Mitgefühlstraining - Chris Irons - E-Book

Mitgefühlstraining E-Book

Chris Irons

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  • Herausgeber: Arbor
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Mitgefühl zu kultivieren – für sich selbst und andere – hat einen tiefgreifenden Einfluss auf unser Leben. Es führt nicht nur dazu, dass wir glücklicher und resilienter werden, sondern hilft auch bei zahlreichen psychischen Problemen wie Minderwertigkeitskomplexen, Scham und Selbstkritik, ebenso bei Angst- und Essstörungen. Dieses Buch bietet ein praktisches Mitgefühlstraining. Basierend auf der Compassionate Focused Therapy, CFT, die Neurowissenschaft, Erkenntnisse über Emotionsregulation und Achtsamkeit verbindet, eignet es sich als Begleitung und Unterstützung einer Psychotherapie sowie für die eigene Selbsterfahrung. Sie erarbeiten sich Schritt für Schritt eine innere, mitfühlende Haltung: Sie entwickeln Verständnis und Mitgefühl für sich selbst Sie lernen, sich für das Mitgefühl anderer zu öffnen und Mitgefühl für andere zu empfinden. Mit zahlreichen Übungen, Arbeitsblättern, Fallgeschichten und praktischen Anleitungen.

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Seitenzahl: 527

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Einführung

Teil I: Warum wir Mitgefühl brauchen

1 Unser Gehirn ist komplex

2 Wir werden von unseren Erfahrungen geprägt

3 Unsere Emotionen verstehen

4 Verstehen, wie und warum unsere Schwierigkeiten auftauchen

Teil II: Mitgefühl verstehen

5 Was ist Mitgefühl?

6 Die drei Ströme des Mitgefühls

7 Warum Mitgefühl schwierig sein kann

Teil III: Kapazität entwickeln –Die Grundlagen für unsere mitfühlende innere Haltung

8 Aufmerksamkeit und Achtsamkeit

9 Das Beruhigungssystem stärken I Schwerpunkt auf Körper und Atmung

10 Das Beruhigungssystem stärken II – Vorstellungskraft und Erinnerungen

11 Das Antriebssystem aufbauen

Teil IV: Unsere mitfühlende innere Haltung (weiter)entwickeln I

12 Unser mitfühlendes Selbst entwickeln

13 Die Entwicklung unseres mitfühlenden Gegenübers

14Die Entwicklung unseres mitfühlenden Teams

Teil V: Unsere mitfühlende innere Haltung lenken – Der Strom des Mitgefühls

15 Mitgefühl für andere

16 Mitgefühl von anderen erfahren

17 Selbstmitgefühl

Teil VI: Unsere mitfühlende innere Haltung (weiter)entwickeln II

18 Unsere mitfühlende innere Haltung einsetzen – Mitfühlende Aufmerksamkeit

19 Unsere mitfühlende innere Haltung einsetzen – Mitfühlendes Denken

20 Unsere mitfühlende innere Haltung nutzen – Mitfühlende Arbeit mit Emotionen

21 Unsere mitfühlende innere Haltung nutzen – Mitfühlendes Verhalten

22 Verschiedene Aspekte der mitfühlenden inneren Haltung zusammenbringen – Mitfühlende Briefe schreiben

Teil VII: Unsere mitfühlende innere Haltung nutzen, um mit oft auftretenden Problemen umzugehen

23 Unsere verschiedenen Anteile verstehen und mit Mitgefühl behandeln

24 Unsere mitfühlende innere Haltung bei Scham und Selbstkritik anwenden

25 Der Umgang mit Ängsten vor Mitgefühl, Mitgefühlsblockaden und -widerständen

Teil VIII: Unsere mitfühlende innere Haltung aufrechterhalten

26 Die neuen Fähigkeiten auch in Zukunft nutzen

Zum Schluss

Zu den Autor:innen

Danksagung

Verzeichnis der Übungen, Selbstreflexionen und Arbeitsblätter

Orientierungsmarken

Cover

Textbeginn

Verzeichnis

Chris Irons & Elaine Beaumont

Mitgefühlstraining

Wie Sie Schritt für Schritt eine mitfühlende innere Haltung entwickeln

Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Dr. phil. Olivia Bolt

Arbor VerlagFreiburg im Breisgau

Impressum

Für Sue und Korina

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel: The Compassionate Mind Workbook bei Robinson, an imprint of Little, Brown Book Group, London.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2023

Copyright der deutschen Ausgabe © 2022 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe © 2017 Chris Irons and Elaine Beaumont

Lektorat: Ralf Lay

Titelgrafik: © Droidworker/istockphoto.com

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

Alle Rechte vorbehalten

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-371-6

Einführung

Herzlich willkommen zum Mitgefühlstraining: Wie Sie Schritt für Schritt eine mitfühlende innere Haltung entwickeln. Dieses Buch beschreibt, wie Selbstmitgefühl und Mitgefühl für andere uns dabei helfen können, mit Schwierigkeiten umzugehen, denen wir im Leben häufig begegnen. Forschungsergebnisse der letzten zwanzig Jahre haben gezeigt, dass das Praktizieren von Mitgefühl (compassion) unser Denken, unsere Gefühle, unser Verhalten und sogar unsere Körper- und Gehirnfunktionen positiv verändern kann. Viele Menschen missverstehen Mitgefühl als eine weiche, passive oder sogar schwache Eigenschaft. In Wirklichkeit ist Mitgefühl sehr weise und mutig!

Bedenken Sie einmal: Oft steht ein mitfühlender Beweggrund hinter der Entscheidung, sich für den Rettungsdienst ausbilden zu lassen oder sonst einen helfenden Beruf wie Lehrer, Ärztin oder Krankenpfleger auszusuchen, für den man viele Jahre lang lernen beziehungsweise studieren muss. Jedes Mal, wenn wir für jemanden etwas bewirken möchten, wenn wir in schwierigen Zeiten hilfreich und unterstützend sein wollen, nutzen wir mitfühlende Beweggründe. Nehmen Sie sich kurz Zeit, und überlegen Sie sich, welche Menschen dafür bekannt sind, mitfühlend zu sein – vielleicht solche wie Jesus, Mahatma Gandhi oder Nelson ­Mandela. Sie waren keineswegs schwach, sondern entschlossen, der Welt eine mitfühlende Haltung zu vermitteln. An Mitgefühl gibt es absolut nichts Schwaches, Passives oder Weiches. Das Problem ist, dass wir häufig nicht daran denken, aus Mitgefühl heraus zu handeln, und unser ­Verhalten stattdessen von Wut, Hass, Angst, Scham oder sogar Selbstkritik und Selbstabneigung beeinflusst wird.

Obwohl wir in Kapitel 4 ausführlicher darauf zurückkommen werden, kann es jetzt schon hilfreich sein zu klären, was Mitgefühl ist und was nicht. Einer unserer Klienten sagte uns einmal: »Das größte Problem beim Mitgefühl ist das Wort selbst!« Dies stellte sich als eine wichtige Einsicht heraus, die von anderen Klienten, Therapeuten und Menschen im Allgemeinen geteilt wird, wenn es um die Entwicklung von Mitgefühl geht.

Was steckt in einem Wort?

Einige der Schwierigkeiten mit Mitgefühl beziehen sich also auf das Wort selbst. Wenn wir die Idee des Mitgefühls vorstellen und darum bitten, Wörter zu nennen, die diese Eigenschaft beschreiben, zählen die Leute viele positive Begriffe auf, darunter »Fürsorge«, »Freundlichkeit«, »Wärme«, »Geduld«, »Einfühlungsvermögen« und »Verständnis«. Manchmal nennen sie jedoch auch negativ konnotierte Wörter wie »Mitleid«, »Schwäche«, »Luxus«, »Verantwortungslosigkeit« und sogar »Wischiwaschi« genannt.

Denken Sie über das Wort »Mitgefühl« nach – hat es für Sie irgendwelche negativen Assoziationen? Was gefällt Ihnen daran nicht?

Wenn Ihnen einige negativ besetzte Begriffe in den Sinn kommen, ist das natürlich nicht Ihre Schuld. Es könnte es Ihnen jedoch schwerer machen, sich selbst oder anderen gegenüber mitfühlender zu werden! Zu Beginn möchten wir Sie also einfach wissen lassen, dass für uns »Mitgefühl« kein abfälliger Begriff ist.

Für uns ist Mitgefühl eine »Sensibilität für das Leiden bei sich selbst und anderen (und seiner Ursachen) mit dem Commitment, dieses zu lindern und zu verhindern«. Ausgehend von dieser Definition, erfordert Mitgefühl also eine bestimmte innere Haltung. Zunächst müssen wir die Bereitschaft entwickeln, auf Dinge zu achten, die schwierig sind, ohne uns von diesen abzuwenden, ihnen auszuweichen, abzuschalten oder einfach nach einer Flasche Wein zu greifen. Das bedeutet, dass wir den Mut aufbringen, uns unseren eigenen Schwierigkeiten und denen anderer zuzuwenden, und nicht vor ihnen weglaufen. In diesem Buch wird gezeigt, wie wir die Kraft und den Mut dafür entwickeln. Zweitens müssen wir Weisheit in unserem Wunsch entfalten, fürsorglich und hilfsbereit zu sein; da reicht gute Absicht allein leider nicht aus. Wir müssen eine Vielzahl von Fähigkeiten aufbringen, die uns dabei helfen, mit unseren eigenen Schwierigkeiten und dem Leid anderer umzugehen.

Hier ein Beispiel: Angenommen, Sie sehen jemanden in einen Fluss fallen. Weil die Person so aussieht, als würde sie ertrinken, rennen Sie im »Baywatch-Stil« ans Ufer des Flusses und springen hinein, um die Person zu retten. Das ist sicherlich mitfühlendes Verhalten, nicht wahr? Nun ja, aber nur, wenn man schwimmen kann. Wenn Sie nicht schwimmen können, werden Sie wahrscheinlich leider beide ertrinken, und das wäre kein mitfühlendes Verhalten gewesen.

