Mit Freude lernen – ein Leben lang - Gerald Hüther - E-Book

Mit Freude lernen – ein Leben lang E-Book

Gerald Hüther

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Beschreibung

»Hurra, Ferien!«, »Endlich Urlaub!« – Wir alle kennen das. Weshalb wollen eigentlich die meisten Kinder spätestens nach der ersten Klasse vom Lernen nichts mehr wissen? Weshalb nutzt der Knirps, der als Baby lustvoll die Welt entdeckt hat, spätestens jetzt seine Kreativität nur noch, um dem Lernen möglichst zu entfliehen? Weshalb empfindet kaum ein Erwachsener Lernen als Bereicherung des eigenen Lebens und als zutiefst lustvoll und beglückend? Gerald Hüthers Antwort: Weil unser Verständnis von »Lernen« historisch und gesellschaftlich verkrüppelt wurde. Weil wir Lernen in den engen Rahmen einzwängen, den die speziell zu diesem Zweck geschaffenen Einrichtungen vorgeben. Weil wir nicht mehr wissen, dass Lernen für uns Menschen lebensnotwendig ist. Das zuzulassen, war ein Fehler. Aber aus Fehlern können wir lernen. Lernen heißt nicht weniger, als lebendig zu bleiben. Wer nichts mehr lernt, ist tot.

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Gerald Hüther

Mit Freude lernen – ein Leben lang

Weshalb wir ein neues Verständnis vom Lernen brauchen

Sieben Thesen zu einem erweiterten Lernbegriff und eine Auswahl von Beiträgen zur Untermauerung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99768-1

Umschlagabbildung: Kreatives Konzept des menschlichen Gehirns, © Anita Ponne, Shutterstock

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Einleitung

Teil 1: Sieben Thesen

These 1: Die Evolution des Lebens ist eine fortschreitende Erweiterung der Lernfähigkeit lebender Systeme

These 2: Lernen ist ein sich selbst organisierender Prozess zur Wiederherstellung von Kohärenz

These 3: Lernen führt über die Herausbildung labiler Beziehungsmuster zur Ausformung stabiler Beziehungsstrukturen

These 4: Gelernt werden kann nur das, was für ein Lebewesen bedeutsam ist

These 5: Lernen ist ein auf vorangegangenen Lernerfahrungen aufbauender Prozess

These 6: Kein Lebewesen kann etwas lernen ohne Anregung durch andere und ohne selbst mit dem, was es gelernt hat, andere zum Lernen anzuregen

These 7: Nur Menschen können lernen, die Lernfähigkeit anderer zur Verfolgung eigener Ziele und Absichten zu benutzen

Fazit: Die Freude am Lernen ist Ausdruck der Freude am Leben

Teil 2: Beiträge zur Untermauerung

Wie sich alles, was lebendig ist, immer wieder neu erfindet

Je unfertiger, desto lernfähiger: Die Innovationskraft des Lebendigen

Das Gehirn rostet nicht

Die Bedeutung von Gefühlen für das Lernen

Nicht für die Schule, sondern für das Leben wird gelernt

Lernen ohne Sinn ist sinnlos

Lernen heißt, Beziehungen herzustellen

Voneinander und miteinander lernen: Argumente für eine neue Lernkultur in Kommunen

Über die Atmosphäre, in der Bildung gelingen kann

Die Bedeutung von Geist und Haltung aus neurobiologischer Sicht

Die Strukturierung des menschlichen Gehirns und die Herausbildung von Bewusstsein durch soziale Erfahrungen

Aussagekraft neurobiologisch messbarer Korrelate für bewusste Entscheidungen

Der Erwerb von Metakompetenzen

Es ist nie zu spät, Neues hinzuzulernen

Ausleitung

Einleitung

Dieses Buch ist eine Herausforderung für alle, die sich mit der Frage befassen, wie das Lernen funktioniert, weil sie in Bildungseinrichtungen Lernprozesse optimieren und bessere Lernergebnisse bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erzielen wollen.

Denn in diesem Buch wird nach einer Antwort auf die Frage gesucht, weshalb die Mehrzahl der Menschen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft das Lernen als eine lästige Pflicht betrachtet, der sie nur widerwillig nachkommen. Weshalb, so lautet die zentrale Frage, wird das Lernen und die damit einhergehende Bereicherung des eigenen Lebens und die durch das Lernen ermöglichte eigene Weiterentwicklung nur von so wenigen Personen als zutiefst lustvoll und beglückend empfunden?

Vieles spricht dafür, dass die Art und Weise, wie das Lernen gegenwärtig noch immer definiert wird und wie wir es in unserem Leben einordnen, die angeborene Lernlust des Menschen in Lernfrust verwandelt. Und weshalb? Weil wir das Lernen in den engen Rahmen eingezwängt haben, den die speziell zum Zweck des Lernens geschaffenen Einrichtungen vorgeben. Weil dort von einer Definition des Lernens ausgegangen und eine Vorstellung vom Lernen entwickelt worden ist, die weit an dem vorbeigeht, was die Fähigkeit, lernen zu können, tatsächlich bedeutet:

Aus biologischer Sicht heißt Lernen nichts anderes,als lebendig zu bleiben.Wer nichts mehr lernen kann, ist tot.

