Mit Dornen und Widerhaken - Thomas Sichelschmied - E-Book

Mit Dornen und Widerhaken E-Book

Thomas Sichelschmied

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Clemens arbeitet als Hilfskraft in einem Zirkus. Er ist ein Niemand, ein Nichts. Eines Tages erhält er die Chance seines Lebens. Sie wird ihm auf einem silbernen Tablett serviert. Einem Tablett mit Dornen und Widerhaken. Manchmal würde er die Zeit gern zurückdrehen. Er mochte nicht unbedingt, was er tat – den Geruch von Blut und dieses Wühlen im Fleisch und all das. Aber seine Entscheidung, wenn es denn je seine gewesen sein sollte, war unumkehrbar. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, auch alternativlos.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

1

2

3

4

5

Über den Autor

Klappentext

Impressum

Thomas

Sichelschmied

Mit Dornen

und Widerhaken

Edition E-Book

1

Draußen regnete es. Dicke Tropfen pladderten gegen die Zeltplanen. Seit Tagen zeigte sich der Himmel tief verhangen – trotz ansonsten hochsommerlicher Temperaturen. Clemens Wagner stand am Rand der Manege, nahe des Eingangstunnels. Unter seinen Schuhsohlen klebte Sand. Es stank penetrant nach Kamelpisse. Er hatte die Hände in den Hosentaschen versenkt und den Kopf leicht vorgebeugt. Obwohl er versuchte möglichst teilnahmslos zu wirken, konnte er den hungrigen Ausdruck in seinen Augen dennoch nicht ganz verbergen.

Über ihm blinkten Leuchtbuchstaben. Willkommen im Circus Cronos! Das große »C« im Circus fehlte. Es hätte eigentlich längst repariert sein sollen, wie so vieles andere auch. Seit Jahren arbeitete er schon in diesem Drecksladen. Er war Mädchen für alles, half bei der Kasse, fütterte die Tiere, bereitete die Nummern vor. Er machte eben das, was anfiel oder worauf andere keine Lust hatten.

Sie gastierten gerade in Hamburg. Für die großen Städte wurden Artistennummern zugebucht. Je exotischer, desto besser. Das schaffte Publikum. Diesmal hatten sie eine Gruppe Vietnamesen von einem Staatszirkus engagiert. Ob die Typen wirklich aus Vietnam stammten oder vom Bosporus interessierte eigentlich keinen. Aber sie machten ihre Sache ordentlich, das musste er zugeben.

An Probetagen wie heute gab es keine Vorstellungen. Durch den vielen Regen triefte der Sand regelrecht. Die Feuchtigkeit zog sich von unten bis in die Manege hinein. Beides, Probetag wie Regen, kamen ihm außerordentlich entgegen.

Es war nicht ungefährlich, was er vorhatte. Sollte es schlecht laufen – und das gehörte durchaus zu den Eventualitäten –, sah er die nächsten Jahrzehnte von einer Gefängniszelle aus. Keine wirklich schöne Vorstellung. Aber um die Sache abzublasen, war es ein bisschen spät. Dafür hatte er schon zu viele Tatsachen geschaffen. Er musste schief grinsen, einige ziemlich blutige sogar.

Die Dompteure mit den Kamelen waren endlich fertig und dabei rauszugehen. Die Viecher rochen lebend schon nicht angenehm. Tot stanken sie noch furchtbarer – er konnte das beurteilen. Die angeblichen Vietnamesen kamen bei den Proben immer als Letzte dran und machten sich gerade warm. Außer ihnen befanden sich nur noch er und Luka in der Manege. Luka war Beleuchter und Schwiegersohn des Direktors und ein widerliches Arschloch obendrein.

Für ihre Nummer benötigten die Artisten jede Menge Tische und Stühle. Sie jonglierten darauf und bildeten lebende Pyramiden. Seine Aufgabe bestand darin, ihnen im richtigen Moment entsprechendes Mobiliar anzureichen. Einer von den Typen gab ihm Zeichen. Alles musste schnell und exakt vonstattengehen. Einmal hatte er es verbockt und einen dicken Anschiss von Luka kassiert. Die unteren Tische besaßen im Übrigen eine Metallverstärkung. Etwas, das er in Eigenregie übernommen hatte.

