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HEISSE RACHE AUF ITALIENISCH von ANGELA BISSELL
Wie zärtlich hat Leo sie früher angeschaut, ihr leise versprochen, sie für immer zu lieben. Bis Helena ihn aus ihrem Leben verbannte, auch wenn sie ihm den Grund dafür nie sagen durfte. Als sie jetzt erfährt, dass der italienische Magnat in London ist, um die Firma ihres Vaters zu zerschlagen, fasst Helena einen Entschluss: Sie muss ihn irgendwie von seinem skrupellosen Plan abbringen! Doch als sie Leo in der eleganten Hotellobby entgegentritt, verlässt Helena fast der Mut. Denn seine Blicke verraten, dass nur Rache für ihn zählt …
MIT DIR AUF DER INSEL DER SEHNSUCHT von ANGELA BISSELL
Allein mit Nicolas César auf einer paradiesischen Insel im Mittelmeer – das ist die reinste Folter für die unscheinbare Marietta! Nicht nur, dass sie ihre Unabhängigkeit aufgeben musste, damit der attraktive Securityboss sie Tag und Nacht vor einem gefährlichen Verfolger beschützt. Viel schlimmer ist seine unwiderstehlich männliche Ausstrahlung, die sie in den Bann zieht. Denn so sehr sie sich nach seiner Liebe sehnt, fragt sie sich insgeheim: Was findet ein Mann wie er, dem die Frauen zu Füßen liegen, an ihr? Verführt er sie nur aus Mitleid?
HEISSE VERFÜHRUNG, KALTE RACHE? von DIANA HAMILTON
Auf einer malerischen griechischen Insel entdeckt die hübsche junge Bonnie die Liebe. Sie schwebt im siebten Himmel – bis sie sich plötzlich fragen muss: Hat der attraktive Milliardär Dimitri Kyriakis sie etwa aus Rache verführt?
WIE EINST IN JENEM SOMMER von KATHRYN ROSS
Nur ein Urlaubsflirt in Griechenland – trotzdem hat Carrie den attraktiven Andreas Stillanos nie vergessen! Jetzt bringt die Sorge um ein kleines Mädchen sie zurück auf seine griechische Insel. Wie selbstverständlich bestimmt Andreas: Carrie wird bei ihm wohnen, in seiner Villa, am türkisblauen Meer. Und er geht noch weiter: Für das Wohl seiner verwaisten Nichte Lilly schlägt er eine Blitzhochzeit vor. So nah wie einst in jenem Sommer ist das unerwartete Glück. Soll Carrie daran glauben – obwohl Andreas eine Trennung nach zwei Jahren vorsieht?
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Seitenzahl: 782
Veröffentlichungsjahr: 2021
Angela Bissell, Diana Hamilton, Kathryn Ross
Mittelmeer-Tycoons - Heiße Versuchung am Meer der Sehnsucht (2 Miniserien)
IMPRESSUM
JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2016 by Angela Bissell Originaltitel: „Surrendering to the Vengeful Italian“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 2321 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Grit Wölten
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 01/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733709921
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Fast zwei Stunden lang hatte Helena Shaw in dem mit elegantem Marmor ausgestatteten Foyer gewartet, bis sie den Mann, für den sie durch halb London gelaufen war, endlich entdeckte. Lässig schlenderte er in die Halle des exklusiven Mayfair-Hotels.
Sie hatte schon fast aufgegeben. Nach all den Bemühungen, ihn ausfindig zu machen, hatte sie beinahe den Mut verloren. Tatsächlich war sie kurz davor gewesen, auf die Stimme in ihrem Kopf zu hören, die „Wahnsinn“ schrie, und feige aus dem dick gepolsterten Plüschsessel aufzuspringen, um in der rettenden Anonymität der belebten Straßen unterzutauchen.
Doch sie war nicht geflohen. Sie war sitzen geblieben und hatte gewartet. Und gewartet.
Jetzt war er da.
Ihr Magen sackte ab, wurde für einen kurzen Moment schwerelos, als wenn sie aus großer Höhe einen Schritt ins Nichts gemacht hätte. Dann setzte die Nervosität ein und verwandelte ihren Bauch in einen Käfig voll aufgeregt flatternder Kanarienvögel, die versuchten, vor einem ausgehungerten Kater davonzufliegen.
Atme, befahl sie sich und beobachtete, wie er mit großen Schritten durch das Foyer ging. Er war groß, dunkel und beeindruckend. In seinem perfekt geschnittenen anthrazitfarbenen Anzug strahlte er Erfolg aus.
Die Frauen starrten ihn an.
Die Männer traten einen Schritt beiseite.
Und er ignorierte sie alle, ging zielstrebig weiter, bis er ganz kurz – nur einen Herzschlag lang – seinen Schritt verlangsamte, den Kopf in ihre Richtung wandte und mit einem Blick aus schmalen Augen die kostspielige Ausstattung des Hotels begutachtete.
Helena erstarrte. Sie hatte sich hinter einem riesigen Blumenarrangement mit süßlich duftenden Blüten versteckt und war sicher, dass er sie nicht entdecken würde. Doch für einen Augenblick hatte sich den Eindruck, er könnte ihren prüfenden Blick spüren. Ihre Anwesenheit. Als wären sie nach all den Jahren noch immer durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden.
Ein Donnerschlag – ein Vorbote des Sturms, den die Meteorologen seit gestern für London vorhersagten – ließ Helena zusammenfahren. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und ließ die Luft mit einem höhnischen Zischen wieder entweichen. Nichts verband sie mehr mit diesem Mann. Welche Bindung auch immer existiert haben mochte, sie war längst Vergangenheit, zerstört von ihrem Vater und unter der Asche von Bitterkeit und Schmerz begraben.
Ein Schmerz, den Leonardo Vincenti erneut würde aufleben lassen, wenn sie es nicht schaffte, ihn daran zu hindern, die Firma ihres Vaters an sich zu reißen.
Sie griff nach ihrer Handtasche und stand auf. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie sich fragte, ob er sie entdecken würde. Doch er war längst auf die Reihe der Fahrstühle zugesteuert. Sie eilte ihm nach, reckte den Hals, um seinen dunklen Haarschopf und die breiten Schultern nicht aus den Augen zu verlieren. Allerdings war er nicht zu übersehen, denn er ragte aus der Menge auf, wirkte noch größer als in ihrer Erinnerung, irgendwie düsterer. Eine Aura von Macht und Stärke umgab ihn.
Ihr Magen zog sich noch etwas mehr zusammen.
Die europäischen Wirtschaftskommentatoren bezeichneten ihn als Senkrechtstarter des Jahrzehnts, als unternehmerisches Genie, das eine junge Software-Firma in weniger als zehn Jahren in einen millionenschweren Konzern verwandelt hatte. Auf der Rangliste der reichsten Unternehmer hatte er einen der oberen Plätze erreicht. Die seriöseren Wirtschaftsmagazine nannten ihn zielstrebig und getrieben. Andere betitelten ihn weniger schmeichelhaft als rücksichtslosen Halsabschneider.
Das alles erinnerte Helena viel zu sehr an ihren Vater. Für einen Mann wie Douglas Shaw allerdings erschien ihr selbst „rücksichtsloser Halsabschneider“ noch zu harmlos, zu menschenfreundlich.
Sie schob die Tasche über ihre Schulter. Ihr Vater war ein beeindruckender Mann, aber wenn der Begriff „Bedauern“ überhaupt in seinem Wortschatz vorkam, dann musste er ganz eindeutig den Tag bedauern, an dem er Leonardo Vincenti ins Visier genommen hatte. Und jetzt war der junge Italiener, den er einst als unpassend für seine Tochter befunden hatte, zurück. Sieben Jahre älter, deutlich wohlhabender und – nach allem, was man hörte – noch immer hinter dem Mann her, der ihn damals aus der Stadt gejagt hatte.
Leonardo Vincenti blieb stehen, drückte den Fahrstuhlknopf und schob die Hände in die Hosentaschen. Helena stand jetzt so dicht hinter ihm, dass sie das feine Webmuster im Stoff seines Anzugs und die einzelnen Strähnen, die sich über seinen Hemdkragen geschoben hatten, erkennen konnte.
Sie atmete tief durch. „Leo.“
Die Augenbrauen fragend hochgezogen, wandte er sich um. Seine Miene erstarrte in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen. Er zog die Hände aus den Hosentaschen. Seine Brauen senkten sich.
„Was zum Teufel …?“
Bei diesen drei Worten, die er mit einem leisen, gutturalen Knurren aussprach, richteten sich ihre feinen Härchen an den Oberarmen und im Nacken auf.
Also erkannte er sie.
Sie legte den Kopf in den Nacken. Trotz ihrer hohen Absätze musste sie zu ihm aufschauen, um ihm in die Augen sehen zu können.
Und, du lieber Himmel, was für Augen das waren!
Dunkel. Unbestechlich. Funkelnd. Wie polierter Obsidian und ebenso undurchdringlich. Wie hatte sie vergessen können, welchen schwindelerregenden Effekt sein Blick auf sie hatte?
Konzentriere dich.
„Ich würde gern mit dir reden“, sagte sie.
Unter seinem Auge zuckte ein Muskel. „Hast du kein Telefon?“
„Hättest du meinen Anruf denn angenommen?“
Er reagierte mit einem Lächeln – wenn das schmale, humorlose Verziehen seiner Lippen so genannt werden konnte. „Wahrscheinlich nicht. Du und ich, wir haben nichts zu besprechen. Weder am Telefon noch persönlich.“
Mit einem Pling kündigte sich ein Fahrstuhl an, die Türen öffneten sich. Leo neigte den Kopf. Doch angesichts der arktischen Kälte in seinen Augen war das alles andere als eine höfliche Geste.
