Mit Sinn und Ziel - Hildegard Gosebrink - E-Book

Mit Sinn und Ziel E-Book

Hildegard Gosebrink

0,0

Beschreibung

Spiritualität im Führungsalltag, wo es um Ziele geht, Ergebnisse, Umsätze, die erreicht werden müssen? Müsste es da nicht eher heißen: Spiritualität trotz Führungsalltag? Doch haben beide Bereiche mehr miteinander zu tun, als ein oberflächlicher Blick es vermuten lässt: Wie führen wir uns selbst und andere? Wie kommen wir zu guten Entscheidungen? Und wie gehen wir mit Macht, Ohnmacht und Scheitern um? Hildegard Gosebrink lädt ein, den Alltag zwischen Personal- und Finanzentscheidungen, Mitarbeitergesprächen und Workshops als spirituelles Kraftfeld zu entdecken. Dazu erschließt sie Schätze der Bibel und der mystischen Tradition konkret für heute. Vielfältige Impulse und Übungsvorschläge helfen, das Gelesene in den Arbeitsalltag zu integrieren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 238

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



NAVIGATION

Buch lesen

Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

HAUPTTITEL

Hildegard Gosebrink

Mit Sinn und Ziel

Spiritualität im Führungsalltag

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Führen kann man lernen

Leitung mit Selbst-Bewusstsein

Keine Angst vor Vorgängern

Bodenhaftung und Ideale

Dauer und Veränderung, Nähe und Distanz

Die Chance der Lebensmitte: zur tragfähigen Säule werden

Gute Entscheidungen treffen

Krisen als Führungsaufgabe

Mit Ignatius unterscheiden lernen

Die Zwickmühle vielfältiger Erwartungen

Mit Hildegard von Bingen wertvolle Kräfte entdecken und nutzen

Von Macht, Ohnmacht und Schuld

Ja zur Macht

Mut zur Ohnmacht – aber richtig!

Der Mehrwert der Schuld

Führungsalltag zwischen Himmel und Erde

Gott im Blick, die Welt im Fokus

Den Führungsalltag ins Gebet nehmen

Ein Psalm für den König und alle mit ­Führungsaufgaben

»Gönne Dich Dir selbst!« – Führungscoaching im 12. Jahrhundert

Anmerkungen

BUCH LESEN

Vorwort

»Ich habe Freude an meinem Beruf – und gleichzeitig Sehnsucht nach mehr!« Frau M. arbeitet als Führungskraft im Gesundheitsbereich. Sie hat schon viel ausprobiert: Retreats, Meditationskurse, Pilgern. Wenn sie ganz raus ist aus ihrem Alltag, ist Platz für diese Sehnsucht nach dem »Mehr«. Aber spätestens, wenn sie ihren Dienst-PC wieder hochfährt, besteht der Alltag nur aus Mails, Terminen, Sitzungen und – häufig unangenehmen – Entscheidungen. Soll das alles sein? Nun sitzt sie mir im Aschaffenburger Martinushaus gegenüber. Wir loten miteinander aus, ob geistliche Begleitung ein Weg für sie sein kann. Auch mein Alltag als Hausleiterin ist voll mit Mails, Terminen, Sitzungen und – häufig unangenehmen – Entscheidungen. Ich habe nicht die Patentlösung für die Sehnsucht von Frau M. Aber ich bin mir sicher: Der Führungsalltag bietet nicht weniger Raum für die Sehnsucht nach dem Mehr und ist nicht weniger geistlich als der Tages­ablauf im Kloster. Wir machen uns im Gespräch auf den Weg, schauen auf den ganz normalen Alltag von Frau M. – und entdecken ihn als spirituelles Kraftfeld. Das Geheimnis Gottes scheint auf – nicht nur in der Auszeit vom Führungsalltag, sondern mittendrin.

Solchen und ähnlichen Erfahrungen in der geistlichen Begleitung und in Fortbildungen für Führungskräfte verdankt sich das vorliegende Buch. Es enthält keine Rezepte, die garantiert gelingen. Es vermittelt keine Technik, mit der Spiritualität im Führungsalltag machbar würde. Es fußt auf der Überzeugung, dass, wer Sehnsucht nach Spiritualität hat, nicht den Alltag hinter sich zu lassen braucht. Unser Führungsalltag ist unsere eigentliche spirituelle Herausforderung. Das Besondere kann im ganz Normalen aufscheinen. Dies zu entdecken, machen die folgenden Kapitel Mut.

