Mit starkem Willen und Gefühl - Regina Hammerschmidt - E-Book

Mit starkem Willen und Gefühl E-Book

Regina Hammerschmidt

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Beschreibung

In den zwanzig Geschichten geht es um eine Zeit, in der sich Nachbarn noch ganz selbstverständlich geholfen haben und in der Zwischenmenschlichkeit noch eine große Rolle spielte. Man trifft sich, sitzt nett bei einer Tasse Kaffee zusammen und ganz nebenbei finden sich Lösungen für viele Probleme. Man hilft sich uneigennützig und steht einander bei, gerade auch in den schwierigen Zeiten. Es wird von einer Zeit berichtet, in der es noch kein Fax, PC, Tablet, Laptop oder Smartphone gab, dafür aber ein kleines Lebensmittelgeschäft, in dem man sich trifft und Zeit für ein Gespräch hat. Freundschaften helfen, schwierige Zeiten zu überstehen und Jung und Alt halten zusammen. Das Besondere, das allen zwanzig Kurzgeschichten gemeinsam ist, ist eine bestimmte Art, zu erzählen: ruhig, besonnen und mit viel Lebenserfahrung.

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Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Die Personen und die Handlungen in diesen Kurzgeschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder mit tatsächlichen Vorkommnissen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Inhaltsangabe

Vorwort

Eine lange Strecke

Olgas geheimer Wunsch

Mama Doro

Nachbarn

Meine Freundin Elke

Mutter Grete!

Das Kleeblatt

Das Traumhaus

Ach, Martha!

Tante Margret

Georgs Reise

Veras beste Freundin

Erinnerung

Luises Familie

Leonie

Die Haushaltshilfe

Das alte Kaffeehaus

Und was nun?

Ich fahr mal eben

Oma, Gitti und ich

Vorwort

In den zwanzig Geschichten geht es um eine Zeit, in der sich Nachbarn noch ganz selbstverständlich geholfen haben und in der Zwischenmenschlichkeit noch eine große Rolle spielte. Man trifft sich, sitzt nett bei einer Tasse Kaffee zusammen und ganz nebenbei finden sich Lösungen für viele Probleme. Man hilft sich uneigennützig und steht einander bei, gerade auch in den schwierigen Zeiten:

Da hält Jung und Alt zusammen, da wird ganz unkompliziert eine Wohnung getauscht, so dass die älteren Mieter Grete und Karl ins Erdgeschoss ziehen können. Karl bekommt einen Rollstuhl und somit sind Spaziergänge wieder täglich möglich. Da führt Hund Anton ganz unterschiedliche Menschen auf einem Nachbarschaftsfest zusammen und auf einmal wird das Leben für Viele wieder unbeschwerter und ein Ehemann kehrt zu seiner Gattin zurück. Es wird von einer Zeit berichtet, in der es noch kein Fax, PC, Tablet, Laptop oder Smartphone gab, dafür aber ein kleines Lebensmittelgeschäft, den sogenannten Tante-Emma-Laden, in dem man nicht nur alles für den täglichen Bedarf erhielt, sondern auch persönlich bedient wurde und immer Zeit für ein Gespräch war.

In den Geschichten geht es auch immer wieder um den Beginn neuer Lebensabschnitte. Die Kinder sind erwachsen geworden, haben das Elternhaus verlassen und leben oft weit entfernt. „Und was nun?“, lautet die Überschrift einer Geschichte. Paul war vor einem Jahr in Rente gegangen und fragte: „Und was nun, Lotte, was mach ich heute, morgen, übermorgen?“

Freundschaften helfen, schwierige Zeiten zu überstehen. Manch heimlicher Wunsch wie der von Olga, die sich so sehr wünscht, Klavierspielen zu lernen, erfüllt sich auf ungewöhnliche Weise durch das Engagement einer Freundin. Und auch manch andere Wünsche, von denen in weiteren Geschichten berichtet wird, erfüllen sich auf ungewöhnliche Weise.