Hier ist ein weiteres Beispiel: Wenn Sie Arzt werden und Menschen helfen wollen, ist es wichtig, dass Sie auf die Not, den Schmerz und das Leiden der Menschen achten, aber Sie müssten auch viele Jahre lang studieren, um zu wissen, wie Sie den Menschen am besten helfen können. Sie verfügen sicher über eine intuitive Weisheit und wissen, dass viele Fähigkeiten im Leben der Entwicklung von Kompetenz und Kenntnissen bedürfen. Was müssen Sie zum Beispiel machen, wenn Sie gut Gitarre oder Golf spielen oder unterrichten wollen? Wir alle wissen, dass die Übung und der Erwerb von Fähigkeiten in vielen Lebensbereichen wichtig sind.

Bei Mitgefühl und unserem Geist ist es genau dasselbe. Je mehr wir ihn verstehen und vor allem je mehr wir verstehen, wie wir ihn pflegen und entwickeln können, desto glücklicher werden wir wahrscheinlich sein. In unserem Kulturkreis werden in der Schule viele wichtige Fächer unterrichtet – Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften und so weiter  –, aber leider lernen wir nicht, wie unser Geist funktioniert und welche Fähigkeiten wir trainieren müssen, um gesunde und unterstützende Beziehungen zu uns selbst und zu anderen aufzubauen. Tatsächlich ist es leider so, dass ein großer Teil des modernen Lebens – unsere Schulen, unsere Arbeitsplätze und die Medien – genau das Gegenteil bewirken; sie bringen uns in einen wettbewerbsorientierten Selbstfokus, und wir verbringen viel Zeit damit, uns Sorgen zu machen, ob wir genügend erfolgreich, attraktiv oder talentiert sind. Die Forschung zeigt, dass wir zunehmend unzufriedener mit uns selbst sind und vermehrt mit psychischen Problemen wie Angst und Depression zu kämpfen haben. Dies ist eine Tragödie der modernen Gesellschaft – und für unseren Geist und Körper.

Stellen wir uns einmal vor, wir könnten die Fähigkeiten entwickeln und lernen, mit den Schwierigkeiten umzugehen, denen wir im Leben begegnen, indem wir uns auf unseren Wunsch konzentrieren, hilfreich, unterstützend, stark und verständnisvoll zu sein. Stellen Sie sich vor, wir könnten lernen, langsamer zu werden und uns auf unsere innere Weisheit einzustimmen, um uns selbst zu helfen, mit welchen Schwierigkeiten auch immer wir konfrontiert werden. Wenn Sie das anspricht, dann lesen Sie gerade den richtigen Text! Darum geht es beim Mitgefühlstraining, und deshalb haben wir dieses Buch für Sie geschrieben. Sind Sie jemand, der selbstkritisch wird, wenn er Fehler macht? Oder sich über vieles sorgt, zum Beispiel darüber, was andere Menschen über ihn oder seine Leistung bei der Arbeit denken? Oder grübeln Sie viel über Probleme und Fehler, die Sie gemacht zu haben glauben? Stellen Sie sich jetzt einmal vor, Sie würden lernen zu merken, was in Ihrem Kopf geschieht, und in der Lage sein, das Problem mit Ihrem mitfühlenden Mut und Ihrer mitfühlenden Weisheit anzugehen.

Wenn Sie dies lesen, denken Sie vielleicht: »Das ist nicht möglich! Ich war schon immer ein selbstkritischer Mensch und jemand, der sich viele Sorgen macht oder viel grübelt.« Oder Sie denken vielleicht auch: »Aber all diese Eigenschaften sind wichtige Teile dessen, was ich bin – ich bewältige meine Schwierigkeiten, indem ich mich selbst kritisiere/mir Sorgen mache/grüble.« Dieses Buch wird Ihnen dabei helfen, sich darin zu üben, eine bessere Art und Weise zu entwickeln, mit sich selbst und anderen umzugehen, wenn die Umstände schwierig sind. Eine beträchtliche Anzahl von Forschungsergebnissen hat gezeigt, dass wir durch das Praktizieren von Mitgefühl weniger selbstkritisch, ängstlich, wütend und depressiv werden und gleichzeitig unser Wohlbefinden und unsere Beziehungszufriedenheit steigern können. Einige der Übungen, die wir in diesem Mitgefühlstraining mit Ihnen teilen möchten, wurden über viele Hundert Jahre hinweg entwickelt. Andere hingegen sind aus der Arbeit mit Menschen mit emotionalen Schwierigkeiten entstanden und wurden im Rahmen einer Therapieform generiert, die sich »Compassion Focused Therapy (CFT)« nennt. Aber Sie brauchen nicht in Therapie zu sein oder den Eindruck zu haben, dass Sie therapiert werden müssten, um von den Ideen und Übungen zu profitieren, die wir uns in den kommenden Kapiteln gemeinsam anschauen werden. Jeder von uns wird im Leben Leid erfahren – Rückschläge, Misserfolge, Ablehnungen, schmerzhafte Emotionen und leider auch Krankheit und Tod. Deshalb ist die Entwicklung einer mitfühlenden inneren Haltung etwas, von dem wir alle profitieren können.

Begeben wir uns also auf eine Reise, um herauszufinden, wie wir unsere mitfühlende innere Haltung entwickeln können. Dabei lernen wir, wie wir Mitgefühl in unseren Alltag zu bringen vermögen und wie dies uns dabei helfen kann, mit den Schwierigkeiten, Rückschlägen und Ängsten umzugehen, die uns so leicht gefangen nehmen und Leid verursachen können.

Wie ist dieses Buch aufgebaut?

Der Ansatz in diesem Buch leitet sich zum Teil von der Compassion Focused Therapy (CFT) ab. In dieser Therapie werden viele verschiedene Übungen angewendet, zum Beispiel die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Art und Weise zu lenken, Verhaltenspraktiken, Vorstellungsübungen, um unser Gehirn und unseren Körper zu stimulieren; und es wird eine innere Haltung entwickelt, die auf den Qualitäten des Mitgefühls basiert. Dieses Buch bringt Ihnen die Übungen und Praktiken auf strukturierte Weise nahe, damit Sie in den Genuss eines Mitgefühltrainings für Ihren Verstand kommen. Wir haben es in folgende Teile gegliedert.

Teil I: Warum wir Mitgefühl brauchen

In diesem Teil werden wir uns mit den wichtigsten Aspekten befassen, die wir kennen müssen, um das menschliche Gehirn und seine Entwicklung zu verstehen. Wir werden uns anschauen, (1) wie es funktioniert, (2) dass es für uns leicht ist, Wut, Angst und Selbstzweifel zu erleben, (3) warum es für uns so einfach ist, »auf die eigene Gruppe bezogen«, feindselig und aggressiv zueinander zu werden, und (4) warum es für uns so leicht ist, an einer Vielzahl von psychischen Problemen wie Depressionen zu leiden, obwohl unser materielles Leben viel besser ist als vor, sagen wir, fünfhundert Jahren. Wir werden lernen, dass das menschliche Gehirn zwar über wunderbare Fähigkeiten verfügt, aber viele »eingebaute« Probleme hat aufgrund der Art und Weise, wie es sich entwickelte. Wenn wir dies wirklich verstehen, dann können wir erkennen, dass viele der Schwierigkeiten, die wir mit der Funktionsweise unseres Geistes haben, nicht wirklich unsere Schuld sind. Dieses Verständnis führt jedoch nicht dazu, dass wir resignieren. Es kann uns vielmehr dazu inspirieren zu lernen, wie wir Verantwortung für unseren Geist übernehmen können, indem wir bestimmte Praktiken erlernen.

Teil II: Mitgefühl verstehen

Im zweiten Teil des Buches werden wir uns eingehender damit befassen, was wir unter Mitgefühl verstehen. Wir werden einige der Eigenschaften untersuchen, die bei der Entwicklung einer mitfühlenden inneren Haltung hilfreich sind, und aufzeigen, dass Mitgefühl drei »Ströme« hat: das Mitgefühl, das man für andere Menschen hat, die Offenheit für das Mitgefühl von anderen und das Mitgefühl für sich selbst (Selbstmitgefühl). Wir werfen auch einen Blick auf einige der Blockaden und Ängste, die in Bezug auf Mitgefühl vorhanden sein mögen, und versuchen zu verstehen, wie diese der Entwicklung unserer mitfühlenden inneren Haltung im Wege stehen können.

Teil III: Kapazität entwickeln – Die Grundlagen für unsere mitfühlende innere Haltung

Der dritte Teil dieses Buches konzentriert sich darauf, uns dabei zu helfen, solide Grundlagen für Mitgefühl zu schaffen. So wie es beim Bau eines Hauses wichtig ist, zuerst feste Grundsteine zu legen, ist ein ähnlicher Prozess für die Entwicklung einer mitfühlenden inneren Haltung hilfreich. In den Kapiteln dieses Teils werden wir uns also gemeinsam damit befassen, Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Wahrnehmungsfähigkeiten durch verschiedene Achtsamkeitsübungen zu schulen. Danach stellen wir dann Wege vor, wie Sie Ihre positiven Emotionssysteme entwickeln können. Dies hat sich bei der Bewältigung von Schwierigkeiten im Leben als wirksam erwiesen.

Teil IV: Unsere mitfühlende innere Haltung (weiter)entwickeln I

In den Kapiteln dieses Teils werden wir Ihnen dabei helfen, Ihre mitfühlende innere Haltung zu entwickeln. Dazu gehört das Kennenlernen und Durchführen von Übungen, die für das Mitgefühlstraining von ­zentraler Bedeutung sind – wie zum Beispiel das »mitfühlende Selbst« – und die helfen können, mit unseren Schwierigkeiten auf eine andere Weise umzugehen.