Viele Themen, die Führungskräfte bewegen, sind branchenübergreifend und verbinden Menschen mit Leitungsverantwortung über Jahrhunderte: etwa die Frage nach dem Umgang mit Erwartungen oder wie gute Entscheidungen möglich werden. Führungskräfte kennen Macht und Ohnmacht und wissen, dass zum Führungsalltag auch gehört, sich die Hände schmutzig zu machen. Ich lade Sie ein, in einen spannenden Dialog zu treten: mit Führungspersönlichkeiten, von denen die Bibel erzählt, und mit Meistern und Meisterinnen aus 2000 Jahren christlicher Spiritualität. Von ihnen können wir heute profitieren! Sie finden in diesem Buch Hintergrundinformationen und konkrete Beispiele, Texte zum Nachdenken und Praxistipps, wie Sie das Gelesene in Ihrem eigenen Führungsalltag anwenden können.

Dank schulde ich meinem Partner Edmund Gumpert: Er war bei der Geburt jedes Kapitels dabei, hat mich ermutigt und kritisch angefragt, mir den Rücken freigehalten und gestärkt.

Widmen will ich dieses Buch »meinen« Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Martinushaus – wohl wissend, dass dieses Mein kein »besitzergreifendes« Fürwort ist … Ich verdanke ihnen sehr viel!

Hildegard Gosebrink

1

Führen kann man lernen

Führungskräfte kommen nicht fertig auf die Welt; der Weg bis zum guten Chef oder zur guten Chefin ist voller Lernerfahrungen. Wer andere leiten will, darf zuerst lernen, sich selbst zu leiten. Viele Märchen erzählen von Königstöchtern und -söhnen, ihren Irr- und Umwegen, Prüfungen, Fehlern und Gefahren, von ihren Erfolgen und Teilzielen, bis sie selbst als König oder Königin die Herrschaft über ihr Reich antreten. Oft spielt bei ihrer Entwicklung eine weise Person eine wichtige Rolle: z. B. eine Hexe, die hinter ihrer hässlichen Fassade die Zusammenhänge erfasst und – teilweise versteckt – wertvolle Ratschläge gibt. Auch Entwicklungsromane erzählen von weisen Wegbegleitern, bei denen die Protagonisten in die Schule gehen, von denen sie profitieren – und die sie auch wieder verlassen, weil sie ihren eigenen Weg gehen müssen. Harry Potter geht durch sieben Romane seinen Weg vom unbedeutenden Waisenkind bis zum Sieger über den dunklen Lord. Dieser Weg führt nicht nur im übertragenen Sinn durch die Schule, sondern jeder Roman schildert tatsächlich ein Schuljahr im Internat mit vielen Lernerfahrungen. Der mittelalterliche Held und König Parzival ist am Anfang seines Weges weder das eine noch das andere. Bei seiner mühsamen Entwicklung wird er vom Ritter Gurnemanz unterrichtet; von ihm lernt er alles Wichtige, was er im Kampf und bei Hofe braucht. Aber das alleine reicht nicht: Später kehrt Parzival beim Einsiedler Trevrizent ein; hier gehen ihm die Augen auf für Gott und Welt, für die ­Verstrickung der Menschen in Schuld und dass Erlösung möglich ist. Erst danach kann Parzival seinen Weg zum Gralskönig erfolgreich fortsetzen.

Auch die Bibel erzählt von Entwicklungswegen, auf denen Menschen lernen, sich selbst und andere zu leiten: Da ist zum Beispiel Josef, der unreife Lieblingssohn des Stammvaters Jakob im Alten Testament. Seine Brüder verkaufen ihn aus Neid nach Ägypten. Hier lernt Josef, Verantwortung zu übernehmen. Er setzt Grenzen und verweigert sich den Annäherungsversuchen einer verheirateten Frau, die es auf ihn abgesehen hat. Er wird zum weisen Ratgeber und macht Karriere am Hof des Pharao. Durch Weitsicht und kluges Management sorgt er dafür, dass das ganze Land während einer Hungersnot genug zu essen hat. Er findet Frieden mit seiner eigenen leidvollen Geschichte und kann am Ende, als es mit seiner Familie ein Wiedersehen gibt, versöhnt auch seinen Brüdern helfen, die wegen der Hungersnot mit ihrem Vater nach Ägypten kommen.