Und das gilt nicht nur für uns, das gilt für alles, was lebt. Das ist die zentrale Botschaft dieses Buches. Dabei geht es nicht um das, was in Bildungseinrichtungen geschieht. Es geht um die Ideen und Theorien, die dieses Geschehen bestimmen. Die Vorstellungen, die zur Einordnung bestimmter Phänomene – und das Lernen ist ein solches Phänomen – einmal entwickelt, verbreitet und in den Köpfen der meisten Menschen verankert worden sind, wirken in allen Lebensbereichen wie Koordinaten, mit deren Hilfe wir den Kurs für den Umgang mit den betreffenden Phänomenen festlegen. Manchmal – und zwangsläufig immer dann, wenn diese Vorstellungen zu eng sind – werden sie zu Fesseln, die jede Weiterentwicklung verhindern. Dann kann aus Lernlust nur noch Lernfrust werden. Und der hält so lange an, bis sich die alten Vorstellungen vom Lernen endlich erweitert, geöffnet und dem, was Lernen wirklich bedeutet, genähert haben.

Als Biologe und erst recht im Rahmen meiner neurobiologischen Forschungstätigkeit, habe ich oft genug am eigenen Leib und bisweilen auch auf schmerzhafte Weise erleben müssen, wie ich bei meinen Versuchen, bestimmte Phänomene aufzuklären und zu verstehen, irgendwann nicht mehr weiterkam. Ich war mit meinen Denkansätzen, meinen Vorstellungen und Annahmen, mit denen ich ein bestimmtes Phänomen untersuchen wollte, in eine Sackgasse geraten. Das betreffende Phänomen erwies sich als komplexer als gedacht, es war viel stärker mit anderen Phänomenen verbunden und von ihnen abhängig, als ich zunächst angenommen hatte.

So war ich immer wieder gezwungen, meine anfänglichen Vorstellungen infrage zu stellen. Sie waren zu eng. Ich musste sie erweitern, sie in einen größeren Rahmen stellen, die jeweiligen Phänomene in ihrer Ganzheitlichkeit, in ihrer Eingebundenheit in übergeordnete Zusammenhänge betrachten. Das war nicht ganz leicht, denn nun war es mir nicht länger möglich, mich mit der bloßen Beschreibung von aus ihrem jeweiligen Kontext herausgelösten Phänomenen zu befassen. Um beispielsweise die Mechanismen der Freisetzung eines bestimmten Transmitters zu untersuchen, hatte ich jetzt zu berücksichtigen, wie die betreffende Nervenzelle beschaffen war, in welcher Beziehung sie zu anderen Nervenzellen stand und wie dieser Freisetzungsprozess von deren Aktivitäten beeinflusst wurde. Um bestimmte Phänomene im Gehirn zu verstehen, musste ich in meine Überlegungen einbeziehen, dass ein Gehirn in Wirklichkeit ja niemals für sich allein existiert, dass es auf engste und untrennbare Weise mit dem Körper verbunden ist. Mehr noch, dass all das, was in einem menschlichen Gehirn passiert, immer abhängig ist von den jeweiligen Erfahrungen, die die betreffende Person beim Heranwachsen und im Zusammenleben mit anderen Menschen gemacht hatte. Erst durch diese Erfahrungen war es ja im Gehirn dieser Person zur Herausformung der entsprechenden Verschaltungsmuster gekommen, die ich untersuchen wollte.

Am allerdeutlichsten wurde die Unzulänglichkeit all jener Vorstellungen, die das Lernen betreffen und die ich, ohne darüber nachzudenken, von anderen übernommen hatte, für mich spürbar, als ich bei Untersuchungen von Lernprozessen im Gehirn von Küchenschaben feststellen musste, dass diese Schaben ihre Lernaufgaben auch nach Entfernung ihres Gehirns noch genauso gut bewältigten. Es blieb mir damals gar nichts anderes übrig, als fortan davon auszugehen, dass ein funktionsfähiges Gehirn für das Lernen eine zwar günstigere, aber nicht notwendige Voraussetzung ist. Und als ich dann später feststellen musste, dass auch sehr einfache Lebewesen, sogar Einzeller, die noch nicht einmal über ein Nervensystem verfügen, durchaus auch etwas – wenngleich nicht allzu viel – lernen können, war ich endgültig mit meiner Vorstellung davon, was Lernen ist, am Ende.

Ich war gezwungen umzudenken, und das war gut so. Denn nun begann sich mein Blick endlich zu öffnen. Ich begann Lernprozesse bei Hühnerembryonen zu untersuchen, die gerade einmal so groß wie ein Stecknadelkopf waren. Und später, im Rahmen meiner Forschungen in einer psychiatrischen Klinik, wurde mir schnell klar, dass viele Patienten offenbar tief greifende Lernerfahrungen gemacht hatten, die nun ihr ganzes Denken, Fühlen und Handeln bestimmten, die aber überhaupt nichts mit dem zu tun hatten, was Pädagogen in der Schule unter Lernen verstehen.

