Ich wohne nicht das ganze Jahr hier.«

Seine blauen Augen blitzten neckend. »Was du nicht sagst, Cowgirl.«

Ich ließ mich nicht gerne necken. »Aber das würde ich am liebsten.«

Sein Blick wurde neugierig. »Warum tust du’s dann nicht?«

»Weil meine Mom vor zwei Jahren mit mir weggezogen ist.«

»Wieso?«

Es war mir zu peinlich, ihm all die Gründe zu nennen, die meine Mutter meinem Vater entgegengeschleudert hatte.

Sie soll es mal besser haben als ich, Gus. Ein paar Wochen jeden Sommer mit den Pferden herumzualbern, schadet nicht, aber das hier auf der Ranch ist kein Leben.

»Sie mag die Stadt«, erwiderte ich nur.

Ein Fisch biss an, und anstatt eine Show daraus zu machen wie die Angler in den Filmen, holte er ihn behutsam ein. Es war sogar ein ziemlich großer Fisch, eine Regenbogenforelle. Sie zappelte wie verrückt am Ende der Schnur.

»Das ist eine wilde«, sagte er stolz.

»Woher weißt du das?«

Sie wand sich in seinen Händen, während er es mir erklärte. »Guck, die Färbung ist viel dunkler und schöner, zur besseren Tarnung. Sie imitiert den Granit im Flussbett. Und schau dir mal die Flossen an. Die sehen aus wie Flügel. Gezüchtete Forellen haben nur Stummel, weil sie den ganzen Tag an den Wänden des Zementbeckens entlangschleifen.«

Ich fand, dass das Leben eines Zuchtfischs absolut schrecklich klang, und das sagte ich Jake auch.

Er schien der gleichen Meinung zu sein und fuhr mit seinem Lobgesang auf die einheimischen Fische fort: »Zuchtforellen haben silberne Schuppen, wie Lachse. Siehst du, wie stark der Kerl hier ist? Wie er kämpft, weil er zurück in den Fluss will?«

Ich war verwirrt. »Und warum hältst du ihn dann immer noch fest und guckst zu, wie er nach Atem ringt?«

Jakes Augen funkelten belustigt, als er den Fisch vom Haken befreite, und wie ein Zauberer, der eine Taube in die Luft wirft, schleuderte er ihn in den Snake River. Er verschwand im klaren Wasser.

»Ich seh ihn nicht mehr!«

»Was hab ich dir gesagt? Er tarnt sich sofort.«

»Und was sollen wir jetzt heute Abend über dem Lagerfeuer braten?«

»Steak?«, schlug er vor. »Es ist nicht richtig, Wildforellen zu essen. Die haben es so viel schwerer. Sie müssen durch den Winter kommen, das können die gezüchteten gar nicht … Wundert mich, dass dein Daddy dir das alles nicht beigebracht hat.«

Daddy klang bei ihm wie Dad-ay.

»Warum?«

Er schaute mich an.

Deswegen habe ich ihn im Flur wiedererkannt.

Als der zwölfjährige Jake am Flussufer von seiner Spule und der fast durchsichtigen Schnur aufblickte, versank ich in seinen Augen – genau wie heute.

»Er hat es mir beigebracht.«

4

»Du bist das«, sage ich verblüfft. »Der Junge, der beleidigt war, weil ich seine Angelkünste mit einem Balletttanz verglichen habe.«

»Ich bin immer noch beleidigt«, erwidert Jake grinsend.

Ich erinnere mich an ihn.

»Wow.«

Pause.

»Tut mir leid, dass ich dich nicht erkannt habe.«

»Kein Problem. Ist ’ne Weile her.«

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Ich wollte sehen, ob du von allein draufkommst.«

Ich schüttle den Kopf.

Er lächelt zufrieden. »Und jetzt geh da rein und begrüß deinen Daddy.« Er nickt zum Wohnzimmer hinüber. Bei jedem anderen würde diese Aufforderung herrisch klingen. Bei ihm nicht. Bei ihm klingt sie nett und gibt mir genau den richtigen Schubs.

»Hi, Dad«, sage ich, als ich durch die Tür trete, um es noch einmal zu versuchen.

Ich stelle mich neben seinen Stuhl, unter das Aquarell der Grand Tetons, das meine Großmutter vor vielen Jahren gemalt hat, und achte darauf, dass er mich direkt anschauen kann.