„Tut mir leid, dass du deine Zeit vergeudet hast.“ Damit drehte er sich um und betrat den Lift.
Helena zögerte kurz, dann fasste sie sich ein Herz und tat es ihm gleich. „Du tauchst nach sieben Jahren absoluter Funkstille wieder auf und streckst die Hände nach der Firma meines Vaters aus. Das lässt sich wohl kaum als ‚nichts‘ bezeichnen.“
„Raus aus dem Fahrstuhl, Helena.“
Die unausgesprochene Warnung, die in seinem Ton mitschwang, ließ ihre Kopfhaut prickeln. Vielleicht lag es aber auch daran, wie er ihren Namen aussprach – in diesem volltönenden, akzentuierten Bariton, der eine unangenehme Hitzewelle durch ihren Körper wogen ließ.
Beinahe lautlos schlossen sich die Fahrstuhltüren, und mit einem Mal war der Raum, den sie teilten, zu eng und zu intim, auch wenn die Spiegel an den Wänden den Lift größer wirken lassen sollten.
Sie baute sich vor ihm auf. „Auf keinen Fall.“
Seine Wangenknochen überzogen sich mit leichter Röte, und er starrte sie an, als wollte er die Grenzen ihres Wagemuts abschätzen. Gerade als sie befürchtete, sein tödlicher Blick würde sie vernichten, griff er in seine Brusttasche und zog seine Hotelkarte hervor.
„Wie du willst“, sagte er sanft – zu sanft, warnte ihre innere Stimme sie. Er zog die Karte über einen Sensor und drückte den Knopf, neben dem „Penthouse Suite“ stand. Mit einem leisen Surren begann der Aufzug seinen Weg nach oben.
Helena klammerte sich an den Edelstahlgriff hinter sich. Von der schnellen Fahrt – oder von den Schmetterlingen in ihrem Bauch? – wurde ihr schwindelig.
Offensichtlich konnte sich ihr Exfreund nicht nur die besten Hotels in London leisten, sondern dort auch noch die exklusivste Suite.
Bei dem Gedanken schlug ihr Herz schneller.
Der Leo, den sie kannte, war dezent, stilsicher auf jene mühelose Weise italienischer Männer, aber nie hatte er sein Geld protzig zur Schau gestellt. Das hatte sie an ihm geschätzt. Ebenso wie seinen Mut, seine Zielstrebigkeit und Leidenschaft. Es hatte ihr gefallen, dass er so ganz anders gewesen war als die gelangweilten, verwöhnten Söhne reicher Eltern, mit denen ihre Eltern sie gern gesehen hätten.
Und jetzt …?
Sie umfasste den Griff noch fester. Jetzt war es egal, was sie über ihn dachte. Das Einzige, was zählte, war das Chaos, das er in absehbarer Zeit über ihre Familie bringen würde. Wenn ihr Vater und er sich einen Kampf um die Firma lieferten und Douglas Shaw die Kontrolle über sein wertvolles Imperium verlöre, hätte das fatale Folgen – auch für seine Frau und seinen Sohn. Ihr Vater war kein guter Verlierer. Wenn er eine Niederlage einstecken musste, litten auch die Menschen in seiner Nähe darunter.
„Hat dein Vater dich geschickt?“ Die Art, wie er das Wort „Vater“ ausspie, zeigte deutlich seinen Hass – ein Gefühl, mit dem auch Helena zu kämpfen hatte, wenn es um ihren herzallerliebsten Daddy ging.
Sie betrachtete Leos Miene. Sein Gesicht war schmaler geworden, die Züge ausgeprägter, kantiger als früher, aber immer noch unglaublich attraktiv. Ihre Finger zuckten unwillkürlich, als sie daran dachte, wie sie diese Züge früher nachgezeichnet hatte, während er schlief. Wie sie sich diese prägnante, stolze Nase eingeprägt hatte, die hohen Wangenknochen und die wie gemeißelt wirkenden Lippen, die durch ein schlichtes Lächeln ihr Herz zum Stillstand brachten – oder durch einen Kuss.
Völlig unerwartet wirbelten Gefühle in ihrem Innern auf, ein schmerzlicher Mix aus Bedauern und Verlangen. Sie konnte kaum atmen.
Ob Leo wohl mittlerweile häufiger lächelte? Oder waren die Linien neben den Mundwinkeln eher Spuren von Ärger und Hass?
Unwillkürlich legte Helena die Hand auf den Bauch. Die Leere dort, wo einst neues Leben gewachsen war, erinnerte sie mehr als deutlich daran, dass auch sie gelitten hatte. Von diesem Schmerz zumindest war Leo verschont geblieben, und es hätte nichts gebracht, ihn mit ihm teilen zu wollen.
Manche Lasten, hatte sie beschlossen, trug man besser allein. Sie ließ die Hand wieder fallen.
„Ich bin keine Marionette meines Vaters, Leo. Auch wenn du das immer geglaubt hast, du hast dich geirrt.“
Ein rauer Ton entrang sich seiner Kehle. „Die Einzige, die sich geirrt hat, bist du, Helena. Welchen Teil von ‚Ich will dich nie wiedersehen‘ hast du nicht verstanden?“
Sie unterdrückte den plötzlichen Schmerz, den seine Worte hervorriefen. „Das ist lange her. Ich möchte einfach nur mit dir reden. Ist das zu viel verlangt?“
Ein leises Pling kündigte an, dass der Fahrstuhl das Penthouse erreicht hatte. Ehe Leo mit einem überzeugten „Ja“ antworten konnte, trat sie durch die sich öffnenden Türen in einen geräumigen Vorraum. Sie blieb stehen, und die Absätze ihrer Pumps versanken in einem dicken schokoladenbraunen Teppich. Vor ihr tauchte eine mächtige zweiflüglige Tür auf. Das Ambiente machte einen ziemlich privaten Eindruck, wurde ihr klar. Abgeschieden. Isoliert.
Ihr Mund wurde trocken. „Vielleicht sollten wir uns lieber unten in der Bar unterhalten?“
Er trat dicht hinter sie und öffnete die schweren Türen. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, das ihr Herz nur noch schneller schlagen ließ.
„Angst davor, mit mir allein zu sein?“
Helena blieb auf der Schwelle stehen. Sollte sie Angst davor haben? Trotz ihrer Befürchtungen schob sie den Gedanken beiseite. Leonardo Vincenti war nicht gerade begeistert, sie zu sehen – das war beschämend eindeutig –, aber sie kannte diesen Mann. Immerhin hatte sie einmal viel Zeit mit ihm verbracht. Und die Intimitäten, die sie mit ihm erlebt hatte, waren in ihre Seele eingebrannt.
Unter seiner Höflichkeit konnte sie die Wut spüren, aber er würde nie die Kontrolle verlieren. Niemals würde er sie so verletzen, wie ihr Vater es mit ihrer Mutter getan hatte.
Also steckte sie die Hand in die Tasche ihrer schwarzen Anzughose und sah ihn hochmütig an. „Sei nicht albern“, sagte sie und trat ein.
Leo schloss die Tür, ging mit langen Schritten zur Bar und schenkte sich großzügig Whisky ein. Mit einem Zug trank er das hochprozentige Getränk aus, knallte das Glas auf die Bar und sah die Frau an, die an seiner Fassade der Gelassenheit rüttelte.
„Möchtest du was trinken?“
„Nein.“ Sie bekräftigte ihre Ablehnung mit einem heftigen Kopfschütteln, das ihre goldbraunen Locken wippen ließ. „Aber … danke.“
Kürzer, stellte er fest. Ihr Haar war kürzer, die dunklen Strähnen, die einst bis zur Taille gereicht hatten, umspielten nun in einem perfekten Schnitt ihre Schultern. Auch ihr Gesicht hatte sich verändert. Es war schmaler, wie ihr ganzer Körper, und markanter. Ihre Wangenknochen wirkten stark und elegant, das Kinn fest. Unter ihren Augen lagen Schatten, doch der Rest ihres Gesichts war gebräunt, glatt und makellos. Es war ein Gesicht, an dem kein Mann ohne einen zweiten Blick vorübergehen würde.
Helena Shaw, musste er widerwillig zugeben, war kein hübsches Mädchen mehr. Helena Shaw war eine atemberaubend schöne Frau.
Missmutig erinnerte er sich daran, dass er kein Interesse an dem Aussehen dieser Frau hatte, weder körperlich noch sonst irgendwie. Schon einmal hatte er sich von ihrer Attraktivität und ihrer scheinbaren Unschuld blenden lassen – ein gravierender Fehler, der ihn viel mehr gekostet hatte als nur seinen Stolz –, und diesen Fehler würde er nicht wiederholen.
Mit keiner Frau.
Und ganz besonders nicht mit dieser.
„Du willst also reden.“ Das war das Letzte, was er mit Helena Shaw tun wollte. Dio. Er hätte sie mit Gewalt aus dem Fahrstuhl drängen sollen, selbst wenn es eine Szene deswegen gegeben hätte. Unwirsch deutete er auf zwei tiefe Ledersofas. „Setz dich.“ Er sah auf seine Uhr. „Du hast zehn Minuten.“
Sie runzelte die Stirn, und zwischen ihren Brauen erschien eine winzige Falte. Dann stellte sie ihre Tasche auf den kleinen Glastisch und nahm in der Ecke eines der Sofas Platz, ehe sie hörbar Luft holte.