Vor allem jene Kinder und Jugendlichen, die mit der Diagnose ADHS in die Klinik gekommen waren, beschäftigten mich damals sehr. Sie hatten Verhaltensweisen erlernt und in ihrem Gehirn verankert, die ihnen das Lernen in der Schule unter den dort herrschenden Bedingungen extrem schwer machten. Bei vielen entwickelten oder verstärkten sich diese sonderbaren Verhaltensweisen sogar erst in der Schule. Anstatt in den genetischen Anlagen oder im Gehirn nach den Ursachen dieser Verhaltensweisen zu suchen, schien es mir sinnvoller, der Frage nachzugehen, weshalb die Schule so einen ungünstigen Einfluss auf die Entwicklung dieser Kinder – und vor allem auf ihre Lernfreude – hat. Mir wurde schnell klar: Wenn unter Lernen die Aneignung von Wissen verstanden wird, das in einem Lehrplan vorgegeben, in Schulstunden unterrichtet und in Leistungskontrollen überprüft wird, kann diese sehr eng gefasste Form des Lernens nur schwer und auch nur manchen Kindern gelingen. Alle anderen verlieren allzu leicht ihre Lust dabei und betrachten das Lernen fortan als eine frustrierende Last. Damit sind die Weichen für alles Weitere gestellt: Berufsschulen und Universitäten beschweren sich über das Unwissen und die Unlust der Schulabgänger, Unternehmen müssen Weiterbildungsprogramme für ihre Mitarbeiter wie Sauerbier anbieten und fürchten um ihre Konkurrenzfähigkeit auf globalen Märkten aufgrund eines sich ausbreitenden Fachkräftemangels. Da sich diese Probleme trotz intensiver Lernforschung und pädagogischer Ausbildung in den vergangenen Jahrzehnten eher verstärkt als verbessert haben, stellt sich die Frage, ob wir nicht möglicherweise mit einer zu kurzsichtigen, zu engen und zu lebensfremden Vorstellung vom Lernen unterwegs sind.

Um diese Vorstellung zu öffnen und unser Denken und Handeln aus der Umklammerung eines nur auf schulisches Lernen bezogenen Lernbegriffs zu befreien, habe ich dieses Buch geschrieben. Sein zentraler und erster Teil besteht aus sieben Thesen, die das Lernen aus einer biologischen Perspektive beleuchten und aus einem bisher kaum beachteten Blickwinkel betrachten: Lernen ist nicht nur Ausdruck von Lebendigkeit, sondern auch deren Voraussetzung.

Und als Fazit:Wer das Lernen von außen zu lenken versucht,unterdrückt damit genau das, was das Lernen erst lebendig macht:Die Freude am Lernen – oft sogar ein Leben lang.

Der zweite Teil des Buches enthält Beiträge, die ich aus Aufsätzen, Vorträgen und Interviews zusammengestellt habe. Sie können nach Lust und Laune in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Sie dienen – wie Illustrationen – der Veranschaulichung, Konkretisierung und Untermauerung der im ersten Teil dargestellten sieben Thesen. Es sind also nur unterschiedliche Variationen ein und desselben Themas.

Göttingen, im November 2015

Gerald Hüther

Teil 1: Sieben Thesen

These 1

Die Evolution des Lebens ist eine fortschreitende Erweiterung der Lernfähigkeit lebender Systeme

Kein Lebewesen existiert für sich allein. Jedes Bakterium, jede einzelne Zelle, jede Alge, jeder Pilz, jede Pflanze und jedes Tier, alles, was lebendig ist, braucht andere Lebewesen – auch um selbst zu überleben –, aber vor allem, um sich weiterentwickeln und seine dabei gemachten Erfahrungen an seine Nachkommen weitergeben zu können. Leben heißt also immer, mit anderen verbunden, von anderen abhängig zu sein. Immer dann, wenn diese Verbindung und wechselseitige Abhängigkeit vieler einzelner und verschiedenartiger Lebewesen besonders deutlich wird, nennen wir dieses Gebilde ein lebendes System. Ein aus vielen unterschiedlichen Einzelzellen bestehender Organismus ist so ein lebendes System, eine Gemeinschaft aus vielen unterschiedlichen Individuen bildet ein lebendes System. Wenn unterschiedliche Arten in einem bestimmten Biotop zusammenleben, bezeichnen wir das als Ökosystem. Und wenn wir unseren Planeten als einen einzigen großen Lebensraum betrachten, so ist alles, was dort lebt, Teil dieses gesamten, hier auf der Erde entstandenen und sich fortwährend weiterentwickelnden lebendigen Systems.

