Mit einer Göttin unterwegs - Esra Barg - E-Book

Mit einer Göttin unterwegs E-Book

Esra Barg

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Beschreibung

Eine junge schöne Göttin ist nach langem Schlaf erwacht. Mit ihr rollt ein Stein in die Welt, der glücklich macht, sobald man ihn berührt. Der Stein ist glatt, schwarz und rund und sieht so aus, wie andere Steine. Die Göttin greift ins Leben mehrerer Leute ein und bemüht sich, ihre Wünsche zu erfüllen. Zu ihr gehört eine Schlange, die nicht mit Ratschlägen spart. Trotzdem klappt nicht alles. Die Göttin möchte die menschliche Liebe mit einem Mann erleben. Wird ihr Wunsch erfüllt?

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Seitenzahl: 289

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INHALTSVERZEICHNIS

Eine Steinwüste

Da ist nichts

Das Wadi

Der Scheich

Der Fürst

Der Wagen des Händlers

Eine Göttin, wieviel Magie und Zauberei

Ein Handwerker hatte den Stein

Männer, die andächtig die Shisha rauchen

Der frühe Morgen

Du schau mal

Als die Göttin nach einem langen Flug

Es gibt einen großen Raum

Das Licht im Projektor

Am anderen Ende der Straße

Aus ihrem Körper

Champs - Élysées

Als sie aufwacht

Am nächsten Morgen schlurft

Was wie ein Zufall wirkte

Mehr oder weniger sofort

Die Malerin hatte tief geschlafen

Mit nüchterneren Augen

Im Jahr zuvor

Manchmal sitzt die Göttin

Im Brunnen

Nachdem

Sie machen einen Ausflug

Das Feuer der Göttin

Als er am nächsten Tag

Die Göttin schließt leise

Am nächsten Morgen

Der Theaterabend

Sie verschlafen

Hast du eine andere Idee

Heute Abend gibt‘s einen Kunstparcour!

Kurze Zeit später

Es gibt Kunstgattungen

Welche Räume der Begegnung

Im Freibad

Die Schlange

Sie haben sich

Es ist fast Winter

Die Göttin will jetzt

Sie läuft durch die nächtliche Stadt

Der Stein liegt

Wochen vergingen

Ein Versteckspiel

Was führte dazu

Der Abend der Lesung

Jetzzzsssttt

Der Stein liegt nun

Die Wasser fließen

Die Göttin hatte

In Gegenwart des Steins ist es möglich

Stolperstein

In der darauf folgenden Zeit

Was von außen

Neben dem Lenkrad des Kapitäns

Was wird aus dem Rest

Jetzt sitzt die Göttin

Der Geist der Göttin

Nachts im Park

Es ist vollkommen dunkel

Ein Rasenmäher

Nachdem er eine Stunde lang

Schöner Dichter

Himmlische Tänzerin

Der Junge war erst im Kino,

Wochen später ist der Junge

Es dauert ein halbes Jahr

Statt auf dem Spielplatz

Im Krankenhaus

Es ist Nacht

Ein Junge wartet im Garten

Wie es so ist, wenn Leute es eilig haben

Der Stein wandert von Hand zu Hand

Die Göttin

Liebeszauber

Die Göttin ging nicht mehr

Eine Schlange erscheint Menschen

Die Göttin träumt

Etwas hat die Schlange

Die Schlange hatte gehofft

Der Dichter und die Göttin

Im Urlaub

Glücklich wirft er sich in die Fluten

Ein Buch nach dem anderen

Der Anblick ihres Tempels

Auch der Göttin ist inzwischen klar

Da die Göttin nicht weiß

1

Eine Steinwüste

voller spitzer Steine wälzt sich endlos bis zum Horizont. Es könnte das Geröllfeld eines großen Bergrutschs sein. Das nächste Gebirge ist sichtbar, aber weit entfernt. Es ist sehr trocken und heiß. Ein klarer, blauer Himmel dröhnt als ununterbrochene Ewigkeit über einer platten, wüstenhaften Ebene voller Steine. In dem unwegsamen Gelände ist ein Brocken größer als alle anderen. Darauf sitzt eine Gestalt. Sie hockt in sich gekauert und wirkt verlassen. Neben ihr liegt eine Handtasche. Was sucht sie an diesem Ort? Es scheint keinen Weg zu geben. Sie hört etwas. Um genauer wahrzunehmen, was sie da hört, krümmt sie sich zusammen und bildet mit ihrem Körper einen Schalltrichter.

Ganz entfernt ist da ein Knacken. Oben im Gebirge stöhnt es.

Die alten Felsen ächzen. Dann kracht es. Etwas schwankt und knirscht. Es staubt. Ein Abhang ist abgerutscht und viel Geröll hat sich ein paar Täler nach unten verschoben. Ein kleiner Stein hat genug Drall bekommen, um hüpfend den Weg vom Gipfel des Gebirges nach unten zu springen. Er bleibt in einem Tal im Flussbett liegen. Die nächste Regenflut schwemmt ihn ganz nach unten Richtung der steinigen Ebene. Da das Gewitter sehr stark ist, spült es ihn nicht nur hinab wie viele andere Steine, sondern treidelt ihn in einer besonders heftigen, schlammigen Welle bis zu einer Oase, die alle hundert Jahre mal geflutet wird. Dort liegt er nun unter Palmen in einem kleinen Tümpel, dessen Wasser jetzt klar ist. Der Staub ist wie Sand zu Boden gesunken. Seine schwarzgrün schimmernde, runde Oberfläche hebt sich ab vom Rest des helleren Bodens.