Die Pyramide wuchs. Sie begannen sich Teller, Tassen und anderes Zeugs zuzuwerfen. Das Ganze wirkte zwar ungemein professionell, war aber absolut stinklangweilig. Er verstand nicht, wie Menschen sowas zu einem Lebensinhalt erheben konnten. Aber das monierte gerade der richtige.

Unauffällig sah er zu Luka. Sie standen nicht weit voneinander entfernt. Zur Nummer gehörte auch ein Stroboskopeffekt, der die Höhepunkte in ein besonderes Flackerlicht hüllte. Luka hockte hinter seiner Mischpultanlage und konnte es jederzeit zuschalten. Eigentlich hätte er es schon mal anmachen können, aber heute ließ er sich Zeit damit. Der Lichteffekt spielte für die Probe auch kaum eine Rolle. Für sein Vorhaben schon.

Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Die Menge würde gigantisch sein. Vielleicht sogar für Wochen reichen, gestreckt auch noch länger. Wobei er sich wenigstens ab und an ein bisschen reine Essenz gönnen wollte – für den besonderen Kick sozusagen.

Seine Hände zitterten. War es nur der Aufregung geschuldet oder schon nachlassende Wirkung? Letzteres eher nicht. Er hatte ja erst vor einer guten Stunde eine Spende bekommen. Er sah zu Luka. Wie er wohl reagieren würde, wenn er wüsste, wer so freundlich gewesen war?

Luka ignorierte ihn wie immer. Dann stand er auf und ging ein paar Meter zurück in den Mitteltunnel. Dort drehte er sich umständlich eine Zigarette und zündete sie an. Wie es roch, enthielt das Zeug mehr Gras als Tabak.

Er musste sich in Gelassenheit üben, Luka war ein wichtiger Faktor. Gut, im Notfall ginge es auch ohne ihn, aber es würde die Sache unnötig verkomplizieren. Mit dem Fuß schabte er kleine Kreise in den Sand und verwischte sie gleich wieder. Er spürte den Schweiß an seiner Stirn entlanglaufen. Selbst Minuten dehnten sich gerade zu Ewigkeiten. Früher gehörte Geduld immer zu seinen Tugenden. Jetzt irgendwie nicht mehr. Vieles hatte sich geändert.

Noch vor einem halben Jahr wäre das, was er heute vorhatte, vollkommen undenkbar gewesen. Er stutzte. Lagen wirklich erst sechs Monate dazwischen? Nein, sogar etwas weniger – gerade mal fünfeinhalb. Er erinnerte sich noch gut an diesen Abend Anfang Februar. Es war in Sandrines Wagen gewesen. Er und ein paar andere trafen sich oft bei ihr. Sie tranken, redeten und vögelten sie dann manchmal auch noch ein wenig.

Sandrine arbeitete als Wahrsagerin und verdiente sich mit Gefälligkeiten das eine oder andere dazu. Sie war aus dem passenden Alter schon ein paar Jahre heraus. Das machte aber nichts, es ging trotzdem. An diesem Abend hatte sie Pillen rumgereicht. Woher sie stammten, wusste sie nicht mehr. Oftmals bekam sie von ihren Freiern nur Bezahlung in natura. Sie konnte es sich halt nicht mehr aussuchen.

Sie alle schluckten die Dinger, aber nur bei ihm zeigten sie Wirkung. Während Sandrine und ihre Freunde nur blöde glotzend dasaßen, erbrach er von Krämpfen geschüttelt, so ziemlich alles, was er an diesem und an den vorherigen Tagen zu sich genommen hatte. Gleichzeitig prallten in seinem Inneren längst vergessene Empfindungen mit Macht aufeinander, nur um im selben Moment, einer kafkaesken Welle gleich, sich bis in die entlegensten Winkel seines Ichs zu ergießen und weit darüber hinaus.

So jedenfalls kam es ihm damals vor. Als er wieder halbwegs er selbst war, war die Welt zu einer anderen geworden. Oder vielmehr sein Blick darauf. Wie dürre Äste im Nebel trieben vor seinem geistigen Auge fremde Gedanken. Er konnte sie sehen, anfassen, sie bewegen und auch manipulieren – ein Stück weit zumindest. Letztlich standen sie alle nackt vor Sandrine und besorgten es ihr bis in den frühen Morgen. Es war schon eine verrückte Nacht gewesen.