Wenn einzelne Arten aussterben oder wenn sich einzelne Individuen oder Arten oder Zellen auf Kosten anderer ausbreiten, verliert das betreffende lebende System nicht nur seine Vielfalt. Weil Leben niemals ein stabiler Zustand ist und Lebewesen nur lebendig bleiben können, indem sie sich fortwährend weiterentwickeln, geht dieser Verlust an Vielfalt und Unterschiedlichkeit zwangsläufig auch mit einem Verlust der Entwicklungsfähigkeit des jeweiligen lebenden Systems einher. Im Verlauf der Evolution des Lebendigen ist es immer wieder zu derartigen Destabilisierungen, zum Untergang einzelner Arten und zum Zusammenbruch ganzer Ökosysteme gekommen. Aber damit sind auch immer wieder Freiräume für die Entstehung und Ausbreitung neuer Arten und für die erneute Generierung von Vielfalt entstanden. Grundlage dafür war und ist die allem Lebendigen innewohnende Fähigkeit zur eigenen Veränderung. Sie offenbart sich als »Fehlerfreundlichkeit« bereits auf der Ebene der genetischen Anlagen (Mutation) und ihrer anschließenden »Durchmischung« bei der sexuellen Fortpflanzung (Rekombination). Durch nachfolgende Selektion der für die jeweils herrschenden Lebensbedingungen am besten angepassten Phänotypen werden bestimmte genetische Anlagen an die Nachkommen weitergegeben, andere nicht. Dadurch erlangt der evolutionäre Prozess und die im Verlauf dieses Prozesses auf genetischer Ebene generierte Vielfalt an Möglichkeiten eine Richtung: Zwangsläufig waren all jene Lebensformen in Bezug auf ihr Überleben und ihre Reproduktion begünstigt, deren genetische Anlagen es ihnen ermöglichte, die Herausbildung körperlicher Strukturen immer besser an die im Verlauf der Individualentwicklung jeweils vorgefundenen Lebensbedingungen anzupassen.

Diese Lebewesen waren weniger abhängig von der Konstanz der von ihnen besiedelten Lebensräume, sie waren in der Ausprägung ihrer körperlichen Merkmale variabler und besser für die Besiedlung inkonstanter und vielgestaltiger Lebensräume mit unterschiedlichen Erfordernissen geeignet. Ein körperliches Merkmal, das sich im Verlauf dieses Prozesses in besonderer Weise herauszubilden begann, war das Nervensystem und ein zur Steuerung dieser Anpassungsprozesse geeignetes Gehirn.

Aber Lernen ist keine Leistung, die erst wir Menschen erfunden haben. Und um etwas lernen zu können, braucht man noch nicht einmal ein Gehirn. Alle Lebewesen, sogar die allerprimitivsten Bakterien oder Einzeller müssen das, was für ihr Überleben wichtig ist, lernen können. Jedes auf seine besondere Weise. Denn Leben heißt, die einmal gefundene Stabilität und die zu diesem Zweck herausgebildeten Strukturen, Mechanismen und Beziehungen trotz ständig auftretender Veränderungen in Form von Störungen oder Bedrohungen immer wieder herstellen und aufrechterhalten zu können. Dazu muss jedes Lebewesen in der Lage sein. Sonst stirbt es. Egal, ob es sich dabei um eine Blaualge handelt oder einen Menschen. Diese eigenen Reaktionen auf störende oder bedrohliche Veränderungen ihrer jeweiligen Lebenswelt vollbringen alle Lebewesen aus sich heraus. Sie benötigen dazu Energie, die sie entweder selbst erzeugen (Pflanzen aus Sonnenlicht und CO2 durch Photosynthese, das Ganze gespeichert in Form von Zucker oder Stärke) oder die sie sich einverleiben, indem sie Pflanzen fressen oder aber Tiere, die ihrerseits wieder Pflanzen fressen.

Mit Hilfe dieser selbst erzeugten oder mit der Nahrung zugeführten Energieträger sind alle Lebewesen in der Lage, die in ihrer jeweiligen Lebenswelt auftretenden und ihre innere Stabilität bedrohenden Veränderungen auszugleichen. Sie nutzen dazu in ihrer eigenen inneren Organisation angelegte Mechanismen. Schon alle Einzeller können sich durch Rückgriff auf solche Reaktionsmuster z. B. von einer Gefahrenquelle weg- und zu für sie günstigeren Bedingungen hinbewegen. Oder sich abkapseln, wenn Austrocknung droht, oder Giftstoffe absondern, um zu vermeiden, dass sie gefressen werden. Und natürlich sind auch schon die primitivsten Lebewesen, wenn sie einer derartigen Veränderung ihrer bisherigen Lebenswelt über einen längeren Zeitraum ausgesetzt sind, in der Lage, die für das Zustandekommen und die Steuerung dieser ihnen eigenen Reaktionsmuster verantwortlichen Mechanismen zu verstärken. Sie können dann, als Einzeller beispielsweise, zunehmend besser und schneller wegschwimmen, sich abkapseln oder Giftstoffe absondern als diejenigen, deren Lebensbedingungen bisher weitgehend konstant geblieben waren und die deshalb keine Veranlassung hatten, immer wieder auf bestimmte Störungen oder Bedrohungen durch die Aktivierung derartiger Antworten zu reagieren. Erstere haben also gelernt, wie sie effektiver reagieren können (völlig ohne Nervensystem oder gar ein Gehirn), Letztere nicht.