Neben ihm schwimmen Fischlein und Blumen spiegeln sich auf der Wasseroberfläche. Wenn die Sonne scheint, glänzt er schön am Grund des Tümpels. Grüne Blätter und leichter Wind in den Zweigen verändern Lichtfrequenzen, die seine schwarze Farbe immer wieder anders erscheinen lassen. Er liegt nur einen Meter unter der Wasseroberfläche und er liegt lange dort. Viel zu lange für ihn, weil sein Zeitempfinden einen Sprung bekommen hat. Hat er so etwas überhaupt? Hatte er so etwas jemals zuvor? Sein Schlummer im Gebirge hat ewig gedauert, würden wir sagen, denn Schlaf kennt keine Zeit.

Als er losgerollt war, wurde sein Bewusstsein ganz plötzlich wach, als ob ein Lichtschalter angetippt worden wäre. Jetzt weiß er, wo er sich befindet. Der Stein sieht nicht wie wir mit Augen, sondern 360 Grad Panoramablick, in alle Richtungen.

Vielleicht sieht er eher wie ein Walfisch mit Schallwellen. Es gefällt ihm, was er sieht. Alles ändert sich und ist nicht so gleichförmig wie vorher. Nachts fluten mit den Schatten tiefblaue Duftwellen unter dem Sternenhimmel hervor. Von Weitem hört er Musik, die wehmütigen, sich kaskadenartig wiederholenden Klänge arabischer Nächte und er verliert sich in ihnen. Wenn es Tag wird, glänzt die Sonne auf seiner Oberseite und er fühlt den leicht gekräuselten Wasserspiegel über sich, bis ein ungewohntes Geräusch in seine Nähe kommt.

Es plätschert nicht mehr, sondern spritzt und schäumt wie die Wellen, die ihn mitgerissen hatten. Auf dem Sandboden neben ihm tappen Füße. Kichern untermalt die Geräusche schwimmender Mädchen. Da sind glucksendes Lachen und aufspritzendes Wasser. Auf ihm landet ein weicher Fuß. Das fühlt sich angenehm an! denkt er. Ein weicher Stein. Das würde ich gerne noch einmal erleben! Ein anderer Fuß landet auf ihm. Oben, über der Wasseroberfläche, werfen sich Mädchen einen Ball zu. Sie tauchen, eine Hand greift nach ihm. Er wird aus dem Wasser gehoben, fast wäre er geworfen worden, aber die Hand sinkt runter und lässt ihn wieder fallen. Dann sieht er ein Gesicht auf sich zu schwimmen. Ein Mädchen nimmt ihn mit beiden Händen. Er wird ans Ufer gerollt. Dort betrachten ihn mehrere Augen neugierig. „Ist der schön!“

„So einen hab ich hier noch nie gesehen!“

„Er ist ganz rund!“

„Ich kann mich drin spiegeln!“ sagt ein Mädchen und schiebt ihre Haare neugierig hinters Ohr. Sie tragen ihn ins Haus und legen ihn neben eine Duftlampe. Die fünf Mädchen sind die Töchter eines Scheichs, die im Wadi in einer Sommerresidenz mit Garten wohnen.

2

Da ist nichts!

Die Göttin schaut sich in der trockenen Steinwüste um. Hier gibt es wirklich kein Wasser. Es scheint ein Gelände zu sein, in dem alle Gedanken still stehen und erstarrt sind. Kann die kleine Gestalt in so einer Wüste denken? Sie lauscht. Das Gelände wirkt so, als ob alle sinnlosen Gedanken, die Menschen jemals gedacht haben, ohne zu einer Lösung zu kommen, dort abgelagert wurden. Eine Endlagerstätte aller Bemühungen, die in den steinigen Boden als Erinnerungen gesickert sind und dort jahrtausendelang durch Sonne und Wind kleingekocht, zersiebt, zerbröselt wurden, bis sie als feiner Sand in die Wüste geweht und durch die Gebete der Wüstensöhne auf ihren Reisen mit heilenden Schwingungen aufgeladen wurden.

Die Gedichte und Poesie der Söhne der Wüste, die den Nachthimmel besingen und am Lagerfeuer Geschichten erzählen, für die man wirklich tausend und eine Nacht braucht, heilen das Nüchterne und den Nützlichkeitswahn, dem das Bewusstsein mehrere tausend Jahre lang verfallen war. Wie hatten sie sich gegenseitig mit der Idee von Effizienz, Wachstum und gold glänzendem Gewinn gequält! Dann war ihre Gehirnleistung verdorrt und als ausgemergelter Abfall starben sie ohne einen Funken Hoffnung oder Poesie. Wohin sollten ihre ausgedörrten Seelen reisen? Sie glaubten ja nicht an ein Leben nach dem Tod. So trafen sie sich in dieser Landschaft, die aussah wie das, was sie fühlten. Es war ein auswegloses Gelände. Hier konnte niemand denken und niemandem fiel mehr etwas ein. Das beruhigte die Geister seltsamerweise. Sie schmiegten sich aneinander, das Nichtdenken lagerte sich in Schichten ab und sickerte in die Steine und Erden ein.

