Mitternacht - Nele Nilsson - E-Book

Mitternacht E-Book

Nele Nilsson

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Beschreibung

»… Du bist die Schwarze, die Mitternächtliche. Ich glaube, du bist die Dunkelheit, von der die Prophezeiung spricht.« Auf einer vor den Menschen verborgenen Insel im hohen Norden leben die letzten magischen Wesen, die Werwölfe. Eines Tages erscheint eine rätselhafte Prophezeiung auf einer Höhlenwand, und roter Nebel beginnt immer wieder über die Insel zu wabern. Als bei der ersten Verwandlung der 18-jährigen Ylva in einen Wolf etwas Unfassbares geschieht, wird klar, dass das letzte Werwolfrudel in großer Gefahr schwebt.

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Mitternacht

Das Geheimnis des

roten Nebels

von

Nele Nilsson

Alle Rechte vorbehalten. Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden. Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

Die Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2022

© Nele Nilsson

© Coverbilder: Depositphotos, Tzido, Andrey_Kuzmin

Covergestaltung: © Shadodex – Verlag der Schatten

© Polnische Volkssage: K.W. Woycicki »Volkssagen und Märchen aus Polen« aus dem Text »Vom Werwolf«.

© Bilder Innenteil: Nele Nilsson (Prophezeiung, Rune) Depositphotos ElemenTxDD (Wolfaugen gezeichnet), [email protected] (Wolf vor Vollmond), phototrip (Weiße Wölfe), tajim1

(Kopf Wolf jaulend), waitandshoot (Fotos Wolf) erika8213 (Uhr), AuthorsAssembler (Schwarzer Wolf), YurikswO (Silhouetten Wolf)

Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten

© Shadodex – Verlag der Schatten,

Bettina Ickelsheimer- Förster, Ruhefeld 16/1,

74594 Kreßberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-98528-009-4

»… Du bist die Schwarze, die Mitternächtliche.

Ich glaube, du bist die Dunkelheit, von der die

Prophezeiung spricht.«

Auf einer vor den Menschen verborgenen Insel im

hohen Norden leben die letzten magischen Wesen, die Werwölfe. Eines Tages erscheint eine rätselhafte

Prophezeiung auf einer Höhlenwand, und roter Nebel beginnt immer wieder über die Insel zu wabern.

Als bei der ersten Verwandlung der 18-jährigen Ylva in einen Wolf etwas Unfassbares geschieht, wird klar, dass das letzte Werwolfrudel in großer Gefahr schwebt.

Inhalt

PROLOG

LYKAON COMPREHENSIVE SCHOOL

SCHULABSCHLUSS

PROPHEZEIUNG

PARTY

WEISS ZU GRAU

MITTERNACHT

ENTFÜHRUNG

SCHICKSALSENTSCHEIDUNG

ALPHAWOLF

SCHLACHTPLAN

DUNKELHEIT

AMULETT

EPILOG

AUTORENVORSTELLUNG

PROLOG

Für einen kurzen Moment begegnete er ihrem Blick. Er traf ihre Augen. Augen, die so schwarz waren, dass er sein Spiegelbild deutlich darin erkennen konnte.

Er wusste, dass er sie irgendwie überreden müsse. Sie, die Frau mit den schwarzen Augen, in denen kein Platz für das Weiß eines gewöhnlichen Augapfels war. Die Frau mit den Rabenfedern im windzerzausten Haar, mit dem schönen, aber ernsten Gesicht. Sie sträubte sich, doch er würde sie überzeugen, indem er ihre Furcht, von der er wusste, dass sie tief in ihr saß, schürte. Eine Furcht, die fast alle magischen Wesen in diesen Zeiten beherrschte. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm glaubte, doch das machte nichts. Die blanke Angst und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schienen ihr Misstrauen zu schmälern.

»Ich weiß, dass du es spürst! Wir alle tun das, doch niemand unternimmt etwas dagegen«, sagte er.

»Natürlich spüre ich es, ich wäre töricht, wenn ich das abstreiten würde. Doch manchmal muss man Dinge geschehen lassen, alles hat seinen Grund«, war die Antwort. Ihre Stimme klang rauchig, als hätte sie sie lange nicht benutzt.

»Hilf mir! Wenn ich nichts unternehme, wird es bald keine magischen Wesen mehr geben auf dieser Erde«, flehte er. Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob er es übertrieben hatte, ob er seine Stimme zu weinerlich hatte klingen lassen. »Ich will doch nur helfen …«, versuchte er seine Worte abzumildern.

Sie schnaubte, ließ ihn aber, wenn auch widerwillig, in ihre winzige Hütte.

Drinnen, geschützt vor dem zerrenden Wind, erklärte er ihr seinen Plan. Den Plan, den er sich als Deckung für sein eigentliches Vorhaben überlegt hatte.

Mit verschränkten Armen stand sie da und lauschte, stimmte aber letztendlich zu, ihm zu helfen. Dennoch misstrauisch begann sie eine Szenerie auf dem Holztisch aufzubauen.