Teil V: Unsere mitfühlende innere Haltung lenken – Der Strom des Mitgefühls

In diesen Kapiteln behandeln wir, wie Mitgefühl in drei verschiedenen Richtungen fließen kann: zu anderen, von anderen und zu uns selbst (Selbstmitgefühl). Wie die drei Beine eines Hockers wollen wir, dass jeder dieser »Ströme« fest und beständig ist, und wir werden verschiedene Wege aufzeigen, wie wir unsere Fähigkeit, dies zu tun, üben und stärken können.

Teil VI: Unsere mitfühlende innere Haltung (weiter)entwickeln II

In diesem Teil des Buches fokussieren wir uns weiter auf die Entwicklung Ihrer »mitfühlenden inneren Haltung« – bei der Gestaltung Ihrer Motivation, Ihrer Aufmerksamkeit, Ihres Denkens, Ihrer Gefühle und Ihres Verhaltens. In jedem dieser Bereiche werden wir Ihnen dabei helfen zu üben, wie Sie Ihre mitfühlende innere Haltung auf bewusste Weise lenken können. Es hat sich gezeigt, dass dies Menschen helfen kann, mit Schwierigkeiten und Problemen in ihrem Leben umzugehen.

Teil VII: Unsere mitfühlende innere Haltung nutzen, um mit oft auftretenden Problemen umzugehen

Nun, da Sie über eine feste Grundlage der Eigenschaften und Fähigkeiten Ihrer mitfühlenden inneren Haltung verfügen, werden wir uns darauf konzentrieren, wie Sie diese Fähigkeiten einsetzen können, um Ihnen bei häufigen Schwierigkeiten zu helfen, mit denen viele von uns zu kämpfen haben – Problemen mit der Selbstkritik und im Umgang mit unseren Emotionen.

Teil VIII: Vorwärts schauen – Unsere mitfühlende innere Haltung aufrechterhalten

Im letzten Teil, und eigentlich im letzten Kapitel dieses Buches, werden wir Zeit damit verbringen, darüber nachzudenken, wie Sie die Arbeit fortsetzen können, die Sie bezüglich Ihrer mitfühlenden inneren Haltung geleistet haben. Wir schauen uns an, unter welchen Umständen Sie von der mitfühlenden inneren Haltung abweichen könnten, und besprechen Rückschläge, die Sie möglicherweise erleiden werden, und wie Sie damit umgehen könnten. Dies immer mit dem Fokus, sich selbst auf dem Weg in die Zukunft so gut wie möglich zu unterstützen.

Wie Sie dieses Buch am besten nutzen

Dieses Buch wurde als Schritt-für-Schritt-Anleitung konzipiert, um Ihnen bei der Entwicklung Ihrer mitfühlenden inneren Haltung zu helfen. Wie wir gerade hervorgehoben haben, enthält jeder Teil dieses Buches spezielle Kapitel, die Sie dabei unterstützen sollen, Ihr Verständnis für die Schwierigkeiten und das Leiden, das Sie im Leben erfahren, zu entwickeln, Ihre Fähigkeiten zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten und des Leidens zu verbessern und somit Ihr Wohlbefinden zu steigern. Wir haben jedes Kapitel so konzipiert, dass es zum einen Gelegenheiten zum persönlichen Nachdenken gibt über das, was Sie gelernt haben, und zum anderen Möglichkeiten zum Lernen und Üben einer Vielzahl von Fertigkeiten bietet.

Übungen und Selbstreflexionen

Versuchen Sie, die Techniken und Fertigkeiten in jedem Kapitel konsequent zu üben. Es ist wichtig, dass Sie sich die Zeit nehmen, sie in den einzelnen Kapiteln durchzuführen, auch wenn einige davon schwierig sind oder Sie den Drang verspüren, zur nächsten Übung oder zum ­nächsten Kapitel überzugehen. Wie das Erlernen der meisten neuen Fertigkeiten erfordert das Erlernen von Mitgefühl Übung und manchmal auch Geduld – aber mit der Zeit wird es einfacher werden.

Das Buch soll Ihnen helfen, Ihren Geist zu trainieren, mitfühlend auf Leiden zu reagieren und Ihr Leben ins Gleichgewicht zu bringen. In einigen Kapiteln haben wir einen Abschnitt mit hilfreichen Hinweisen und einen Abschnitt über die Schwierigkeiten, die auftauchen können, eingefügt, um Ihnen auf diesem Weg zu helfen. Gehen Sie in Ihrem eigenen Tempo vor, und denken Sie an das Konzept der »kleinen Schritte«. So wie wir im seichten Wasser schwimmen lernen (und nicht mitten im Ozean während eines Sturms), gilt das gleiche Prinzip auch beim Lernen von Mitgefühl. Nehmen Sie sich Zeit, und bauen Sie Ihr Vertrauen auf, indem Sie so oft wie möglich üben. Wenn Sie sich dabei ertappen, wie Sie durch die Übungen rasen, ohne sich wirklich auf sie einzulassen, dann könnte es hilfreich sein, eine Pause einzulegen und zu einem späteren Zeitpunkt am Tag oder in der Woche wieder damit weiterzumachen.

Seien Sie freundlich zu sich selbst

Denken Sie beim Durcharbeiten der einzelnen Kapitel daran, freundlich zu sich selbst zu sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn Sie etwas schwierig finden oder einen Rückschlag erleiden – wir alle erleben Rückschläge, und obwohl wir aus ihnen lernen werden, können sie dennoch schmerzhaft sein. Manchmal ist es hier hilfreich, wenn wir uns an unsere Absicht erinnern und uns auf unseren Wunsch konzentrieren, uns selbst gegenüber fürsorglicher und mitfühlender zu sein, auch (und gerade) in den Momenten, in denen es schwierig wird.

Fallbeispiele

Um einige der Ideen und Übungen dieses Buches lebendig werden zu lassen, verwenden wir im gesamten Buch Fallbeispiele. Dabei handelt es sich zumeist um Vermischungen von realen Menschen und unseren persönlichen Erfahrungen. Alle Namen und personenbezogenen Angaben wurden geändert, um die Anonymität zu wahren.

Teil I Warum wir Mitgefühl brauchen

Der erste Teil dieses Übungsbuches erklärt, warum die Entwicklung von Mitgefühl für sich selbst und andere hilfreich sein kann. In den folgenden Kapiteln werden wir drei mitfühlende Annahmen beschreiben:

Unser Gehirn hat sich auf eine Weise entwickelt, die es ziemlich anfällig dafür macht, auf eine Stress verstärkende Art und Weise zu denken und zu fühlen.Wir sind von Erfahrungen geprägt, über die wir wenig Kontrolle haben.Wir verfügen über drei Kern-Emotionssysteme, die sich entwickelt haben, um wichtige Funktionen zu erfüllen. Diese können aber leicht aus dem Gleichgewicht geraten.

Wir werden auch anschauen, wie wir diese Annahmen nutzen können, um Ihnen dabei zu helfen, sich selbst und einige der Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen Sie konfrontiert sind.

1

Unser Gehirn ist komplex

»Der Geist ist selbst sich Ort, und in sich selbst Schafft er aus Himmel Höll’, aus Hölle Himmel.«

John Milton

Das Leben kann hart sein. Manchmal leiden wir aufgrund bestimmter Ereignisse in unserem Leben wie Stress im Beruf, in der Familie oder in Beziehungen, schlechter Erinnerungen aus der Vergangenheit oder vielleicht einer schweren Krankheit. Manchmal leiden wir, weil wir auf die Probleme blicken, die in der Welt geschehen: Kriege, Armut, Naturkatas­trophen und Hungersnöte. Oder es bedrückt uns der Gedanke daran, dass wir alle irgendwann sterben werden. Wir beschäftigen uns nicht so gern mit diesen Themen, und es erweist sich meistens auch nicht als sinnvoll, dies allzu lange zu tun. Aber manchmal ist es für uns wichtig, die Realität des Lebens anzuerkennen und einen Weg zu finden, wie wir damit leben können, statt sie zu ignorieren, abzuwehren oder zu versuchen, sie aus unseren Köpfen zu verdrängen. An dieser Stelle kommt das Mitgefühl ins Spiel, denn es bildet die Grundlage für eine weise und mutige Haltung, die uns dabei hilft, mit der Lebenswirklichkeit umgehen zu können.

Einer der Eckpfeiler des Mitgefühls ist Weisheit. Die Weisheit zu verstehen, wie und warum wir leiden, kann ein wichtiger Schritt sein, um uns dabei zu helfen, das Leiden zu lindern. Wir können an verschiedenen Orten nach den Ursachen des Leidens suchen. Zum Beispiel war ganz offensichtlich ein Sturz vom Fahrrad und ein Armbruch die Ursachen des Leidens (der Schmerzen). Wir können aber auch hinter die Kulissen schauen: Der Grund, warum uns etwas wehtut, liegt darin, dass die Evolution Organismen geschaffen hat, die in der Lage sind, physische Schmerzen zu empfinden, um uns auf potenzielle Gefahren und die Notwendigkeit hinzuweisen, unseren Körper zu versorgen (zum Beispiel eine Wunde zu säubern oder zu ruhen, falls Sie einen verstauchten Knöchel haben), wenn wir auf irgendeine Weise verletzt worden sind. Ein wichtiger Ausgangspunkt, um unser Denken zu verstehen, ist also zu lernen, wie er funktioniert, wie er so geworden ist, wie er ist. Wenn wir eine mitfühlende Haltung entwickeln, lernen wir, dass einige der Probleme, denen wir begegnen, mit der Entwicklung unseres Gehirns zusammenhängen.

Es zeigt sich, dass der Evolutionsprozess unser Gehirn tatsächlich ein bisschen durcheinandergebracht hat! Wir nennen das »komplexe Gehirne«. Unser Gehirn ist zu erstaunlichen Dingen fähig und hat wunderbare Fähigkeiten, wie die Fähigkeit zu denken, sich etwas vorzustellen, zu planen und zu reflektieren.