Sandrine trat ihm dann den Rest für einen kleinen Kurs ab, bei ihr wirkten die Pillen ja nicht. Zuerst nahm er sie nur unregelmäßig, dann jeden Tag. Es reichte manchmal ein Blick, um den nötigen Respekt einzufordern. Das galt auch für Luka und seine dreckigen Freunde, die ihm seit Jahren schon zusetzten.

Aber irgendwann – und dieses Irgendwann war leider abzusehen und viel zu rasch eingetreten – war sein Vorrat dann verbraucht. Natürlich hatte er Sandrine gefragt, sie bestürmt, sie angebettelt. Aber die beschissene alte Alkoholikerin wusste wirklich nicht mehr, von welchem Freier sie die Dinger einst bekommen hatte.

Danach brachen schlimme Zeiten für ihn an. Er spürte zwar keine Abhängigkeitssymptome im eigentlichen Sinn, aber er merkte, wie er innerlich zusammenschrumpfte. Und sehr bald schon war er für Luka und seine Kumpanen wieder der dumme August von früher. Am liebsten hätte er sich einfach umgebracht. Mehrfach versucht hatte er es jedenfalls.

Aber das Schicksal plante anderes mit ihm. Es gewährte ihm, quasi auf einem silbernen Tablett, eine weitere Chance – eine Chance mit Dornen und Widerhaken. In dieser Nacht vor vielleicht drei Monaten sah er das orangene Glimmen zum ersten Mal.

Es zeichnete sich nur als schwacher Schemen ab und war vom Untergrund kaum zu unterscheiden. Es entsprang einem schmalen Strich längs der Wirbelsäule. Er beobachtete es anfangs nur bei Kamelen, dann bei allen möglichen Tieren. Bei Menschen sah er es nicht. Korrekter: zuerst nicht.

Anfangs hatte er mit den seltsamen Streifen nichts anfangen können. Sie für Halluzinationen gehalten oder Nachwirkungen des Entzugs. Zumal niemand außer ihm sie wahrnahm. Wobei, zu dem Glimmen hingezogen, fühlte er sich auch da schon.

Dann passierte die Sache mit dem Pferd; der eigentliche Auslöser des Ganzen. Und damit einhergehend lernte er auch die Dornen und Widerhaken kennen, um in dem bildlichen Vergleich zu bleiben. Er hatte Pferde noch nie gemocht. Und ihren Mist am allerwenigsten. Das wussten Luka und seine Kumpels genau und ließen immer ihn die mobilen Ställe ausmisten.

Eines der Scheißviecher trat an diesem Tag nach ihm. Das kam vor, Pferde mochten ihn genauso wenig wie er sie. Dass er mit der Mistforke zuschlug, geschah mehr aus Reflex, als aus böser Absicht. Eigentlich hätte der blöde Gaul nicht tot sein dürfen. Trotzdem lag er stocktot vor ihm, mit Schaum vor dem Maul.

Auch dieses Tier glomm von innen her. Komischerweise verblasste der orangene Ton nicht – wie eigentlich anzunehmen –, sondern trat noch deutlicher hervor. Ein pulsierender Strom heißer Lava, der direkt vor seinen Augen und in grausamer Langsamkeit an ihm vorbeizog.

Ohne weiter nachzudenken, hatte er sich auf die Knie fallen lassen und in den Rücken gebissen. Einfach so, es war eine rein instinktive Handlung gewesen. Es ging ihm nicht um das Blut, was er wollte, befand sich direkt in der Wirbelsäule. Das flüssige Rückenmark, wie er später herausbekam.

Für das Aufbrechen der Knorpel und Heraussaugen der Flüssigkeit hatte er ewig gebraucht und zwei Zähne dabei eingebüßt. Pferdehaut ist extrem widerstandsfähig. Auch darüber hatte er sich vorher nie Gedanken gemacht – weshalb auch.