In den Kurzgeschichten wird auch von noch länger zurückliegenden Zeiten erzählt, auch vom Krieg. Ein kleines Mädchen träumt jede Nacht von brennenden Häusern und fragt, warum es überhaupt den Krieg gegeben hat. Sie schildert, wie die Menschen unmittelbar nach dem Krieg überlebten, was nicht einfach war. Dennoch heißt es in der Kurzgeschichte „Erinnerung“:

„Wir hatten seinerzeit alles, was wir brauchten, heute haben wir vieles, was wir nicht brauchen.“ Die kleine Familie lebt vom Garten: „Im Sommer frisch vom Feld, im Winter aus den Einmachgläsern.“ Es ist ein Leben ohne Waschmaschine, ohne fließendes Wasser in der Küche, es gibt kein Fernsehen, aber die Familie sitzt gemeinsam vor dem kleinen Radio. Das Brot wird selbst gebacken, beim Kneten des Teigs singt die Mutter immer die schönsten Lieder. Das Mädchen ist nun selbst alt geworden und irgendwann sterben die Menschen, die einen festen Platz in ihrem Herzen haben; sie sagt: „Manchmal denke ich, das Leben ist ein beständiges Abschiednehmen. Aber, man lernt es nie.“

Das Besondere, das allen zwanzig Kurzgeschichten gemeinsam ist, ist eine bestimmte Art zu erzählen: ruhig, besonnen und mit viel Lebenserfahrung. Es sind im besten Sinne Geschichten von starken Frauen.

Angela Hoffmann

Eine lange Strecke

So einen tiefen Schlaf möchte ich auch gerne haben, seufzte Katharina, die ihren Mann Roberto am frühen Morgen im Bett beobachtete. Nichts hatte seinen Schlaf gestört, nicht einmal das heftige Gewitter, das in der Nacht gewütet hatte.

Katharina hatte nur hin und wieder kurze Zeit geschlafen. Aber es war nicht das Unwetter allein, das sie um den Schlaf gebracht hatte. Heute, ja heute war es unausweichlich so weit. Marietta würde nach dem Frühstück ihre letzten Sachen einpacken, alles in ihr kleines Auto verstauen, fröhlich winken, und dann würde sie losfahren, und in wenigen Stunden weit entfernt in ihre kleine, erste Wohnung einziehen. Katharina kämpfte mit den Tränen. „Aber Katja, nimm es nicht so schwer. Unsere Kleine ist erwachsen geworden“, hatte Roberto ihr in der letzten Zeit tröstend gesagt und sie liebevoll in den Arm genommen. „Das ist doch bei uns in jungen Jahren nicht anders gewesen, oder? Eltern müssen loslassen!“ Das sagt sich so leicht, dachte Katharina.

Bei Marco war es vor vier Jahren leichter gewesen, ihn gehen zu lassen. Er hatte sich in einem uralten Haus, ganz in der Nähe des Elternhauses, eine winzige Wohnung gemietet. Alle paar Tage tauchte er zu einem Blitzbesuch auf. Ansonsten genoss er die Freiheit eines Junggesellen inmitten eines großen Freundeskreises.

Marco war nicht nur äußerlich, sondern auch charakterlich seinem Vater sehr ähnlich. Beide hatten dunkle Augen und schwarzes, gelocktes Haar. Beide liebten das Leben, jammerten nicht um Verflossenes und sorgten sich nicht um den nächsten Tag.

Sie nahmen ihre Mitmenschen an, so wie sie waren, und verfielen nicht in den Wahn, Menschen ändern zu wollen. Meine beiden Männer sind bewundernswert, dachte Katharina voller Stolz.

„Nun aber geht unsere kleine, sensible, so leicht verletzbare Marietta!“, sorgte sich Katharina. „Sie ist ein kluges Mädchen, und wird ihren Weg gehen“, meinte Roberto.

Natürlich, für ihn war das keine Frage, dachte Katharina.

Sie verließ das Schlafzimmer und schloss leise die Tür, um Roberto nicht aufzuwecken. Dann ging sie in den Wintergarten, setzte sich ans Fenster und beobachtete die Schwalben, die schnell wie der Wind auf der Suche nach einem Frühstück hin- und herflogen.

Wie schön war ihr Zuhause. Gemeinsam hatten Roberto und sie doch einiges erreicht, und sie erinnerte sich an die Zeit, als sie so jung waren wie Marietta heute.

„Was heißt das, ich liebe ihn?“, hatte ihre Mutter sie seinerzeit gefragt? „Mädel, lass dir Zeit mit dem Heiraten, es kommt niemand zu spät!“

Hinzu kam, Katharina musste lächeln, heute konnte sie es, Roberto hatte nicht den richtigen Pass bei der standesamtlichen Trauung und zu allem Überfluss auch nicht das richtige Gesangbuch bei der kirchlichen Trauung.