Als sie damit fertig war, sah er das eigentliche Objekt seiner Begierde im Zentrum diverser Dinge liegen. Da waren Steine, die mit Zeichen versehen waren, Knochen, getrocknete Kräuter, Holzschalen mit kleinen Flammen darin … Das alles lag, scheinbar zufällig angeordnet, auf der zerfurchten Holzplatte. Doch er wusste, dass das hier alles andere als zufällig war. Denn sie wusste, was sie tat. Genau deshalb war er zu ihr gekommen.

Das Amulett im Zentrum des Tisches begann zu glühen. Der grüne Edelstein leuchtete von innen heraus, und er verspürte einen unglaublichen Drang, es an sich zu nehmen. Seine Hände lösten sich leicht von der Tischplatte, doch plötzlich schoss ihre schmale Hand nach vorn und schnappte sich die Halskette.

Er sog die Luft ein und schalt sich im gleichen Moment innerlich für diesen Ausbruch. Er durfte nicht so unvorsichtig sein, wenn er wollte, dass sein Plan aufging. Er brauchte das Amulett, das durch ihr Ritual nun bereit war, dafür. Also zwang er sich zur Ruhe, ließ die Hände sinken und sah sie an. Allerdings spürte er, dass es vielleicht zu spät war. Die Glut der Vorsicht war zu einer Flamme des Misstrauens geworden.

»Sag es mir!«, raunte sie fordernd. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen wurde tiefer. »Sag mir, wozu du es wirklich brauchst!«

»Ich habe es dir bereits erklärt. Ich möchte helfen, möchte die Kraft nutzen, um die Menschen zurückzudrängen. Sie müssen daran gehindert werden, die magischen Kreaturen zu verfolgen!«, sagte er und wollte erneut vorsichtig nach dem Amulett greifen.

Sie schloss es fester in ihre Faust. »Ich kann es hier aufbewahren und mit dir zusammen gehen, wenn du es brauchst. Ich werde darauf aufpassen und es dir im Ernstfall überreichen, dann …«

»Nein!«, fiel er ihr ins Wort, schroffer, als er es geplant hatte. Er war mit seiner Geduld fast am Ende.

Sie riss die schwarzen Augen auf. »Niemand sollte so viel Macht allein besitzen.«

»Aber diese Macht nutze ich, um uns allen zu helfen!«, schrie er nun schon fast. Der Wind hatte deutlich zugenommen, und die Fensterläden der klapprigen Hütte verursachten lautes Getöse.

»Wenn es doch für uns alle ist, dann lass mich helfen. Lass mich dir einen Teil dieser Bürde abnehmen«, flüsterte sie, doch er hörte die Provokation in ihrer Stimme.

»Du verstehst es nicht, Hexe!«, brüllte er jetzt und ging auf sie zu. Sie wich keinen Zentimeter zurück, und er spürte, wie die Wut in ihm hochkochte. Er hatte so lange auf dieses Amulett gewartet, auf die Chance, alles zu besitzen. Und jetzt kam dieses verdammte Weibsstück auf die Idee, sich ihm in den Weg zu stellen. Er packte das Gelenk der Hand, mit dem sie das Schmuckstück umklammert hielt. Er konnte die unglaublichen Kräfte des Steines fühlen, wie sie ihn anzogen, ihn mit der süßen Aussicht auf unbegrenzte Möglichkeiten lockten. Für eine Sekunde dachte er, sie würde ihre Hand öffnen. Doch dann hob sie die andere, schnippte mit den Fingern und alles wurde schwarz. So dunkel, dass er mit offenen Augen nichts als sternenlose Nacht sah. Sie riss sich los, und er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, bekam sie aber nicht mehr zu fassen. Der Sturm draußen heulte auf und zwischen den Windböen hörte er ein Rascheln wie von Federn.

»Nein!«, brüllte er, als er realisierte, was das Rascheln auslöste.

Langsam verflüchtigte sich die Dunkelheit, und die Hütte kam wieder zum Vorschein. Die Tür stand offen, und er sah gerade noch einen Raben vom Boden aufsteigen. Er stürzte auf das Tier zu, versuchte es zu greifen, doch vergebens. Er stieß einen Wutschrei aus und sah dem Vogel hinterher, der im starken Seewind strauchelnd davonflog. Panisch blickte er sich vor der schiefen Hütte um und hastete bis an die steilen Klippen. Der Rabe war nur noch ein schwarzer Punkt am dunkelgrauen Himmel. Er sank auf die Knie und hämmerte mit den Fäusten auf den Boden. Er war so nah dran gewesen. So nah dran an grenzenloser Macht.

LYKAON COMPREHENSIVE SCHOOL

Polnische Volkssage

Ein Bauer war sieben ganze Jahre lang Werwolf gewesen. Als nun seine Zeit um war, wurde er wieder in einen Menschen verwandelt. Nackt und hungrig lief er den ganzen Tag seinem Haus zu. Dort wohnte seine Frau mit seinen Kindern. Am späten Abend endlich kam er an und klopfte an die verschlossene Tür.

»Wer da?«, so rief es aus der Hütte und der Bauer erkannte die Stimme seiner Frau.

»Ich bin es! Dein Mann! Geschwind mach auf!«

»Alle guten Geister loben den Herrn! Um Gottes willen, Mann, steh auf!«, rief das erschrockene Weib und der Bauer sah seinen alten Knecht herauskommen, der unterdessen seine Frau geheiratet hatte und Herr vom Hause geworden war.