Das Ausmaß dessen, was von den Einzellern in dieser Weise gelernt werden kann, ist allerdings noch ziemlich beschränkt. Aber ein bisschen können müssen sie es alle, sonst droht ihnen der sichere Tod, sobald eine Störung etwas länger anhält. Und was sich im Inneren dieser Einzeller bei solchen Lernprozessen abspielt, unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem, was auch im Inneren einer Nervenzelle passiert, wenn sie dauerhaft von Impulsen anderer Nervenzellen bombardiert wird. Bestimmte Gene werden dann vermehrt abgeschrieben, die entsprechenden Proteinsequenzen vermehrt gebildet und in Form von Enzymund Strukturproteinen bereitgestellt. Und deshalb funktioniert anschließend auch die Antwort auf eine solche Störung entsprechend besser. Aber die betreffende Nervenzelle oder der betreffende Einzeller ist dann nicht mehr so beschaffen wie vorher. Sie oder er kann nun etwas, was vorher so noch nicht ging. Sie oder er hat etwas hinzugelernt.

Auf gleiche, nur etwas komplexere Weise lernen auch die Zellen eines vielzelligen Organismus, sich an bestimmte Gegebenheiten anzupassen. Nur werden in diesem Fall die anhaltenden Störungen eben von anderen Zellen verursacht, mit denen die betreffenden Körper- oder Nervenzellen in enger Beziehung stehen. So lernt zum Beispiel eine Leberzelle, wie sie trotz ständiger Alkoholzufuhr überleben kann. Oder eine Pyramidenzelle im Frontalhirn, wie sie auf die fortwährende Ausschüttung erregender Transmitter durch die Präsynapsen der umgebenden Neuronen reagieren kann. Beispielsweise dadurch, dass sie vermehrt Fortsätze ausbildet, an deren Enden sie Transmitter ausschüttet, die all jene überregten Neurone hemmen, die ihr so sehr zu schaffen machen.

Gelänge ihr das nicht, würde sie aufgrund eines zu hohen Ca++-Einstroms und die dadurch ausgelöste Aktivierung eiweißspaltender Enzyme absterben. Indem ihr es aber gelingt, verändert sie zwangsläufig die Gegebenheiten, unter denen diese anderen Nervenzellen nun ihrerseits leben. Sie zwingt diese zu entsprechenden Reaktionen. Lernen ist also bereits auf zellulärer Ebene kein individueller, sondern immer ein sich auf andere Mitglieder eines lebenden Systems ausbreitender und schließlich das gesamte lebende System erfassender und verändernder Prozess.

Das gilt nicht nur für vielzellige Organismen. Auch eine menschliche Gemeinschaft, etwa eine Familie, verändert ihre innere Organisation, passt also die Beziehungen und Aktivitäten ihrer Mitglieder an eine neue Situation an, sobald beispielsweise ein Kind schwer und langwierig erkrankt. Auch das ist ein Lernprozess. Gelingt er nicht, zerfällt über kurz oder lang die ganze Familie. Auch ganze Ökosysteme durchlaufen solche langfristigen Veränderungs- und Anpassungsprozesse, beispielsweise dann, wenn aus anderen Ländern einzelne Pflanzen und Tiere eingeschleppt werden und sich auszubreiten beginnen.

In welchem Umfang und mit welcher Intensität einzelne Mitglieder eines lebenden Systems in der Lage sind, das gesamte System in einen derartigen Veränderungsprozess hineinzuführen, hängt vom Ausmaß und der Intensität ihrer Vernetzung und wechselseitigen Abhängigkeiten und damit von der Reichweite der Veränderung ab, die sich in einem einzelnen Mitglied vollzieht und die es auf andere Mitglieder zu übertragen imstande ist. In einem Unternehmen beispielsweise – auch das ist ein lebendes System – hat es ganz andere Auswirkungen auf die gesamte Belegschaft, wenn der Chef seine bisherige Einstellung und Haltung verändert, als wenn dies der Pförtner tut.

Auch in vielzelligen Organismen ist der Einfluss, den einzelne Zellen auf andere Zellen haben, nicht immer gleich. Manche Zellen oder Zellverbände können eine Veränderung, die sich in ihnen vollzogen hat, an sehr viele, sehr unterschiedliche und auch sehr weit entfernte Körperzellen weitergeben. Nervenzellen können das – und hier wiederum in besonderer Weise all jene, die in die zentralen Schaltkreise des Gehirns eingebunden sind. Wenn sich in diesen Zellen nachhaltige Veränderungs- und Anpassungsprozesse vollziehen, werden die besonders leicht auf sehr viele und sehr unterschiedliche Körperzellen übertragen. Wenn diese Veränderungen längere Zeit fortbestehen, führen sie zu entsprechend veränderten Leistungen und Funktionen sehr vieler und sehr unterschiedlicher anderer Organe.

Bemerkenswert sind aber nicht nur diese besonders stark ausgeprägten Möglichkeiten des Nervensystems und insbesondere des Gehirns, eigene Veränderungen und Anpassungen (also Lernerfahrungen) an so viele andere Körperzellen weiterzugeben und dort entsprechende Veränderungen auszulösen, die die Aktivitäten und Leistungen des Gesamtorganismus bestimmen. Ebenso bemerkenswert ist der Umstand, dass die von einer Person mit ihrem Gehirn gemachte und als nachhaltige Anpassungsleistungen dort entstandene Veränderungen (Lernerfahrungen) auch die Aktionen und Reaktionen der anderen Mitglieder einer Gemeinschaft bestimmen und dazu führen, dass diese anderen Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft (des lebenden Systems) so Gelegenheit bekommen oder gar gezwungen werden, sich mit diesen neuen Bewertungen und Verhaltensweisen Einzelner auseinanderzusetzen, sie abzulehnen oder zu übernehmen und dabei neue eigene Lernerfahrungen zu machen.