Aber Roberto und sie hielten zusammen. Niemand hätte sie auseinanderbringen können. Glücklicherweise waren sie beide 21 Jahre alt und damit zur damaligen Zeit volljährig und so heirateten sie gegen alle Widerstände. Katharinas Eltern prophezeiten bereits am Hochzeitstag, hinter vorgehaltener Hand versteht sich, das baldige Ende der Verbindung.

Als drei Jahre später Marco geboren wurde, hörte sich das ganz anders an, und an ihrem 10. Hochzeitstag verkündete Katharinas Vater den versammelten Gästen, dass sie keinen besseren Schwiegersohn als Roberto hätten bekommen können. Katharina lächelte. Und ich hätte keinen besseren Mann und Vater für meine Kinder bekommen können. Was war es für eine himmlisch schöne Zeit in ihrer jungen Ehe. Wie verliebt und total verrückt wir waren, erinnerte sich Katharina. Unser Freundeskreis wuchs und es gab keine Party ohne uns. Mit Marco und Marietta waren wir schließlich eine Familie. Alles schien perfekt, lediglich finanziell war in den ersten Jahren noch viel Luft nach oben. Ein großes Problem war es dennoch nicht für sie, schon gar nicht für Roberto, für den ein mageres Budget lediglich ein Achselzucken wert war. Er sagte: „Das wird schon und außerdem, wer nichts hat, dem kann auch nichts gestohlen werden.“ Über diesen flotten Spruch konnte er selber schallend lachen. Ja, es war ein gutes Leben, Glück wie bestellt und geliefert. Nun ja, Katharina holte tief Luft. Das Leben wäre eine Dauerparty, wenn es immer so bleiben würde. Aber das war ein Trugschluss. Das Leben ist eine lange Strecke, uneben, mit manchen Stolpersteinen versehen und bösen Überraschungen, die nicht selten wie aus dem Nichts heraus auftauchen.

Die Kinder waren noch klein. Es war eine Routineuntersuchung. Ihr ging es gut. Sie spürte lediglich hin und wieder einen ziehenden Schmerz. Das kann ja wohl kaum etwas Schlimmes sein, dachte sie. Sie verstand erst gar nicht, was ihr der Hausarzt nach eingehender Untersuchung offenbarte. Es folgten Operation, Reha, Behandlungen, Untersuchungen, Ungewissheit, Verzweiflung, Mutlosigkeit, Hoffnung, endlos. Irgendwann hörte sie den Satz, von dem sie nie mehr geglaubt hatte, ihn zu hören. „Sie sind gesund!“

„Du hast es geschafft!“, hatte Roberto freudestrahlend zu ihr gesagt und sie vorsichtig in den Arm genommen. „Nein“, hatte sie geantwortet. „Wir haben es geschafft, wir haben gekämpft und gewonnen. Ohne dich wäre ich verloren gewesen.“

Endlich konnte sie ihre Kinder wieder in den Arm nehmen, in der Hoffnung, sie aufwachsen und vielleicht auch erwachsen werden zu sehen. Katharina weinte. Aber die Angst blieb noch lange Zeit ganz tief in ihr.

Roberto und sie schmiedeten wieder Pläne und kauften ihr kleines Häuschen. Sie erwarben es recht günstig, da noch einiges repariert werden musste. Sie waren guten Mutes, scheuten keine Arbeit und nicht zuletzt stand es bestens um ihre Finanzen. Roberto verdiente inzwischen gut in seinem Beruf, und Katharina arbeitete stundenweise von zuhause aus.

Und dann, von einem Tag zum anderen, verlor Roberto nach 20-jähriger Betriebszugehörigkeit seinen Job. Der Betrieb ging aufgrund von Verantwortungslosigkeit und unrechtmäßigem Handeln in Konkurs. 120 Menschen verloren ihren Arbeitsplatz. Zum ersten Mal in ihrer Ehe erlebte sie Roberto in einer Mischung von Fassungslosigkeit und Zorn. Vom ersten Tag an bewarb er sich bei verschiedenen Firmen, und nach vier Monaten unterschrieb er einen neuen Arbeitsvertrag. Die Arbeit machte ihm Spaß wie eh und je, sein Lohn war sogar noch höher als zuvor, und das Arbeitsklima war perfekt. Die Firma war lediglich einige Kilometer weiter entfernt, als seine frühere. Aber solche Kleinigkeiten waren für Roberto kein Problem. Katharina sah auf die Uhr. Oh je, so spät schon! Roberto würde bald schon rufen: „Katja, wo bist du?“ Sie würde bald Marietta wecken und es würde nicht lange dauern, bis Marco mit seinem Rad schwungvoll in die Einfahrt fahren würde, bestens gelaunt ins Haus „schneite“ und eine Tüte mit duftenden Brötchen auf die Anrichte beförderte. Ganz nebenbei inspizierte er dann den Kühlschrank von innen. Später, wenn er sich wieder verabschiedete, würde sein Rucksack schwer und der Kühlschrank leer sein. Katharina musste grinsen. Wollte sie ihn anders? Nein, niemals. Roberto würde vermutlich beim Frühstück zu Marietta sagen: „Wir sind immer für dich da, das weißt du. Und mein Mädchen, melde dich hin und wieder, damit deine Mama ruhig schlafen kann.“ Dabei würde er mich von der Seite schelmisch anschauen. Marco hätte sicher einen coolen Spruch. „Wenn die Welt da draußen schlecht zu dir ist, dann vergiss nicht, du hast einen großen Bruder.“