Der Knecht hielt eine große Mistgabel in der Hand und wollte den rechtmäßigen Besitzer damit vertreiben. Erzürnt über die Treulosigkeit seiner Frau rief der Bauer schmerzlich aus: »Oh, warum bin ich kein Werwolf mehr, wie würd’ ich gleich das böse Weib bestrafen!«

Kaum hat er so gesprochen, so wird der frevelhafte Wunsch erfüllt. Von Neuem ist er in einen Wolf verwandelt und wütend stürzt er sich auf seine Frau und wirft sie um mitsamt dem Kinde, das aus der zweiten Ehe war und an der Mutter Brust lag.

Das Kindlein fraß er auf und auch die Frau zerbiss er tödlich.

Auf der Unglücklichen Geschrei liefen bald die Nachbarn zusammen und warfen sich vereint auf das reißende Tier. Es vermochte sich nicht lange zu widersetzen. Die Bauern erhoben ein Freudengeschrei. Als sie aber beim Lichte eines Kienholzes das Untier näher beschauten, da erkannten sie zu ihrem Schrecken, dass der Landmann getötet dalag, der vor sieben Jahren spurlos verschwunden war und von dem wohl mancher erzählt hatte, er sei in einen Werwolf verwandelt. Nun war menschliche Hilfe für ihn zu spät und auch die Bäuerin starb bald darauf an ihren Wunden.

»Oh pfft … Untier?«, schnaubte Ylva leise und verdrehte theatralisch die Augen. »Was denken Menschen nur, wie wir sind?«

»Na ja, wenn ich mir Bruno so ansehe, könnten sie recht haben«, flüsterte Marvina neben ihr.

Beide konnten ein Kichern nicht unterdrücken.

»Ich befürchte, das ist eine Beleidigung für jedes Tier!« Ylva zog dabei eine Grimasse und schielte übertrieben. Ihre Freundin presste sich die Hand auf den Mund, um nicht laut loszulachen.

»Miss Kirrin, Miss Koun! Wenn Sie unser Fach ›Geschichte der Lykanthropie‹ nicht interessiert, dürfen Sie den Klassenraum gern verlassen. Niemand zwingt Sie, hier zu sein«, raunte Mr Argyle, ein älterer Herr mit lichter werdendem Haar.

Einige Augenpaare ihrer Mitschüler wandten sich zu ihnen. Die beiden Mädchen verstummten und sahen etwas beschämt drein.

Der betagte Lehrer drehte sich zurück zur Tafel und fuhr Notizen schreibend und mit monotoner Stimme fort, die gerade gelesene Volkssage zu analysieren: »Durch die Passage ›… loben den Herrn!‹ erkennen wir, dass es eine reine Menschenerzählung ist. Oder würde ein Werwolf einen ›Herrn‹ loben? Der christliche Bezug gibt hierbei Aufschluss auf die Menschenkultur, aus der dieser Text stammt …«

Niemand zwingt uns?, dachte Ylva und rollte die dunkelbraunen Augen. Wenn ich meine Abschlussprüfungen bestehen möchte und auf eine gute Uni gehen will, werde ich das wohl durchstehen müssen …

Im Allgemeinen war Ylva eine gute und ehrgeizige Schülerin, die keine Probleme mit dem Schulstoff hatte. Sie wollte nach dem Abschluss an der Lykaon Comprehensive School auf das Festland und eine Universität für Menschen besuchen. Sie hatte vor, dort Medizin zu studieren und als Ärztin auf die Insel zurückzukehren, auf der sie und ihre Artgenossen lebten. Leider war es den Bewohnern der Insel nicht gestattet, für immer fortzubleiben. Um eine gute Ausbildung zu erlangen, durften sie für einige Zeit, mit Erlaubnis des Hohen Rates, auf das Festland, doch mussten sie danach umgehend zurückkehren. Das verdankten sie einem Vertrag aus sehr alten Zeiten, geschlossen von Fürsprechern, die längst in Vergessenheit geraten waren. Zumindest konnte sie sich an deren Namen nicht mehr erinnern, woran, da war sie sich fast sicher, Mr Argyles schuld war.

Trotz des Geflüsters mit ihrer Freundin und des langweiligen Lehrers konnte Ylva auch in der Mittagspause nicht aufhören über diese fehlerhafte Denkweise der Menschen nachzugrübeln.

Untier? … Verwandelt? … Ein Menschenkind gefressen? … Niemals würde ein Werwolf so etwas tun. Mal davon abgesehen, dass wir nicht verwandelt werden, sondern selbst entscheiden können, wann und wo dies geschieht. Nun ja, bis auf das eine Mal …

»Na!«

Sie wurde von ihrem Freund Caleb, der sein Tablett geräuschvoll auf den Cafeteriatisch knallte, aus ihren Gedanken gerissen.

»Weißt du, was heute in genau zwei Wochen ist?« Er sah ihr eindringlich in die Augen, bevor er sich setzte.

»Hmmm … nein, absolut keine Ahnung …«, sagte sie übertrieben ironisch.