Beides, die Wirkmächtigkeit von im Gehirn verankerten Lernerfahrungen nach Innen, also auf körperlicher Ebene, wie auch die Wirkmächtigkeit derartiger Erfahrungen nach außen, also auf sozialer Ebene, hat dazu geführt, dass Lernen und Lernerfahrungen bisher primär auf der Ebene des Gehirns verortet und untersucht worden sind.

Auf der Entwicklungsstufe der Hohltiere, bei den Polypen, lässt sich noch am besten erkennen, wozu ein Nervensystem da ist. Die haben nämlich außer ihren Tentakeln, dem Fuß und der Mundöffnung nur eine Außenhaut (Ektoderm) und eine Innenhaut (Endoderm). Und dazwischen gibt es aus dem Ektoderm eingewanderte Zellen (Nervenzellen), die mit ihren Fortsätzen Kontakt sowohl zur Außen- wie auch zur Innenwelt (dem Verdauungsschlauch) des Polypen haben. Deshalb bekommen diese Nervenzellen nicht nur mit, was im Polypen innen passiert (wenn er etwa einen Wasserfloh gefressen hat). Sie sind auch ständig auf dem Laufenden, wenn Außen etwas Ungewöhnliches passiert. Und das versetzt sie in die Lage, nach innen zu melden, wenn draußen eine Veränderung auftritt, und den Zellen der Außenhaut zu signalisieren, wenn es innen zu »Verdauungsstörungen« kommt. Sie verbinden also Innenwelt und Außenwelt und leiten Informationen von innen nach außen und von außen nach innen weiter. So wird es möglich, dass der Polyp mit seinen zwei Zellschichten als Ganzes reagieren kann, wenn es innen oder außen zu wichtigen Veränderungen kommt. Das ist die Aufgabe eines jeden Nervensystems: dafür zu sorgen, dass der Organismus auf innere oder äußere Störungen reagieren – und damit am Leben bleiben – kann.

Aber sesshaft wie die Polypen zu sein, schränkt die Möglichkeiten eines Lebewesens ziemlich ein. Und da es in dem fortwährenden Prozess der Evolution immer um die Erweiterung des Möglichkeitsraums geht – weil all jene Arten, die über ein größeres Spektrum von Optionen für die eigene Lebensgestaltung verfügen, sich auch immer wieder neue Räume erschließen konnten, in denen ihr Überleben und ihre Reproduktion gesichert waren –, ist die selbstgesteuerte Fortbewegung dann auch von den ersten Tieren erfunden worden. Nun gab es ein Vorn und ein Hinten. Und weil vorn die entscheidenden Dinge passierten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis dann auch das Nervensystem so herausgeformt wurde, dass vorn die dichtesten Vernetzungen zur Verarbeitung von Signalen aus der Außenwelt entstanden sind. Vorder- oder Ober- und Unterschlundganglion nennen die Biologen diesen Bereich, der sich dann weiter vergrößerte, in verschiedene Abschnitte untergliederte und zu dem wurde, was wir bei den sich später entwickelnden Tieren und bei uns selbst als Gehirn bezeichnen.

Dorthin werden die von den Sinnesorganen, von der Körperoberfläche, von den verschiedenen Körperorganen und der inneren Oberfläche (dem Verdauungstrakt) über Nervenfortsätze eintreffenden Signale weitergeleitet. Dort werden sie miteinander verknüpft, abgeglichen und aufeinander abgestimmt, sodass schließlich die daraus im Gehirn entstandenen Signalmuster wieder über entsprechende Nervenbahnen zu den inneren Organen, insbesondere den Körpermuskeln, zurückgeleitet werden und im Körper entsprechende Antworten und Reaktionen auslösen können. Und wo so viel miteinander verbunden ist und aufeinander abgestimmt wird, ist das Ausmaß an neuronaler Vernetzung, auch an neuronalen Vernetzungsmöglichkeiten natürlich besonders groß. Und wo so viele erregbare Zellen so intensiv miteinander, mit der Außenwelt und der Innenwelt in einer engeren Beziehung stehen und einander ständig wechselseitig beeinflussen, öffnet sich ein enormer Möglichkeitsraum für alle nur denkbaren Lernprozesse.