Da ist außerdem Mose, der am Anfang seines Weges aus unkontrolliertem Zorn einen Menschen erschlägt und fliehen muss. Auch Mose lernt, Verantwortung zu übernehmen. Er findet eine Frau und macht am Dornbusch in der Wüste die Erfahrung, dass der geheimnisvolle Gott ausgerechnet ihm zugedacht hat, sein Volk aus Ägypten in das Gelobte Land zu führen. Mose lässt sich darauf ein. Die Bibel erzählt lebensnah von den Höhen und Tiefen seines Führungsalltags: Oft ist der nächste Schritt auf dem Weg ins Gelobte Land nicht klar; überall lauern Gefahren – die schlimmste: Das Volk murrt und will zurück! Mose wird in seiner Position immer wieder infrage gestellt, will alles hinwerfen – und macht trotzdem weiter. Mose kann die Frucht seiner Führungsaufgabe nicht selbst ernten: Er stirbt am Ende des jahrzehntelangen Weges durch die Wüste mit dem Blick ins Gelobte Land, ohne seinen Fuß hineinsetzen zu können. Aber das von ihm geleitete Volk zieht weiter und kann ankommen. Was für eine Führungserfahrung!

Sie mögen die Überlieferungen von Josef und Mose nachlesen?

Die Josefsgeschichte finden Sie in Genesis/1 Mose 37–50. Auch die zwölfte Sure des Korans überliefert die Josefsgeschichte. Thomas Mann ließ sich vom biblischen Stoff zu seinen vier Romanen »Josef und seine Brüder« ­inspirieren. Eindrucksvoll zeichnet er den Weg vom verhätschelten Liebling des Vaters (Teil 2) zum »Ernährer« (so der Titel von Teil 4), der für ganz Ägypten und dessen Nachbarstaaten sorgt.

Die Überlieferungen vom Auszug aus Ägypten unter der Führung des Mose erstrecken sich in der Bibel über die vier Bücher Exodus bis Deuteronomium (2 bis 5 Mose). Im Koran treffen Sie in mehreren Suren auf Mose, vor allem in den Suren 2; 7; 20; 28.

Mein Time-out

Bestimmt haben Sie Fotos, die Ihnen helfen können, sich an wichtige Stationen Ihrer Biografie zu erinnern. Es müssen gar nicht unbedingt Fotos aus Papier oder Bilddateien sein: In Ihrem Inneren tragen Sie eine reich gefüllte Kiste mit vielen ­Bildern. Holen Sie diese Kiste hervor und öffnen Sie sie! Wählen Sie aus: vielleicht ein Bild von Ihnen als Kleinkind in Ihrer Familie, Szenen aus Schule und Ausbildung, Bilder, die Sie bei der Arbeit zeigen.

Wie begann Ihr Weg? Wie sahen Ihre Startbedingungen aus? Welche Menschen waren wichtige Gefährten und Gefährtinnen? Welchen weisen Meistern oder Meisterinnen verdanken Sie Wertvolles für Ihren Weg? Was durften Sie lernen? Wo lagen Steine auf dem Weg? An welchen Erfahrungen sind Sie gewachsen?

Wie müsste das Märchen erzählt werden, in dem es um Ihren Weg geht: das Märchen von der Tochter oder dem Sohn, die oder der sich auf den Weg machte – und schließlich als Königin oder König die Herrschaft über ein Reich antrat? Erzählen Sie dieses Märchen einem Menschen, der Ihnen nahesteht.

Leitung mit Selbst-Bewusstsein

Alle vier Evangelien erzählen vom Weg Jesu. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass dieser Jesus etwas ganz Besonderes war: nicht nur ein Mensch, dem zu folgen sich lohnt. Jesus predigte nicht nur das Reich Gottes. Mit seinem ganzen Leben verkörperte er selbst seine Botschaft. Christen und Christinnen glauben: Mit ihm, mit seiner Person ist das Reich Gottes gekommen. Umso erstaunlicher ist, dass die vier Evangelien kein statisches Bild von Jesus überliefern. Sie erzählen von einem Weg, ja sogar von einer Entwicklung. Keines der vier Evangelien beginnt mit dem perfekten Prediger und Wundertäter. Bevor Jesus aus seinem verborgenen, unaufgeregten Alltag in die Öffentlichkeit tritt und Menschen führt, macht er sich auf den Weg zu jemandem, der älter und erfahrener ist als er: zu Johannes dem Täufer.

Johannes ist wie viele unzufrieden: mit der römischen Besatzung, aber auch mit der religiösen Führung. Wie viele seiner Zeitgenossen glaubt er an ein nahes Ende. Johannes predigt nicht in Jerusalem, dem religiösen Zentrum, sondern in der Wüste. Die Wüste ist ein Ort der Extreme, der Selbst- und Gotteserfahrung, der Konzentrierung aufs Eigentliche – und sie ist zur Zeit Jesu ein Ort des Protestes gegen den Tempelkult im nahen Jerusalem. Denn wer in die Wüste geht, muss – rein geografisch – Jerusalem den Rücken kehren. In der Wüste predigt Johannes, dass das Ende unmittelbar bevorsteht, und ruft zur Umkehr auf. Zeichen der Umkehr und des Neubeginns ist die von ihm gespendete Taufe. Wer umkehrt und sich taufen lässt, sorgt dafür, dass er beim nahen Ende auf der sicheren Seite ist. Und die Menschen kommen in Scharen, um sich taufen zu lassen – sogar aus Jerusalem!