»Oh Mann, Ylvi, verschone mich!«, lachte der groß gewachsene Junge. »Ich kann es kaum erwarten, achtzehn zu werden. Und noch weniger kann ich es erwarten, mich endlich verwandeln zu können. Die Schnelligkeit, Ausdauer, mit Werwolfohren hören können … Und stell dir vor, ich werde gar kein grauer Wolf?«

»Caleb, ich würde mich nicht zu sehr …«, begann Marvina zögernd, während auch sie sich an den Tisch setzte.

»Nein, überlegt doch mal, ihr beiden! Es kam schon einige Male vor, dass ein Kind eine andere Fellfarbe hatte als seine Eltern. Ich könnte aus der Arbeitersiedlung zu euch in die Hügel kommen und ich könnte etwas erreichen. Ich könnte Wächter werden! Wie ich es mir immer erträumt habe …« Er sah die Mädchen aufgeregt mit seinen großen, stahlblauen Augen an. Die beiden schwiegen, doch Caleb ließ sich seinen Enthusiasmus nicht nehmen. »Das wäre super! Ylva wird Ärztin, Marvina bekommt als erste Frau jemals einen Sitz im Hohen Rat und ich werde ein Wächter. Wir würden gemeinsam in den Hügeln leben, Haus an Haus«, ergänzte er nicht minder aufgeregt.

Ein kleines bisschen ließ Ylva sich jetzt von Calebs Träumereien mitreißen. Sie schmunzelte.

»Oder stellt euch vor, ich wäre seit dreihundertfünfundsiebzig Jahren der erste Schwarze! Der rechtmäßige Alpha. Ich würde Bjarne sofort herausfordern!« Er lachte siegessicher und ballte eine Hand zur Faust.

»Du Angeber! Sag das lieber nicht zu laut, sonst bereitet er sich noch auf diesen Kampf vor«, witzelte Marvina augenzwinkernd.

Seit Jahrzehnten hatte niemand Bjarne, den Bärenwolf, herausgefordert. Er war der Anführer der Insel und des Volkes der Werwölfe. Auch wenn er schon seit langer Zeit nicht mehr unbedingt volksnah war, rankten sich doch immer noch unzählige Legenden um seine Stärke.

Die drei Freunde sinnierten die Mittagspause über und vergaßen dabei die Gedanken an die bevorstehenden Abschlussprüfungen, an die ersten Verwandlungen und der somit vielleicht drohenden gesellschaftlichen Trennung. Sie saßen in der Cafeteria der einzigen Schule der Insel, in der noch jedes Kind vermeintlich gleich war, da sich die Fellfarbe noch nicht offenbart hatte, bevor sie dann am Nachmittag nach Hause fuhren in ihre unterschiedlichen Leben. Hinauf in die Hügel oder hinab ans Wasser.

Nach der Mittagspause ging der Unterricht an diesem Tag schließlich eher körperlich weiter.

»Lykanthropes Kampfverhalten« stand auf dem Plan. Es war eines von Ylvas Lieblingsfächern (neben kreativem Schreiben und menschlich-wölfischer Anatomie als Wahlfach), ein Überbleibsel einer älteren Generation, als Kriege und Kämpfe zwischen Werwölfen und anderen magischen Wesen noch zum Alltag gehörten. Selbst die jungen Wölfe sollten sich verteidigen können, sobald sie die Fähigkeit der Verwandlung besaßen.

Die Welt wimmelte früher von Kreaturen, von denen viele magisch oder es zumindest teilweise waren. Als die Menschen begannen sich immer weiter auszubreiten und mit der gezielten Ausrottung der leichter zu fangenden Geschöpfe, wie Elfen oder Irrlichter, anfingen, wurden die magischen Geschöpfe zunehmend seltener und weniger, schließlich blieben nur die Wölfe zurück. Die Werwölfe waren die stärkste und mitunter klügste Art in der magischen Welt. Sie wussten sich sowohl zu verteidigen als auch unauffällig zu verhalten.

Die Menschen verloren nach und nach ihr Gespür für das Übernatürliche, und so wurden selbst die Werwölfe irgendwann als Märchen abgetan. Übrig blieben nur Sagen, wie die im Unterricht, oder neumodische Teeniefilme. Die Schlachten versiegten, das Unterrichtsfach blieb als Ertüchtigungsmaßnahme für die Schüler. Sportunterricht für angehende Werwölfe.

In den ersten Schuljahren war das Kampftraining in Mädchen und Jungen aufgeteilt, und jede Gruppe lernte die unterschiedlichen Stärken spezifisch zu nutzen. In der Regel waren die weiblichen Werwölfe etwas kleiner und zierlicher, was sie zu schnelleren Kämpferinnen machte. So lehrte man ihnen, ihre flinken Bewegungen zu nutzen. Die männlichen Wölfe waren deutlich kräftiger und mit gut einem Meter fünfzig Schulterhöhe in Wolfgestalt, fast zehn Zentimeter größer als ihre weiblichen Artgenossen. Sie verließen sich auf ihre enorme, magisch gesteigerte Stärke, gegen die kein irdisches Lebewesen anzukommen vermochte. Da noch kein Schüler sein Ritual vollzogen hatte und sich somit nicht verwandeln konnte, übte man selbstverständlich in menschlicher Gestalt.