Zunächst, also beispielsweise auf der Stufe der Fadenwürmer, waren die Anzahl und die Art der Verknüpfung der Nervenzellen in diesem Vorderganglion noch weitgehend durch die genetischen Anlagen festgelegt. Hier beschränkten sich die Lernmöglichkeiten auf einfache biochemische Bahnungsprozesse – also auf Veränderungen der Aktivität von Enzymen, die an der Bereitstellung, Ausschüttung und dem Abbau von synaptischen Botenstoffen beteiligt sind – oder auf Veränderungen auf der Ebene von Rezeptoren im Dienst der synaptischen Signalübertragung. Eine strukturelle Verankerung von Lernerfahrungen durch die Erweiterung, Überformung oder Reorganisation neuronaler Verschaltungsmuster wurde erst möglich, als sich die für die Herausbildung des Gehirns verantwortlichen starren genetischen Anlagen allmählich zu öffnen begannen, als diese Programme dazu führten, dass zunächst ein Überschuss an Nervenzellen und neuronalen Vernetzungsoptionen im sich entwickelnden Gehirn herausgebildet wurde und bestimmte Nervenzellen sogar zeitlebens ihre Teilungsfähigkeit und ihre Fähigkeit zur Neubildung von Fortsätzen und synaptischen Verknüpfungen behielten.

Jetzt, also auf der Stufe der Herausbildung formbarer Gehirne, war es möglich, eigene Lernerfahrungen auch strukturell im Gehirn zu verankern. Jetzt waren Lernprozesse nicht mehr länger auf die Ebenen der Genexpression, der vermehrten oder verminderten Bereitstellung bestimmter Enzym-, Struktur- oder Rezeptorproteine oder deren posttranslationale Modifikation beschränkt. Jetzt konnten neuronale Netzwerke und synaptische Verschaltungsmuster strukturell verändert und Lernerfahrungen auf diese Weise nachhaltig im Gehirn verankert werden. Das Möglichkeitsspektrum für derartige Lernerfahrungen war bei all jenen Tieren besonders groß, die besonders vielfältige, intensive und nachhaltige Beziehungen mit den Phänomenen ihrer Außenwelt eingehen und mit den Gegebenheiten ihrer Innenwelt verknüpfen mussten. Und das waren wiederum diejenigen, die im Verlauf ihrer Hirnentwicklung ein besonders reichhaltiges Angebot an Verknüpfungsmöglichkeiten aufbauen konnten. Entscheidend dafür war aber nun nicht mehr der von den genetischen Anlagen gesteuerte Umfang an Vernetzungsoptionen. Entscheidend dafür war nun – und damit sind wir bei unserem menschlichen Gehirn angekommen – wie viel von diesem Angebot an Verknüpfungsmöglichkeiten tatsächlich als funktionelle Verschaltungsmuster stabilisiert werden konnte. Mit anderen Worten: Je reichhaltiger das Spektrum der Wahrnehmungen, Eindrücke, Denk- und Handlungsmuster ist, das ein Kind beim Heranwachsen kennenlernen darf, je vielfältiger und intensiver die Beziehungen sind, die es zu den Phänomenen seiner Lebenswelt, zu anderen Personen und anderen Lebewesen einzugehen in der Lage ist, und je vielfältiger die Gelegenheiten sind, die es zum eigenen Entdecken und Erkunden und zum spielerischen Erproben seiner eigenen Gestaltungsmöglichkeiten findet, desto komplexer werden die Verschaltungsmuster, die es in seinem Gehirn stabilisieren kann.

Wenn also ein Mensch, schon als Kind oder später als heranwachsende oder erwachsene Person seine Möglichkeiten zur Herausbildung und Stabilisierung möglichst komplexer und vielfältiger Vernetzungen der Nervenzellen in seinem Gehirn nicht in vollem Umfang nutzen kann – und dafür keine ungünstigen körperlichen Voraussetzungen verantwortlich sind – so liegt das nicht am Gehirn, sondern an den unzureichend komplexen oder entmutigenden Erfahrungen, die diese Person in ihren Beziehungen zu anderen Personen nur machen konnte oder zu machen gezwungen war.

These 2

Lernen ist ein sich selbst organisierender Prozess zur Wiederherstellung von Kohärenz

Was Lebewesen gegenüber allen nicht lebendigen Gebilden auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, durch Veränderungen in ihrer Außenwelt ausgelöste Störungen ihrer inneren Ordnung durch die Aktivierung bestimmter in ihrem Inneren angelegter Reaktionsmuster wieder auszugleichen. Dabei handelt es sich um eine eigene, von dem jeweiligen Lebewesen selbst erbrachte Leistung. Indem es versucht, am Leben zu bleiben, erzeugt jedes Lebewesen bestimmte Wirkungen in Form charakteristischer Veränderungen seiner Außenwelt. Dadurch kommt es zu erneuten Störungen seines inneren Beziehungsgefüges, auf die das betreffende Lebewesen nun mit einer erneuten Aktivierung bestimmter innerer Reaktionsmuster zur Wiederherstellung seiner Kohärenz antwortet usw.

Die damit einhergehende wiederholte Aktivierung bestimmter innerer Reaktionsmuster hat zur Folge, dass diese im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten gebahnt, erweitert und damit zunehmend leichter aktivierbar und effizienter wirksam werden. Das ursprüngliche innere Beziehungsgefüge hat sich dann in einer bestimmten Weise verändert. Das betreffende Lebewesen hat also etwas hinzugelernt.