Auch Jesus kommt und will sich taufen lassen. Er kommt aus der unbedeutenden Provinz, aus Nazaret in Galiläa im Norden des Landes. Niemand hat so einen weiten Weg zu Johannes wie er. Was sucht er bei diesem wilden Charismatiker in der Wüste?

Und so geschah es: In jenen Tagen kam Jesus von Nazaret in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. Und gleich, als er aus dem Wasser heraufstieg, sah er die Himmel sich spalten und den Geist wie eine Taube auf ihn herniedersteigen. Und eine Stimme ward laut aus den Himmeln: Du bist mein Sohn, der Geliebte. An dir habe ich Gefallen. Markus 1,9–11

So überliefert das Markusevangelium die Taufe Jesu. Das deutsche Wort »taufen« ist verwandt mit »tauchen«. Die Menschen werden von Johannes im Jordan untergetaucht – Zeichen für das Alte, das stirbt. Und sie tauchen wieder auf – Zeichen für das Neue, das beginnt. Auch Jesus taucht wieder auf und steigt aus dem Wasser herauf. Bei dieser Bewegung nach oben hat er eine Vision. Er sieht den Himmel offen. Jesus wird sozusagen ganz neu geboren.

Die Szene ist scheinbar bekannt und hat sich eingebrannt. Auf zig Altarflügeln ist sie gemalt; immer wieder neu und doch ähnlich hängt sie in den Museen der Welt. So überlesen wir leicht, was das Besondere der Darstellung im Markusevangelium ist. Von der Taube und der Stimme erzählen auch die anderen Evangelien. Im Markusevangelium ist Jesus der Einzige, der den Himmel offen sieht. Das Markusevangelium nimmt uns mit in die Innenperspektive Jesu. Wir bekommen Anteil an seiner spirituellen Erfahrung. Die ist kein großes Spektakel, sondern etwas sehr Intimes, das für alle anderen verborgen bleibt. Wer er wirklich ist, erfährt nur Jesus allein. Im Kontakt mit dem Geheimnis Gottes geht ihm das Geheimnis seiner eigenen Person auf.

Diese Erfahrung ist die Initialzündung für das Wirken Jesu in der Öffentlichkeit. Spannend: Im Markusevangelium – dem ältesten der vier Evangelien – wird Jesus zu Beginn seines Auftretens nicht großartig in der Öffentlichkeit proklamiert oder legitimiert. Der Öffentlichkeit zeigt er sich im Verlauf seines weiteren Weges durch seine Worte und seine Taten. Seit der Erfahrung bei der Taufe liegt ein Glanz auf ihm und eine innere Vollmacht in ihm – das spüren die Menschen, die es mit ihm zu tun bekommen. Beides kommt nur von innen.

Was hat das mit Führungskräften heute zu tun? Christen und Christinnen glauben, dass sie auf diesen Jesus Christus getauft sind. Und dass damit die Zusage Gottes an Jesus im Grunde auch für alle Getauften gilt: Du bist meine Tochter, die geliebte. Du bist mein Sohn, der geliebte. An dir habe ich Gefallen! Allerdings bleibt ein Unterschied zu Jesus. Im besten Fall verkörpern auch wir mit unserem Leben unsere Botschaft – aber anders als bei Jesus bleibt eine Lücke.

Führungskräfte brauchen nicht nur, aber auch eine gehörige Portion Überzeugung von sich selbst. Ohne Selbstbewusstsein lässt sich nicht einmal ein Bewerbungsschreiben formulieren, geschweige denn eine Schar von Mitarbeitenden führen. Wer sich selbst nichts zutraut, kann erst recht andere nicht motivieren. Viele Workshops werben mit dem Versprechen, die eigenen Ressourcen zu entdecken, ihnen zu trauen und so eine immer bessere Führungskraft zu werden. Das ist alles gut und schön. Bestimmt gibt es Übungswege, ja sogar Techniken, mit deren Hilfe ich mich selbst neu entdecken und anders auftreten kann. Menschen, denen Spiritualität ein Herzensanliegen ist, glauben darüber hinaus: Es gibt ein Ja zu mir, das größer ist als alles, was ich selbst entdecken und aktivieren kann. Und vor allem: Dieses Ja ist unabhängig von all meinen Erfolgen und Misserfolgen. Es ist – wie alle wirklich großen und wichtigen Dinge im Leben – ein Geschenk, einfach so. Es hängt nicht von meiner Leistung ab. Es ist einfach da, bedingungslos.