Mrs Evmorphia, die Sportlehrerin, trat vor die Klasse. Wie in jeder einzelnen Stunde bisher begann sie mit ihrer Predigt, die fast immer den exakt gleichen Wortlaut hatte: »Meine Lieben, wie ihr wisst, verändert ein Werwolf sein Wesen nicht, sobald er seine Erscheinung gewechselt hat. Ihr könnt weiterhin denken wie ein Mensch, doch nutzt die körperlichen Vorzüge des Wolfes. Alles, was man als Mensch gut kann, verbessert auch den Werwolf physisch und psychisch …«

Caleb seufzte theatralisch, und seine Freunde begannen zu lachen und zu grunzen.

»… also heißt es für euch: Sprungkraft verbessern, ausweichen üben und verschiedene Abwehrtaktiken und Angriffsstrategien verinnerlichen. Da ihr jetzt im Abschlussjahr seid, fällt der Unterricht für alle Schüler gleich aus. Mädchen und Jungen üben gemeinsam, das simuliert das reale Schlachtengetümmel am ehesten. Denkt immer dran: Stärkt ihr euren menschlichen Körper, stärkt ihr auch den Wolf in euch!« Sie lächelte zufrieden.

Die Sportlehrerin, deren Vorfahren einem altgriechischen Wolfgeschlecht angehörten, ließ alle Schüler sich gegenüber in Reihen aufstellen. Die erlernten Taktiken wurden nun seit fast einem Schuljahr miteinander und gegeneinander gefestigt. Die Jungen sollten angreifen, die Mädchen ausweichen und abwehren.

Ylva und Caleb standen sich mit einigen Metern Abstand gegenüber. Er fuhr sich durch die blonden Haare und rief lächelnd: »Hey Ylvi, es tut mir jetzt schon leid, aber du wirst keine Chance haben!«

»Bitte zeig ihm, wie eine Wölfin das macht«, rief Marvina lachend von einigen Plätzen weiter links aus, da sie die Stichelei mit angehört hatte. Ihr Partner war Bruno, das bullige, aber etwas beschränkte Sport-Ass der Schule. Die winzige Marvina würde keine Chance gegen die rohe Gewalt des Jungen haben.

Ylva grinste Caleb angriffslustig an und ging in Position. Beim Pfiff von Mrs Evmorphias Trillerpfeife rannten die Schüler aufeinander zu. Ylva sah, dass Caleb seine Schritte leicht vergrößerte und sich mit etwas gesenktem Kopf zum Sprung bereit machte. Ohne darüber nachdenken zu müssen, reagierte ihr Körper auf diese kaum wahrnehmbare Veränderung im Lauf des Jungen. Blitzschnell machte sie einen Satz zur rechten Seite und rollte sich bei der Landung aus Calebs Reichweite, der gerade im Sprung nach ihr greifen wollte. Er landete etwas entfernt mit dem Rücken zu ihr und drehte sich schnaufend um. Ylva hatte sich wieder von der Matte erhoben und sah ihn entschuldigend an. So ging das noch einige Male, und Caleb wurde zusehends gereizter.

»Wie machst du das?«, fragte er und konnte einen Anflug von Frustration kaum verbergen. »Es ist immer das Gleiche. Egal was ich tu, du scheinst es zu ahnen.«

»Cal, bitte«, schmunzelte Ylva besänftigend. »Dafür bist du der Beste im Parcourslauf und in allen taktischen Übungen.«

Als Mrs Evmorphia nach einiger Zeit rief: »Aufbau für den Parcours, meine Lieben!«, entspannte Caleb sich etwas. Er wusste, dass er sich in den nächsten Übungseinheiten wieder mental von seiner nur selbst empfundenen Schmach erholen konnte.

Eine Stunde sprangen sie über Kästen, krochen unter Turnbänken hindurch oder kletterten Seile hoch, die von der Decke hingen. Die Schüler, die gerade nicht an der Reihe waren, hatten die Aufgabe, Angriffe auszuführen, was den Hindernislauf deutlich erschwerte. Immer wieder stoppte Mrs Evmorphia die Zeiten, die sie für diesen Parcours mit Kampf brauchten, und Ylva war zufrieden. Sie hatte sich noch einmal verbessert.

Nach der Unterrichtsstunde waren alle erschöpft, aber glücklich. Sie hatten das Kämpfen im Blut, und so machte es alle Werwölfe, ob schon verwandlungsfähig oder nicht, zufrieden und ausgeglichen, sich körperlich zu betätigen. Hier kam der natürliche Wolf durch, der als Welpe auch kaum andere Dinge im Kopf hat, als mit seinen Geschwistern zu raufen.

In der Umkleidekabine analysierten Ylva, Marvina und Maisie – ein rothaariges, gedrungenes Mädchen mit lauter, aber liebenswürdiger Stimme – das Verhalten der Jungen im Sportunterricht.

»Habt ihr Teigen gesehen?«, fragte Maisie begeistert. »Man meint, er hat sein Leben lang nichts anderes getan, als zu kämpfen.«

»Ganz im Gegenteil zu Tristan«, spöttelte Marvina lachend über den schlaksigen Jungen, und die anderen beiden stiegen mit ein. »Wie ein Flamingo bei seinen ersten Flugversuchen.«

Schallendes Gelächter brach aus.