Sein Gehirn funktioniert immer noch bestens. Sein Gehirn funktioniert immer noch bestens. Sein Gehirn funktioniert immer noch bestens.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Bis ich hergekommen bin. Ich … das soll keine Entschuldigung sein, aber ich wusste es nicht. Wie krank du bist, meine ich. Niemand hat es mir gesagt.« Ich tue genau das, was ich nicht tun soll – ich rede mich heraus.

Seine Augen sind feucht. Meine auch.

Tränen rollen mir über die Wangen. Wir können die verlorene Zeit nicht nachholen. Das ist meine Schuld. Ich will weglaufen. Mehr als alles andere. Genau wie in den vergangenen Monaten.

Aber ich bleibe.

Strecke zögernd die Hand aus und lege sie auf seine. Seine Finger flattern wie ein Schmetterling, der auszubrechen versucht.

5

Das Abendessen auf der Ranch war früher immer ein Ereignis. Nicht wie eine Dinnerparty in Kalifornien, bei der es vor allem um das Alter des französischen Weins und die Bekanntheit des Caterers geht, sondern eine Gelegenheit zusammenzusitzen, sich auszuruhen und, was nach einem langen Tag besonders wichtig ist, zu essen. Hier hatte man abends echten, verdienten Hunger, nicht nur Appetit wie in Kalifornien.

»Das liegt an der ganzen frischen Luft. Und an der harten Arbeit«, sagte mein Vater und klopfte mir auf den Rücken, als wäre ich ein Ranchhelfer, wenn er auf die Veranda gestapft kam. Mit den schmutzverkrusteten Händen nahm er seinen Hut ab, legte ihn auf die Hollywoodschaukel und wischte sich den staubigen Schweiß vom wettergegerbten, von der Sonne geröteten Gesicht. Ich pickte einen Heuhalm von seiner Jeans und er wusste genau, was das bedeutete. »Ja, ja, ich wasch mich noch vorm Essen.«

Meine Mom mochte den Geruch von Pferden nicht. Was ein bisschen unpraktisch war, schließlich lebten wir unter Tausenden von ihnen. Dad wusch sich, ich wusch mich und dann teilten wir uns ein Steak. Zart und saftig und perfekt mariniert, mit schwarzen Grillstreifen, die auf der Zunge zergingen, frischen Maiskolben, von denen richtige, aus der Milch unserer eigenen Kühe gemachte Butter tropfte, und warmen, fluffigen, mit Soße vollgesogenen Brötchen, die einfach himmlisch schmeckten.

Jetzt sitzt Dad neben mir am selben abgenutzten Tisch und schlürft püriertes Essen durch einen Strohhalm, während ich nichts herunterbekomme. Jake sitzt mir gegenüber, was mich gleichermaßen nervös macht und verwirrt. Isst er immer mit Dad?

Plötzlich stößt mein Vater einen Laut aus, kaum mehr als ein Stöhnen, und Jake steht auf und rückt den Strohhalm in seinem Mund zurecht. Mein Vater gibt einen weiteren Seufzer von sich und Jake sagt: »Ist mir ein Vergnügen, Chief.«

Dads Lippen verzerren sich zu einem winzigen Lächeln, einem Zucken, das ihn sichtlich anstrengt. Ich stochere in meinem Brathähnchen, dem Kartoffelpüree und den grünen Bohnen herum und nehme nur ein paar kleine Bissen, weil Jake mich mit hochgezogener Augenbraue ansieht.

Anna, die Frau, die meinen Vater pflegt, kommt aus der Küche. Sie trägt eine Taillenschürze über einer engen Bluejeans und ich bin dankbar für die Ablenkung. Der knallrote Nagellack auf ihren Fingernägeln ist stellenweise abgeplatzt, passt aber zu den gestickten Erdbeeren auf der Schürze. Ich beobachte, wie sie die Hand auf Dads Schulter legt, die früher einmal so stark und breit war, dass sie den Rahmen der Haustür streifte. Heute ist sie so knochig und schmal wie der Flügel eines Vögelchens.

»Du hast ja kaum was gegessen! Schmeckt es dir nicht?«

»Doch, doch.« Mir wird bloß schon schlecht, wenn ich nur an Essen denke.