Was für Jesus gilt, gilt auch für uns: Am Anfang des Weges steht nicht der Entschluss oder gar die Aufforderung, Gott zu lieben. Am Anfang steht die Zusage, von Gott geliebt zu sein!

Mein Time-out

Mit keiner Übung dieser Welt ist dieses Ja machbar. Dennoch können Sie versuchen, offen dafür zu werden, wahrzunehmen, dass es da ist. Das ist etwas grundsätzlich anderes!

Vielleicht sagt Ihnen die intime Darstellung aus dem Markus­evangelium zu, und der Satz bringt in Ihrem Inneren etwas zum Klingen: »Du bist mein Sohn, der geliebte. Du bist meine Tochter, die geliebte. An dir habe ich Gefallen!« Wenn die Formulierung nicht Ihren Geschmack trifft: Versuchen Sie es in Ihrer eigenen Sprache – vielleicht tut es auch einfach nur ein großes »Ja!«, in dem alles enthalten ist und das Ihnen nicht von Menschen zugesagt wird, sondern von einem viel größeren Geheimnis, das Ihr Leben trägt.

Halten Sie einen Moment inne. Das, was jetzt da ist, hat Raum: Ein Tag liegt vor oder hinter Ihnen. Vielleicht eine Vielzahl von Terminen, kleine oder große Erfolge, ein schwieriges Gespräch, eine gut gelaufene Sitzung, alarmierende Zahlen, eine Flut von neuen Mails, ein unaufgeräumt verlassener Schreibtisch, eine gerade noch erreichte U-Bahn. Was es auch sei, die Zusage gilt bedingungslos: Ja! Du bist mein Sohn, der geliebte. Du bist meine Tochter, die geliebte. An dir habe ich Gefallen!

Stellen Sie sich vor: Der Himmel öffnet sich – nur für Sie! Sie ahnen, dass ein umfassendes Geheimnis an das Geheimnis Ihres Lebens rührt. So kann aufscheinen, wer Sie eigentlich sind: gewollt in dieser Welt von einem liebevollen Du. Solche Erfahrungen sind keine großen äußeren Spektakel. Da sind Sie in Ihrem Innersten ganz allein mit Gott.

Nehmen Sie den Glanz aus dem offenen Himmel und die innere Stimme mit, wenn Sie dieses Buch wieder zur Seite legen und zurück in Ihren Alltag gehen.

Keine Angst vor Vorgängern

Als Jesus zu Johannes kommt, ist Johannes eindeutig der Erfahrenere und Berühmtere von beiden. Johannes hat einen Kreis von Jüngern; er ist ein anerkannter Meister. Und große Teile der Bevölkerung wollen ihn hören. Jesus bleibt nicht bei Johannes. Nach seiner Taufe geht er seinen eigenen Weg. Jesus wird vieles so machen wie Johannes: Er wird den Tempelkult in Jerusalem kritisieren und vom Ende predigen. Er wird Jünger und Jüngerinnen um sich scharen und die Menschen faszinieren.

Und Jesus wird Wesentliches anders machen: Johannes predigt, wie wichtig es ist, umzukehren, um beim nahen Ende gerettet zu werden. Das klingt bei Jesus ähnlich, ist aber grundsätzlich anders; denn Jesus setzt andere Prioritäten: An erster Stelle steht die Zusage, dass das Reich Gottes da ist. Darum können die Menschen glauben und umkehren. Bei Johannes steht an erster Stelle die Aufforderung, der Appell, der Imperativ. Bei Jesus steht der Appell an zweiter Stelle. Er erwächst aus der bedingungslosen Zusage. Genau dies hat Jesus bei seiner Taufe selbst erfahren: Zuerst erlebt er das große Ja Gottes; und aus dieser Erfahrung wächst ihm Kraft zu – dafür, wie er sich selbst leitet, und dafür, wie er andere leiten wird.

Es wird nicht ganz klar, warum Jesus zu Johannes kommt und was er genau von der Taufe erwartet. Vielleicht braucht Jesus einfach diese Schnittstelle, die Begegnung mit dem Meister, der vor ihm da war. Vielleicht ahnt er, dass ihm anlässlich dieser Begegnung Wesentliches über sich selbst aufgehen könnte. Jesus ist sich nicht zu schade, den weiten Weg aus Galiläa auf sich zu nehmen, um Johannes zu treffen. Wie tröstlich, dass alle vier Evangelien von dieser menschlichen Seite Jesu erzählen!