»Nein! … Oh nein, bitte nicht!«, ertönte es plötzlich kreischend durch die Umkleide.

Blonde Pferdeschwänze zischten aufgeregt an den drei vorbei. Alle Mädchen waren verstummt. Jedes blickte in die Richtung, aus der der Aufschrei gekommen war.

»Bruno macht mit mir Schluss! Ich habe gerade seine Nachricht bekommen.« Ailis Stimme wurde immer höher, während sie ihr Handy vor den Augen ihrer herbeigeeilten Freundinnen schwenkte. »Per Nachricht. Könnt ihr euch das vorstellen? Was fällt dem ein? Eine Nachricht!«, schrie sie wütend.

Die Püppchengang, wie Ylva sie nannte, versank in Mitleidsbekundungen für ihre Anführerin Aili, und die Beschimpfungen für Bruno wurden immer wilder.

Nicht mehr lange, dann bin ich die Püppchengang endlich los …

Ylva und ihre Freundinnen gingen schweigend an ihnen vorbei und überließen die Damenumkleide den empörten, kreischenden Mädchen.

Vor der Schule verabschiedete sich Maisie von den beiden und bog zusammen mit Caleb in die Straße ab, die nach unten zum Wasser führte. Ylva sah ihnen nach und musste ein trauriges Seufzen unterdrücken.

Wie werden sich wohl unsere Leben verändern, wenn erst einmal die Rituale vollzogen wurden …

In diesem Moment fuhr ein dunkelblauer Oldtimer die Straße entlang und kam vor ihnen zum Stehen.

Ein hünenhafter Mann in Anzug und Mantel mit kahl geschorenem Kopf und düsteren Augen stieg aus und kam um den Wagen gelaufen. Er baute sich vor den Mädchen auf und sah sie mit durchdringendem Blick an. Ylva hielt diesem einen Moment stand.

»Hi Arthur!«, sagte sie schließlich und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Er nickte ihr zu und sein linker Mundwinkel verzog sich dabei, kaum merklich, zu einem Lächeln. Sie kletterte auf den Rücksitz des Autos, gefolgt von Marvina.

Der Mann mit der Glatze grinste jetzt, schloss die Tür hinter den Mädchen und setzte sich hinter das Steuer.

Die Fahrt nach Hause, in die Hügel der Insel, verlief täglich mehr oder weniger gleich. Der Butler von Ylvas Familie sah immer wieder entspannt in den Rückspiegel, während die Mädchen lautstark auf der Rückbank über ihren Schultag plauderten. Heute vor allem über eine gewisse Aili und ihre Kreischerei.

Arthur war der Mann für alle Fälle, der Chauffeur in seinem geliebten Bentley 300 Saloon, der Bodyguard der Kirrin-Töchter und schon seit vielen Jahren im Dienst der Familie. Er war am Tage von Ylvas Geburt nervös mit Mr Kirrin im Salon des Anwesens auf und ab gegangen, hatte das Mädchen aufwachsen sehen, sorgte für sicheres Geleit, beruhigte Ylva, wenn sie sich mit ihren Eltern gestritten hatte, und hatte schon die eine oder andere geheime Pyjamaparty vor den Hausherren vertuscht. Und nun war es bald so weit. Würde sein Schützling eine Weiße werden und in den Hügeln bleiben oder würde sie ans Wasser verbannt werden? Auch wenn eine andere Fellfarbe als die Eltern zu haben unwahrscheinlich war, es war schon vorgekommen.

Arthur schüttelte kurz kaum merklich den Kopf, um den Gedanken zu verdrängen. Bis zum Ritual konnte man sowieso nur mutmaßen. Er fuhr die lange, mit Kies ausgelegte Einfahrt zum Herrenhaus der Kirrins hoch.

Die Mädchen stiegen vor der Eingangstreppe aus, und Marvina verabschiedete sich. Wie jeden Tag lief sie nach links, an der großen, weißen Villa vorbei, zu dem eingewachsenen Gewächshaus und verschwand durch den Durchgang in der Rosenhecke auf das Nachbaranwesen, das ihrer Familie gehörte.

Strahlend weiß ragten die Häuser zwischen den Hügeln auf. Die Villen der Oberschicht waren, wie auch die Herrscherburg, aus Elfenerz erbaut. Helles Gestein, das von den Elfen tief aus dem Erdinneren, unter ihren Zauberwäldern, geborgen worden war. Das weiße Gestein funkelte in Gold- und Silbertönen, sobald die Sonne darauffiel. Und es war sehr robust. So robust und schön, dass die Weißen Vermögen dafür ausgegeben hatten, um ihre Häuser daraus zu bauen. Doch bald waren die Erzvorkommen erschöpft gewesen, und die Elfen verloren an Einfluss. Als die Menschen mit dem Ausrotten der Elfen begannen, gab es bereits kein Erz mehr. Das machte die Villen noch besonderer. Man konnte sich das Staunen kaum verkneifen, wenn seltene Sonnenstrahlen die Mauern zum Funkeln brachten.

Das jüngste Mitglied der Kirrin-Familie kam aus dem Haus gestürmt, sprang die Treppe hinunter und umarmte Ylva.

»Na, Kukka, wie war denn dein Tag?«, fragte die große Schwester.