Das hatte auch was.

Aber was sucht eine kleine, leicht bekleidete Frau in dieser Wüste? Sie lauscht immer noch und spitzt die Ohren.

Etwas klackt und knallt, trappelt und hoppelt heran. Sie schaut hoch. Die Geräusche kommen näher. Ein Ziegenbock springt von Stein zu Stein auf sie zu. Es scheint ein alter großer Bock zu sein. Sein Fell liegt wie ein Mantel um den Körper. Dieser Mantel schwankt mit jedem Hüpfer, den er macht, und wellt sich. Ist ihm nicht heiß? fragt sie sich. Unter so viel Fell mitten in der Wüste zu sein! Seine Beinchen darunter sind schwarz, dünn und enden in kleinen lackierten Hufen. Er findet noch auf den schärfsten Spitzen Halt. Sie hört ein leises Meckern und schon steht er vor ihr, mächtig aufragend und freundlich grinsend. Ihn umgibt ein uralter Geruch nach Schweiß und Wärme und dem Dampf von Ställen. Sie rappelt sich hoch und steigt auf. Der Ziegenbock fliegt springend von Stein zu Stein. Es geht über Stunden hoch und runter, bis das Geschaukel etwas weniger wird. Sie riecht Lilienduft und grünes Gras. Der Bock schüttelt sie ab. So landet sie auf einer weichen Wiese. Neben ihr fließt ein Bach, über ihr lassen Dattelpalmen ihre Früchte im Wind wehen. Sie hört leises Gelächter von Weitem, aber sehen kann sie nichts, weil ihre Augen vor Erschöpfung zugefallen sind. Sie schläft im Schatten eines Baumes ein. Ihre Handtasche liegt neben ihr.

3

Das Wadi

Die kleine Frau wacht in einem Garten mitten in der Wüste auf und hört Lachen. Sie kriecht hinter überdimensionale Blätter, greift nach ihrer Handtasche und zieht sie hinterher.

Ein Blatt ist halb so groß wie sie. Es ist nicht schwer, sich hinter solchen Blättern zu verstecken. Durch die Löcher einer riesigen Monstera schaut sie auf Mädchen, die im Wasser spielen. Erst eine halbe Stunde nachdem die Mädchen verschwunden sind, wird es dunkel. Dann traut sie sich hervor.

Sie richtet sich auf und schaut in ihre Tasche. Ein heller Lichtkegel leuchtet nach oben, als sie geöffnet wird. Sie betrachtet sich in einem beleuchteten Spiegel. Dann schminkt sie sich in Ruhe, zieht einen seidenen, dunkelblauen Hijab hervor, macht ein Selfie und versenkt das Handy in den Tiefen ihrer Tasche. Nun wirken ihre Augen dunkel wie die Nacht und ihr Teint ist von dem der Mädchen kaum zu unterscheiden.

Sie läuft schnell und bestimmt in Richtung des großen Hauses den Weg entlang, den sie genommen hatten. Kurz vor den Mauern überlegt sie es sich noch einmal und biegt in Richtung einer kleinen Hütte ab, vor der drei Männer an einem Holzfeuer ihr Abendessen kochen. Sie verneigt sich vor ihnen und setzt sich ohne ein Wort ans Feuer. Ihr wird Essen gebracht und Tee gereicht. Als es tiefe Nacht geworden ist, zeigt einer der Männer ihr eine Ecke des Hauses, in die sie sich rollt. Kaum hat sie die Augen geschlossen, bemerkt sie, wie gierige Hände nach ihrem Körper unter der Decke greifen. Es zischt wie eine Schlange und die Hände lassen erschrocken von ihr ab. Eine große Kobra liegt neben ihr. So schläft sie bis zum Morgen.

Obwohl die Kobra verschwunden ist, wird sie in den nächsten Tagen von Männern in Ruhe gelassen. Sie setzt sich zu ihnen ans Feuer und hört ihnen zu. An einem der folgenden Nachmittage bekommt sie einen kleinen, edel verzierten Brief mit einer Einladung zum Abendessen beim Scheich und seinen Töchtern.

4

Der Scheich

Die Wüste breitet ihre feinen Düfte nach Sonne und heißem Wind über der Oase aus. Die Luft ist klar, obwohl Sandwinde hier und da einige Stäubchen durch die Atmosphäre wirbeln.

Ein Kamel schreit. Ihre Töne klingen immer empört, wundert sich die junge Frau in blauer Ummantelung, als sie den Weg auf das große Gartentor zum Palast entlang schreitet. Sie zeigt die Karte, Diener verneigen sich und öffnen ihr Tür um Tür, bis sie im Dunkeln in einem Raum ankommt, auf dessen Fußboden seidene Kissen liegen. Es duftet ungewöhnlich aus in Nischen stehenden Metallgefäßen voller Muster. Niemand ist zu sehen und so setzt sie sich und studiert die Verzierungen der Wände und Säulen. Dann werden Fensterläden aufgeklappt und Licht dringt in den dunklen Raum. Während unsichtbare Hände die hölzernen Bedeckungen vor den Fenstern wegschieben, eröffnet sich ihr, dass jedes Muster eine Art Schrift darstellt und sie liest, was die Handwerker innerhalb der letzten Jahrhunderte in diesem Raum für Botschaften hinterlassen haben. Das Muster im Fensterrahmen ist ein Liebesgedicht. Auch die Wände beginnen zu sprechen. Es erscheint ihr so, als ob das ganze Haus mit ihr reden würde. „Endlich!“

„Wurde ja auch Zeit, dass du mal vorbei kommst!“

„Unser Patio ist schon lange nicht mehr gestrichen worden.“

Sie hört eine männliche Stimme: „Meine Liebe! Willkommen!“

Ein stattlicher Typ läuft ihr aus einem Seitengang entgegen.