„Die Zeitungen sagen, dass du eine feindliche Übernahme der Firma meines Vaters planst.“
Er ließ sich in das Sofa ihr gegenüber fallen. „Treffend zusammengefasst.“ Er hielt inne. „Und …?“
Sie stieß einen Seufzer aus. „Du willst es mir nicht leicht machen, oder?“
Leicht? Diese sechs Buchstaben ließen ihn die Zähne zusammenbeißen. Das ganze Leben dieses Mädchens war leicht gewesen. Der Reichtum der Familie und die Kontakte ihres Vaters hatten dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte. Anders als bei Leo und seiner Schwester, die nach dem Tod der Mutter eine trostlose Kindheit voller Armut und Entsagungen gehabt hatten. Für sie war nichts einfach gewesen.
„Du möchtest, dass ich es dir leicht mache?“
Zur Hölle, das würde er nicht tun!
Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nur verstehen, warum du das tust.“
Sie wollte ihn von seinem Plan abbringen? Keine Chance. Er hatte jahrelang darauf gewartet, mit ihrem Vater ein Hühnchen rupfen zu können. Einen Herzschlag lang erwiderte er ihren Blick. „So ist das Geschäftsleben.“
Sie lachte, kurz und spröde, nicht das sanfte, betörende Lachen seiner Erinnerung. „Ich bitte dich. Mit Geschäft hat das nichts zu tun – du willst es ihm heimzahlen.“
Bei dem letzten Wort schwankte ihre Stimme, doch wenn sie vorhatte, an sein Mitgefühl zu appellieren, hatte sie Pech gehabt.
„Und wenn ich zugeben würde, dass ich damit eine alte Rechnung begleichen will – was würdest du dann sagen?“
„Ich würde sagen, dass es nichts besser macht, auf eine falsche Entscheidung mit einer zweiten zu reagieren.“
Er lachte spöttisch. „Wie romantisch! Ich persönlich glaube eher an ‚Auge um Auge‘.“
Sie senkte den Blick und betrachtete ihre Hände. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme rau. „Die Menschen sind nicht perfekt, Leo. Sie machen manchmal Fehler.“
Sein Magen zog sich zusammen. Redete sie von ihrem Vater? Oder meinte sie sich selbst? „Du willst dich also für deine Fehler entschuldigen?“
Sie sah auf. „Das habe ich bereits versucht. Aber du wolltest mir nicht zuhören. Wäre das jetzt anders?“
„Nein.“
„Ich hatte versucht, dich zu schützen.“
Er unterdrückte ein weiteres Auflachen. Indem sie sein Herz mit einer scharfen Klinge durchbohrt hatte? Indem sie ihm keine andere Wahl gelassen hatte, als zuzusehen, wie sie ging? Ein dicker Kloß saß in seiner Kehle, und er versuchte, ihn hinunterzuschlucken.
Vor sieben Jahren war er nach London gekommen, um mit einem jungen Computergenie an einem Projekt zu arbeiten, das ihnen einen noch nie da gewesenen Erfolg hätte bescheren können.
Er war konzentriert gewesen, engagiert, diszipliniert. Wie immer.
Und dann hatte er dieses Mädchen kennengelernt.
Ein Mädchen, das so wunderschön gewesen war, so hinreißend, dass es eine der Skulpturen bei der Ausstellungseröffnung der Kunstgalerie hätte sein können, auf der sie sich begegnet waren.
Natürlich hatte er versucht, ihr zu widerstehen. Sie war zu jung für ihn gewesen, zu unerfahren. Und sie hatte eine zu große Ablenkung für sein Projekt bedeutet, auf das er sich konzentrieren musste.
Aber die Leidenschaft hatte gesiegt. Und schneller, als er es jemals für möglich gehalten hätte, hatte er sich in diese junge Frau verliebt, die ihn nur fünf Wochen später abservierte, als wäre er ein langweiliges Spielzeug, das sie nicht länger interessierte.
Er verzog die Lippen. „Gut, dass du mich daran erinnerst, mich niemals an dich zu wenden, wenn ich Schutz brauchen sollte.“
Sie besaß zumindest den Anstand, sich zu winden. „Ich hatte keine Wahl. Das verstehst du nicht …“
„Dann erkläre es mir.“ Die Wut in seinem Innern wuchs, und er musste sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. „Erklär mir, warum du gegangen bist, anstatt mir die Wahrheit zu sagen. Erklär mir, warum du niemals erwähnt hast, dass dein Vater unsere Beziehung missbilligt. Erklär mir, warum – keine achtundvierzig Stunden, nachdem du mich verlassen hattest – jeder Investor, den ich mühevoll für mein Projekt gewonnen hatte, seine Unterstützung zurückgezogen hat.“
Er grub die Fingernägel in die Handflächen. Douglas Shaw hatte Leos Geschäft einen tödlichen Schlag versetzt. Und doch war sein eigener Verlust unwichtig im Vergleich zu den Auswirkungen, die das alles auf seine kleine Schwester gehabt hatte. Mariettas Leben, all seine Hoffnungen und Träume für ihre Zukunft, waren zunichtegemacht worden.
Eine Entschuldigung konnte das nicht wieder in Ordnung bringen.
„Du wolltest es dir leicht machen …“
„Nein.“
„… und dein Vater hat dir die perfekte Ausrede geliefert.“
„Nein!“
Die Vehemenz, mit der sie seine zweite Anschuldigung von sich wies, überraschte ihn. Sie warf ihm einen verletzten Blick zu, und er verspürte einen Anflug von Reue, den er selbst nicht erwartet hatte. Zum Teufel! Genau deshalb hatte er sie nicht wiedersehen wollen. Das Geschäft verlangte einen kühlen Kopf, einen rasiermesserscharfen Verstand. Jederzeit. Ablenkungen wie die langbeinige Schönheit, die ihm jetzt gegenübersaß, konnte er nicht gebrauchen.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen Blitz, der die Terrasse erhellte, von der aus man über den Hyde Park und die Luxusvillen von Knightsbrigde sehen konnte. Sein rechtes Bein zuckte in dem Drang, aufzustehen und zu überprüfen, ob die Glastüren geschlossen waren. Er hatte keine Angst vor den Naturgewalten – manchmal bewunderte er förmlich ihre unbändige Kraft –, aber er mochte sie auch nicht besonders.
Er mochte sie ebenso wenig wie die Dämonen seiner Kindheit, die von ihnen heraufbeschworen wurden.
Heftiger Regen prasselte an die Fensterscheiben und übertönte die Geräusche der Stadt. Er wartete auf den Donner, und dann konzentrierte er sich wieder auf sein Gegenüber. „Was hat dir dein Vater von der Übernahme erzählt?“
„Nichts. Ich weiß nur das, was ich aus den Zeitungen erfahren habe.“
Vermutlich eine weitere Lüge. Doch er ging nicht weiter darauf ein. „Dann kennst du ein entscheidendes Detail nicht.“
Sie hörte auf herumzuzappeln. „Und zwar?“
„Dir fehlt das Wort ‚erfolgreich‘. Es war eine erfolgreiche Übernahme. Tatsächlich …“ Er schob den Ärmel seines Hemdes hoch und sah auf die Uhr. „… besitzt meine Firma seit zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten fünfundsiebzig Prozent der Shaw Corporation.“ Er schenkte ihr ein wenig freundliches Lächeln. „Was bedeutet, dass ich Mehrheitsaktionär an der Firma deines Vaters bin.“
Leidenschaftslos beobachtete er, wie die Farbe aus ihren Wangen wich. Sie presste die Hand an die Stirn und schloss die Augen.
Ein bisschen theatralisch, dachte er und verzog den Mund. Dann beugte er sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Du siehst ein bisschen blass aus, Helena. Möchtest du jetzt etwas trinken? Ein Glas Wasser vielleicht? Oder brauchst du eine Kopfschmerztablette?“
Sie riss die Augen auf, und etwas – Zorn? – blitzte in ihren Augen auf. Sie schimmerten wie Saphire.
Unwillkürlich atmete Leo tief ein. Mochten sich ihr Gesicht und ihre Figur im Laufe der Jahre auch verändert haben, diese Augen waren gleich geblieben. Sie waren noch immer wunderschön. Fesselnd.
Noch immer gefährlich.
Als sie den Kopf hob, traf ihr glitzernder Blick seinen.
„Ein Wasser wäre gut.“ Sie bedachte ihn mit einem schmalen Lächeln. „Aspirin brauche ich nicht.“
Helena griff nach dem Glas, das Leo auf den Tisch gestellt hatte, und nahm einen Schluck. Sie konzentrierte sich auf das kalte Prickeln des kohlensäurehaltigen Getränks auf ihrer Zunge. Sie würde nicht schwach werden. Nicht vor den Augen dieses Mannes. Der Schreck auf nüchternen Magen hatte sie ein bisschen benommen gemacht, das war alles. Sie brauchte nur einen Moment, um sich wieder zu sammeln.
Nach einem dritten vorsichtigen Schluck stellte sie das Glas ab und faltete die Hände im Schoß. Sie durfte ihn ihre Unruhe nicht spüren lassen. Er durfte die Panik nicht bemerken, die sie überkam, während sie sich ein Übelkeit erregendes Szenario nach dem anderen vorstellte. Hatte ihr Vater sich besinnungslos betrunken, nachdem ihm klargeworden war, was diese Nachricht bedeutete? Spielte ihre Mutter die unterwürfige Ehefrau in dem Versuch, ihn zu beruhigen? Wie lange würde es dauern, bis die Mischung von Wut und Alkohol ihn in ein Monster verwandelte? In einen abscheulichen Tyrannen, der seine Frau in der einen Minute mit Schmuck und Luxusartikeln verwöhnte und in der nächsten verprügelte?