So oder so ähnlich würden die Gespräche verlaufen.

Ich kenne ja schließlich die beiden, dachte Katharina. Also gut, für Roberto und mich wird ein neuer Lebensabschnitt beginnen, wieder zu zweit, so wie es am Anfang war. Es wäre doch schön, wenn wir noch eine lange Strecke vor uns hätten, dachte Katharina und stand entschlossen auf.

Olgas geheimer Wunsch

Was ist Glück?“, fragte mich Olga. Ich saß am Esstisch, die Augen noch halb geschlossen. „Warum müssen wir mitten in der Nacht frühstücken?“, fragte ich zurück. Olga lachte. „Weil um 8 Uhr der Anstreicher kommt, und jetzt ist es 7 Uhr. Diese Zeit nennt man übrigens Morgen und nicht Nacht“, belehrte sie mich.

„Also“, fuhr sie fort, „sag schon, was ist Glück? Ich meine nicht das große Ereignis, Hochzeit, Geburt des Kindes und so, nein, einfach Glück im alltäglichen Leben. Sag mal ein Beispiel. Mach schon!“

Ich wusste nur zu gut, dass es sinnlos war, einfach die Frage zu ignorieren. Olga ließ nie locker. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, dann gab sie nicht auf.

Also bemühte ich mein Gedächtnis und sagte: „Wenn man vor der Haustür ohne Regenschirm steht, der Regen niederprasselt, und wenn man dann seinen Haustürschlüssel auf Anhieb findet, das ist Glück.“

Olga grinste, schien wohl zufrieden zu sein, und meinte: „Immerhin bist du jetzt wach“, und dann schenkte sie uns Kaffee ein. Den Frühstückstisch hatte sie, wie jeden Morgen, liebevoll gedeckt, die Zeitung ins Haus geholt und den Vögeln im Vorgarten eine Handvoll Körner ins Vogelhäuschen gestreut.

Olga war, wie man sagt, eine Nachtigall. Abends ging sie zeitig ins Bett, und wenn sie am frühen Morgen die Beine aus dem Bett streckte, dann war sie imstande, Lösungen für alle möglichen Probleme zu suchen. Ich dagegen war eine Eule. Am Abend fand ich nicht ins Bett und am Morgen kam ich nur schwer heraus. Probleme angehen, Reden schwingen, singen, lachen, vor dem Frühstück, das war für mich undenkbar!

Eigentlich passten wir zwei, Olga und ich, gar nicht zusammen. Aber erstaunlicherweise klappte unsere Wohngemeinschaft perfekt, und das von Anfang an. Es begann damit, dass ich eines Tages eine schriftliche Einladung zum Klassentreffen erhielt. „Ach, du meine Güte“, ich höre sie schon, die Perfekten!

„- Letztes Jahr waren wir in Kenia, das muss man einfach sehen!!

- Unsere Jüngste ist mit einem Chirurgen verheiratet. Ein Arzt in der Familie ist ja so ein Gewinn!! - Zu unserem Hochzeitstag haben wir uns einen neuen Pool gegönnt!!

- Unsere hochbegabten Enkelkinder konnten schon mit drei Jahren unsere Pferde reiten!!“

Muss ich mir das antun? „Nein“, gab ich mir selbst Antwort und ließ die Einladung zwischen Akten und Zeitungsausschnitten verschwinden.

Irgendwann hatte ich mir einen Ruck gegeben und begonnen, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Und siehe da, es fiel mir doch die Einladung zum Klassentreffen wieder in die Hände.

Ich konnte es nicht erklären, wie ich zu dem Sinneswandel kam, jedenfalls entschied ich, an dem Treffen teilzunehmen. Der Termin war vier Tage später. Ich meldete mich nicht an und dachte, sollte es keinen Platz für mich geben, dann würde ich halt wieder heimfahren.