Aus diesen Fähigkeiten wiederum gingen einige der großen Errungenschaften unserer Spezies hervor: die Schriften von Shakespeare, ­Hemingway und Austen; die Kunst von Michelangelo und Picasso, die Musik von Mozart und Beethoven. Sie hat zu erstaunlichen medizinischen Fortschritten geführt – Antibiotika, Medikamente und Operationen, die das Leben von Millionen Menschen gerettet haben. Die Wissenschaft hat uns die Augen für die Bausteine unserer selbst und des Universums geöffnet – und dazu beigetragen, dass Menschen auf dem Mond landen. Leider haben dieselben Fähigkeiten des Denkens und Schlussfolgerns sowie das Vorstellungsvermögen auch eine dunkle Seite. Wir verfügen über unerschöpfliche Möglichkeiten, anderen Schmerz zuzufügen. Wir erfanden Massenvernichtungswaffen und sind seit geraumer Zeit dabei, unseren Planeten massiv zu verschmutzen. Und die Fähigkeiten des Gehirns ­können auch unser Leiden verstärken, indem wir selbstkritisch sind, uns Sorgen machen oder uns in Grübelschleifen verlieren.

Eine nützliche, wenn auch vereinfachte Art und Weise, das menschliche Gehirn zu verstehen, besteht darin, über alte und neue Teile nachzudenken. Es gibt Bereiche unseres Gehirns, die sehr alt sind (über 200 Millionen Jahre) und die wir mit vielen anderen Tierarten (zum Beispiel Reptilien und Säugetieren) gemeinsam haben – und einen Teil unseres Gehirns, der sich in relativ jüngerer Zeit entwickelte und der über einige einzigartige »menschliche« Funktionen verfügt. Wir unterscheiden daher zwischen unserem »alten« und unserem »neuen Gehirn«.

Unser altes Gehirn: Genau wie unser Körper ist unser Gehirn das Resultat von Hunderten von Millionen Jahren Evolution. Einige seiner ältesten Strukturen scheinen auf eine Art und Weise zu funktionieren, die uns – und anderen Tieren, die ähnliche Hirnstrukturen aufweisen – dabei hilft, viele der Gefahren in der Welt sicher zu meistern, und uns motiviert, Ressourcen zu nutzen, die für das Überleben und die Fortpflanzung von Nutzen sind.

Wissenschaftler sprechen manchmal darüber, dass diese Gehirnstrukturen bei den Reptilien entstanden sind – und dieser Teil des Gehirns wird oft als »Reptiliengehirn« bezeichnet. Tatsächlich scherzen sie zuweilen, dass die Funktionen dieses alten Hirnteils mit den »vier Fs« verbunden sind: Fressen, Fighten, Fliehen und F… (Sex haben)! All dies sind Motive, die Sie auch bei Reptilien beobachten können. Da unser Gehirn ähnliche Strukturen beibehalten hat, sind sie für uns ebenfalls wichtige Motive. Nach den Reptilien kamen vor etwa 200 Millionen Jahren die Säugetiere auf die Welt. Ähnlich wie die Reptilien haben auch die Säuge­tiere ein Interesse an den vier Fs, zeigen aber ein größeres Interesse an ihren Nachkommen und an Möglichkeiten, sich um diese zu kümmern. Sie fokussieren sich auch stärker auf Bindungen, soziale Kommunikation, Spiel und Zuneigung und sind motiviert, sich darauf einzulassen. Dieser Teil des Gehirns wird manchmal auch als »Säugetiergehirn« oder »limbisches System« bezeichnet. Es spielt eine wichtige Rolle bei grundsätzlichen Emotionen wie Angst, Wut, Traurigkeit und Freude, die sich entwickelten, damit sich die Tiere mit ihren Motiven auseinandersetzen und letztlich überleben und gedeihen.

Fassen wir noch einmal zusammen: Wir haben beschrieben, dass wir einen »alten« Teil unseres Gehirns mit einer Reihe von Funktionen haben: Motive, Emotionen und grundlegende Verhaltensweisen zur Verteidigung. Diese teilen wir mit anderen Tieren dieser Welt, und sie wurden von der Evolution entwickelt, um das Überleben und die Fortpflanzung zu erleichtern. Dazu gehören:

Grundmotive wie Schadensvermeidung (Überleben), Nahrungssuche, sexuelle Möglichkeiten und Status; Bindung und Pflege von Nachkommen;defensive Verhaltensweisen wie Kampf, Flucht, Einfrieren (freeze), Unterwerfung und Klammern;Grundemotionen wie Wut, Angst, Ekel, Traurigkeit und Freude.
Beispiel

Claire hatte große Probleme bei der Arbeit. Ihr Chef war oft sehr kritisch, schroff, abweisend und manchmal auch emotional übergriffig. Erschwerend kam hinzu, dass ihre Kollegen sehr karriereorientiert und wenig unterstützend waren.

Als sie darüber nachdachte, wie sich dies auf ihr altes Gehirn auswirkte, erkannte sie, dass sie sich in diesem Umfeld (fast ständig) sehr ängstlich fühlte und den Drang verspürte, zu »fliehen« und längere Aufenthalte im Büro zu vermeiden. Sie erkannte auch, dass sie dies unter anderem deshalb nicht in die Tat umsetzte, weil es ihr wichtig war, erfolgreich zu sein und »gutes Geld« zu verdienen, sodass sie sich gegenüber Kollegen oft sehr unterwürfig und nicht herausfordernd verhielt.

Selbstreflexion: Das alte Gehirn erforschen

Können Sie an eine Alltagssituation oder -situationen denken, in denen Ihr altes Gehirn aktiviert wurde?

Welche alte Hirnemotion hat diese Situation bei Ihnen ausgelöst?

Welche Motivation oder Verhaltensweisen sind damit verbunden?

Was wollen Sie tun, wenn diese alte Hirnemotion ausgelöst wird?

Unsere Spezies hat jedoch auch in jüngerer Zeit ein Set von speziellen (»neuen«) Kompetenzen entwickelt.

Unsere »menschlichen« Fähigkeiten des neuen Gehirns: Vor etwa zwei Millionen Jahren begannen unsere entfernten Primatenvorfahren, immer komplexere, ausgefeiltere und »intelligentere« Denkprozesse zu entwickeln. Dieser Teil unseres Gehirns ist mit dem sogenannten präfrontalen Kortex assoziiert und hat wunderbare neue Möglichkeiten hervorgebracht. Dazu gehören die folgenden:

Wir vermögen uns etwas vorzustellen: Wir haben die erstaunliche Fähigkeit, in unserem Geist Bilder zu schaffen, die vielleicht real sind oder auch nicht, uns aber in vielen Lebensbereichen helfen. Ob Künstler oder Autor, Architekt oder Schauspieler, unsere Fähigkeit, Bilder zu schaffen, ist in all diesen Berufen von wesentlicher Bedeutung. Wir nutzen unsere Imaginationskraft auch, um unsere sozialen Beziehungen zu gestalten. Denken Sie an das letzte Mal, als Sie einem Freund ein Geschenk kaufen mussten oder eine Überraschung für jemanden geplant haben, der Ihnen etwas bedeutet. Es ist wahrscheinlich, dass Ihre Vorstellungskraft dabei eine zentrale Rolle spielte.Wir können an die Zukunft denken: Unsere Kompetenzen des neuen Gehirns erlauben es uns, unseren Blick in kommende Zeiten zu richten und mögliche Ereignisse in Betracht zu ziehen. Wir können Vorgänge planen, die entweder passieren oder auch nicht, ob das nun später am heutigen Tag, nächste Woche, nächstes Jahr oder in zehn Jahren ist.Wir können über unser Denken nachdenken: Dies wird manchmal als »Metakognition« bezeichnet und spiegelt wider, wie unsere neuen Hirnfähigkeiten dazu führen können, dass wir unseren eigenen Verstand beobachten und eine Meinung über unseren eigenen Geist, unsere Gedanken und Gefühle haben können.Wir können über Geschehnisse in der Vergangenheit nachdenken: Wir sind nicht nur in der Lage, über die Zukunft nachzudenken, wir können unseren Geist auch in die Vergangenheit schicken und über Ereignisse nachsinnen, die passé sind – und über Handlungen, die wir oder andere ausgeführt haben.

Obwohl sich zwei Millionen Jahre wie eine furchtbar lange Zeit anhören, handelt es sich in evolutionärer Hinsicht um eine recht junge Entwicklung. (Die frühesten grundlegenden Lebensformen auf der Erde entwickelten sich schätzungsweise vor etwa vier Milliarden Jahren!) Wie erwähnt, ermöglichten diese neuen Gehirnfähigkeiten den Menschen, Wunderbares zustande zu bringen: große Werke der Poesie und Belletristik zu schreiben, zu malen, zu zeichnen und zu bildhauern und in jüngerer Zeit ein objektiveres Verständnis für Natur, Wissenschaft und Technik zu entwickeln. Wir entwickelten Heilmittel für eine Unzahl von Krankheiten, erfanden eine Technologie zum Scannen unseres Körpers und schickten Männer und Frauen in den Weltraum. Wie Sie sicher selbst feststellen konnten, gibt es bei alldem jedoch ein »Aber«.

Alte und neue »Schleifen« – Ein Geist, der sich um sich selbst drehen kann

Obwohl wir hier komplexe Gehirnprozesse vereinfachen, wissen wir, dass unsere neuen Kompetenzen, zu denken, uns etwas vorzustellen, zu grübeln, sich Sorgen zu machen und das Ichbewusstsein gut mit unseren alten Gehirnmotiven, Emotionen und Verhaltensweisen interagieren und koordiniert sein können (dies ist in Abbildung 1.1 dargestellt).