Helena zitterte, doch das lag nicht nur an der Angst um ihre Mutter. Auch die extreme Präsenz des Mannes ihr gegenüber war ein Grund dafür. Ihr wurde bewusst, dass – egal, wie viele Tage, Wochen oder Jahre vergingen – sie niemals gegen diesen großen, atemberaubenden Italiener immun sein würde. Niemals würde sie ihn ansehen können, ohne dass er ihr Blut zum Kochen brachte.
Nein, die Zeit hatte sie nicht unempfänglich gemacht für seine kraftvolle Männlichkeit. Aber sie würde nicht zulassen, dass ihr Verlangen die Oberhand gewann. Wenn die ständige Kritik ihres Vaters und seine Mitleidslosigkeit sie eines gelehrt hatten, dann war es das: niemals Schwäche zu zeigen.
Sie verschränkte die Finger, damit sie nicht zitterten. „Welche Pläne hast du mit der Firma meines Vaters?“
Ein Muskel unter seinem Auge zuckte kurz, beruhigte sich wieder und zuckte erneut. Leo lehnte sich zurück, streckte die langen Beine aus und legte einen Arm auf die Rückenlehne des Sofas. „Das weiß ich noch nicht genau.“
Sie kämpfte gegen das Bedürfnis an, ihm einen finsteren Blick zuzuwerfen. „Du wirst doch eine Idee haben.“
„Natürlich. Mehrere sogar. Und darüber werde ich mit deinem Vater sprechen, sobald er seine Aversion, mit mir zu reden, abgelegt hat.“ Er machte eine Pause. „Vielleicht hofft er, dass seine Tochter seinem neuen Aktionär einen … Ansporn bietet, sich rücksichtsvoll zu verhalten?“
Zu ihrem Ärger wurde sie rot. „Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“
„Ach, komm schon. Es gibt keinen Grund, mir gegenüber die Ahnungslose zu spielen.“
Gedankenverloren ließ Leo die Hand über die Sofalehne gleiten. Langsam und gleichmäßig strich er über das weiche schwarze Leder. Wie gebannt sah Helena zu, dann riss sie sich von dem Anblick los. Einst hatte er sie selbst mit seinen langen, gebräunten Händen ähnlich gestreichelt und damit eine Leidenschaft in ihr ausgelöst, die kein anderer Mann zuvor oder danach hatte entfesseln können.
Sie atmete tief durch und versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren.
„Du musst mich nicht so besorgt ansehen, Helena. Du wirst dir an jemandem wie mir nicht noch einmal die Hände schmutzig machen müssen.“ Er hielt die Finger still. „Ich habe kein Interesse an irgendetwas, das du mir bieten könntest.“
Als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, ließ er den Blick über sie gleiten, von ihrem Scheitel bis zu den billigen Schuhen. „Was die Firma angeht“, fuhr er fort, ehe sie zu einer Erwiderung ansetzen konnte, „wenn dein Vater meine Einladungen zum Gespräch weiterhin ablehnt, werden wir die Tochtergesellschaften verkaufen und das Herzstück der Firma übernehmen. Eine Fusion wäre auch mit Entlassungen verbunden, aber die Angestellten deines Vaters werden erkennen, dass ich ein vernünftiger Mann bin. Diejenigen, die ich entlassen müsste, könnten mit einer großzügigen Entschädigung rechnen.“
Mit offenem Mund sah sie ihn an. „Du willst die Firma zerschlagen?“ Das würde ihren Vater definitiv in die Knie zwingen. „Du würdest alles zerstören, was mein Vater in seinem Leben aufgebaut hat?“
Er zuckte die Schultern. „Als Minderheitenaktionär würde er von den Verkäufen profitieren. Natürlich würde er seine Position als Geschäftsführer verlieren, aber dein Vater steht ohnehin nicht mehr in der Blüte seines Lebens. Vielleicht fände er es sogar gut, sich zurückzuziehen?“
Sie schüttelte den Kopf. Für Douglas Shaw ging es nicht ums Geld. Oder darum, sich zurückzuziehen. Für ihn ging es ausschließlich um Stolz und Respekt und Status. Um den Sieg. Um Kontrolle.
„Das verstehst du nicht.“ Ihre Stimme zitterte. „Das würde nicht nur meinen Vater verletzen, sondern auch andere – meine Familie. Ist es das, was du willst, Leo? Unschuldige Menschen leiden zu sehen?“
Sein Blick wurde hart. „Erzähl du mir nichts vom Leiden. Deine Familie und du, ihr wisst gar nicht, was das bedeutet.“
Das stimmt nicht! wollte sie schreien, doch sie sagte nichts. Auch das hatte sie schon als Kind gelernt – niemals indiskret zu sein. Um das Bild des perfekten Heims aufrechtzuerhalten, log man notfalls.
Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus.
Warum glaubten die Menschen immer, in einem reichen Zuhause aufzuwachsen, bedeute ein Leben voller Sonnenschein und Rosen? Für Helena war es nur eine prachtvolle Zuckerguss-Illusion gewesen. Eine Illusion, hinter der sich ihre Mutter, die stets pflichtbewusste Ehefrau, immer versteckt hatte.
Leo schob seine breiten Schultern vor und stellte beide Füße fest auf den Boden. „Hier geht’s ums Geschäft. Dein Vater weiß das. Besser als die meisten anderen.“
Damit richtete er sich zu seiner beeindruckenden Größe auf – knapp zwei Meter schlanker, muskulöser Italiener.
„Ich hätte es für ihn noch viel schlimmer machen können. Daran könntest du ihn bei Gelegenheit mal erinnern.“
Für einen Augenblick erwog Helena, ihm die Wahrheit zu sagen – dass sie seit Jahren nicht mit ihrem Vater gesprochen, ihn nicht einmal gesehen hatte. Dass sie als Sekretärin arbeitete und ihre Familie nur besuchte, wenn ihr Vater auf Geschäftsreisen war. Dass Douglas Shaw ein herrschsüchtiger Tyrann war und dieser Mann sie nicht einen Deut interessierte, sondern dass es ihr um die Familienmitglieder ging, die unter seinem Absturz am meisten leiden würden. Dass sie keine Macht über ihren Vater hatte. Und dass sie Leo nichts im Gegenzug anbieten konnte, wenn er Milde walten ließ, außer ihrer ewigen Dankbarkeit.
Doch die Vorsicht hielt sie davon ab. Der Mann, der vor ihr stand, war nicht der Leo, den sie einst gekannt hatte. Er war ein zäher, gerissener Geschäftsmann und auf Rache aus. Und dafür würde er jede Waffe einsetzen, die ihm zur Verfügung stand. Wissen war Macht, und davon hatte er schon genügend, ohne dass sie ihm noch zusätzlich Munition lieferte.
Außerdem hatte er sie beschuldigt zu lügen – warum sollte er jetzt die Wahrheit glauben?
Sie löste ihre Hände und erhob sich.
„Es muss andere Möglichkeiten geben“, platze sie heraus. „Einen anderen Weg, um deinen Vorstand zufriedenzustellen und gleichzeitig die Firma intakt zu halten.“
„Meine Leute haben bei ihren Entscheidungen immer das Wohl meiner Firma im Blick – nicht die Interessen deines Vaters oder deiner Familie.“ Wieder sah er auf seine Armbanduhr. „Und jetzt muss ich mich wichtigeren Dingen zuwenden, wenn es nichts mehr gibt, was du mit mir besprechen möchtest.“
Sie starrte ihn an.
Wichtigeren Dingen?
In ihrer Kehle stieg ein bitteres Lachen auf … und erstarb.
Ernsthaft, was hatte sie erwartet? Verständnis? Vergebung? Ein nettes Gespräch bei einer Tasse Tee?
Sie fühlte sich gedemütigt. Sie war eine Närrin und auf einer idiotischen Mission. Entschlossen griff sie nach ihrer Handtasche. „Wenn du das nächste Mal in den Spiegel siehst, Leo, denk daran, warum du meinen Vater so sehr hasst.“ Sie hielt seinem versteinerten Blick stand. „Und dann sieh dir dein Spiegelbild genau an. Dabei wirst du feststellen, dass du mehr Gemeinsamkeiten mit ihm hast, als du glaubst.“
Er zuckte zurück – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie ihn ins Mark getroffen hatte. Doch diese Gewissheit linderte den stechenden Schmerz in ihrer Brust nicht. Mit hocherhobenem Kopf ging sie zur Tür.
Die Türklinke war direkt vor ihr. Helena hatte schon die Hand ausgestreckt, als sich ein fester Griff um ihren Oberarm schloss und sie herumdrehte. Sie gab einen überraschten Laut von sich.
„Ich habe keinerlei Ähnlichkeit mit deinem Vater“, sagte er und sah sie streitlustig an.
„Dann beweise es“, schoss sie zurück. Ihr Arm fühlte sich an wie in einem Schraubstock, die Hitze drang durch den dünnen Stoff ihres Jackenärmels, und sie war sich des herben, holzigen Dufts von Leos teurem Parfüm mehr als bewusst. „Gib meinem Vater Zeit, sich mit dir an den Verhandlungstisch zu setzen, bevor deine Mitarbeiter irgendwelche Entscheidungen treffen.“
Leo ließ sie los, trat zurück, und die winzige Flamme der Hoffnung in ihrem Innern verlosch. Sie musste hier raus. Sofort. Bevor sie etwas so Armseliges und Schwaches machte, wie zu weinen. Sie wandte sich um und umfasste den Türgriff. Im selben Augenblick landete Leos Hand an der Tür, direkt oberhalb ihres Kopfes, und verwehrte ihr die Flucht.