Der Auslöser für diesen Lernprozess war zwar eine in seiner Lebenswelt aufgetretene Veränderung, aber ohne die dadurch in seinem inneren Beziehungsgefüge entstandene Störung wäre der entsprechende Lernprozess nicht in Gang gekommen. Jede Störung des Zusammenwirkens der im Inneren eines Lebewesens angelegten, voneinander abhängigen und miteinander verbundenen Reaktions- und Beziehungsmuster geht mit einem erhöhten Energieverbrauch einher. Letztendlich ist also das durch diesen angestiegenen Verbrauch entstandene Energiedefizit der eigentliche Auslöser für den betreffenden Lernprozess. Diesen in seinem Inneren aufgetretenen Energiemangel muss das Lebewesen irgendwie ausgleichen. Im Fall einzelner Zellen kommt es durch die verringerte Effizienz energieabhängiger Ionentransportprozesse u. a. zu einer erhöhten intrazellulären Akkumulation von Ca++-Ionen. Die daraus resultierende Aktivierung Ca++-abhängiger enzymatischer Reaktionen hat eine ganze Reihe grundsätzlicher Veränderungen bisheriger Zellfunktionen zur Folge, die alle mit einem vermehrten Energieverbrauch einhergehen. Findet die betreffende Zelle eine Lösung zur Verringerung dieses erhöhten intrazellulären Ca++-Spiegels, z. B. durch eine vermehrte Expression Ca++-bindender Proteine, bleibt sie am Leben und hat etwas hinzugelernt: Die vermehrte Bereitstellung Ca++-bindender Eiweiße hat sich als eine geeignete Reaktion auf die eingetretene Veränderung ihrer Außenwelt und die dadurch ausgelöste Störung ihres inneren Beziehungsgefüges erwiesen. Solange die äußere Veränderung fortbesteht, bleibt die Expression Ca++-bindender Eiweiße weiter erhöht. Die Zelle hat einen Weg gefunden, um die aufgetretene Störung ihrer Kohärenz auszugleichen und den damit einhergehenden vermehrten Energieverbrauch wieder zu normalisieren.

Auf prinzipiell ähnliche Weise reagieren auch Vielzeller auf Störungen ihres inneren Beziehungsgefüges. Sie äußern sich bei ihnen allerdings zunächst als eine Störung des Zusammenwirkens bestimmter Zellgruppen. Ein einfaches Beispiel dafür sind Pflanzen, die von Schädlingen befallen werden. Die dadurch verursachten ständigen Verwundungen führen zu zunehmenden Störungen des Stoffwechsels und des Zusammenwirkens der davon betroffenen Zellen. Manche Pflanzen, z. B. Akazien in der afrikanischen Savanne, reagieren auf einen zu starken Verbiss durch Giraffen mit einer vermehrten Bildung und Einlagerung von Bitterstoffen in ihren Blättern, mit der Folge, dass sie nun den Giraffen nicht mehr schmecken und deshalb nicht mehr gefressen werden. Auch das ist das Ergebnis eines Lernprozesses.

Besonders gut untersucht sind Lernprozesse bei all jenen Vielzellern, die über ein Nervensystem und ein Gehirn verfügen. Hier sind die Nervenzellen zu Spezialisten für die Wahrnehmung von Veränderungen im Außen wie auch innerhalb des Körpers geworden. Über ihre Verknüpfungen können sie diese Veränderungen in Form charakteristischer Signalmuster weiterleiten und im Gehirn untereinander bestimmte Beziehungsmuster herausbilden, die ein entsprechendes Erregungsmuster erzeugen, das anschließend über Nervenbahnen zu den jeweiligen Körperzellen weitergeleitet wird und dort ein bestimmtes Reaktionsmuster auslöst. Gelernt werden kann aber auch mit Hilfe eines Nervensystems und eines Gehirns nur dann etwas, wenn es zu einer anhaltenden Störung der von den Nervenzellen bisher entwickelten Beziehungsmuster kommt. Auch hier ist der eigentliche Auslöser eines Lernprozesses der durch diese Störung des bisherigen Beziehungsgefüges verursachte erhöhte Energiebedarf, also eine Verknappung der Energieversorgung der betreffenden Nervenzellen und die daraus resultierende Veränderung des intrazellulären Ionenhaushaltes. Auch hier führt der Anstieg des Ca++-Spiegels zu nachhaltigen Veränderungen in den betreffenden Nervenzellen. Aber weitaus besser als andere Körperzellen sind Nervenzellen in der Lage, solche Veränderungen ihres Ionenhaushaltes auf andere Nervenzellen zu übertragen. Bei denen werden dadurch entsprechende Veränderungen ausgelöst und auf diese Weise kann eine Störung durch eine konzertierte Aktion miteinander vernetzter Nervenzellen beantwortet werden. Es kommt also zunächst zur Ausbildung eines charakteristischen Erregungsmusters, und anschließend zu dessen Weiterleitung und Umsetzung in Form eines entsprechenden Reaktionsmusters. Je besser das klappt, desto effektiver wird die anfangs eingetretene äußere oder innere Veränderung ausgeglichen. Und besser klappt es immer dann, wenn die dabei aktivierten Erregungsmuster auch als neue Verknüpfungsmuster der betreffenden Nervenzellgruppen strukturell verankert werden.