Sie steht auf und verneigt sich. Er klatscht in die Hände und Diener tragen Speisen auf. Sie muss kein einziges Wort sagen.

Er scheint ihr alle Wünsche von den Augen abzulesen und ist wirklich erfreut, sie hier zu sehen.

„Ich begrüße dich in meinem Palast! Meine Töchter sind so stolz, dir vorzuführen, was sie schon gelernt haben!“

Er klatscht noch einmal und zarte Mädchen tanzen vor ihren Augen ein himmlisches Ballett, während ihre Tücher im Gegenlicht wehen. Ihr wird schwindlig und sie sinkt auf die Kissen. Der Scheich klascht ein drittes mal und Diener greifen nach vorher unsichtbaren Tragegürteln unter ihren Kissen und heben sie auf. Sie fühlt sich krank und erwacht in einem anderen Zimmer. Dort liegt die Kobra neben ihrem Bett und zischt empört: „Hab ich dir soch gesasgt! Sei vorssichtig! Mit was für Krreaturren du dich umgibst! Hast du nicht gerochen, wass sie dir eingeflössst haben? Wiessso vertrausst du ihnen einfach?“

„Sie wirkten nicht hinterhältig!“ denkt die kleine Göttin der Schlange zu.

„Natürrrlich nicht meine Liebe! Niemand von ihnen issst hinterhälltig. Sssie wohnen doch in einem Palassst! Es issst ihre Welllt, die hinterhälltig ist. Es gibt Mauern hier. Und in einige Zimmer dürfen nur die einen und in andere nur die anderennn. Hasst du einen Betttler gesehnn, der hierr rein darf? Vrsrrsuch mal als Frrau in Männergemächern ein und aussssszugehen. Du wirrrst nicht weit kommmen!“

Die kleine Göttin sieht erschrocken auf, als die Tür aufgeschoben wird und ein fröhlich lächelnder Scheich eintritt. Unter seinem Arm trägt er ein Gerät, das No women no cry in ihre kleine Kammer plärrt. Die Kamele draußen versuchen sich im Refrain.

Er bedeutet ihr, zu folgen und geleitet sie in einen sehr großen Raum, in dem achtzig Scheichs sitzen, die alle dieses Lied singen und dazu tanzen. Außer ihr ist keine Frau im Raum.

Als das Lied ausgecryt hat, drückt der Chef replay und nun treten aus den Seitennischen arabische Ladies, die züchtig animierend hinter den Männern zur Discomusik tanzen.

Hinter jedem Scheich stehen einige von ihnen. Dieses Ballett höriger Frauen und ihren Machismo genießender Männer verwirrt die kleine Göttin. Sie sinkt auf eines der Kissen und fällt in Ohnmacht. Sie hatte geglaubt, er mag sie!

Als sie am nächsten Morgen aufwacht, sucht sie ihre Handtasche und will leise aus dem Palast verschwinden, aber keine Tür öffnet sich. Sie legt sich auf ihr Bett zurück und überlegt.

„Na, begrifffen, was hier los ist?“ will die Schlange wissen.

„Ja! Hast Recht gehabt!“ Der Gedanke der Göttin wandert, ohne Schallwellen zu hinterlassen, direkt ins glasklare Bewusstsein der Schlange. Die zischelt befriedigt und schmiegt sich an sie.

„Und, willssst du ihn trotzsssdem ausprobieren?“

„Eher nicht! Vielen Dank!“ Die Göttin versinkt in schweren erotischen Träumen. Später träumt sie von Himmeln über und unter ihr. Die zarten Wolken eines Himmelsfeldes lassen sie leicht schweben über einer Landschaft, die aus Sandwellen besteht, wie das Wasser unter der Meeresoberfläche. Die Strukturen des Himmels und des Sandes, Wasser und die weichen Tücher der Tänzerinnen verschwimmen in ihrer Wahrnehmung.

Sie träumt Begegnung von Haut, während sich leicht kräuselnde Wellen des Gefühls bilden. Was will sie von dem Scheich?

Die Schlange ist empört. „Hast du nichtsss Besseseres zzzztun, als hier abzzzuhängen? Du wirsssst gebrauchtt!“

„Aber ich hab doch schon Äonen von einem wunderbaren arabischen Mann geträumt der mich mit seinen sanften, nach Milch riechenden Fingern verführt! Wenn ich schon mal da bin, dann werd ich ihn auch finden!“ denkt die Göttin ihrer Schlange zu.

„Wo vermutesssst du ihn denn, meine Liebe?! In einer Nische hier im Palasssst? Wennss ein Ssssklave sein soll, bekommssst du Ärger mit dem Chef! Das weisssts du offentlich!“

Etwas wussste die Schlange nicht und die kleine Göttin hatte auch keine Ahnung davon. Nicht weit von der Sommerresidenz des Scheichs hatte ein Fürst sein Lager aufgeschlagen. Er war so schön wie die kleine Göttin jung war. Aber was tat er da?