„Unter einer Bedingung.“
Seine Stimme in ihrem Rücken war leise, und es schwang etwas darin mit, was sie nicht deuten konnte. Sie drehte sich zu ihm um, presste ihren Rücken an die Tür und sah zu ihm auf. „Und zwar?“
„Ein Dinner mit mir.“
Sie machte zwei Lidschläge. Drei.
„Dinner?“, wiederholte sie einfältig.
„Si.“ Er löste seine Hand von der Tür. „Morgen Abend.“
Ihr Magen schlug einen albernen kleinen Purzelbaum. Machte Leo sich über sie lustig? Prüfend sah sie ihn an. „Ist das eine Einladung oder ein Befehl?“
Sein Schulterzucken war mit einem Mal lässig und arrogant. „Nenn es, wie du willst. Das ist meine Bedingung.“
„Morgen ist Freitag“, erwiderte sie, als würde das irgendeine Rolle spielen. In Wirklichkeit war das alles, was sie herausbrachte, während sie mit seinem Vorschlag rang.
Er blähte die Nasenflügel. „Hast du schon etwas vor?“
„Äh … nein.“ Großartig. Jetzt dachte er, sie hätte keine sozialen Kontakte. Sie straffte die Schultern. „Noch vor einer Minute konntest du es nicht erwarten, mich loszuwerden. Und jetzt willst du mit mir essen gehen?“
Er presste die Lippen zusammen. Ungeduldig? Oder missfiel es ihm einfach – wie den meisten Männern –, seine Gründe infrage gestellt zu sehen?
Unwirsch steckte er die Hände in die Hosentaschen. „Du wolltest eine Gelegenheit zu reden, Helena. Nimm sie an oder lass es. Es ist mein letztes Angebot. Samstag kehre ich nach Rom zurück.“
Helena zögerte, ihre Gedanken überschlugen sich. Das könnte ihre einzige Chance auf ein ruhiges, vernünftiges Gespräch mit ihm sein. Eine Gelegenheit, an seinen Verstand und sein Mitgefühl zu appellieren … wenn er so etwas überhaupt hatte. Die Übernahme lag außerhalb ihres Einflusses und war – vorausgesetzt, er sagte die Wahrheit – sowieso eine vollendete Tatsache. Aber wenn sie auch nur eine winzige Chance hatte, ihn davon abzubringen, die Firma zu zerschlagen, und ihn dazu zu bringen, ihrem Vater eine akzeptablere Lösung anzubieten, dann musste sie diese ergreifen. Sie musste es wenigstens versuchen.
Also nickte sie. „Gut. Dinner. Morgen Abend. Wo treffen wir uns?“
„Ich schicke dir einen Wagen.“
Sie bekam Panik. Die Vorstellung, Leo oder einer seiner Angestellten könnte sehen, wo sie wohnte, brachte sie schier um. Ihre Wohngegend war die beste, die sie sich im Moment leisten konnte, aber die Nachbarschaft war weit entfernt von angenehm.
Sie angelte einen Stift und Papier aus ihrer Handtasche, notierte ihre Büroadresse und ihre Handynummer. „Dort kannst du mich abholen.“ Damit reichte sie ihm den Zettel. „Und das ist meine Nummer, falls du mich anrufen willst.“
„Sehr gut.“ Ohne einen Blick darauf zu werfen, steckte er den Zettel in seine Hosentasche und öffnete die Tür. „Sei um halb sieben fertig.“
Erneut nickte sie, trat in den Flur und drückte den Fahrstuhl-Knopf, nachdem sie kurz überlegt hatte, die Treppe zu nehmen. Sie würde nicht davonstürzen wie ein verängstigtes Kind.
Der Mann, der ihr Herz gestohlen und ihr dafür ein ganz besonderes Geschenk hinterlassen hatte, mochte verschwunden und der Fremde, der an seine Stelle getreten war, beeindruckender sein, als sie erwartet hatte. Aber sie würde sich nicht einschüchtern lassen.
Sie widerstand dem Drang, sich noch einmal nach ihm umzusehen, und hoffte, der Lift würde endlich auftauchen. Als er kam, machte sie erleichtert einen Schritt hinein.
„Helena.“
Leos Stimme ließ sie unwillkürlich in der Bewegung erstarren. Ohne sich umzudrehen, stützte sie ihren Arm an die Fahrstuhltür und neigte den Kopf. „Ja?“
Einen Moment lang breitete sich eine solche Stille zwischen ihnen aus, dass Helena sich kaum zu atmen traute.
„Zieh etwas Schickes an“, sagte er schließlich.
Und dann schloss er die Tür.
Leo griff nach dem halb leeren Wasserglas und betrachtete den pinkfarbenen Abdruck auf dem Rand. Hatte Douglas Shaw seine Tochter geschickt, um ihn umzustimmen? Der Gedanke war abstoßend, aber er traute es diesem Mann durchaus zu. Was Shaw an Skrupel fehlte, besaß er dafür umso mehr an Unverfrorenheit.
Er ging hinüber zur Bar, goss das Wasser aus und schob das Glas zusammen mit der Whiskyflasche von sich. Dann schlug er mit der Handfläche auf den Tresen und stieß einen Fluch aus.
Er hätte sie gehen lassen und die Tür hinter ihr zuschlagen sollen. Im buchstäblichen und im übertragenen Sinne.
Doch dann hatte er beobachtet, wie sie davonstolziert war, nachdem sie ihn aus diesen kühlen saphirblauen Augen angesehen hatte, die ihn so sehr an ihren Vater erinnerten. Und beim Anblick dieser herausfordernden Arroganz, die aus jeder provozierenden Faser ihres Körpers schrie …
Etwas in ihm war ausgerastet. Plötzlich war er wieder fünfundzwanzig gewesen, hatte in einem anderen Zimmer in einem anderen Hotel gestanden und dem Mädchen zugesehen, das ein Stück aus seinem Herzen herausschnitt, sich umdrehte und aus seinem Leben verschwand.
In seinem Mund breitete sich ein bitterer Geschmack aus. Er öffnete den kleinen Kühlschrank, schob die Flasche Dom Pérignon, eine Auswahl exzellenter Weine und Biere zur Seite und griff nach einer Dose Soda.
Mit fünfundzwanzig hatte er geglaubt, Menschen gut beurteilen zu können – eine Fähigkeit, die er sich angeeignet hatte, als er während der Alkoholexzesse seines Vaters auf seine Schwester hatte aufpassen und lernen müssen, wem er vertrauen konnte und wem nicht. Im Laufe der Jahre hatte er ein Gefühl dafür entwickelt, doch bei Helena hatte sein Instinkt versagt. Zum ersten und letzten Mal in seinem Leben hatte er zugelassen, dass seine Gefühle sein Urteilsvermögen außer Kraft setzten.
Diesen Fehler würde er kein weiteres Mal begehen.
Genauso wenig, wie er sich von seinem Plan abbringen lassen würde.
Douglas Shaw war ein Tyrann, der sich nicht darum scherte, ob er das Leben anderer Menschen zerstörte, und er hatte eine Lektion in Sachen Bescheidenheit verdient. Leo traute ihm nicht, und ebenso wenig traute er dessen Tochter.
Er trank das Sodawasser in kräftigen Zügen und zerquetschte die Dose in seiner Hand.
Shaw wollte ein Spiel spielen? Leo war bereit. Seit sieben Jahren. Und wenn Douglas Shaw seine Tochter als Pfand einsetzen wollte, dann war es eben so. Zu diesem Spiel gehörten zwei.
Während Leo die Dose in den Mülleimer warf, umspielte ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel.
„Geh nach Hause, Helena.“
Helena sah von den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch auf. Vor ihr stand ihr Chef, die Aktentasche unter dem Arm, das Jackett ordentlich darüber gefaltet, einen Ausdruck von spöttischem Ernst auf dem Gesicht. Es war schon nach sechs, und ihre Etage war an diesem Freitagabend so gut wie ausgestorben.
„Ich gehe gleich“, versicherte sie ihm. „Um halb sieben bin ich verabredet.“
David nickte zufrieden. „Gut. Schönes Wochenende.“
Er war schon im Begriff zu gehen, als er sich noch einmal umdrehte. „Hast du noch mal darüber nachgedacht, Urlaub zu nehmen?“, erkundigte er sich. „Der Vorstand ist wieder einmal auf dem Kriegspfad. Wenn du deine Urlaubstage nicht nimmst, verfallen sie. Und nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich sage …“ Er hielt inne und musterte sie. „Du siehst aus, als könntest du eine Pause gebrauchen.“
Lächelnd wischte sie seine Sorgen beiseite. David war ein langjähriger leitender Angestellter der Bank, und er ging auf die sechzig zu, aber er bemerkte alles. Er hatte einen scharfen Verstand, war aufmerksam und kümmerte sich um seine Mitarbeiter.
Im Geiste machte sie sich eine Notiz, mehr Concealer unter ihren Augen aufzutragen. „Mir geht’s gut. Es war eine lange Woche. Und gestern konnte ich bei dem Regen nicht einschlafen.“
Das stimmte sogar teilweise.
„Nun, denk darüber nach. Bis Montag.“
„Tschüss, David.“
Sie sah ihm nach, dann schaute sie auf ihre Uhr.
Sie musste los.