An dem besagten Samstagabend gab es einen Platz für mich und zwar neben Olga. Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen. Es wurde munter erzählt, wenig geprahlt, viel gelacht, und ich war angenehm überrascht. Es war ein wunderbarer, sehr unterhaltsamer Abend. Insbesondere tauschten Olga und ich unsere Erlebnisse und Erfahrungen aus. Wir zwei saßen noch zu vorgerückter Stunde zusammen, als alle anderen sich bereits mit den Worten verabschiedet hatten: „Wir sehen uns wieder!“

„Der Abend ist für mich nach langer Zeit wie Balsam auf der Seele“, meinte Olga. „Es tut einfach gut, unter Menschen zu sein. Ich wusste gar nicht, wie sehr ich Gespräche vermisst habe. Nach dem Tod meines Mannes vor anderthalb Jahren habe ich mich sehr zurückgezogen“, erzählte sie weiter. „Aber auch während Ulis Krankheit waren wir fast nur noch zuhause. Das ist mir heute so richtig bewusst geworden“.“ „Ein wenig kann ich das nachempfinden“, entgegnete ich. „Mein Mann lebt zwar und erfreut sich bester Gesundheit, gut so. Aber er lebt nicht mehr mit mir zusammen, wir sind seit über fünf Jahren geschieden, zum Entsetzen unserer Tochter. ‘Seit über 30 Jahren seid ihr verheiratet, ihr wart ein Vorzeigepaar. Ihr könnt euch doch nicht scheiden lassen!’, hatte sie getönt.“

„Nach der Scheidung hatte ich mich zunächst zurückgezogen. Ich wollte mit niemandem etwas zu tun haben. Was ist das? Scham, Enttäuschung, Versagen, Wut? Vielleicht von allem etwas. Aber inzwischen habe ich mein Leben neu geordnet und begegne Menschen wieder mit weniger Misstrauen. Mein Ex ist wieder verheiratet. Bei unserer Scheidung zahlte er mir eine großzügige Abfindung und überließ mir darüber hinaus unser Haus mit der Auflage, es natürlich unserer Tochter zu vererben. Na klar. Alles in allem kann ich mich nicht beklagen, finanziell gar nicht.“

„Da bist du besser dran als ich“, erwiderte Olga. „Du erinnerst dich vielleicht an meine Eltern?“ Ich nickte zustimmend. „Unser Vater“, fuhr sie fort, „kam krank aus dem Krieg heim und konnte nur eingeschränkt arbeiten. Immer war bei uns das Geld knapp. Und so habe ich nach dem Abitur schleunigst gesehen, Geld zu verdienen. Uli habe ich auf einer Fortbildung kennengelernt. Na ja, ich wurde schwanger, wir haben geheiratet, und es folgten noch zwei Buben. Mein Vater starb und Mama fing an zu kränkeln. Als unsere Jungs aus dem Gröbsten raus waren, wurde meine Mutter zum Pflegefall. Mein Bruder hielt sich für nicht zuständig, und so haben wir, Uli und ich, Mutter zu uns genommen und ich habe sie sieben Jahre bis zu ihrem Tod gepflegt. Zwischenzeitlich haben wir zwei Enkelkinder bekommen, und wenn eine helfende Hand gebraucht wurde, dann klingelte bei uns das Telefon“, grinste Olga. „Zu guter Letzt erlitt Uli einen schweren Infarkt, an dessen Folgen er vor anderthalb Jahren gestorben ist. Du kannst dir sicher denken, dass ich aufgrund meiner Familienkonstellation in all den Jahren nicht selbst berufstätig sein konnte, und so sieht dementsprechend meine Rente aus.“

„Traurig und ungerecht“, entgegnete ich, „ein Leben lang geschuftet und dann mit einer Minirente abgespeist werden. Warum lassen wir Frauen uns das eigentlich gefallen?“

„Ja warum, gute Frage“, meinte Olga zustimmend. „Und nun suche ich eine neue Wohnung. Meine jetzige ist erstens zu groß, aber was noch wichtiger ist, sie ist für mich auf Dauer nicht mehr bezahlbar. Wenn du mal etwas hörst, sag mir doch bitte Bescheid, ja?“