Abbildung 1.1: Wechselwirkung zwischen alten und neuen Gehirnfunktionen

Manchmal können sich diese verschiedenen neuen und alten Funktionen jedoch in wenig hilfreichen »Schleifen« verfangen. Unser Geist kann sich so um sich selbst drehen, dass es zu »Störungen« kommen kann, die wiederum einen Teil der Not und der Schwierigkeiten, die wir im Leben erfahren, verstärken können. Hier sind einige Beispiele:

Beispiel

John lag im Bett und fühlte sich nach einem langen Arbeitstag entspannt. Gerade als er einschlafen wollte, kam ihm ein Gedanke in den Sinn: »Habe ich daran gedacht, das Büro richtig abzuschließen?« Plötzlich verschwand seine Schläfrigkeit, und er begann, ein wenig Spannung und Angst im Magen zu verspüren. Zwei Stunden später war er immer noch wach, kämpfte mit Schlaflosigkeit, war angespannt und frustriert. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, nicht nur wegen der möglicherweise unverschlossenen Bürotür, sondern wegen der Bilder, all der Computer und Firmengeheimnisse, die am Morgen fehlen würden! Als dieses Gefühl der Angst anhielt, tauchten neue Gedanken auf: »Warum bin ich so vergesslich? Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir«, die ihn weiterhin ängstlich und angespannt machten. (Abbildung 1.2 zeigt Johns Schleifen grafisch dargestellt.)

Abbildung 1.2: Einige von Johns Schleifen

Beispiel

Mia war gerade auf Facebook, als sie ein Bild einiger enger Freunde sah, die sich – dem Gesichtsausdruck nach – auf einer Party eines anderen Freundes amüsierten. Außerdem lautete der Kommentar neben dem Bild: »All die besten Freunde zusammen – die beste Party aller Zeiten!«

Schon beim Anblick des Bildes und beim Lesen des Kommentars begann Mia, sich angespannt und ängstlich zu fühlen, und ein Gedanke kam ihr in den Sinn: »Sie haben so viel Spaß – wie kommt es, dass ich nicht eingeladen wurde?« Und: »Vielleicht wurde ich nicht eingeladen, weil ich Sarah keine Geburtstagskarte geschickt habe.«

Diese Gedanken und Gefühle schossen ihr durch den Kopf, ließen sie niedergeschlagen und traurig zurück und veranlassten sie, über sich selbst nachzudenken: »Ich bin so eine miese Freundin, es ist meine Schuld, dass ich nicht eingeladen wurde.«

Nach einer Weile, in der sie sich so fühlte, kam ihr ein neuer Gedanke in den Sinn: »Sarah wusste, warum ich ihr keine Karte geschickt habe; sie sagte, sie hätte es verstanden, also ist es ihre Schuld.«

Mia bemerkte, dass sie ziemlich wütend auf Sarah, aber auch auf ihre anderen Freunde wurde, und beschloss, ihnen eine Textnachricht zu schicken, um ihnen mitzuteilen, was sie von ihnen allen hielt, weil sie so schlechte, gefühlslose Menschen seien. (Abbildung 1.3 zeigt Mias Schleifen grafisch dargestellt.)

Abbildung 1.3: Einige von Mias Schleifen

Beispiel

Stephanie hatte bei der Arbeit eine umfangreiche Präsentation vor sich, bei der sie vor einem großen Publikum sprechen musste, darunter viele Manager und Führungskräfte ihres Unternehmens. Die Präsentation betraf ein Thema, das für sie neu war (sie hatte in einer neuen Abteilung angefangen), und vieles beruhte darauf, dass sie gute Arbeit leistete.

Allein der Gedanke an die Präsentation machte sie unruhig, und sie begann, sich hartnäckige Sorgen zu machen, die ihr durch den Kopf gingen: »Was ist, wenn ich erstarre und vergesse, was ich sagen soll? Was ist, wenn sie mir Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann?«

Diese Gedanken führten dazu, dass sie sich noch ängstlicher fühlte, und manchmal begann sie zu fantasieren und zu planen, wie sie den Vortrag absagen könnte: »Wenn ich anfange zu husten und in der Woche vor dem Vortrag sage, dass ich Kopfschmerzen habe, kann ich mich vielleicht krankmelden.«

Leider trug dies nur zu ihren Angstgefühlen bei und erschwerte es ihr, sich auf die Vorbereitung des Vortrags zu konzentrieren. Dies löste auch eine Reihe von selbstkritischeren Gedanken aus, die wiederum vertraute Gefühle von selbstgerichteter Wut, Ekel und Minderwertigkeitsgefühlen auslösten. (Abbildung 1.4 zeigt Stephanies Schleifen grafisch dargestellt.)

Abbildung 1.4: Einige von Stephanies Schleifen

Arbeitsblatt 1.1: Persönliches Beispiel für meine Denkschleifen

Angesichts der obigen Beispiele kann es hilfreich sein, über die Art von »Schleifen im Kopf« nachzudenken, die Sie erleben. Schauen Sie, ob Sie Ihre eigenen, spezifischen Schleifen unten skizzieren können. Es kann hilfreich sein, damit anzufangen, über eine aktuelle Situation nachzudenken, die Ihre Schleifen ausgelöst haben könnte. Schauen Sie, ob Sie – wie bei den Beispielen von John, Mia und Stephanie – damit beginnen können, die Schleifen zu umreißen, die Sie zwischen neuen Gehirnkompetenzen (zum Beispiel Denken, Sich-Sorgen, Vorstellungskraft) und alten Gehirn­emotionen oder Verhaltensweisen (zum Beispiel Wut, Angst, Vermeidung, Aggression) haben.

Kompetenzen des neuen Gehirns (Sich-Sorgen, Grübeln, Selbstkritik):

Kompetenzen des alten Gehirns (Emotionen, Verteidigungsverhalten):

Was haben Sie über die Schleifen zwischen Ihrem alten und neuen Gehirn gelernt?

Wie häufig erfuhren Sie diese Art von Gedankenschleifen?

Inwiefern wirkten sich diese Schleifen auf Ihre Zufriedenheit, Ihr Wohlbefinden oder Ihre Stimmung aus?

Betrifft dieses Problem nur Menschen?

Soweit wir wissen, sind diese komplexen »Schleifen im Kopf«, die einen großen Teil unseres Leidens beeinflussen können, ein ausschließlich menschliches Problem. Tiere werden wahrscheinlich nicht auf diese Art von Schwierigkeiten stoßen. Wir glauben zum Beispiel nicht, dass Fifi nachts mit Schlaflosigkeit und Angstzuständen zu kämpfen hat, weil er sich Sorgen macht, dass er in letzter Zeit zugenommen hat und dass die anderen Hunde in der Gegend ihn nicht mehr attraktiv finden werden! Und er grübelt wahrscheinlich auch nicht und macht sich wegen seiner Leistung beim Fangen des Frisbees im Park am vergangenen Wochenende selbst fertig. Wir glauben nicht, dass Garfield sich Sorgen macht, ob er seine Rechnungen bezahlen kann oder über einen Streit grübelt, den er am Vortag hatte …!

Hier ist ein weiteres Beispiel, das diesen Punkt näher erläutert. Stellen Sie sich ein Zebra vor, das fröhlich Gras in der afrikanischen Savanne frisst. Plötzlich hört es, wie Zweige brechen, und als es aufschaut, sieht es, wie ein Löwe näher kommt. Wie Zebras es zu tun pflegen, wenn Löwen sich ihnen annähern (mit Ausnahme von populären Zeichentrickfilmen!), hört es auf zu fressen und rennt weg (ein grundlegendes Fluchtverhalten des alten Gehirns, das mit dem Motiv der Selbsterhaltung zusammenhängt). Nehmen wir jetzt einmal an, dass unser Zebra bei dieser Gelegenheit ein schneller Läufer ist und es schafft zu entkommen, um einen weiteren Tag zu leben. Was, glauben Sie, wird das Zebra relativ schnell wieder tun, nachdem die Bedrohung durch den Löwen vorüber ist? Stimmt, es wird wahrscheinlich wieder Gras fressen. Wenn also die äußere Bedrohung durch den Löwen vorbei ist, beruhigt es sich relativ schnell und kehrt zur normalen Tagesordnung zurück.

Lassen Sie uns jedoch das Beispiel ein wenig verändern. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen draußen in einem Café und genießen es, die Zeitung zu lesen und ein leckeres Sandwich zu essen. Während Sie die Seite umblättern und nach oben schauen, bemerken Sie einen Löwen, der sich dem Café nähert (machen wir uns nicht allzu viele Gedanken darüber, wie oder warum der Löwe dorthin gekommen ist!). Wie das Zebra, wenn Sie den Löwen sehen, geraten Sie auch schnell in alte Gehirn-Emotionen (Angst) und Verhaltensweisen (Weglaufen). Stellen Sie sich vor, dass Sie wie unser Freund, das Zebra, dem Löwen entkommen konnten, indem Sie in ein Gebäude rannten und die Tür hinter sich verschlossen haben. Jetzt, wo Sie in Sicherheit und dem Löwen entkommen sind, wäre eins der ersten Dinge, die Sie tun würden, die Reste des leckeren Sandwichs zu suchen, das Sie gegessen haben? Wenn nicht, warum nicht? Nun, es zeigt sich, dass wir Menschen in der Lage sind, etwas zu tun, was Zebras nicht können – wir können einen Bedrohungsreiz aufrechterhalten, ohne dass die eigentliche Bedrohung vorhanden ist, weil wir neue Gehirn­fähigkeiten haben, die den Reiz in unserem Kopf entstehen lassen. Durch unsere neuen Gehirnfähigkeiten Vorstellungsvermögen (zum Beispiel sich vorzustellen, lebendig gefressen zu werden), Antizipation (»Ich frage mich, ob der Löwe noch da draußen ist? Und vielleicht hat er Freunde?«) und Planung (»Wie werde ich sicher sein, wenn ich dieses Gebäude verlasse?«) können wir unsere alte Gehirnkapazität für Emotionen (Angst) und Schutzverhalten (Flucht; Erstarren) wieder aktivieren. Diese Angst wiederum wird wahrscheinlich Ihre Aufmerksamkeit, Ihr Denken und Ihre Vorstellungskraft auf die Bedrohung durch den Löwen lenken.