In knapp zwanzig Minuten würde der Wagen kommen, den Leo geschickt hatte, und sie wollte den Abend nicht damit beginnen, dass sie zu spät kam.
Sie schloss die Tür ab, schlüpfte aus ihrem Hosenanzug und zog das kleine Schwarze an, das sie heute aus den Tiefen ihres Kleiderschranks gefischt hatte. Dann drehte sie sich zu dem mannshohen Spiegel auf der Rückseite der Tür um und betrachtete sich.
Stirnrunzelnd sah sie auf ihr Dekolleté.
War dieses Kleid immer schon so freizügig gewesen?
Sie konnte sich nicht daran erinnern, aber sie wusste auch nicht mehr, wann sie es zum letzten Mal getragen hatte. Nur noch selten warf sie sich so in Schale. Selbst wenn sie gelegentlich mit einem Mann verabredet war, kleidete sie sich schlichter. Sie zog das Oberteil höher und zupfte die Seiten des V-Ausschnitts weiter zusammen, ohne mit dem Ergebnis zufrieden zu sein.
Es musste gehen. Sie hatte keine Zeit mehr, etwas anderes anzuziehen – abgesehen davon, dass dies das schickste Kleid war, das sie besaß. Das letzte Designerkleid hatte sie vor Jahren verkauft, als sie die Kaution und eine Monatsmiete im Voraus für ihre Wohnung hatte auftreiben müssen.
Sie stellte sich seitlich vor den Spiegel.
Das Kleid umschmeichelte sie bis zur Mitte ihrer Oberschenkel und zeigte jede Kurve ihres Körpers – inklusive des kleinen Bäuchleins. Sie hielt die Luft an, zog den Bauch ein und strich mit der Hand über die leichte Wölbung, die sich jeglichem Bauchmuskeltraining widersetzte.
Helena bereute keine der Spuren, die ihre Schwangerschaft hinterlassen hatte. Es waren Erinnerungen an die Freude, aber auch an den Verlust, den sie erlitten hatte. An Lektionen, die sie gelernt hatte, und Fehler, die sie kein zweites Mal begehen würde.
Sie ließ die Hand sinken und atmete ein. Heute Abend musste sie sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit. Und dafür würde sie all ihre Geistesgegenwart brauchen.
Vor der Bank wartete ein schnittiger silberner Mercedes in der Halteverbots-Zone. Der uniformierte Fahrer stand auf dem Gehweg. „Miss Shaw?“, sprach er sie an, und als sie nickte, öffnete er die hintere Tür, um sie einsteigen zu lassen.
Wenig später glitt der Wagen durch den chaotischen Londoner Feierabendverkehr. Ebenso wie die luxuriöse Hotelsuite vertrat auch die üppige Ausstattung der Limousine jenen Lebensstil, mit dem Helena aufgewachsen und den sie nun seit Jahren nicht mehr gewohnt war. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die diesen Glanz noch immer liebte und nicht verstehen konnte, dass ihre Tochter ein bescheideneres Leben führte, unabhängig vom Geld und Einfluss der Familie.
Sie lehnte den Kopf in das weiche Leder.
Natürlich liebte sie ihre Mutter. Miriam Shaw war jene klassische perfekte blonde Hausfrau der besseren Kreise, doch sie war weder einfältig noch egoistisch. Sie liebte ihre Kinder und hatte ihnen all den Luxus ermöglicht, der ihr selbst in einem völlig überfüllten Waisenhaus verwehrt geblieben war. Und nachdem die Kinder ins Internat gegangen waren – ihr Vater hatte darauf bestanden –, hatte sie ihre Tage mit Wohltätigkeitsveranstaltungen und Spendenaktionen ausgefüllt.
Nur was ihren Ehemann betraf, war Miriam unerklärlicherweise schwach. Ihm vergab sie alles sofort und hatte hastig Entschuldigungen für sein Fehlverhalten zur Hand.
So wie heute, als sie angerufen hatte, um das lange vereinbarte Mittagessen mit ihrer Tochter abzusagen. Sie hatte eine Migräne vorgeschoben, doch Helena wusste es besser. Die Ausrede war nichts weiter als ein durchsichtiger Schleier, mit dem sie ihre Verletzungen ebenso wenig verbergen konnte wie mit ihrem Make-up.
Dinge zu leugnen, war das hervorstechendste Talent ihrer Mutter. Und ihre größte Schwäche. Ein unüberwindlicher Schutzwall, an dem Helena jedes Mal scheiterte, wenn sie versuchte, Miriam dazu zu bringen, ihren Mann zu verlassen.
Ein Brennen zog von Helenas Magen hinauf bis in ihre Kehle. Es war dieselbe Wut und Verzweiflung, die sie immer verspürte, wenn sie mit der trostlosen Realität der Ehe ihrer Eltern konfrontiert war.
Sie massierte ihren Nasenrücken. Aus dem Bedürfnis heraus, ihre Mutter zu verstehen, hatte sie in den vergangenen Jahren alles über häusliche Gewalt gelesen, was ihr in die Hände gefallen war. Darüber, warum sich Miriam mit dem Trinken, den Wutausbrüchen, dem gelegentlichen blauen Auge abfand. Sobald das passiert war, folgte unweigerlich ein Friedensangebot – normalerweise in Form eines kostspieligen Schmuckstücks –, und dann tat Miriam wieder so, als wäre alles in Ordnung.
Bis zum nächsten Mal.
Helena hatte es unzählige Male erlebt, doch jetzt ging es um mehr. Jetzt lief ihr Vater Gefahr, alles zu verlieren, was ihm wichtig war: seine Firma, seinen Ruf, seinen Stolz.
Wenn Leo seine Pläne tatsächlich in die Tat umsetzte, würde das Shaw-Imperium Stück um Stück fallen wie Äste unter einer Kettensäge. Und Helena hegte keinen Zweifel daran, dass ihr Vater, wenn – falls – er stürzte, seine Frau mit sich reißen würde.
„Miss Shaw?“
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. Der Wagen hatte vor dem Hotel gehalten, und ein junger Mann in Pagenuniform hatte ihre Tür aufgezogen. Mit seiner schlaksigen Gestalt und dem frischen, unschuldigen Gesichtsausdruck erinnerte er Helena an ihren Bruder. Sie schickte ein Dankgebet gen Himmel, dass James im Internat war, weit weg von dem hässlichen Drama zu Hause.
Sie glitt aus dem Wagen, und der Page geleitete sie durch die Hotelhalle in einen großen Empfangssaal mit hohen Decken. Zwischen den Gästen im Smoking und in festlichen Abendkleidern bahnten sich Kellner mit Tabletts voller Getränke ihren Weg.
„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Miss.“ Der Page wandte sich zum Gehen.
„Warten Sie!“ Verwirrt griff sie nach seinem Arm. „Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.“
Mit einem höflichen Lächeln schüttelte er den Kopf. „Keineswegs, Miss. Mr. Vincenti hat mir aufgetragen, Sie hierher zu bringen.“
Leo stand am Rand der Menge und musterte eine Frau mit brünettem Haar nach der anderen, bis er die entdeckte, auf die er gewartet hatte. Sie stand an einer marmornen Säule direkt am Eingang. Hin- und herhastende Kellner, Gruppen von plaudernden Gästen und gut hundert Meter trennten sie, und doch erkannte er das unsichere Flackern in ihren Augen. Die zwei Falten auf ihrer Stirn verrieten ihre Fassungslosigkeit.
Das verschaffte ihm ein Gefühl der Befriedigung. Gestern hatte sie die Überraschung auf ihrer Seite gehabt. Wie würde das kleine Biest es meistern, wenn die Rollen vertauscht waren?
Er nahm zwei Champagnerflöten vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners und steuerte auf sie zu.
„Buona sera, Helena.“
Sie wirbelte herum. Kurz fiel ihr Blick auf die Champagnergläser in seinen Händen, den perfekten Krawattenknoten an seinem Hals, dann sah sie ihn aus Augen, die zu schmalen Schlitzen verengt waren, direkt an.
„Das nennst du ein Dinner?“
Volltreffer.
Er lächelte. „Du siehst sehr … elegant aus.“
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, hätte einen weniger souveränen Mann in Stücke geschnitten.
„Ich sehe völlig unpassend gekleidet aus.“ Sie strich eine unsichtbare Falte auf ihrem kurzen und wunderbar tief dekolletierten Kleid glatt. „Die anderen Damen tragen Ballkleider.“
„Dein Kleid ist sehr schön“, beteuerte er – und das war eine Untertreibung. Das Kleid war nicht nur schön, sondern atemberaubend. Der schlichte Schnitt brachte ihre perfekten Kurven und die leicht gebräunten Beine besser zur Geltung, als es jede festliche Robe geschafft hätte.
Ihr Anblick raubte ihm den Atem. Ebenso mühelos wie an dem Abend ihrer ersten Begegnung. Damals war ihr Kleid – in mutigem Purpur – weitaus züchtiger geschnitten gewesen. Dieses kleine Schwarze hier war aufreizend, und der elfenbeinfarbene Brustansatz, der von schwarzem Stoff eingefasst wurde, ließ jeden Mann in lustvollen Tagträumen versinken.