Ich wüsste da was“, erwiderte ich spontan. Sie schaute mich erstaunt an. „Was hältst du davon, zu mir in mein Haus zu ziehen? Die obere Etage ist völlig frei, und ich bin allein in dem großen Haus. Das gefällt mir schon lange nicht mehr.“ Olga schaute ungläubig drein und war sprachlos. „Ich meine das ernsthaft“, ermunterte ich sie und streckte ihr meine Hand entgegen. „Schlag ein!“ Es dauerte eine Weile, und dann ergriff sie zögernd meine Hand. Sechs Wochen später zog Olga zu mir ins Haus. Wir kamen, wie schon erwähnt, von Anfang an bestens miteinander aus. Keinesfalls saßen wir ständig beieinander. Oh nein, die Privatsphäre war uns beiden heilig und darüber gab es kein einziges Wort zu wechseln. Lediglich die Mahlzeiten nahmen wir meistens gemeinsam ein, mal kochte Olga, mal ich, und mal kochten wir auch gemeinsam. Als meine Kinder Olga kennenlernten, stellte sich heraus, dass zwischen ihnen die „Chemie“ stimmte. Insbesondere erstaunt war ich über meine Tochter Christa. Sie schloss nicht leicht Freundschaften. Ich beobachtete Olga und sie bei dem ersten Zusammentreffen, und dann ging mir ein Licht auf. Die beiden waren sich charakterlich sehr ähnlich. Beide waren Perfektionisten, sehr ordnungsliebend, immer korrekt und pünktlich. Ich glaubte, die beiden hatten noch nie in ihrem Leben einen Termin versemmelt, und außerdem ertränkten sie auch nicht ihre Zimmerpflanzen, im Gegensatz zu mir. Nur backen, die raffiniertesten Kreationen herstellen, das konnten sie beide nicht, hatte ich befriedigt festgestellt.

Mein Schwiegersohn Tobias ist das, was man einen „patenten Menschen“ nennt. Wer mit ihm nicht klar kam, der war ohne Zweifel auf der falschen Spur. Die beiden hatten keine eigenen Kinder, aber zwei Mädchen in Dauerpflege. Die vier bildeten eine glückliche Familie. Ich war froh und dankbar, dass meine Christa es so gut im Leben getroffen hatte.

An einem lauen Sommerabend saßen Olga und ich bei einem guten Wein auf der Terrasse. Wir erzählten uns Erlebnisse aus unserer Kindheit, Jugend und auch von dem ein oder anderen Reinfall, an den man sich inzwischen längst amüsiert erinnert. „In meiner Kindheit“, erzählte ich, „war ich in den Ferien oft bei meiner Tante und meinem Onkel in Bayern. Ein Nachbarsmädchen, mit dem ich mich angefreundet hatte, besaß ein traumhaft schönes Puppenhaus. Es hatte mehrere Etagen und eine Dachterrasse. Ich war wie besessen und mochte nur noch ungern mit einem anderen Spielzeug spielen. Ein solch schönes Puppenhaus wünschte ich mir zu jedem Weihnachtsfest. Aber der Wunsch blieb unerfüllt. Sag mal, Olga“, fragte ich, „hast du auch einen unerfüllten Wunsch?“

Olga schaute mich eine Weile an und meinte schließlich: „Ja, ich habe einen geheimen Wunsch.

Geheim, weil ich bisher niemandem davon erzählt habe.“ Wieder schwieg sie. Dann vertraute sie mir an: „Ich habe schon als Kind davon geträumt, ein Instrument zu spielen, am liebsten Klavier. Ich bewundere jeden, der Klavier spielen kann. In meiner Kindheit habe ich den Wunsch nie geäußert. Meine Eltern hatten es ohnehin schwer, über die Runden zu kommen. Ich mochte sie nicht noch zusätzlich belasten. Später, als ich selbst eine Familie hatte, da fehlte mir die Zeit, und heute bin ich zu alt, um noch Klavierspielen zu lernen.“

„Ach“, meinte ich, „wieso zu alt? Ich finde, wir sind nie zu alt, um Neues zu erlernen oder auszuprobieren.“

Olgas so lange geheim gehaltener Wunsch ging mir nicht mehr aus dem Sinn.

Also unternahm ich am nächsten Tag eine längere Wanderung durch Feld und Wald. Das machte ich immer so, wenn ich meine Gedanken ordnen oder einen Entschluss fassen wollte. Noch am selben Abend rief ich meinen Schwiegersohn an. Tobias ist ein Meister im Planen und Organisieren. Was er nicht zustande bringt, das kann man getrost als „unmöglich“ bezeichnen. Ich erzählte ihm meinen Plan.