»Heute Morgen habe ich mit Mama Kekse gebacken, dann mussten wir die Tomaten gießen, dann hab ich gemalt und dann …«

Die Fünfjährige plapperte und plapperte und war nicht mehr zu stoppen. Dabei gingen die Schwestern Hand in Hand in die Eingangshalle des Ungetüms im viktorianisch anmutenden Stil.

»Leider waren die Farben matschig. Also musste ich hinterher baden …«

Ylva betrachtete ihre kleine Schwester, während diese von ihrem Tag erzählte. Wie jedes Mal, wenn sie sie ansah, war sie entzückt von der besonderen, außergewöhnlichen Schönheit ihres kleinen Gesichtes.

Kukka hatte ein großes Feuermal, das sich vom Haaransatz auf Höhe der rechten Schläfe über das ganze Auge erstreckte und mit etwas Fantasie die Umrisse einer Blume formte. Im Gegensatz zum vererbten dunkelbraunen Auge links, blickte aus diesem Feuermal ein unnatürlich hellblaues, fast schon weißes, Auge hervor. Leider ohne jegliche Sehkraft.

Ylva lächelte sie an und warf ihren Rucksack achtlos auf ein helles Kanapee im Foyer.

Die Mädchen liefen durch den Eingangsbereich und von da aus in die Küche. Weißer Marmor und rotbraunes Holz glänzten im Schein der Deckenbeleuchtung um die Wette.

Am Tresen in der Mitte der riesigen Küche saßen ihre Eltern Brigh und Birget. Kukka hüpfte mit so viel Schwung auf den Schoß des Vaters, dass diesem ihr schwarzer Pferdeschwanz ins Gesicht schlug.

Er lachte und sah dann Ylva an. »Hallo mein Schatz! Wie war es in der Schule?«

Ihre Mutter hatte ihr langes, dunkles Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr locker über die Schulter nach vorn fiel. Sie küsste ihre Tochter auf die Stirn, als sie sich neben sie stellte.

Ylva begann von ihrem Tag zu erzählen, und die Familie verfiel in ein langes Gespräch über die Schule, ihre Freunde und vor allem das bevorstehende Ritual und die Feierlichkeiten.

»Wir haben beschlossen die Party in den Garten zu verlegen. Ganz viele Lichter, alle werden da sein, schöne Musik im Hintergrund und dann dein großer Auftritt.« Ihre Mutter sah sie stolzerfüllt an.

»Wo wir gerade beim Thema wären …«, begann Ylva zögernd. »In zwei Wochen ist Calebs Ritual. Unten in den Siedlungen, ihr wisst schon. Dürfte ich hingehen?«

Ihre Eltern blickten sich über Kukkas Kopf hinweg an.

Birget nippte an ihrer Kaffeetasse. Brigh strich dem kleinen Mädchen auf seinem Schoß eine lockige Haarsträhne hinter das Ohr.

Ihre Mutter atmete tief ein und sagte endlich: »Muss das sein, Ylvi? Ich weiß, du magst diesen Jungen sehr. Aber es ist unten am Wasser … bei den Grauen … Das kann gefährlich sein in dieser Gegend. Unter diesen Leuten.« Sie blickte Hilfe suchend zu ihrem Ehemann.

»Mama, ich bin doch bei den Donaghys. Es wird nichts passieren! Es ist nur Calebs Familie, und ich wäre so gern bei ihm.« Sie atmete ein und aus. »Er glaubt, er könne ein Weißer werden«, schloss sie dann kleinlaut.

Ihr Vater schnaubte etwas zu auffällig.

Ylva sah ihn entsetzt an. »Du glaubst nicht daran?«

»Es könnte passieren.« Er blickte sie besänftigend aus seinen fast schwarzen Augen an. Sie bemerkte die kleinen Fältchen um sie herum, die in letzter Zeit deutlicher geworden waren. »Aber das ist es schon lange nicht mehr. An so ein Ereignis kann sich niemand, der gerade lebt, erinnern. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er in der Siedlung bleiben wird. Bei seinen Leuten.«

»Wer sind denn diese Leute?«, fragte Kukka unschuldig dazwischen. »Warum sind sie gefährlich?«

»Sie sind es nicht, die gefährlich sind, mein Schatz. Es ist das Leben an diesem Ort, das die Gefahr birgt.«

»Aber warum? Sie sind doch auch Werwölfe, oder?« Kukka konnte und wollte das so nicht hinnehmen.

»Natürlich sind sie das. Aber sie sind arm. Und wir sind es nicht. Also ist es für Ylva, eine von uns, sehr riskant, dort allein zu sein …«

»Aber WARUM?« Nun wurde die Kleine wütend und ballte die winzigen Hände zu Fäustchen.

Mr Kirrin sah seine Frau an, und die nickte ihm auffordernd zu. Er setzte Kukka auf den Tresen und blickte ihr tief in die zweifarbigen Augen.

»Ich erzähle dir nun etwas über uns Werwölfe und vor allem über das Leben auf unserer Insel. Wir sind nämlich die Letzten unserer Art, kleine Kukka. Es gibt keine Werwölfe außerhalb dieser Insel, und unser Zusammenleben hier ist einigen Regeln unterworfen.«

So fuhr er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme fort, und seine Familie lauschte ihm gespannt.