„Es ist nur ein schlichtes Cocktailkleid“, erwiderte sie. So verärgert über ihr eigenes Outfit konnten nur Frauen sein. „Keine Garderobe für ein Fest wie dieses.“ Sie nestelte an dem Chignon-Knoten in ihrem Nacken. „Und du weichst meiner Frage aus.“
Er reichte ihr ein Glas Champagner, doch sie ignorierte es. „Ist das hier …“, mit einer ausschweifenden Geste deutete er auf die noble Umgebung, „nicht nach deinem Geschmack?“
„Ein Wohltätigkeitsdinner mit fünfhundert anderen Gästen? Nein.“
Er tat überrascht. „Magst du keine Wohltätigkeitsveranstaltungen?“
Helena ließ den Blick über ein großes Banner schweifen, das für die größte Organisation für querschnittsgelähmte Menschen in Europa und deren zwanzigsten Jahrestag warb. „Doch, selbstverständlich.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber ich hatte angenommen, wir würden uns in einem Restaurant treffen. Oder zumindest irgendwo … ich weiß nicht … wo es ein bisschen …“
„… intimer ist?“
Ihre Augen blitzten. „… privater ist.“
„Wo ist der Unterschied?“
Sie starrte auf das Glas in seiner Hand, dann griff sie danach. „Gehst du immer zum Wohltätigkeitsdinner in dem Hotel, in dem du gerade wohnst?“
„Si. Wenn ich gebeten werde, einen guten Zweck zu unterstützen, der es in meinen Augen wert ist.“ Er sah, wie sie die Augenbrauen hochzog. „Zugegeben, es gibt schönere Arten, einen Abend zu verbringen. Aber diese Veranstaltung stand schon lange in meinem Kalender, und sie passt hervorragend in meine geschäftlichen Termine.“
„Ah, gut …“ Sie hielt inne und nahm einen Schluck Champagner. „Das ist natürlich praktisch. Du kannst deine sozialen Aktivitäten abhaken und gleichzeitig Rache an meiner Familie nehmen – und das alles in einer einzigen Arbeitswoche.“ Sie verzog den Mund zu einem winzigen Lächeln. „Es gibt ja nichts Befriedigenderes, als zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wie praktisch, gerade für einen vielbeschäftigten Mann wie dich.“
Leo ließ die kleinen Champagner-Bläschen auf seiner Zunge zerplatzen und wählte seine nächsten Worte in Ruhe. Wenn man genügend Druck machte, zeigte jeder Mensch sein wahres Gesicht. „Rache ist ein sehr heftiges Wort“, entgegnete er mild.
Ihre Augen weiteten sich. „Oh, tut mir leid. Wie bezeichnest du denn das, was du gerade machst?“ Sie hob die Hand. „Nein, warte. Ich erinnere mich – ‚Auge um Auge‘, war es nicht so?“Sie hatte den Mund bitter verzogen und das Kinn vorgereckt.
„Ich wusste gar nicht mehr, dass du eine so scharfe Zunge hast, Helena.“
Auf ihren Wangen erschienen zwei rote Flecken, doch der kriegerische Ausdruck in ihren Augen blieb. „Das ist deine Vergeltung für gestern Abend, richtig? Es hat dir nicht gefallen, dass ich unangekündigt in deinem Hotel aufgetaucht bin. Deshalb überrumpelst du mich jetzt.“ Spöttisch erhob sie ihr Glas. „Gut gemacht, Leo. Und, was nun? Geleitest du mich an deinem Arm zu einem großzügigen Spender und hoffst, dass mein Vater davon erfährt?“
Er lächelte – was sie nur noch mehr irritierte, wie ihr zusammengekniffener Mund ihm verriet. Ihr Blick ging hastig Richtung Ausgang, und die Vorstellung, sie könnte die Flucht ergreifen, dämpfte seine Heiterkeit.
Helena würde ihm nicht entkommen.
Nicht dieses Mal.
Nicht, solange er sie nicht gehen lassen würde.
„Denkst du darüber nach, unsere Vereinbarung zu brechen?“
Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Woher weiß ich denn, dass du deinen Teil erfüllst?“
„Ich habe schon mit dem Anwalt deines Vaters gesprochen.“
„Und?“
„Er hat Zeit bis Dienstag, um deinen Vater an den Verhandlungstisch zu bringen.“
Mit offenem Mund starrte sie ihn an. „Mein Gott … das sind noch vier Tage. Kannst du ihm nicht etwas länger Zeit geben?“
„Im Geschäftsleben ist Zeit eine Ware, kein Luxus.“ Er fügte nicht hinzu, dass die Chancen des Anwalts schlecht standen, unabhängig von dem Zeitfenster, das er ihm einräumte. Beide Männer wussten, dass Shaw die Einladung ablehnen würde. Was Leo bedauerte. Er hatte gehofft, den Ausdruck in Douglas Shaws Augen sehen zu können, wenn er erfuhr, was mit seiner Firma passieren würde. Durch seine wiederholte Ablehnung eines Treffens hatte er Leo die Gelegenheit versagt, seinen Triumph vollständig auszukosten.
„Er wird nicht kommen.“
Ihre Stimme war so leise, dass er nicht sicher war, sie richtig verstanden zu haben. „Scusi?“
„Mein Vater. Er wird nicht kommen. Er wird sich nicht mit dir treffen, oder?“
Er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Hatte sie etwa seine Gedanken gelesen? Unmöglich! „Sag du es mir. Er ist dein Vater.“
„Leo, ich habe nicht …“
„Leonardo!“
Leo hörte seinen Namen, und im selben Moment starrte Helena über seine Schulter. Ihre Stimme erstarb. Nun wandte auch er sich um und sah einen schlaksigen Mann mit sandfarbenem Haar auf ihn zukommen. An seiner Seite hatte er eine zierliche Blondine.
Leo grinste. „Hans.“ Er ergriff die ausgestreckte Hand des anderen. „Ich wusste gar nicht, dass du hier bist. Wie geht’s dir? Und Sabine.“ Er hob die schmale Hand der Blonden an die Lippen und deutete einen Handkuss an. „Schön wie eh und je.“
Sie gab ein kehliges Lachen von sich. „Und du, mein Lieber, bist wie immer ein Charmeur.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf beide Wangen. Dann sah sie Helena mit blitzenden Augen an. „Stellst du uns deine attraktive Begleitung vor?“
Leo verlagerte das Gewicht, fing einen Blick von Helena auf und schaute sie warnend an. Blamier mich nicht.
„Helena, das sind Dr. Hans Hetterich und seine Frau Sabine. Hans ist – wenn er nicht gerade Golfturniere gewinnt oder mit seiner Yacht auf hoher See unterwegs ist – einer der besten Wirbelsäulenspezialisten der Welt.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen, Helena.“ Hans ergriff ihre Hand. „Und glauben Sie nichts von dem, was Leo sagt. Ich bin nicht annähernd so beeindruckend, wie er tut.“
Ein wenig damenhaftes Schnauben ertönte an seiner Seite. „Ich glaube, mein Mann ist heute Abend nicht er selbst.“ Sabine nahm Helenas Hand in ihre. „Normalerweise ist er nicht so bescheiden.“
Hans lachte schallend, woraufhin seine Frau die Augen verdrehte. Er zwinkerte Helena zu, dann sah er Leo mit ernsterer Miene an. „Unser neuer Forschungsbereich ist dank deiner Unterstützung unvergleichlich. Unsere Stammzellentherapie hat das Interesse der besten Chirurgen weltweit geweckt. Du musst ihn dir unbedingt demnächst ansehen. Und Sie sind auch herzlich willkommen, Helena. Waren Sie schon mal in Deutschland?“
Ihr Zögern verschwand. „Einmal, aber das ist lange her. Auf einer Klassenfahrt.“
„Vielleicht passt es in ein paar Monaten“, mischte Leo sich ein. „Dann habe ich beruflich etwas Luft.“
„Wie geht es Marietta?“, erkundigte sich Sabine. „Seit ihrer letzten Operation haben wir sie nicht mehr gesehen.“
Leo umklammerte sein Glas. „Gut“, antwortete er knapp. Er hatte nicht das Bedürfnis, in Gegenwart von Helena über seine Schwester zu sprechen. Es gelang ihm, ein Lächeln aufzusetzen, und er deutete auf die Gäste, die sich mittlerweile verteilt hatten. „Ich glaube, wir sollten unsere Plätze einnehmen.“
Mit der Versicherung, sich später am Abend noch einmal zu treffen, gingen Hans und Sabine durch den Ballsaal zu ihrem Tisch. Auch Leo war im Begriff zu gehen, doch Helena blieb zurück.
Leo wandte sich zu ihr um und hob fragend die Augenbrauen. „Kommst du?“
Kurz zögerte sie, dann schob sie energisch ihre Tasche unter den Arm und sah ihn verächtlich an. „Habe ich eine Wahl?“
Er schenkte ihr ein seidenweiches Lächeln. Sie kannte die Antwort. Nur um sicherzugehen, beugte er sich zu ihr. „Nein, hast du nicht“, erwiderte er sanft.
Großartig. Vernichtend. Tödlich.
Das waren drei von einem Dutzend Begriffe, die Helena zu Leonardo Vincenti im Smoking einfielen. Und den lasziven Blicken nach zu urteilen, die er von allen Seiten erntete, war sie nicht die einzige Frau, die das so empfand.
„Schmeckt dir der Fisch nicht?“, drang seine Stimme in ihre Gedanken.
Sie sah ihn unter halb geöffneten Lidern an. „Doch, aber ich habe keinen großen Hunger.“
Der Räucherlachs, der als Vorspeise gereicht wurde, war tatsächlich köstlich, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Sie legte die Gabel beiseite und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. So viel zu einem ruhigen Dinner zu zweit und der Gelegenheit zu einem ernsthaften Gespräch. Wie gutgläubig war sie eigentlich?