Sein Lager bestand aus Zelten, die aus edelsten Materialien gefertigt waren. Pelze lagen auf seinem Bett. Er war mit seidigen Gewändern bekleidet, der Fußboden mit Perserteppichen bedeckt. Als Fürst aß er von Silber und trank aus goldenen Gefäßen. Jeden Tag ließ er einen in Geistesdingen bewanderten Mann aus näherer oder ferner Umgebung vor und hörte sich die Weisheitslehren der Welt an. Aber sie gefielen ihm nicht.

Am Morgen winkte er kurz und den alten Geschichtenerzählern der Wüste wurde ein Essen für die Heimreise serviert. Sein Interesse erlosch schnell. Trotzdem feierte er seine kleinen Treffen mit den Wissenden der Welt in schönster Untermalung.

Da er nicht nur schön, sondern auch intelligent war, landeten in seinem Zelt Philosophen des Westens, chinesische Dao Meister und Agnostiker, manchmal auch ein Atheist. Den ließ er sich gesondert vorführen und fragte geduldig nach seinen Vorlieben dem Abendmahl gegenüber. Da er mit dem Christentum nicht sehr vertraut war und Atheisten für eine Sekte hielt, die dem christlichen Glauben zwar abgeschworen hatten, aber noch die alten Rituale liebten, ließ er Oblaten backen und roten Wein kommen. Es erstaunte ihn, wenn die Weisen des Neuen Reiches kein bisschen angetan von seinen Frauen und den Oblaten danach fragten, ob er LSD hätte oder guten Hasch.

Natürlich wollte er mit ihnen seine Wasserpfeife teilen. Leider verstanden sie das Ritual nicht und wollten sich eine Zigarette drehen. Der Scheich hörte ihren Philosophien zu. Selbst für einen gebildeten Mann wie ihn, war es schwer zu erfassen, wovon sie sprachen. Meistens beschrieben sie Versuchsanordnungen, die sie aufgebaut hatten und ihre Ergebnisse.

Dann zeigten sie ihm Zeitungen, in denen ihr Name neben dem Namen von anderen Wissenschaftlern stand. Das sagte ihm nichts. Er bat sie: „Zeig mir die Wirkung der Quanten, wie ich dir meine erotische Allmacht zeige!“ Es begeisterte seine Gäste nicht, wenn er eine Frau, die ihm nicht gefiel, auspeitschen ließ. Da er ein moderater Herrscher war, gab er von seinen Gästen inspiriert, die mittelalterlichen Praktiken auf und schickte ungebührliche Frauen oder Männer einfach nach Hause. Auf die Dauer der Zeit langweilte ihn alles.

Ein gelangweilter Herrscher findet es immer eine gute Idee, einen anderen Herrscher herauszufordern. Deshalb hatte er den Scheich zu einer philosophischen Debatte in sein Zelt geladen. Der Abend dämmerte, die Sterne schmückten den dunkelblauen Samt des Himmels und der Delegation des Scheichs wurden die Zelte geöffnet. Eine junge Frau, die keine Worte von sich gab, mit einer riesigen Kobra im Arm, schien dem Scheich ein würdiges Gastgeschenk zu sein und so präsentierte er sie auf einer Matte sitzend. Sie rührte sich nicht und war von den Augen des Fürsten sehr angetan.

Er entsprach ihrer Vorstellung von einem Traummann. Die Schlange hasste ihn sofort und konnte sich das eine oder andere giftige Zischeln nicht verkneifen. Als die obligatorischen Tänzerinnen und Musiker von der Bildfläche verschwunden waren, wurde ihre Diskussion eröffnet. Es ging um die schwierige Frage: „Was ist größer als Allah?“

Der Scheich war Pragmatiker und opferte erst mal wie im Schachspiel ein paar Bauern, um die Winkelzüge des Geistes seines Gegners zu beobachten. Der Fürst war daran gewöhnt, zu gewinnen und gab sich wenig Mühe, besonders schlagfertig zu sein. Es wollte keine rechte Stimmung aufkommen, da keiner von beiden spitzfindig genug war. Sie sahen fragend zur kleinen Göttin rüber. Die nahm sich aus den großzügig verteilten Blumengebinden einen Stengel nach dem anderen und schrieb mit Blumen: Nichts! in den Raum. Dann bedeutete sie den Herren zu warten und ging, um etwas zu holen. Die Schlange kroch erhobenen Hauptes hinter ihr her. Die Göttin löste die Zügel eines der schwarzen Pferde des Fürsten und verließ schnell reitend das Lager. Als sie in einer weit entfernten Oase angekommen waren, säuselte die Schlange: „Na, hassstess endlich erfassst?!“

Jetzt liegen sie unter einem Zelt aus Sternensamt und das Weltall löscht die Heftigkeit vergeblicher Wünsche. Am Morgen ist nichts mehr vom gestrigen Tag vorhanden. Die Göttin verwandelt sich in eine Staubwolke und fliegt übers Meer.