Denn auch wenn auf der nebeligen, abgelegenen Insel fernab von allen Menschen die Werwölfe friedlich leben konnten, so gab es große gesellschaftliche Unterschiede in dieser Gemeinschaft. Entschieden wurde der Stand und somit der mögliche Beruf, Wohnort und Freundeskreis immer noch, wie schon seit Jahrhunderten üblich, durch die Farbe des Fells. Die Nacht zum achtzehnten Geburtstag, und somit auch der Moment der ersten Verwandlung in einen Werwolf, bestimmt daher das zukünftige Leben.

Am Tage des Rituals veränderte sich dieses entweder ein wenig oder ganz und für immer.

Da waren die aschgrauen Werwölfe, die Grauen. Die Arbeiterklasse und Unterschicht der Insel. Ihr Leben war geprägt von harter Arbeit, Armut und Verzicht auf jeglichen Luxus. Sie alle lebten in der sogenannten Arbeitersiedlung unten am Wasser, in der Nähe des Hafens, und es war ihnen nur zu besonderen Anlässen, wie Jubiläumsfeierlichkeiten oder Volksfesten, gestattet, hinauf in die Hügel zu kommen.

In den Hügeln, im nebeligen, von Wäldern und Felsen durchzogenen Inneren der Insel, lebten die Weißen in pompösen viktorianisch anmutenden Anwesen aus funkelndem Elfenerz. Umrandet von Gartenanlagen und hohen Mauern wohnten sie dort in der Abgeschiedenheit ihres Reichtums.

Aus sieben Weißen setzte sich auch der Hohe Rat zusammen, der die Regierung der Werwolfgesellschaft bildete. Doch auch dieser Rat konnte nichts bewirken, wenn der Anführer und Herrscher etwas beschloss. Kein Hoher Rat und schon gar kein einzelner Weißer durfte die Entscheidung des Alphas infrage stellen.

Über viele Jahrhunderte hinweg wurde in jeder Herrschergeneration ein Werwolf geboren, dessen Fellfarbe dunkler war als die tiefste Nacht im hohen Norden. Seine Wolfgestalt war mächtiger als der größte und stärkste Weiße, und nichts und niemand war gegen seine Krallen und Zähne gefeit. Er war dazu bestimmt, der Alpha zu sein, und führte sein Volk durch Friedenszeiten und Kriege und traf alle Entscheidungen zum Wohle der Gemeinschaft. Man nannte diese schwarze Linie »die Mitternächtlichen«.

Als plötzlich, seit nun über dreihundertsiebzig Jahren, die Geburt eines rechtmäßigen Alphas ausblieb, da kein schwarzer Wolf mehr geboren wurde, mussten die Grauen und Weißen auf eine instinktivere Art, einen Anführer zu ermitteln, zurückgreifen. So fand, von diesem Zeitpunkt an, ein simpler, aber meist tödlicher Machtkampf zwischen den zwei vermeintlich stärksten Weißen statt. Auch die Herrschaft des jetzigen Alphas Bjarne Trahern wurde auf diese Weise entschieden. Er war ein riesiger, strahlend weißer Wolf mit grünen Augen und einem zu großen Ego, der sich nur um sich selbst scherte. Sein einziges Anliegen war seine Machterhaltung und die strikte Trennung von Grauen und Weißen in menschlicher und in Werwolfgestalt. Das einzige Zugeständnis an Gleichheit gab es daher in der Lykaon Comprehensive School, in der die Sprösslinge der Insel lernten, bis sie ihren Abschluss machten und sich schließlich mit dem Beenden des achtzehnten Lebensjahres ihre Klasse bei der ersten Verwandlung offenbarte.

Am Ende des Tages lag Ylva in ihrem Bett und betrachtete den Himmel durch ein Fenster an der gegenüberliegenden schrägen Zimmerdecke. Im Lichte des Mondes überkam sie plötzlich ein eigenartiges Gefühl und sie verspürte einen Kloß im Hals.

Die ganze Zeit über hatte sie nicht daran denken wollen, doch es rückte näher und näher. Nicht die Abschlussprüfungen in einer Woche sowie die Aufnahmeprüfung für die Universität waren ihre eigentliche Sorge. Nein, es war der Tag ihrer ersten Verwandlung.

Caleb hat recht! Was, wenn ich auch eine andere Fellfarbe habe als meine Familie? Was, wenn ich eine Graue werde? Wenn ich meine Eltern zutiefst enttäusche? Ich würde von ihnen getrennt werden. Dürfte Vater dann seinen Sitz im Hohen Rat behalten oder würde diese Schande größere Auswirkungen haben?

Mit diesen Gedanken in ihrem Kopf schlief sie irgendwann ein.

Es war ein unruhiger Schlaf. Unterbewusst wusste Ylva, dass sie so oder so nichts daran ändern könne, was sie werden würde.

SCHULABSCHLUSS

»Hey Ylvi«, rief eine Stimme über das Schülergedränge im Gang der LCS hinweg. »Ylvi, warte doch mal!« Caleb schob sich schnaufend und entschuldigend zwischen seinen Mitschülern hindurch. »Was hat dein Vater denn heute Nacht in der Nähe der Siedlungen gemacht?«,