»Wir müssen sie ein bisschen aufpäppeln, was, Gus? Du bist dünn wie ein Wildpferd, Paige.«

Sie stützt die Hände in die ausladenden Hüften und wartet auf eine Antwort. Ich würde mich am liebsten unterm Tisch verkriechen. Zu Hause tun wir einfach so, als würde ich essen. Können wir das hier nicht auch machen?

»Ich finde, sie sieht ganz normal aus«, meint Jake.

Anna grinst spöttisch. »Du weißt ja, was man über Kalifornien sagt.«

»Nein, was denn?«, fragt Jake.

»Da gibt’s nur Nüsse und Pflaumen.«

»Den Spruch habe ich noch nie gehört«, fauche ich. Diese Anna geht mir auf den Keks.

Sie kratzt sich an der Nase. »Vielleicht heißt es auch Nüsse und Früchtchen. Dein alter Herr sagt es auf jeden Fall ständig.« Sie wirft ihm einen Blick zu. »Na ja, jetzt benutzt er seinen Computer für sein dummes Gerede.«

Die Hand meines Dads liegt auf der Tastatur. Er redet.

»Was hat er gesagt?« Ich beuge mich vor.

Wo nichts ist, kann man auch nichts holen.

Anna lacht, ein lautes, echtes Schnauben. »Da ist was Wahres dran, Gus.«

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, tippt er.

Sie lacht erneut.

Damit sie endlich die Klappe hält, stecke ich mir einen Löffel Kartoffelpüree in den Mund und würge ihn mit einem Glas Milch herunter. Ich bin dankbar, dass Jake mich verteidigt hat, obwohl natürlich kein Wort davon stimmt. Diese Anna beobachtet mich zu genau.

Auf einmal fehlt mir meine Mom aufrichtig. Sie tut wenigstens so, als wäre das Nicht-Normale okay, und dreht mich nicht durch die Mangel oder stellt mich bloß. Daran bin ich gewöhnt – an eine Welt voller Geheimnisse und Verleugnung. Hier scheinen sie Dads Krankheit einfach direkt ins Auge zu sehen und sie würdevoll zu akzeptieren, sogar er selbst. So etwas kenne ich nicht und ich winde mich vor Alle-Scheinwerfer-auf-Paige-Unbehagen.

Nachdem ich mein Essen noch ein bisschen auf dem Teller hin und her geschoben und ausreichend Small Talk gemacht habe, entschuldige ich mich und tue, was ich am besten kann: wegrennen.

Frustrierte, wütende Tränen fliehen von meinen Augen in den Wind. Ich hoffe, dass mir niemand folgt. Eigentlich haben Cowboys einen Kodex: Wenn jemand einen Moment für sich braucht, nimmt er ihn sich. Wenn er später darüber reden will, gerne, wenn er schweigen möchte, wird geschwiegen. Zumindest war das früher so. Aber diese Anna schnüffelt viel zu viel herum. Und mein Dad mit seinem Computer und dem Kram, den er Anna erzählt, den Witzen über die Nüsse und Früchtchen in Kalifornien …? Was sollte das überhaupt? Wahrscheinlich ist er immer noch sauer, dass Mom gegangen ist. Er hält mich also für eine Nuss, ein Früchtchen. Ein viel zu dünnes, unterernährtes wahrscheinlich. Weiß er von den Medikamenten? Bestimmt. Ich krame in meiner Tasche und schlucke eine halbe Xanax.

Mit meinem Körper entspannt sich auch mein Geist. Vor mir verweilt die Sonne auf dem Horizont, als wollte sie noch eine Zugabe geben. Ich laufe und laufe durch die Explosion aus Rot und Gold. Ein paar alte Viehtreiber füttern ihre Pferde – der Abschluss eines perfekten Tags in der Wildnis. Die hungrigen Vierbeiner schnauben zufrieden und scharren mit den Hufen Staub in den Himmel, während ich an ihnen vorüberstolpere, vorbei an den vielen Metern Zaun, die nach Reparatur betteln, dornigem Gestrüpp und Kriechtieren, die für die Nacht in ihre Löcher huschen. Irgendwann finde ich mich vor der roten Scheune wieder. Die sollte es tun. Nein, in Wahrheit wollte ich genau hierher.