5

Der Fürst

ist verständlicherweise empört über das Verschwinden seines Gastgeschenkes. Die Männer brauchen eine Weile, bis sie verstanden haben, dass die junge Frau nicht zurückkommen wird. Selbstständig entscheidende Frauen sind in dieser Gegend der Welt so selten wie Goldfische. Um mit seinem Zorn zurecht zu kommen, droht der Fürst dem Scheich mit Krieg.

Obwohl dem Scheich die Kriegsdrohung eher wie eine höfliche Herausforderung erscheint, ist ihm seine ungünstige Position bewusst. Er erinnert sich an den interessanten schwarzen Stein und lässt ihn holen. „Haben sie jemals in unserer Gegend ähnliche geologische Formationen entdeckt?“

fragt er den Fürsten. Solche Fragen hatten Europäer dem Fürsten schon oft gestellt und es ist ihm peinlich, dass er keine geeignete Antwort darauf kennt. „Er ist ein wirklich seltenes und besonders kostbares Stück!“ stellt er fest.

Damit ist der Frieden in der Wüste wieder hergestellt. Den Stein legt er abends in eine Holzkiste. Wer möchte schon gerne sandverkrustet in einer dunklen Kiste liegen, wenn er grade angefangen hat, sich der Welt zu erfreuen? Steine können sich nur mit Hilfe äußerer Kräfte bewegen. Was soll er tun?

Wieder einschlafen bis ihn in hundert Jahren jemand erneut wecken würde? Am nächsten Tag stößt der Körper einer Putzfrau so ungünstig mit dem Ellenbogen gegen die Kiste, dass der Deckel sich öffnet und er auf den Fußboden rollen kann. Sie betrachtet ihn neugierig und steckt ihn in ihre Kitteltasche. Zu Hause legt sie ihn auf den Schrank unter den Spiegel. Er kann jeden Tag beobachten, wie sie sich schminkt und anzieht. Als das zu langweilig wird, kommt er in den Blumentopf auf der Fensterbank. Den Topf wirft ein Sandsturm um und der Stein fällt auf den Wagen eines vorbei fahrenden Händlers.

6

Der Wagen des Händlers

fuhr in die Hauptstadt. In einem Korb mit Granatäpfeln lag ein schwarzer Stein. Als die in allen Rottönen schimmernden Früchte in eine Kiste umgeladen wurden, sortierte eine Hand den Stein aus. Er landete in der Straßenrinne. Von dort wurde er mit dem Fuß weiter gestoßen, gerollt, gekickt, geworfen, über ihm wurden Teppiche ausgeklopft und Wassereimer ausgeschüttet. Er sah alles von unten: Füße in Latschen, nackte Füße, Straßsandaletten, Hacken, die Sohlender Kamele und Autoreifen. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Die Geräusche und Schritte um ihn erzeugten eine rhythmische Musik, die nachts leiser wurde und tagsüber in einem furiosen Crescendo gipfelte. Natürlich kannte er weder musikalische Begriffe noch hatte er Dirigenten jemals gesehen. Er wusste nicht, was youtube ist und konnte wahrscheinlich Geräusche nicht von Tönen unterscheiden. Geschrei war eindeutig lauter als Murmeln.

Dass Begriffe sich überhaupt wie eine Wolke um ihn herum bildeten, lag daran, dass er sich im 21. Jahrhundert befand.

Er war nicht der Einzige, der Geräusche auf diese Art wahrnahm.

In stillen Räumen im Schatten, die von der Straße nur durch eine dünne Mauer getrennt waren, verschwanden nach ihrer Heirat die Augäpfel der Familien. Neben seinem Rinnstein stand ein Haus, dessen Fensterläden das Licht durch ornamentale Strukturen siebte. Mauerwerk hielt die Hitze fern, aber nicht die Geräusche. Die Frauen darin hatten Ähnlichkeit mit dem Stein. Sie waren außen schwarz, konnten alles sehen und hören, aber niemand außer ihrer Familie sah sie. Manchmal wurden sie in die Hand genommen, gestreichelt und dann wieder abgelegt. Nach einer Woche hatte der Stein genug. Er mochte die dunklen Sohlen spielender Kinder und bemühte sich, besonders schön in der Sonne zu glänzen. Eins von ihnen hob ihn auf und legte ihn neben dem Café ab, in dem sein Vater saß. Auf dem Nachhauseweg hatte es ihn wieder vergessen.

7

Eine Göttin, wie viel Zauber und Magie

sie auch immer beherrscht, ist an Ursache und Wirkung gebunden. Sie kann in Zustände ihrer eigenen Göttlichkeit gehen, die wie außerhalb von Realität wirken. Aber sie ist nicht permanent dort. In dem Augenblick, in dem sie Wünsche von anderen erfüllt oder selbst Wünsche verspürt, begibt sie sich in Abhängigkeit von ihrer Erfüllung. Das ist eigentlich einfach zu verstehen. Wer etwas möchte, hängt seinen eigenen Geist an das Eintreten des Ergebnisses. Im heftigsten Falle fiebert die Person der Erfüllung entgegen.