Danach stellte sich wieder dieses Gefühl von Weite ein. Vergleichbar mit der Wirkung von Sandrines Tabletten, aber nur im Ansatz. Das Rückenmark wirkte hundertfach intensiver. Er fand auch jetzt keine plausible Erklärung dafür. Wahrscheinlich befanden sich die Pillen noch immer in seinem Blutkreislauf. Zwar inaktiv, aber vorhanden. Und mit dem Wirbelsäulensekret füllte er das Depot wieder auf. So in der Art jedenfalls. Wobei es ihm letztlich auch vollkommen gleich war. Das Sekret verhalf ihm zu einem Zustand, den er nicht mehr missen wollte oder konnte.

Es gab zwar mächtig Ärger wegen des toten Pferdes, aber Ärger gehörte für ihn zum Alltag. In der Folgezeit dezimierte sich die Zahl einiger der Tiere im Zirkus deutlich. Viele gerieten deswegen in Verdacht, er befand sich nie darunter. Er hatte schnell gelernt, umsichtig zu handeln.

Und dann – an einem sonnigen Montag im Mai, wenn er es recht erinnerte – entdeckte er das Glimmen auch bei einem Menschen. Zuerst nur schwach, später sogar durch die Kleidung hindurch. Ein sanftes Funkeln unter der Haut, eine Verlockung, ein Rufen. Und es trat – anders als bei Tieren – bald in jedem auf. Im Grunde war die sich daraus ergebene Konsequenz nur eine Frage der Zeit gewesen. Diesem Sog hatte er nichts entgegen zu setzen.

Zuerst bekam es Sandrine zu spüren. Sie fiel vom Dach ihres Wagens und spießte sich dabei auf. Ein schreckliches Blutbad und ein herber Verlust, wie alle fanden. Er natürlich auch. Ihr Rückenmark schmeckte herrlich. Kein Vergleich mit dem von Pferden oder Kleingetier.

Dann traf es Ali, den alten Kameltreiber. Das war er im wörtlichen Sinne. Eines seiner Kamele trampelte ihn nieder. Es wie einen Unfall aussehen zu lassen, gehörte zu seinen besseren Leistungen. Vor allem, weil sich das Viech standhaft weigerte, über die zerrupfte Leiche zu stapfen. Aber letztlich kam es doch einigermaßen natürlich rüber.

Nach Ali ging er dazu über, die Flüssigkeit nicht mehr herauszusaugen. Er trennte den Rücken auf und entfernte das wässrige Mark mit mehreren Pipetten. Damit kam er weitaus länger über die Runden. Gekühlt und mit Ethanol oder Isopropanol gestreckt, ließen sich die Zeiten sogar noch einmal verdoppeln.

Zwar gehörte es im Zirkusgewerbe zur Normalität, dass mal der eine oder andere verschwand oder sich kurzfristig etwas Neues suchte, aber er hatte es übertrieben. Gerade von Lukas Freunden fehlten ungewöhnlich viele oder hatten Unfälle in Tierkäfigen gehabt. Mehr als einmal schon war die Polizei aufgetaucht und hatte Fragen gestellt. Wobei sie sich nicht sonderlich für Todes- oder Vermisstenfälle im Schaustellermilieu interessierte.

Auch wenn er in letzter Zeit vermehrt außerhalb des Cronos aktiv gewesen war, über kurz oder lang musste er auffallen. Das war ihm durchaus bewusst. Von daher fand er seinen Entschluss, sich nach der heutigen Aktion grundsätzlich neu zu orientieren, auch nur logisch. Vielleicht unternahm er eine längere Reise oder verließ ganz das Land. Er wollte es spontan entscheiden.

Der Direktor Angelo Franzesko hatte ihm dankenswerterweise Lohn vorgestreckt. Eine überaus großzügige Geste, wie er fand. Mit Messern in einem drin wurde vermutlich jeder großzügig. Franzesko, wenn er den Namen schon hörte … Es klang italienisch. Sollte es auch. In Wirklichkeit hieß der Kerl Cienniosko und war Rumäne oder Bulgare.

Er schaute zu den Vietnamesen. Manchmal würde er die Zeit gern zurückdrehen. Er mochte nicht unbedingt, was er tat – den Geruch von Blut und dieses Wühlen im Fleisch und all das. Aber seine Entscheidung, wenn es denn je seine gewesen war, war unumkehrbar.

---ENDE DER LESEPROBE---