Wie kann Mitgefühl helfen?

Früher in diesem Kapitel haben wir erwähnt, dass eine Schlüsselkomponente des Mitgefühls die Weisheit ist. Eine Möglichkeit, wie wir Weisheit in die Realität unserer »trickreichen Gehirne« bringen können, besteht darin zu erkennen, dass dies der Fall ist: offen zu sein für die Tatsache, dass unser Verstand oft trickreich und ziemlich chaotisch ist, aber auch zu erkennen, dass dies nicht unsere Schuld ist. Dies mag zunächst seltsam erscheinen, aber es erweist sich als ein wichtiges Konzept beim ­Mitgefühlstraining. Leider entwerten wir unsere eigenen Erfahrungen oft oder geben uns selbst die Schuld, statt uns bei unseren Schwierigkeiten im Leben zu unterstützen. Wir können uns sagen, dass wir nicht auf eine bestimmte Art und Weise fühlen oder denken sollten – »Wenn ich mich nur mehr angestrengt hätte, dann würde ich mich nicht so fühlen, es ist wirklich meine Schuld« –, aber es kann hilfreich sein, dies aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Auch wenn uns dies manchmal Kummer und Schmerz bereiten kann, haben wir uns nicht dafür entschieden, ein Gehirn zu besitzen, das über diese verschiedenen Arten von Fähigkeiten bezüglich Emotionen und komplexem Denken verfügt. Wir haben uns nicht dazu entschlossen, über ein Gehirn zu verfügen, das sich in Schleifen verfangen kann …

Sinnen Sie einmal darüber nach, wie oft Sie morgens aufwachen und denken: »Ich weiß, was ich heute tun werde; ich werde meine Kompetenzen des neuen Gehirns auf all das fokussieren, was mit mir nicht in Ordnung ist, und dies wird dann die Emotionen meines alten Gehirns (Angst und Traurigkeit) stimulieren und mich demotivieren …!« Wahrscheinlich werden Sie das nicht tun, genauso wenig wie John, Mia und Stephanie in den obigen Beispielen. Bei den meisten von uns zeigt sich, dass unser Verstand von selbst anfängt, so zu funktionieren, und irgendwann werden wir uns dessen dann bewusst. Aber leider geben viele von uns sich selbst die Schuld dafür, und deshalb kann es schamreduzierend sein zu erfahren, wie sich unser Gehirn entwickelt hat. Wir können lernen zu erkennen, dass unser Verstand viele Entscheidungen darüber zu treffen scheint, worauf er sich fokussiert, ohne dass wir, die Person, die eigentlich das Sagen haben sollte, viel bewussten Input gibt.

Deshalb betonen wir im Mitgefühlstraining, dass wir sehr trickreiche Gehirne haben, die sich automatisch in Denk- und Gefühlsschleifen verstricken. Sie tragen dafür nicht die Schuld – tatsächlich trägt niemand dafür die Schuld. Aber auch wenn es vielleicht nicht unsere Schuld ist, dass es passiert, hilft uns unsere mitfühlende Weisheit, die Verantwortung dafür zu übernehmen und zu lernen, was wir mit ihnen tun können, damit wir nicht unnötig unter den Konsequenzen leiden. Obwohl wir diese in den Kapiteln 8, 18 und 19 ausführlicher behandeln werden, finden Sie in Box 1.1 schon einige Möglichkeiten, die Ihnen helfen werden, mit den Schleifen in Ihrem Kopf umzugehen.

Box 1.1: Einige erste Tipps, die Ihnen mit den Schleifen im Kopf helfen

Obwohl wir uns nicht dazu entscheiden, diese Schleifen zu haben, können wir etwas gegen sie tun. Hier sind einige Vorschläge, auf die wir in späteren Kapiteln zurückkommen werden.

Es kann hilfreich sein, sich der Schleifen im Kopf bewusst zu werden – wenn wir sie bemerken, dann können wir vielleicht etwas gegen sie tun. Dazu kann es hilfreich sein, mehr über die Schleifen zu erfahren, die Sie erleben. Nehmen Sie sich zum Beispiel eine Woche lang am Ende eines jeden Tages fünf Minuten Zeit, um die Art der Schleifen aufzuschreiben, in die Sie heute geraten sind. Oder machen Sie sich alternativ mit einem Notebook oder Ihrem Mobiltelefon während des Tages regelmäßig Notizen über die Art der Denk- und Gefühlsschleifen, in denen Sie sich verfangen.

Falls es Ihnen schwerfällt, sich an die Art der Schleifen zu erinnern, machen Sie auf Ihrem Telefon oder Computer eine Erinnerung, die den ganzen Tag über in regelmäßigen Abständen ausgelöst wird. Wenn dies geschieht, nehmen Sie sich einen Moment Zeit und notieren sich, ob Sie gerade eine Schleife zwischen Ihren neuen und alten Gehirnkompetenzen erlebt haben.

Sobald Sie die Schleifen bemerken, versuchen Sie, sich daran zu erinnern, dass diese völlig normal sind und etwas, das wir alle erleben – es ist nichts falsch mit Ihnen, dass Sie diese haben.

Es kann hilfreich sein, Wege zu finden, um zu merken, dass wir in einer Schleife gefangen sind, und zu üben, wie wir aus dieser Schleife »aussteigen« können. Es könnte sein, dass dies geschieht, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf etwas lenken, das im »Hier und Jetzt« geschieht (wenn ich zum Beispiel in der Lage bin, mich auf etwas zu konzentrieren, das gerade jetzt geschieht, wie die Empfindung meines Atems oder die schönen Blumen und Pflanzen in meinem Garten). Das kann dies die Schleifen verlangsamen oder unterbrechen. Statt meine Aufmerksamkeit »vollständig« in die Schleife zu stecken, konzentriere ich mich also stattdessen auf etwas Neutrales oder Angenehmes. Wir werden auf diesen Gedanken zurückkommen, wenn wir in Kapitel 8 ein Aufmerksamkeits- und Achtsamkeitstraining durchführen.

Wir können lernen, die Schleifen zwischen Denken und Fühlen »lockerer« in der Aufmerksamkeit zu halten, sodass wir uns ihrer bewusst sind, aber nicht das Gefühl haben, wir müssten sie bekämpfen oder ignorieren, sie aus dem Kopf schlagen oder uns ihnen ergeben. Stattdessen können wir sie als nur ein weiteres »Produkt« unseres Geistes, das wir uns nicht ausgesucht haben, wahrnehmen und beobachten. Das kann uns helfen, uns auf die Akzeptanz zuzubewegen, was an und für sich schon dazu beitragen kann, sie aufzuweichen und zu beruhigen. Wir werden in Kapitel 8 darauf zurückkommen.

Wir können lernen, ein anderes Muster oder eine andere »Schleife« in unserem Geist zu erzeugen, der sich um mitfühlende Absichten, Gedanken und Gefühle dreht. Wenn wir mit unserer mitfühlenden Haltung verbunden sind, lösen wir in unserem Gehirn und in unserem Körper eine andere Art von Physiologie aus als die (oft) stressbedingten, die wir in diesem Kapitel untersucht haben. Wie wir dies praktizieren können, werden wir in Teil III und in den Kapiteln 9 und 10 anschauen.

Zusammenfassung des Kapitels

Wir haben in diesem ersten Kapitel eine ganze Reihe von Themen behandelt. Wie am Ende jedes Kapitels steht in der folgenden Tabelle eine Zusammenfassung dessen, was wir in diesem Kapitel erforscht haben. Bitte nehmen Sie sich die Zeit, sich auch ein paar Notizen zu machen zu Ihren eigenen Überlegungen über das, was Sie gelernt haben.

Was wir gemeinsam gelernt haben

Unser Gehirn hat sich so entwickelt, dass es eingebaute Störungen aufweist – es kann sich in »Neues-Gehirn-altes-Gehirn-Schleifen« verfangen, und das kann von Natur aus sehr »komplex« sein.Soweit wir wissen, kämpfen Tiere nicht mit dieser Art von Schwierigkeiten.Es ist nicht unsere Schuld, dass dies schwierig sein kann – aber es gibt eine Reihe von Dingen, die wir tun können, um uns damit zu helfen (zum Beispiel die Arten von Schleifen zu kennen, in denen wir uns typischerweise verfangen; davon Abstand zu nehmen, uns dafür die Schuld zu geben).

Meine persönlichen Überlegungen zu diesem Kapitel

2

Wir werden von unseren Erfahrungen geprägt

»Wir ›kommen‹ nicht in diese Welt; wir kommen heraus wie Blätter von einem Baum.«

Alan Watts

Viele von uns wissen intuitiv, dass das Umfeld, in dem wir aufwachsen, einen sehr großen Einfluss auf die Entwicklung unserer Person hat. Dies zeigt sich zum Beispiel anhand der Sprache. Wenn Sie in Deutschland oder Österreich groß geworden sind, sprechen Sie wahrscheinlich fließend Deutsch. Wenn Sie aber in Italien oder Japan aufgewachsen sind, ist es weitaus unwahrscheinlicher, dass Sie Deutsch sprechen, und es ist viel wahrscheinlicher, dass Sie fließend Italienisch oder Japanisch sprechen. Dies zeigt sich auch anhand der Religion; statistisch gesehen, ist es viel wahrscheinlicher, dass Sie sich als Christ identifizieren, wenn Sie in einem christlichen Land erzogen werden, und als Muslim, wenn Sie in einem muslimischen Land groß werden.

Unsere Umwelt beeinflusst uns aber nicht nur auf der Ebene der Sprache oder des Glaubens. Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass unsere Umweltbedingungen unsere Biologie und unsere Physiologie formen, dass unterschiedliche Lebenserfahrungen unsere ­Gehirnentwicklung prägen und dass unsere Genexpression von der Umwelt, in der wir aufwachsen, beeinflusst wird.