Der Stein dagegen hatte eine andere Art von Konsistenz. Seine Moleküle schwangen schon ewig im Kosmos und dann auf der Erde. Er war nicht scharf darauf, dass seine eigenen Wünsche in Erfüllung gehen. Er freute sich, wenn etwas Schönes geschah, aber er geriet nie außer sich, wenn es nicht passierte. Dann lag er einfach nur da. Er hatte Monate in der Kasbah an einer Straßenecke zwischen rosa und türkisen Häusern verbracht. Das war das Viertel der Stickerinnen, Näherinnen und Korbflechter. Vor jeder Haustür gab es eine Auslage der Körbe, Teppiche, Stickereien, Handschuhe, Kleider, Gürteltaschen und Schleier, die in den Patios der Häuser gefertigt wurden. Die Frauen saßen unsichtbar und behütet hinter Mauern und verwandelten ihre Gedanken und Wünsche in gestickte Muster. Niemand hatte die Anwesenheit eines besonderen Steins bemerkt, aber in den Höfen, die innerhalb seiner Aura lagen, wurde das Leben leichter, schöner, geselliger, mit Fröhlichkeit und Lachen verbunden. Seine Botschaft war einfach. Der Zustand, in dem er sich befand, verbreitete sich von selbst zu allem, was drum herum lag. Er benötigte keine Sprache. Weil sich ein Hauch göttlicher Anwesenheit mit seiner in sich ruhenden Form vermischt hatte, stickten einige Frauen neue Muster, die im Zusammenhang gelesen, folgenden Satz ergaben:

Tu einfach nichts, wenn du nichts machen kannst!

Eine junge Frau, die nebenbei den Babywagen schaukelte, fühlte sich ständig gehetzt. Sie musste das Geld fürs Essen verdienen, den Mann glücklich machen, das Baby umhertragen und dann noch sticken. Sie stach sich in den Finger. Ein Tropfen war auf das weiße Leinen gefallen und hatte die Arbeit des ganzen Tages verdorben. Das Baby wurde wach und begann zu schreien. Sie legte es an die Brust und starrte versonnen auf den Text. Ihr wurde klar, dass sie in anderen Augenblicken einen hysterischen Wutanfall bekommen hätte. Dann hätte sie laut losgezetert. Sie setzte sich auf ihren Stuhl und die Sinnlosigkeit all ihres Tuns traf sie wie klare Frostluft.

Ein Fenster öffnete sich in ihrem Geist. Sie betrachtete den roten Fleck, legte den Stoff vorsichtig zusammen und tauchte ihn in Seifenlauge. Bis morgen wird der Fleck verschwunden sein! dachte sie und versank innerlich. Erkenntnisse tauchten ganz plötzlich in ihrem Bewusstsein auf wie Perlen an einer Kette. Sie sah die endlose Reihe von Tätigkeiten vor sich und hinter sich als Perlen. Dazwischen war eine Schnur und sie selbst war in einer kleinen Lücke. Da war nur noch die Schnur und es gab eine Pause. Sie atmete tief und bemerkte ein Wohlgefühl. Das Baby war satt. Sie setzte es in den Wagen und sah zu, wie es lächelnd mit einem Silberglöckchen spielte.

Jetzt lachte sie auch. All der ganze Stress fiel in einer Sekunde von ihr ab. Sie bemerkte, dass sie ihre Zeit mit Vorstellungen von gestern und morgen verschwendet hatte. Heute muss ich das erledigen, war der erste Gedanke des Tages und danach rannte sie wie eine Sklavin hinter der Erfüllung ihrer Aufgaben her, ohne das Ergebnis jemals einholen zu können. Morgens gab es neue Aufgaben und abends war sie müde. In dem Augenblick, in dem ihre Tagesarbeit zerstört war, erfasste sie, dass sie auch wie das Baby einfach nur dasitzen könnte. Sie hob den Kopf und betrachtete die schönen Äste des Papayabaums im Garten. Reife Früchte hingen dran und warteten darauf, gepflückt zu werden. Ihr Körper zuckte kurz, um der nächsten Aufgabe nachzugehen. Dann sank sie zurück in den Stuhl und tat nichts. Stattdessen fühlte sie etwas Schönem nach, was sich plötzlich in ihr ausbreitete. Es war ein tiefer Frieden ohne Ursache. Sie erholte sich von all den sinnlosen Wünschen an Zukunft und Vergangenheit. Ihre Wünsche und die ihrer Nachbarn wirkten austauschbar.

„Wenn mein Sohn groß geworden ist, kann er mich unterstützen!“ oder

„Wenn es meiner Mutter wieder besser geht, geht es auch mir besser.“ oder

„Wenn mein Mann gutes Geld verdient, kaufen wir ein größeres Haus.“

Ihre Gedanken bildeten eine große Wolke, die sich verdichtete und wie ein Schwarm Vögel in die Luft aufstieg, um sich am Himmel wieder zu verteilen. Sie war frei! Sie fühlte, wie sich eine schwere Last von ihren Schultern löste. Der Körper straffte sich und sie setzte sich gerade hin. Es war das allererste mal in ihrem Leben, dass ihr ein Augenblick von freiem Geist geschenkt wurde. Sie schmeckte ihn und fühlte, wie ihre Augen durch ein glasklares Medium schauten. Niemand war im Hof anwesend außer ihr und dem Baby. Das gluckste und lachte und seine Hand zappelte mit der Rassel herum.