Verstohlen beobachtete sie Leo, der sich mit einer älteren Dame unterhielt, die links von ihm saß. Sein Smoking-Jackett, das er vor dem ersten Gang ausgezogen hatte, hing über seiner Stuhllehne, sodass seine breiten Schultern und sein schlanker Oberkörper in dem weißen Hemd perfekt zur Geltung kamen. Seine gebräunte Haut und das dunkle Haar bildeten einen attraktiven Kontrast zu dem hellen Stoff. Jetzt beugte er den Kopf und sagte etwas, was ihm ein helles Lachen seiner Sitznachbarin einbrachte. Ganz offensichtlich gab es kein Alter, in dem man seinem Charme nicht mehr erlag.
Helena wandte den Blick ab und widerstand dem Impuls, aufzustehen und die Flucht zu ergreifen. Ob es ihr gefiel oder nicht – sie hatte seiner Einladung zugestimmt, und jetzt würde sie sich nicht wie ein Feigling aus dem Staub machen. Wenn sie klug abwartete, konnte sie Leo vielleicht noch davon überzeugen, seine Pläne, was die Firma ihres Vaters betraf, zu ändern. Sie brauchte nur ein paar Wochen länger. Zeit, bis ihre Mutter Vernunft angenommen hatte, bevor …
„Langweilst du dich?“
Leos tiefe Stimme riss sie aus ihren Grübeleien.
Sie setzte ein Lächeln auf. „Natürlich nicht.“
„Gut.“ Er ließ seine langen Finger über den Fuß des Weinglases gleiten. „Ich fände es unerträglich, dich zum zweiten Mal in deinem Leben zu langweilen.“
Ihr Lächeln verblasste. Sein lässig ausgesprochener Satz hatte einen Hintergrund, den sie nicht missverstehen konnte. Dafür waren ihre eigenen Worte noch viel zu sehr in ihrem Gedächtnis verankert – Worte, die sie selbst mehr verletzt hatten als ihn, darauf würde sie jeden hart erarbeiteten Penny verwetten. Du langweilst mich, Leo. Ehrlich. Diese Beziehung bringt mir nichts.
Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Sie spürte, wie sie rot wurde. „Du bist unfair.“ Dann senkte sie die Stimme. „Ich habe schon einmal versucht, dir zu erklären, warum ich das damals gesagt habe.“
Nachdem er ihr diese entsetzliche Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte – in der er sie des Verrats und der Komplizenschaft beschuldigt hatte –, war sie in sein Hotel marschiert und hatte gegen die Tür gehämmert, bis ihre Hand schmerzte. Doch es war nur ein Zimmernachbar herausgekommen und hatte sie seltsam angesehen.
„Du wolltest mir nicht zuhören.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich war sauer“, sagte er.
„Das bist du noch immer.“
„Vielleicht. Aber jetzt würde ich zuhören.“
„Das bezweifle ich.“
„Probier es aus.“
Sie hob eine Augenbraue. Jetzt? Hier? Sie ließ ihren Blick über die Runde am Tisch wandern. Na gut.
„Es war wichtig, dass du mich ohne Gegenwehr gehen lässt“, begann sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Und wir wissen beide, dass du das nicht getan hättest. Nicht, ohne Fragen zu stellen. Nicht, ohne dass ich …“ Sie hielt inne, die bittere Reue saß wie ein Kloß in ihrer Kehle.
„Nicht, ohne dass du meinen Stolz zerstört hättest?“, beendete er den Satz für sie.
Ihre Wangen wurden heiß. Musste er es so grausam klingen lassen? So herzlos? Sie war neunzehn gewesen, und ihr Vater hatte ihr die Pistole auf die Brust gesetzt. Sieh zu, dass du den verdammten Ausländer loswirst, Mädchen, oder ich sorge dafür. Sie war so naiv gewesen. Und unverzeihlich dumm, als sie geglaubt hatte, sich der eisernen Kontrolle ihres Vaters entziehen zu können.
Sie breitete die Serviette in ihrem Schoß aus. „Ich habe getan, was ich damals für das Beste hielt.“
„Für dich oder für mich?“
„Für uns beide.“
„Ah … Du musstest uns also, wie es so schön heißt, zu unserem Glück zwingen?“
Er bohrte seinen Blick in ihren, aber sie hielt ihm stand. Diese finsteren Anschuldigungen brauchte sie nicht. Auch sie hatte einen Preis gezahlt. Und so sehr sie sich auch wünschte, sie könnte die Uhr zurückdrehen, den Fehler wiedergutmachen, sie konnte den Schmerz nicht ungeschehen machen. Egal, wie hart sie daran arbeitete, es hinter sich zu lassen.
Wieder zwang sie sich zu einem Lächeln, distanzierter dieses Mal, eines von der Sorte, die ihre Mutter in der Öffentlichkeit aufsetzte. „Hans und Sabine scheinen ein nettes Paar zu sein. Kennst du sie schon lange?“
Der Themenwechsel brachte ihr einen stechenden Blick ein. Sie hielt die Luft an. Würde er sich darauf einlassen?
„Seit neun Jahren“, erwiderte er endlich.
Auch wenn er kurz angebunden war, atmete sie sichtlich erleichtert auf. Vielleicht war es ja doch nicht unmöglich, sich normal mit ihm zu unterhalten? „Du hast nie viel über deine Schwester gesprochen“, fuhr sie fort. „Sabine erwähnte eine Operation. Ist Marietta krank?“
Während des folgenden Schweigens zog sich Helenas Magen zusammen, und ihr wurde klar, dass sie die Andeutungen schon früher hätte verbinden können – Leos Spende, Hans’ Ruf als einer der führenden Wirbelsäulenspezialisten, das Gespräch über die Forschungsabteilung in Berlin und danach die Frage nach Marietta. Erst jetzt wurde daraus in ihrem Kopf ein komplettes Bild.
„Meine Schwester ist querschnittsgelähmt“, sagte Leo schließlich, und ein Muskel unter seinem Auge zuckte.
Ganz plötzlich waren Helenas Wangen, die eben noch hochrot gewesen waren, blutleer. „Oh Leo. Das … das tut mir leid.“ Sie streckte die Hand aus – eine impulsive Geste des Trostes –, doch er zog den Arm fort, ehe sie ihn berühren konnte. Sie nahm die Hand zurück und redete sich ein, dass seine Ablehnung sie nicht traf. „Das wusste ich nicht. Wie … wie lange schon?“
„Seit elf Jahren.“
Ihr Herz zog sich voller Mitgefühl zusammen. Doch da war noch mehr – ein winziger Schmerz, auch wenn sie sich schalt, das sei albern. Vor sieben Jahren hatten sie fünf intensive, berauschende Wochen zusammen verbracht, doch in all der Zeit hatte er seine Schwester nie erwähnt. Selbst als sie kurz über ihre schwere Kindheit gesprochen hatten, war er über diesen wichtigen Punkt hinweggegangen.
Aber sollte sie ihm das wirklich übelnehmen? Auch sie hatte ihm längst nicht alles von ihrer Familie erzählt.
„Hatte sie einen Unfall?“
„Ja.“ Er sprach abgehackt.
„Das tut mir so leid“, wiederholte sie. „Ich wollte nicht neugierig sein. Schließlich ist es offensichtlich, dass du nicht darüber reden möchtest.“
Sie griff nach einer Wasserkaraffe, um einfach irgendetwas zu tun und die Situation zu entschärfen. Als er zu sprechen begann, hatte sie ihr Glas zur Hälfte gefüllt.
„Es war ein Autounfall.“
Verwirrt stellte sie die Karaffe ab und sah ihn an, doch er hatte den Kopf gesenkt und den Blick auf das Weinglas in seiner Hand geheftet.
„Sie war siebzehn und sauer, weil wir darüber gestritten hatten, ob sie zu einer Party gehen darf oder nicht.“ Er hatte die Stirn so sehr gerunzelt, dass seine dunklen Augenbrauen beinahe in der Mitte zusammenstießen. „Mir hat weder die Gegend gefallen noch die Leute, die auf der Feier auftauchen würden, aber sie ist stur geblieben und einfach gegangen. Später ist sie, statt mich anzurufen, zu irgendeinem betrunkenen Typen in den Wagen gestiegen.“ Er trank seinen Wein in einem Schluck aus und stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Die Ärzte haben gemeint, Marietta habe Glück gehabt, weil sie den Unfall überlebt hat – soweit man bei einem gebrochenen Rückgrat von ‚Glück‘ sprechen kann. Der Fahrer und zwei andere Beifahrer sind gestorben.“
Helena versuchte, sich diese entsetzliche Geschichte vorzustellen. Teenager trafen falsche Entscheidungen, doch die wenigsten mussten ihr Leben lang dafür so unglaublich hart bezahlen.
Sie kämpfte um eine ausdruckslose Miene, obwohl ihr die Geschichte fast das Herz zerriss. „Sabine hat eine Operation erwähnt. Gibt es eine Chance …?“
Leo sah sie direkt an, und in seine beinahe schwarzen Augen trat ein harter, feindseliger Ausdruck. „Lass uns das Thema wechseln.“
Verblüfft wollte Helena darauf hinweisen, dass sie bereits versucht hatte, das Thema zu wechseln. Doch angesichts seiner düsteren Miene hielt sie es für besser, nichts zu sagen. „Gut“, erwiderte sie daher nur und ignorierte ihn die nächste Stunde über – was nicht weiter schwierig war, denn ein anderer Gast verwickelte Leo in ein Gespräch über europäische Politik, während sie selbst von einem amerikanischen Paar zu ihrer Rechten, das ein halbes Jahr lang durch England reiste, um Geheimtipps gebeten wurde.