Es dauerte eine knappe Woche, bis er sich wieder bei mir meldete.

„Es gibt da ein Klavier aus zweiter Hand, perfekter Zustand, annehmbarer Preis. Was sagst du, Schwiegermutter?“ „Ich kaufe, perfekt, danke, mein Lieber, auf dich ist Verlass!“, antwortete ich begeistert. Das war geschafft! Nun musste die zweite Hürde genommen werden. Ich meldete mich telefonisch bei Therese. Sie war pensionierte Musiklehrerin. Unterrichtet hatte sie früher in den Schulen vor Ort, unter anderem auch meine Christa. Außerdem erteilte sie Privatunterricht und leitete einige Jahrzehnte einen Chor in unserer Stadt. Alljährlich fand ein beachtenswertes Konzert in unserer Festhalle statt. Ich hatte nicht ein einziges Konzert versäumt. Vor einiger Zeit übergab Therese die Chorleitung an eine junge Pianistin. Am Telefon bat ich Therese, sie besuchen zu dürfen, ich hätte eine private Bitte. Sie sagte mir zu und empfing mich zwei Tage später in ihrem Haus. Nach unserer Begrüßung und einer kurzen Konversation erzählte ich ihr von Olga und fragte sie schließlich ohne Umschweife, ob sie sich vorstellen könnte, meine Freundin zu unterrichten. Therese schwieg, und ich überlegte krampfhaft, mit welchem Argument ich sie möglicherweise umstimmen könnte, als sie plötzlich sagte: „Gut, gehen wir es an. Es beeindruckt mich, mit welchem Engagement Sie sich einsetzen, um Ihrer Freundin ihren Wunsch zu erfüllen. Ich werde meinen Teil zum Gelingen beitragen.“

Ich hätte Therese vor Freude umarmen können.

Zwei Wochen später an einem Sonnabend wurde das Klavier geliefert. Meine Christa und ich hatten Olgas Söhne und Familien informiert und zu dem besagten Tag eingeladen. Ich scheuchte Olga unter einem Vorwand am Morgen aus dem Haus. Alle Familienmitglieder, selbstverständlich dazu auch Therese, versammelten sich in unserem Haus und bewunderten das Instrument. Als Olga ins Haus kam, verhielten wir uns mucksmäuschenstill. Sie betrat ihr Wohnzimmer, sah das Klavier, sah alle ihre Lieben versammelt, schaute zu dem Instrument, schaute uns an, dann blickte sie wieder zum Klavier, und dann liefen die Tränen in Strömen ihre Wangen hinunter. Sie konnte sich lange nicht beruhigen.

Therese weihte später das gute Stück ein und meinte an Olga gewandt. „Das werden auch Sie demnächst für uns spielen!“

Jeder hatte etwas Ess- und Trinkbares mitgebracht, und so feierten wir ein Fest, schöner als eines, das monatelang vorher vorbereitet gewesen wäre. Therese kam seit jenem Samstag jeden Dienstagnachmittag zu uns und erteilte Olga Unterricht. Es stellte sich heraus, dass Olga Talent hatte und sehr viel Ehrgeiz und Freude. Jeden Tag übte sie fleißig und ich hörte zu und genoss es. Nach der Übungsstunde saßen wir drei immer zusammen bei Kaffee und Kuchen, selbstgebacken von mir versteht sich. Resi war längst nicht nur Olgas Klavierlehrerin, wir drei waren Freundinnen geworden und verbrachten auch manche Sonntage gemeinsam. Resi hatte nie geheiratet. Sie war verlobt, als ihr Verlobter tödlich verunglückte.

„Ich habe einfach nie einen anderen Mann gewollt“, hatte sie uns erzählt. „So bin ich allein geblieben. Mein Bekanntenkreis hat sich im Laufe der Jahre auch infolge von Krankheiten und Tod gelichtet, und es gibt nur entfernte Verwandte. Ich genieße es besonders an Sonntagen, mit euch zusammen zu sein. Diese Tage sind für Alleinstehende besonders schwierig. Wohin soll man gehen? Es kann schmerzlich sein, überall Paare oder glückliche Familien zu sehen.“

Olga und ich stimmten ihr zu. Wer wüsste es besser, wenn nicht wir? Es war nun zwei Jahre her, dass wir Olga glücklich machten und in Resi eine treue Freundin gefunden hatten.

Für die nächste Zeit planten wir eine gemeinsame Reise. Nach Wien natürlich, in die Stadt der Musik. Ich schloss die Augen und dachte, so könnte es 100 Jahre weiter gehen!