Und Johannes? Johannes wird in den Evangelien nicht einfach nur als der Vorgänger Jesu dargestellt. Johannes ist ein Meister, auch was seine Rolle Jesus gegenüber angeht. Johannes ist ein vorbildlicher Vorgänger. Er empfängt den unerfahrenen Jesus. Er spricht mit sehr großer Wertschätzung von ihm. Er lässt sich auf die innere Sehnsucht Jesu ein, mehr über sich und seinen Auftrag zu erfahren. Johannes ahnt und spricht aus, dass mit Jesus sehr viel anders werden wird – inklusive seiner eigenen Position. Bei der Taufe wird Jesus eine Schlüsselerfahrung geschenkt. Diese Schlüssel­erfahrung hat Geburtscharakter. Wenn wir bei diesem Bild bleiben, hat Johannes die Rolle der Hebamme. Er nimmt sie an. Bei einer Geburt dreht sich alles um das Kind. Die Hebamme assistiert und tritt zurück. Im Mittelpunkt steht das Neugeborene. Johannes überlässt Jesus die Hauptrolle. Er lässt Jesus los und lässt ihn gehen. Er weiß, dass Jesus über ihn hinauswachsen wird. Er lässt auch seine eigene bisherige Rolle los und findet eine neue.

Jesus verdankt Johannes sehr viel. Er redet Johannes nicht schlecht – im Gegenteil. Auch Jesus ist gelassen. Er kann seinen eigenen Weg gehen. Er kann Johannes zurücklassen. Er kann Johannes anders sein lassen. Er kann vieles genauso machen wie Johannes und Wesentliches ganz anders.

Alle vier Evangelien erzählen von Johannes und Jesus auffallend harmonisch. Viele moderne Bibelwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen meinen, dass es historisch vielleicht gar nicht so konfliktfrei zuging zwischen dem Vorgänger und dem Neuen, auf den es den Evangelien ankommt. Zwischen den Zeilen springt sie uns vielleicht doch an: die Konkurrenz zwischen Altem und Neuem, das Ringen darum, wer welchen Platz bekommt. Das ist menschlich. Was genau zwischen Johannes und Jesus und ihren je eigenen Anhängern los war, werden wir nie erfahren. Vielleicht ist die Darstellung der Evangelien das Ergebnis eines langen und mühevollen Prozesses, der sehr viele Gemeinsamkeiten mit unseren eigenen Erfahrungen als Vorgänger oder Nachfolgerin hat: Da wurde und wird viel gerungen und gelitten; da finden Kämpfe statt um Rollen und Positionen; da geht es um Beibehalten und Ändern, um Klammern und Loslassen, um Erwartungen und Enttäuschungen und immer und immer wieder um das Thema gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung. Vielleicht erzählen die Evangelien idealtypisch davon, wie es auch bei uns laufen könnte?!

Es lässt sich einiges mitnehmen von dem Bild, das uns das Neue Testament von Johannes und Jesus zeichnet. Wir haben uns in einem Seminar mit Führungskräften spielerisch auf die Rollen von Johannes und Jesus eingelassen und versucht, mit ihrer Hilfe unsere je eigene Situation als Nachfolger oder Vorgängerin zu bearbeiten – hier einige Echos:

Ich habe als Serviceleiterin in einem großen Bildungshaus angefangen. Ich leite ein dreißigköpfiges Team. Das putzt die Zimmer und serviert im Speisesaal. Meine Vorgängerin war keine ausgebildete Hauswirtschaftsmeisterin wie ich. Sie hat vieles gut gemacht; und ich bleibe dabei. Aber vieles, was ich mitbringe, konnte sie gar nicht wissen. Mir macht die Geschichte von Jesus und Johannes Mut. Ich kann nämlich wirklich sagen: Sie hat mit ihren Möglichkeiten das Beste gemacht. Da wo sie jetzt arbeitet, passt sie viel besser hin als hier. Wenn wir uns sehen, kann ich freundlich auf sie zugehen. Ich bringe hier ganz andere Möglichkeiten mit. Und ich kann darauf vertrauen und dazu stehen, was ich mitbringe. Mein Chef will, dass ich all das hier einbringe, und da habe ich große Lust zu, das auch zu tun und Etliches zu optimieren.Ich bin in der Rolle von Johannes. Ich bekomme mit, wie mein Nachfolger alles umstrukturiert. Er hat auch ein Bild von einem Künstler, das ich angeschafft habe, abgehängt. Als ich das gehört habe, hat mir das wehgetan. Im Kopf weiß ich, dass das so sein muss. Aber im Bauch bin ich noch nicht so weit. Ich habe so viel Herzblut in den Betrieb investiert – und jetzt kommt einer und macht alles anders! Ich werde nach wie vor eingeladen zu offiziellen Anlässen; da ist er auch immer sehr freundlich zu mir. Ich hoffe, ich kann einmal meinen Frieden damit finden. Denn seine Freundlichkeit ist echt und nicht gespielt, das merke ich.Ich bin auch in der Rolle von Johannes. Ich beginne die Ruhephase der Altersteilzeit – insofern passt das mit dem älteren Johannes und dem jungen Jesus wirklich gut. Mein Nachfolger ist super qualifiziert und bringt so viel neue Ideen und Energie mit. Es wird auch Zeit, dass sich etwas ändert. Manchmal denke ich über ihn: Junge, so einfach geht das nicht. Aber da muss er selber durch. Insgesamt habe ich wirklich Freude an ihm. Das sage ich auch allen, die meinen, vor mir bedauern zu müssen, dass ich aufhöre. Ich traue ihm zu, dass er wirklich der richtige Mann am richtigen Platz ist!Ich habe eine Pfarrstelle neu angetreten. Mein Vorgänger war jahrzehntelang im Amt. Er war bei den Leuten sehr beliebt. Intern hat er ein großes Chaos hinterlassen: Die Ablage im Pfarrbüro ist eine einzige Katastrophe; auch die Finanzen stimmen nicht. Das kann ich nie und nimmer nach außen kommunizieren. Es geht sehr viel von meiner Zeit und Kraft dafür drauf, mit diesem Chaos fertig zu werden. Von der Bistumsleitung gibt es keine Unterstützung. Da er weiterhin hier lebt, wird er nach wie vor angefragt für Trauungen, Taufen, Beerdigungen. Das tut mir weh. Ich habe den Eindruck, er hat sich jahrelang nach außen profiliert um den Preis, dass er nach innen alles hat verkommen lassen. Oft hätte ich Lust, ihm einiges an den Kopf zu knallen. Ich bin freundlich zu ihm; aber ich mag nicht mehr Nähe als nötig. Inzwischen denke ich: Das soll wohl so sein, dass sein alter Fanclub ihn weiter haben will, bis er gar nicht mehr kann. Vielleicht hat er’s auch nicht anders gekonnt als so, wie er’s gemacht hat. Ich übe ein, dass ich das so stehen lasse. Ich gehe meinen eigenen Weg. Ich habe viel Neues initiiert. Nach einem guten Jahr gibt es erste gute Rückmeldungen. Ich brauche einen langen Atem und Gelassenheit. Wenn ich an Jesus denke, möchte ich eine eigene Zuhörerschaft aufbauen. Liturgie und Predigen sind mir ganz wichtig. Ich brauche das Echo darauf, ich brauche den Kontakt.Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich hatte eine Vorgängerin, die unbeliebt war und die in einem großen Konflikt »gegangen wurde«. Alle setzen auf mich große Hoffnungen. Das ist schön und schlimm zugleich. Das gibt Energie und macht Druck. Ich bin dabei, Erwartungen, dass ich alles neu mache, nicht zu erfüllen. Ich finde spannend, dass Jesus gar nicht alles anders macht, dass es nach wie vor Schnittmengen zwischen ihm und Johannes gibt. Das macht mir Mut. Bei mir wächst komischerweise mit der Zeit auch ein gewisses Verständnis für meine Vorgängerin.Ich leite ein Projekt, das eine lange Tradition hat. Als ich die Leitung neu übernommen habe, habe ich vieles beibehalten, wie es meine Vorgängerin gemacht hat. Aber ich habe auch vieles geändert. Wir haben Haupt- und Ehrenamtliche, die mitmachen. Es sind tatsächlich einige gegangen wegen meiner Änderungen. Das hat mir sehr zugesetzt – auch wenn ich gute neue Mitarbeiter gewinnen konnte. Es gab viele Gelegenheiten, bei denen ich meine Vorgängerin traf. Ich habe mich ihr gegenüber nicht frei gefühlt. Meine Supervisorin hat mir Mut gemacht, dass es ganz normal ist, dass Mitarbeiter gehen, wenn eine neue Leitung kommt, und dass ich dazu stehen kann. Das war ein langer Prozess. Schließlich habe ich es nicht nur anders gemacht. Ich habe es mir auch in meinem Inneren erlaubt, dass ich es anders mache – selbst mit der Konsequenz, dass welche gehen. Das war gut. Ich habe mich freier gefühlt – auch der Vorgängerin gegenüber.