Obwohl wir uns selbst gern als eine bestimmte Art von Person betrachten, sind wir in Wirklichkeit nur eine Version von uns selbst – eine Variante von vielen möglichen »Selbsten«. Nehmen wir folgendes Beispiel: Auch wenn Sie unsere Hintergründe nicht kennen, stellen Sie sich vor, dass wir – die Menschen, die dieses Buch geschrieben haben – nicht von unseren tatsächlichen eigenen Erfahrungen (unserer Erziehung, unseren Eltern, unseren Freunden und so weiter) geprägt und beeinflusst worden wären, sondern dass wir im Alter von drei Tagen von Anführern einer gewalttätigen Drogenbande aus dem Krankenhaus entführt worden wären.

Stellen Sie sich vor, wir wären von diesen Menschen aufgezogen worden und hätten als Kinder und Jugendliche ständig Misshandlung, Aggression und Gewalt gesehen (und selbst erlebt) und sehr wenig Zuneigung, Unterstützung oder Ermutigung erfahren. Wenn dies der Fall gewesen wäre, wie wahrscheinlich wäre es Ihrer Meinung nach, dass wir beide heute Therapeuten wären und ein Buch über Mitgefühl geschrieben hätten? Was denken Sie, wie hätten diese Erfahrungen uns geprägt? Vielleicht hätten wir mit Wut und Aggression zu kämpfen oder alternativ mit Angst und hätten Schwierigkeiten damit, uns durchzusetzen? Vielleicht hätten wir Probleme, enge Beziehungen aufzubauen, wären drogensüchtig oder sogar im Gefängnis. Obwohl wir das nicht mit Sicherheit wissen, können wir doch sagen, dass wir eine andere Art von Mensch wären, mit anderen Persönlichkeiten und sogar mit einer etwas anderen Biologie (Gene, Gehirnstruktur und so weiter).

Wir können diese Idee am Beispiel von Sarah in Abbildung 2.1 anschaulich machen. Nehmen Sie sich Zeit, beide Szenarien durchzulesen – eines, das sie im Leben durchlebt hat (Szenario 1), sowie eines mit alternativen Lebenserfahrungen (Szenario 2). Versuchen Sie, sich vorzustellen, wie diese unterschiedlichen Erfahrungen sie als Person auf verschiedene Weise geprägt haben könnten.

Abbildung 2.1: Beispiel für Sarahs Lebensszenarien

Szenario 1

Zu Beginn lebte Sarah in einem schönen Stadtteil, aber nach dem Tod ihres Vaters (er diente in der Armee) hatte ihre Mutter Mühe, über die Runden zu kommen. Im Alter von sieben Jahren zog ihre Familie in eine Wohnsiedlung in einen weniger wohlhabenden Teil der Stadt, in dem viele Häuser zerbrochene Fenster und vernagelte Türen hatten. Manchmal reichte das Geld nicht aus, um Essen, Heizung oder neue Kleidung zu bezahlen. Ihre Mutter hatte zwei Jobs und war oft müde. Manchmal wurde sie sehr wütend und kritisch und schlug Sarah. Es fanden nie Gespräche über den Tod ihres Vaters statt. Wenn Sarah in der Nacht im Bett lag, hörte sie ihre Mutter oft weinen.

Szenario 2

Sarah besuchte eine Schule, die wegen schlechter schulischer Leistungen der Schüler in ein spezielles Unterstützungsprogramm gesteckt wurde. Leider wurde sie schikaniert, weil sie keine »trendige« Kleidung und Schuhe trug. Außerhalb der Schule fiel es ihr schwer, Freundschaften zu schließen. Sie verbrachte die Abende und Wochenenden oft allein in ihrem Schlafzimmer.Sarah wuchs in einem schönen Stadtteil auf. Obwohl nicht groß, war ihr Haus sauber, warm und ordentlich, und ihre Familie aß täglich gemeinsam zu Abend. Als sie klein war, war ihr Vater wegen der Arbeit viel unterwegs. Als sie sieben Jahre alt war, verließ er aber die Armee und ließ sich zum Sanitäter ausbilden, um im örtlichen Krankenhaus zu arbeiten. Ihre Eltern hatten beide gut bezahlte Jobs und waren erfolgreich. Sie fuhren mit Sarah regelmäßig in die Ferien und machten Ausflüge. Obwohl sie manchmal mit ihr schimpften, wusste sie, dass ihre Eltern sie sehr liebten. Sie brachten ihr viel Zuneigung, Freundlichkeit und Unterstützung entgegen.

Sarah ging auf eine gute Schule, wo sie ermutigt wurde, sich anzustrengen und verschiedene Fächer, Hobbys und Aktivitäten auszuprobieren. In der Schule entwickelte sie viele gute Freundschaften und fand es leicht, sich an Menschen zu wenden, wenn sie Hilfe und Unterstützung brauchte. Gleichzeitig war sie auch froh, wenn sie etwas Zeit für sich selbst hatte. Außerhalb der Schule nahm sie an vielen verschiedenen Aktivitäten teil, und es fiel ihr sehr leicht, Freundschaften zu schließen.

Wie haben Sie sich beim Durchlesen der beiden Szenarien gefühlt? Waren Sie in der Lage, sich vorzustellen, wie die unterschiedlichen Erfahrungen Sarah zu einem anderen Menschen gemacht haben könnten? Vielleicht können Sie sich auch vorstellen, dass es eine andere Version von Ihnen in der heutigen Welt gäbe, wenn Sie in einer dieser beiden Situationen aufgewachsen wären.

Hier ist eine weitere kurze Übung, die Sie ausprobieren können: Überlegen Sie, wie Sie als Person heute anders sein könnten, wenn Sie nicht in Ihrem Haushalt, sondern im Haushalt Ihrer Nachbarn aufgewachsen wären. Verbringen Sie vielleicht dreißig Sekunden oder länger damit, sich das vorzustellen. Wenn dies der Fall gewesen wäre, wie würden Sie sich dann in Bezug auf Ihre Persönlichkeit, Ihre Interessen, Ihre Politik und Religion oder auf Ihr Selbst- und Fremdbild unterscheiden?

Selbstreflexion: Alternative Biografie

Was wäre an Ihnen heute anders, wenn Sie bei Ihren Nachbarn aufgewachsen wären?

Natürlich werden wir nie mit Sicherheit wissen, wie diese verschiedenen Szenarien uns beeinflusst hätten, aber was wir wissen, ist, dass die Version von Ihnen, die diesen Text jetzt liest, von den Erfahrungen geprägt ist, die Sie gemacht haben. Wenn Sie diese Erfahrungen ändern würden, wären Sie eine andere Person – es gäbe eine andere Version von Ihnen in der Welt.

Diese Beispiele können uns helfen zu erkennen, dass vieles von dem, was wir heute sind, für uns und nicht von uns geprägt wurde. Was wir damit meinen, ist, dass die Person, die dies gerade liest – und die Menschen, die dies geschrieben haben –, in hohem Maße von Ereignissen und Erfahrungen beeinflusst wurden, die sich in ihrem Leben ereignet haben und auf die sie oft wenig oder gar keinen Einfluss hatte. Es kann manchmal schwierig sein, sich dies zu vergegenwärtigen. Stattdessen geben viele von uns sich selbst die Schuld für die Art von Person, die sie sind – ängstlich, unsicher, wütend, voller Scham –, was die Wahrscheinlichkeit verringert, dass wir etwas tun können, um diese Schwierigkeiten zu ändern.

Wir können auch erkennen, wie unsere Umwelt und unsere Erfahrungen für das Denken bezüglich unserer Zukunft relevant sein können. Stellen wir uns für einen Moment die Situation von Paul vor.

Beispiel

Paul hat im Großen und Ganzen ein gutes Leben – fürsorgliche Eltern, positive Erfahrungen in der Schule, eine erfolgreiche Karriere, und vor Kurzem heiratete er seinen langjährigen Partner Andreas. Paul ist ein selbstbewusster, kontaktfreudiger Mensch, der gern ausgeht, Leute trifft und Spaß hat.

Eines Abends auf dem Heimweg von einem Essen mit einem Arbeitskollegen wird er überfallen und ziemlich heftig zusammengeschlagen. Paul muss wegen seiner Verletzungen für einige Tage im Krankenhaus bleiben und darf dann nach Hause zurückkehren.

Glauben Sie, dass Paul nach diesem schrecklichen Erlebnis nun genau dieselbe Version von sich selbst sein wird? Wenn nicht, was denken Sie, wie könnte sich die Version von Paul verändert haben – und sei es auch nur geringfügig? Vielleicht könnte es sein, dass er ein wenig ängstlicher wird, wenn er sein Zuhause verlässt? Angst davor hat, allein zu reisen? Dass er Menschen, die er nicht kennt, weniger vertraut? Wie könnte sich seine Beziehung zu Andreas verändern? Natürlich werden wir das nie mit Sicherheit wissen, da Menschen auf solch eine Situation sehr unterschiedlich reagieren können. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass sich dadurch die Version von Paul, die vor diesem Vorfall in der Welt war, verändert.

Wie kann Mitgefühl uns dabei helfen?

Natürlich sind es nicht nur negative Erfahrungen, welche die Version von uns in der Welt beeinflussen. Zunehmend mehr wissenschaftliche Literatur zeigt, dass bestimmte Arten von positiven Lebenserfahrungen einen günstigen Einfluss auf uns haben können, wenn wir zum Beispiel von anderen unterstützt und versorgt werden und wenn wir uns bei ihnen sicher und geborgen fühlen. Erlernen wir neue – fürsorglichere und hilfreichere – Arten des Denkens und des Umgangs mit uns selbst, mag dies auch eine Veränderung unserer heutigen Version bewirken. Hier kann das Mitgefühlstraining aus diesem Buch eine Rolle spielen.