Ihr Blick wanderte vom Kinderwagen zum Kachelmuster dahinter. Sie stand auf und drehte sich einmal im Kreis. Um sie herum in den Mustern erschien das Netz des Lebens, in dem alles ineinander verwoben ist. Jedes Teil ist mit anderen verbunden. Deshalb würde in dem Netz ein Loch entstehen, wenn jemand eine Kachel entfernt. Sie war Teil des Gewebes und trotzdem stand sie immer noch mitten im Hof und konnte das ganze Netz beobachten, ohne etwas zu tun. Das verblüffte sie. Sie setzte sich und atmete noch einmal tief durch. Ihre Hände waren ohne Tätigkeit. Das kam ihr seltsam vor. Ihr Geist versuchte, einen Widerspruch zu erfassen. Sie konnte sich als Teil des Kachelmusters im Patio sehen und gleichzeitig war sie dort nicht drin, weil sie in der Mitte des Hofes stand.

Es ist möglich, beides zu sein! dachte sie. Das geht aber nur, wenn ich nicht sofort wieder dem Stress der Arbeit verfalle.

Dieses ewige: Ich ziehe an dir, du ziehst an mir und wir alle ziehen uns gegenseitig, existiert nur innerhalb des Musters der Kacheln. In der Mitte des Hofes ist Zeit für eine Pause. Ihr war klar, dass sie nach dieser Pause weiter arbeiten würde. In den Mustern darf keine Lücke enstehen. Aber jetzt, in diesem Augenblick, spielte das keine Rolle. Ihre Tagesarbeit hatte sie umsonst getan. Da konnte sie auch noch einen Augenblick länger nichts tun.

Ihr fiel auf, dass es ihre eigene Entscheidung ist, ob sie sich gehetzt fühlt oder nicht. Das mag banal erscheinen. Aber vorher war ihr niemals in den Sinn gekommen, dass sie selbst irgendetwas entscheiden könnte. In Familiendingen entschied ihr Mann. Ob Arbeit zu tun ist oder nicht, entschied niemand.

Die war immer da. Bisher war es ihr wie eine Reihe von Zufällen vorgekommen, ob sie grade diese oder jene Arbeit machen musste. Sie sah sich als eine Gefangene ihres eigenen Lebens. In diesem Augenblick fiel ihr auf, dass sie an sich als Gefangene in der Vergangenheit gedacht hatte. Wenn das die Vergangenheit war, was bin ich dann jetzt? fragte sie sich.

Sie tat weiterhin nichts. Banale Fragen wie:

„Was wird morgen sein?“

„Was werde ich nächste Woche tun?“,

„Was hat meinen Mann gestern verärgert?“

interessierten sie plötzlich nicht mehr. Es war ihr egal, ob ihre Schwiegermutter sie anschreien würde. Die Luft duftete minzig.

Sie war sich das erste mal in ihrem Leben bewusst geworden, dass es niemand anderen gibt, der eine Entscheidung für sie treffen könnte. Sie schaute auf den Stoff in der Seifenlauge.

Wütend zu sein oder nicht, entschied nur sie selbst. Weder der Stoff noch das Blut oder die Seife in der Schüssel waren dran Schuld. Auch der Stich mit der Nadel nicht. So etwas passierte regelmäßig. Es war Teil der Arbeit. Die Entscheidung war etwas in ihr.

Sie fühlte dem schönen freien Körpergefühl in sich nach. Sonst hatte es sich eng angefühlt. Jetzt war alles weit in ihr und voll strahlender Sonne. Es war egal, ob die Sonne drei Meter hinter ihr auf den Boden fiel. Und es machte ihr nichts aus, dass sie im Schatten saß. Alles war sehr still. In ihr war Luft.

Nun geschah ein zweites Ereignis, das noch erstaunlicher ist.

Sie hatte die Entscheidung gefällt, ab heute keine Sklavin mehr zu sein und bewegte sich ganz vorsichtig. Sie stellte die Schüssel in die Sonne, um den Stoff zu bleichen. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Platz im Schatten neben das Baby. Das Gefühl, Luft zu haben und frei zu sein, blieb ihr erhalten, auch wenn sie so tat, als ob sie arbeiten würde.

Innerlich war sie keine Sklavin, äußerlich machte ihr Körper die Arbeit weiter. Das gefiel ihr. Sie nahm einen Besen und fegte den Hof, ohne eine Sklavin zu sein. Das ist möglich!

dachte sie. Ab morgen sticke ich Muster, die Das ist möglich! bedeuten. Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand. An diesem Tag kam niemand, um sie anzuschreien. Alles in ihr hatte sich geändert. Weder ihre Arbeit noch ihre Gedanken klebten an ihr.

Sie war sich der Luft um die Muster herum bewusst geworden.

Nun konnte sie jederzeit eine innere Pause machen, egal, ob ihr Körper äußerlich weiter arbeitete. Das war der glücklichste Tag meines Lebens, stellte sie drei Wochen später fest.

8

Ein Handwerker hatte den Stein

für Dreck befunden und ihn in einen Abfalleimer geworfen.

Die Eimer wurden auf einer Karre ausgeleert. Als die Karre losfuhr, rollte der Stein vom Müllhaufen runter. Er bekam einen neuen Platz, einige hundert Meter von der rosa türkisen Häuserecke entfernt unter einem Tisch mit Gemüse. Er war immer noch nah genug, um der Stickerin Kraft zu geben, innerlich eine andere Welt aufrecht zu erhalten. Von dem Stein wusste sie nichts, aber sie spürte seine Anwesenheit, eine