Mein Time-out

Wenn Sie an Ihren Start als Führungskraft denken: Welches Erbe haben Sie angetreten? Welches Erbe haben Sie ausgeschlagen? Wie präsent war Ihr Vorgänger oder Ihre Vorgängerin: in den Schränken in Ihrem Büro, in den Äußerungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, überhaupt in der Einrichtung?

Was haben Sie beibehalten? Was haben Sie geändert? Und welchen Preis haben Sie dafür bezahlt? Haben Sie Ihren Vorgänger oder Ihre Vorgängerin persönlich kennenlernen können – wie war das?

Bestimmt haben Sie auch schon ein Amt abgegeben. Haben Sie Ihren Nachfolger oder Ihre Nachfolgerin kennenlernen können? Wenn Sie an Ihre jetzige Führungsaufgabe denken: Was würde Ihnen schwerfallen, loszulassen und an jemand anderen abzugeben? Was würde Ihnen leichtfallen?

In vielen Klöstern bleiben Vorgänger und Nachfolger in derselben Gemeinschaft, in der sie – mit anderen Rollen – auch vorher schon jahrzehntelang zusammen lebten. Daher gehört es zur Kultur in vielen Gemeinschaften, dass ein nicht wieder gewählter Oberer oder eine Oberin ein Jahr an einen anderen Ort geht. In diesem Jahr haben beide Raum, ihre neue Rolle zu finden: die neu gewählte Leitungsperson und der Vorgänger oder die Vorgängerin, die die Leitungsrolle abgibt. Ohne diese Distanz ist der nötige Prozess des Loslassens und Hineinwachsens viel schwerer. Aus dieser ­Distanz können Wertschätzung und neue Nähe wachsen. Auch Johannes und Jesus gehen getrennte Wege; und das ist gut so.

Mein Time-out

In vielen Betrieben ist das nicht so einfach. Vorgänger, oft auch Mitbewerber um die Leitungsstelle, bleiben als Mitarbeitende unter der neuen Führungskraft. Auch wenn Ihnen eine örtliche Distanz zu Ihrem Vorgänger oder Ihrer Vorgängerin versagt bleibt, können und müssen Sie Räume neu füllen. Gehen Sie einmal ganz bewusst durch Ihr Büro und den Flur der Abteilung, die Sie leiten. Schreiten Sie wie eine Königin oder ein König am Tag seiner Krönung. Nehmen Sie Ihr Reich in Besitz. Am besten ist, wenn Sie diese Übung tatsächlich umsetzen: Bestimmt gibt es eine Tageszeit, in der dies möglich ist. Selbst wenn andere ­Mitarbeitende da sind, können Sie die Übung durchführen, ohne dass die anderen etwas davon mitbekommen müssen. Sollte dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht möglich sein, schreiten Sie in Ihrem Inneren die Räume ab, die Sie nun füllen dürfen.

Wenn Sie in der Rolle des Johannes sind, stellen Sie sich ebenfalls einen inneren Raum vor. Diesen Raum haben bisher Sie ausgefüllt. Gehen Sie durch den Raum, nehmen Sie Abschied von allen Möbeln und Wänden, von allem, was hier für Sie wichtig war. Stellen Sie sich vor, Sie verlassen ganz bewusst diesen Raum. Sie schließen die Türe von außen. Geben Sie den Schlüssel Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin. Auch wenn Sie ihn jetzt noch nicht kennen: Es gibt einen anderen Raum für Sie.

Wo Du nützlich bist, wirst Du benutzt. Sei Königin Deines eigenen Reiches, und Du wirst wie eine Königin behandelt. Achte Dich selbst, achte auf dich selbst, und Du wirst geachtet. Verzeih Dir selbst, und alles kommt ins Gleichgewicht. Sei eigen-mächtig – und niemand wird Macht über Dich haben!1

Bodenhaftung und Ideale

Nach der Schlüsselerfahrung bei seiner Taufe fängt Jesus nicht gleich an, zu predigen und Jünger um sich zu scharen. Im Markusevangelium heißt es:

Und gleich treibt der Geist ihn hinaus in die Ödnis. Und er war vierzig Tage in der Ödnis, vom Satanas versucht. Und er war mit den Tieren, und die Engel dienten ihm. Markus 1,12 f.

Auf die Taufe folgt die – innere! – Bewährung. Hält die geschenkte Erfahrung, was sie verspricht? Ist Jesus wirklich der, als der er sich gerade erfahren hat?