Wir meinen damit nicht, dass wir durch die Entwicklung von Mitgefühl unsere Vergangenheit oder die Erfahrungen ändern können, die wir im Leben gemacht haben. Es geht auch nicht nur darum, uns alle dazu zu bringen, dass wir positiv über die Dinge »denken«. Was wir jedoch alle tun können, ist, uns Zeit zu nehmen, damit wir Wege finden, um eine etwas bessere Version unserer selbst in die Welt zu bringen. Eine Version, die (dies kommt jetzt wahrscheinlich nicht als Überraschung!) mitfühlender, fürsorglicher, verständnisvoller und zuversichtlicher mit Problemen umgeht, denen wir im Leben begegnen. Es kann sein, dass wir durch unsere Lebensumstände – auf die wir oft wenig Kontrolle oder Einfluss haben – auf Varianten unserer selbst »treffen«, mit denen wir weniger glücklich sind: Versionen, denen es an Selbstvertrauen fehlt oder die Schwierigkeiten haben, sich auf etwas einzulassen (Beziehungen, Hobbys, Jobs), was Glück oder Freude bringen könnte. Oder wir treffen auf Versionen, die viel Ärger und Leid mit sich bringen: solche, die gefangen sind von schrecklichen Traumata oder Misshandlungen und diese vielleicht im Jetzt immer wieder erleben. Oder solche, die mit Scham, Selbsthass und Wut beladen sind. Wenn dies Aspekte Ihrer selbst sind, denen Sie im Leben schon begegnet sind oder in denen Sie gerade leben, während Sie dieses Buch lesen, dann könnte es sein, dass Mitgefühl Ihnen dabei hilft, sich neue – hilfreichere und gesündere – Versionen Ihrer selbst bewusst zu machen und diese zu praktizieren.

Zusammenfassung des Kapitels

In diesem Kapitel haben wir begonnen anzuschauen, wie unsere sozialen Umstände und Lebenserfahrungen uns als Menschen formen. In Kapitel 4 gehen wir speziell auf die Faktoren ein, die Sie geprägt haben.

Was wir gemeinsam gelernt haben

Wir werden von unseren sozialen Erfahrungen geprägt – über viele davon haben wir wenig Kontrolle.Wir sind nur eine Version einer potenziell unbegrenzten Anzahl von Versionen unsere selbst. Wenn wir in der Vergangenheit andere Erfahrungen gemacht hätten, wären wir heute wahrscheinlich eine andere Person.Es besteht die Möglichkeit, dass in Zukunft verschiedene Versionen von uns in der Welt existieren. Eine Option, Veränderungen herbeizuführen, ist die Entwicklung einer mitfühlenden Haltung sich selbst gegenüber.

Meine persönlichen Überlegungen zu diesem Kapitel

3

Unsere Emotionen verstehen

»Wir sollten nicht vergessen, dass die kleinen Gefühle die großen Kapitäne unseres Leben sind und wir ihnen folgen, ohne es zu merken.«

Vincent Van Gogh

Bekanntermaßen kann nicht nur das Leben hart sein, sondern unser Geist ist auch anfällig dafür, sich in gewisse Denk- und Gefühlsschleifen zu verfangen, die einen Großteil unseres Leidens noch verstärken. Emotionen haben in unserem Leben eine zentrale und entscheidende Aufgabe: Sie geben unseren Erfahrungen Farbe, Reichtum und Struktur. Sie spielen auch eine wichtige Rolle, indem sie uns Rückmeldung darüber geben, wie es uns geht, und uns an Themen heranführen, die wichtig für uns sind, und uns von Umständen sowie Aktivitäten fernhalten, die möglicherweise schädlich für uns und andere sind.

Es gibt viele Wege, unsere Emotionen zu erforschen. Einerseits können wir sie gemäß ihrer Funktion gruppieren und uns fragen, wie sie hilfreich unser Verhalten beeinflussen können. Wenn Sie zum Beispiel auf irgendeine Weise bedroht werden, können Sie Gefühle der Angst oder Besorgnis empfinden. Falls diese Bedrohung darin besteht, dass Sie ungerecht behandelt oder daran gehindert werden, etwas zu tun, ­können Sie Wut und Frustration verspüren. Wir bezeichnen diese Regungen oft als »Bedrohungsgefühle«. Im Gegensatz dazu können Sie, wenn Sie etwas erreichen, angenehme Emotionen wie Freude, Aufregung und Fröhlichkeit empfinden. Wir neigen dazu, diese als »positive Empfindungen« zu bezeichnen, da sie mit angenehmen Gefühlen verbunden sind. Wir können aber auch positive Emotionen haben, die beruhigend und besänftigend sind, zum Beispiel das Gefühl, entspannt, friedlich und zufrieden zu sein. So fühlen wir uns am ehesten dann, wenn wir glauben, in Sicherheit und umsorgt zu sein.

Wissenschaftler haben viele Theorien darüber, wie viele »Emotionssysteme« wir haben. Für dieses Mitgefühlstraining vereinfachen wir dies und schlagen vor, dass wir alle drei große »Emotionssysteme« haben. Diese Systeme sind in Abbildung 3.1 dargestellt. Das Modell wird auch als das »Drei-Kreise-« oder »Drei-Systeme-Modell« bezeichnet. Es besagt, die Evolution habe unsere Emotionen so geformt, dass sie unterschiedliche Funktionen aufweisen, die alle hilfreich sind, um unsere Überlebens- und Reproduktionschancen zu erhöhen und schließlich unsere Gene weiterzugeben. Die drei wichtigsten Emotionssysteme werden als »Bedrohungs-«, »Antriebs-« und »Beruhigungssystem« bezeichnet:

Das Bedrohungssystem mit Emotionen wie Wut, Angst und Abscheu soll uns helfen, Bedrohungen in der Welt zu erkennen und darauf zu reagieren.Das Antriebssystem, das mit Gefühlen der Aufregung und Freude verbunden ist, motiviert uns, uns auf Ressourcen und Ziele zuzubewegen, die für uns hilfreich sein könnten.Das Beruhigungssystem, das mit Gefühlen wie Zufriedenheit, Ruhe und Sicherheit verbunden ist, hilft uns, Zeiten der Ruhe und des Friedens zu erleben, in denen wir weder bedroht sind noch versuchen, etwas zu erreichen. Dieses System unterstützt uns dabei, anderen Fürsorge zuteilwerden zu lassen oder diese von ihnen zu empfangen.

Abbildung 3.1: Das Drei-Systeme-Modell der Emotionen

Adaptiert von Paul Gilbert: Mitgefühl – Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein zu lassen, Arbor Verlag 2011.

Die drei Emotionssysteme interagieren miteinander und können uns viel über Mitgefühl sowie die Kultivierung einer mitfühlenden inneren Haltung mitteilen. Wir werden in späteren Kapiteln darauf zurückkommen. Zunächst wollen wir jedes System etwas ausführlicher beleuchten.

Das Bedrohungs- und Selbstschutzsystem

Die Funktion dieses Systems (kurz »Bedrohungssystem« genannt) besteht darin, uns auf gefährliche Ereignisse und Situationen aufmerksam zu machen und darauf so zu reagieren, dass wir uns schützen und in Sicherheit bringen. Es verfügt über eine Vielzahl von Reaktionen, mit denen es auf eine potenzielle Gefahr reagieren kann. Bei Gefahr kommt es zu einer Vielzahl physiologischer Veränderungen in unserem Gehirn und unserem Körper, die uns darauf vorbereiten, angemessene Maßnahmen zu ergreifen. Es ist mit Aspekten unserer Stressreaktion verbunden, wie dem sympathischen Nervensystem und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-(HHN-)Achse, die oft eine anregende und aktivierende Reaktion auslösen. Das System interagiert mit einer Vielzahl von »Bedrohungsemotionen« – zum Beispiel Wut, Angst und Ekel –, die den Körper zu verschiedenen Handlungsmustern und Reaktionen auf die Bedrohung veranlassen, die auch als »Kampf-oder-Flucht-Reaktionen« bezeichnet werden. Auf der Verhaltensebene löst das Bedrohungssystem verschiedene Reaktionen aus, zum Beispiel Aggression, Vermeidung und Unterwerfung. Manchmal jedoch initiiert es auch eine hemmende oder deaktivierende Handlung. Sie haben dies vielleicht schon bei Tieren beobachtet, zum Beispiel eine Maus, die sich im Maul einer Katze tot stellt, dann aber wegläuft, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommt. Dies wird auch als »Erstarrungsreaktion« (freeze) bezeichnet.

Bedrohungsemotionen

Obwohl das Bedrohungssystem mit Emotionen (zum Beispiel Wut, Angst und Ekel) zusammenhängt, die sich oft unangenehm, beunruhigend oder schmerzhaft anfühlen, bedeutet dies nicht, dass das System etwas »Schlechtes« ist. Es wurde entwickelt, um uns zu schützen, und die mit ihm verbundenen Emotionen haben wichtige Funktionen, nämlich uns dabei zu unterstützen, dieses Ziel zu erreichen. Nehmen wir zum Beispiel die Angst. Dieses Gefühl hat die Aufgabe, uns vor Gefahren zu warnen und uns entweder zur Flucht zu motivieren, um uns von der Bedrohung wegzubewegen, oder »einzufrieren«, um uns der Gefahr nicht näher zu bringen. Vergegenwärtigen Sie sich das Gefühl, das Sie haben, wenn Sie spät in der Nacht im Dunkeln nach Hause gehen und plötzlich Schritte hinter sich hören. Ekel auf der anderen Seite signalisiert uns eine Bedrohung, die schädlich, giftig oder verunreinigend sein könnte, und motiviert uns, uns von ihr zu entfernen oder uns zu reinigen. Wenn wir etwas essen, was verdorben ist, kann sich der Ekel darin zeigen, dass wir es aus unserem Körper ausstoßen (zum Beispiel durch Ausspucken oder sogar Erbrechen). Wir können auch schon mit Ekel reagieren, wenn wir verdorbenes Fleisch oder verdorbene Eier nur riechen oder wenn wir bestimmte Tiere (zum Beispiel Kakerlaken) oder Dinge (zum Beispiel Kot oder Erbrochenes) sehen, die für uns schädlich sein könnten.