Mama Doro

Der Winter wollte in diesem Jahr kein Ende nehmen. Dorothea war gerade erwacht, setzte sich auf die Bettkante, so wie sie es jeden Morgen tat, und schaute aus dem Fenster. Aus dem grauen Himmel fielen dicke Schneeflocken hernieder. „Im April!“, dachte Dorothea kopfschüttelnd, und es fiel ihr das alte Kinderlied ein: „Winter ade, scheiden tut weh, gehst du nicht bald nach Haus, lacht dich der Kuckuck aus, Winter ade, scheiden tut weh.“

Am liebsten hätte sie sich noch einmal ins Bett gelegt. „Warum eigentlich nicht?“, fragte sie sich. „Was gibt es schon Wichtiges für mich heute zu tun? Und meine Hilfe braucht sicher auch niemand. Eigentlich bin ich überflüssig geworden.“

Sie gab sich einen Ruck, stand auf, ging ins Badezimmer, schaute in den Spiegel und murmelte: „Na, alte Frau, inneren Schweinehund erfolgreich besiegt? Und nun duschen, anziehen frühstücken, und was dann?“

Ja, früher, da stellte sich diese Frage gar nicht.

Hans war morgens immer der Erste. Schwungvoll verließ er das Bett und ging pfeifend in Richtung Badezimmer.

„Wie kann man nur am frühen Morgen so fröhlich sein?“, fragte sich Dorothea oft und zog sich die Bettdecke noch einmal über die Ohren. Natürlich blieben ihr nur ein paar Minuten, bis sie sich mühselig aus ihrem kuscheligen Bett pellte.

Hans hatte inzwischen die Kinder geweckt und die Kaffeemaschine in Gang gesetzt. Beim Frühstück ging es schon munter zu.

Monika und Gregor hatten immer neue Pläne. „Mama, könntest du heute mal, und Mama, denk daran, Mama, vergiss nicht!“ Dorothea wusste wirklich nicht, ob sie nicht manchmal mit einem Donnerwetter Einhalt gebieten oder ob sie es einfach genießen sollte, für die Ihren gebraucht zu werden.

Auch an den Nachmittagen füllte sich oft das Haus mit Freunden und Freundinnen ihrer Kinder, und nicht selten saß der eine oder andere mit am Esstisch.

Hans gefiel dieses muntere Leben. Er lud auch sehr gerne an Wochenenden Freunde zu ihnen ein, um miteinander ein paar gesellige Stunden zu verbringen.

Auch Dorothea liebte es, ein offenes Haus zu haben, und wenn es ihr wirklich einmal zu viel Tumult wurde, dann hatte sie einen perfekten Rückzugsort, den besten, den man sich vorstellen konnte, den Wald in ihrer Nähe. Dorthin begleitete sie immer der jeweilige Haushund, erst „Chef“, dann „Flo“ und später „Molli“. Ein Leben ohne Hund war seinerzeit gar nicht denkbar.

Außerdem lebten in all den Jahren weitere verschiedene Tiere ebenfalls in ihrem Haus: Zwergkaninchen, Meerschweinchen, Vögel, Fische und wenn sie nicht rechtzeitig Einhalt geboten hätte, dann wären noch Mäuse, Ratten und wer weiß, was sonst noch kriecht und fliegt, hinzugekommen.

Manchmal gab es natürlich auch Streit. Kinder, Schule oder das leidige Geld, wie könnte es auch anders sein.

Hans war so unordentlich, wie er fröhlich war. Aber Dorothea konnte ihm nie lange böse sein. Die zwei hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes gesucht und gefunden.

Sie dachte an so manche Nacht, die sie durchgetanzt hatten und an die Wochenenden in den ersten Jahren ihrer Ehe ohne Kinder. Beide liebten sie es, freitags nach Dienstschluss in eine Himmelsrichtung zu fahren, dort, wo es ihnen gefiel, anzuhalten, das Leben in vollen Zügen zu genießen.

„13 Monate und ein paar Tage“, sagte er glücklich lächelnd, „und dann, Thea, geht es los.“

Ja, 13 Monate waren es nur noch bis zu seinem Ruhestand, erinnerte sich Dorothea. Sie seufzte, verließ das Badezimmer, ging in die Küche, um sich Frühstück zuzubereiten.

Draußen schneite es noch immer unaufhörlich. Sie setzte sich, trank einen Kaffee und schaute hinaus in den Garten. Eine dicke Schneeschicht bedeckte die ersten Frühlingsboten.